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Gabriele Reuter

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Gabriele Reuter

Gesammelte Werke

Romane und Geschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-07-6

null-papier.de/597

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Aus gu­ter Fa­mi­lie

Ers­ter Teil

Zwei­ter Teil

Das Trä­nen­haus

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

Zwölf­tes Ka­pi­tel

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel

Der Ame­ri­ka­ner

Ers­tes Ka­pi­tel

Zwei­tes Ka­pi­tel

Drit­tes Ka­pi­tel

Vier­tes Ka­pi­tel

Fünf­tes Ka­pi­tel

Sechs­tes Ka­pi­tel

Sie­ben­tes Ka­pi­tel

Ach­tes Ka­pi­tel

Neun­tes Ka­pi­tel

Zehn­tes Ka­pi­tel

Elf­tes Ka­pi­tel

El­len von der Wei­den

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Frau­en­see­len

Treue

Graue Stun­den

Cle­men­ti­ne Holm

Kin­der

Die Frau mit den Zie­gen­fü­ßen

Five o’clock

Ei­nes To­ten Wie­der­kehr

Schwes­ter Eli­sa­beth

Die Barm­her­zi­gen

Das Opern­glas

Ins neue Land

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

Irm­gard und ihr Bru­der

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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Aus guter Familie

Erster Teil

I.

Breit und hell fiel ein Strahl der Früh­lings­son­ne durch das ver­staub­te Bo­gen­fens­ter ei­ner Dorf­kir­che. Er durch­schnitt als war­mer, glän­zen­der Strei­fen die graue Däm­me­rung und ver­lor sich hin­ter weißem Git­ter in den schat­tig-feuch­ten Tie­fen des Pfarr­stuh­les, den meh­re­re fest­lich ge­klei­de­te Her­ren und Da­men be­setzt hat­ten. Mit­ten in der Licht­bahn stand die Kon­fir­man­din vor dem Al­tar. Das klei­ne Kreuz auf ih­rer Brust glüh­te gleich ei­nem über­ir­di­schen Sym­bol, und wie ein Kranz welt­li­cher Herr­lich­keit flim­mer­te, von tau­send Gold­fun­ken durch­sprüht, das brau­ne Haar über dem ro­sen­ro­ten, trä­nen­be­tau­ten, fei­er­li­chen Kin­der­ge­sicht.

Sie stand ganz al­lein an dem hei­li­gen Orte, durch­schau­ert von der Be­deu­tung des Au­gen­blicks – ban­gend, das Ge­lüb­de aus­zu­spre­chen, das auf ih­ren Lip­pen schweb­te und sie für ein Le­ben der Wahr­heit und der Hei­li­gung un­wi­der­ruf­lich ver­pflich­ten soll­te.

Hin­ter ihr, zwi­schen den schma­len Holz­bän­ken, hör­te sie das Ge­pol­ter ei­ni­ger nie­der­kni­en­den Ta­ge­löh­ner­kin­der, die be­reits die Ein­seg­nung emp­fan­gen hat­ten. Aga­the wünsch­te plötz­lich mit krank­haf­ter Hef­tig­keit, un­ter den pein­lich glatt­ge­kämm­ten und rot­ge­seif­ten Köp­fen, den un­ge­schick­ten Ge­stal­ten dort sich ver­ber­gen, sich an der Ge­mein­schaft mit ih­nen stär­ken zu kön­nen.

Ihr Herz woll­te sein Schla­gen aus­set­zen, eine Furcht er­griff sie, ein Schwin­del, in­dem sie auf die Knie sank und den Kopf mit dem Ge­fühl neig­te, es müs­se in der nächs­ten Mi­nu­te ihr Da­sein, das froh emp­fun­de­ne Da­sein, ge­gen einen Zu­stand von frem­der Schau­er­lich­keit, voll er­ha­be­ner Schmer­zen und be­klem­men­der Won­nen ein­ge­tauscht wer­den.

Über sich hör­te Aga­the die sanf­te, ernst­fei­er­li­che Stim­me des Geist­li­chen die Fra­ge an sie rich­ten: ob sie dem Teu­fel, der Welt und al­len ih­ren Lüs­ten ent­sa­gen, ob sie Chri­sto an­ge­hö­ren und ihm fol­gen wol­le. In sü­ßer Schwer­mut hauch­te sie »ja«, fühl­te die Berüh­rung der seg­nen­den Hän­de auf ih­rem Haup­te und ver­such­te mit ge­walt­sa­mer An­stren­gung, alle ihre Sin­ne ein­zut­au­chen in die An­be­tung der ewi­gen Gott­heit – des Herrn, der über ihr schweb­te.

Aber sie ver­nahm das Rau­schen ih­res ei­ge­nen sei­de­nen Klei­des; ein ge­rühr­tes Flüs­tern und un­ter­drück­tes Schluch­zen drang aus dem Pfarr­stuhl, wo ihre El­tern sa­ßen, zu ih­ren Ohren; sie hör­te ein Ge­sang­buch ir­gend­wo pol­ternd zur Erde fal­len und eine ge­mur­mel­te Ent­schul­di­gung – sie lausch­te auf die falschen Töne, die der Küs­ter bei sei­ner lei­sen Or­gel­be­glei­tung griff – sie muss­te an ein Buch den­ken, an eine an­stö­ßi­ge Stel­le, die sie ver­folg­te … Trä­nen quol­len un­ter ih­ren ge­senk­ten Li­dern her­vor, krampf­haft fal­te­ten sich ihre Hän­de, auf den schwar­zen Hand­schu­hen sah sie die Trä­nen­trop­fen nas­se Fle­cke bil­den – sie konn­te nicht be­ten …

Nicht in die­ser Stun­de? Nicht wäh­rend we­ni­ger Se­kun­den konn­te sie Gott al­lein an­ge­hö­ren? Und sie hat­te ge­schwo­ren, für ihr gan­zes Le­ben dem Ir­di­schen ab­zu­sa­gen! Sie hat­te einen Mein­eid ge­leis­tet – eine un­tilg­ba­re Sün­de be­gan­gen! Mein Gott, mein Gott, wel­che Angst!

Ver­such­te der Teu­fel sie? Es gab doch einen Teu­fel. Sie fühl­te ganz deut­lich, wie er in ih­rer Nähe war und sich freu­te, dass sie nicht be­ten konn­te. Lie­ber Gott, ver­lass mich doch nicht! – Vi­el­leicht kam die Prü­fung über sie, weil sie in der Beich­te, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und dem Geist­li­chen über­rei­chen müs­sen, nicht auf­rich­tig ge­we­sen … Hät­te sie sich so ent­setz­lich de­mü­ti­gen sol­len … das be­ken­nen? Nein – nein – nein – das war ganz un­mög­lich. Lie­ber in die Höl­le!

Der Schweiß brach ihr aus, so pei­nig­te sie die Scham.

Das konn­te sie doch nicht auf­schrei­ben. Tau­send­mal lie­ber in die Höl­le!

… Jetzt nicht dar­an den­ken … Nur nicht den­ken. Wie war es denn an­zu­stel­len, um Macht über das Den­ken zu be­kom­men? Sie dach­te doch im­mer … Al­les war so ge­heim­nis­voll schreck­lich bei die­sem christ­li­chen Glau­bens­le­ben. Sie woll­te es ja an­neh­men … Und sie hat­te ja auch ge­lobt – nun muss­te sie – da half ihr nichts mehr!

Mit ei­nem un­er­träg­li­chen Zit­tern in den Kni­en be­gab das Mäd­chen sich an ih­ren Platz zu­rück. Der Ge­sang der Ge­mein­de und das Spiel der Or­gel schwol­len stär­ker an, wäh­rend der Geist­li­che die Vor­be­rei­tun­gen zum Abend­mahl traf, aus der schön­ge­form­ten Kan­ne Wein in den sil­ber­nen Kelch goss und das ge­stick­te Lei­nen­tuch von dem Tel­ler mit den hei­li­gen Obla­ten hob.

Das Licht der ho­hen Wachs­ker­zen fla­cker­te un­ru­hig. Aga­the schloss ge­blen­det die Au­gen vor dem hel­len Son­nen­schein, der die Kir­che durch­ström­te, und in dem Mil­li­ar­den Stau­ba­to­me wir­bel­ten. War die Him­mels­son­ne nur dazu da, al­les Ver­bor­ge­ne zu schreck­li­cher Klar­heit zu brin­gen?

In stump­fem Er­stau­nen hör­te sie ne­ben sich zwei ih­rer Mit­kon­fir­man­din­nen lei­se flüs­tern – flachs­köp­fi­ge Mäd­chen, die einen Duft von schlech­ter Po­ma­de um sich ver­brei­te­ten.

»Wie­sing – wo is Dien Mod­der?«

»Sei möt uns’ lüt­t’ Kalf bör­nen.«

»Ju! He­wet et ji all? Dat’s fin! Dat kunnst mi ok gliek ver­tel­len!«

»Klock Twelf hat’s de Bleß bracht. Wie sünd all die Nacht in’n Stall west!«

Wie konn­te man über so et­was in der Kir­che re­den, dach­te Aga­the. Ein Zug hoch­mü­ti­ger Missach­tung be­weg­te ihre Mund­win­kel. Sie wur­de ru­hi­ger, si­che­rer im Ge­fühl ih­res hei­ßen Wol­lens. Eine Mü­dig­keit – eine Art von se­li­ger Er­mat­tung be­schlich sie bei dem Ge­san­ge je­nes al­ten mys­ti­schen Abend­mahls­lie­des:


Freue dich, o lie­be See­le,
Lass die dunkle Sün­den­höh­le,
Komm ans hel­le Licht ge­gan­gen,
Fan­ge herr­lich an zu pran­gen.

Denn der Herr voll Heil und Gna­den
Will dich jetzt zu Gas­te la­den,
Der den Him­mel kann ver­wal­ten
Will jetzt Zwie­sprach’ mit dir hal­ten.

Eile, wie Ver­lob­te pfle­gen,
Dei­nem Bräu­ti­gam ent­ge­gen.
Der da mit dem Gna­den­ham­mer
Klopft an dei­nes Her­zens Kam­mer.

Öff­n’ ihm dei­nes Geis­tes Pfor­ten,
Red’ ihn an mit sü­ßen Wor­ten:
Komm, mein Liebs­ter, lass dich küs­sen.
Lass mich dei­ner nicht mehr miss­en.

Nun war es nicht der er­ha­be­ne Gott-Va­ter, der das Op­fer for­der­te, nicht mehr der hei­li­ge Geist, der un­be­greif­lich-furcht­ba­re, der mit den Glu­ten des ewi­gen Feu­ers sei­nen Be­lei­di­gern droht, der nie­mals ver­gibt – jetzt nah­te der himm­li­sche Bräu­ti­gam mit Trost und Lie­be.

»Wer da un­wür­dig is­set und trin­ket, der sei ver­dammt« – heißt es zwar auch hier. Aber über das Mäd­chen kam eine fro­he Zu­ver­sicht. Vor ihr in­ne­res Auge trat Je­sus von Na­za­reth, wie ihn die Kunst, wie ihn Ti­zi­an ge­bil­det hat, in sei­ner schö­nen, jun­gen Men­sch­lich­keit – ihn hat­te sie lieb … Ein schmach­ten­des Be­geh­ren nach der ge­heim­nis­vol­len Ve­rei­ni­gung mit ihm durch­zit­ter­te die Ner­ven des jun­gen Wei­bes. Der star­ke Wein rann feu­rig durch ih­ren er­schöpf­ten Kör­per – ein sanf­tes, zärt­li­ches und doch ent­sa­gungs­vol­les Glück durch­beb­te ihr In­ners­tes – sie war wür­dig be­fun­den, sei­ne Ge­gen­wart zu füh­len.

*

Auch Aga­thes El­tern, ihr Bru­der, ihr On­kel, und die Frau des Pre­di­gers, in des­sen Hau­se sie seit ei­ni­gen Mo­na­ten leb­te, nah­men das Abend­mahl, um sich in Lie­be dem Kin­de zu ver­bin­den. Da­rum hat­te der Geist­li­che zu­erst sei­ne länd­li­chen Kon­fir­man­den und de­ren An­ge­hö­ri­ge ab­sol­viert und dann die Toch­ter des Re­gie­rungs­ra­tes und ihre Fa­mi­lie zum Tisch des Herrn tre­ten las­sen. So stand denn Aga­the um­ge­ben von all de­nen, die ihr die nächs­ten wa­ren auf die­ser Welt.

Gleich­gül­tig sa­hen die mür­ri­schen al­ten Bau­ern, die schläf­ri­gen Knech­te, voll Neu­gier aber die Päch­ter- und Taglöh­ner­frau­en dem Ge­ba­ren der Frem­den zu. Der statt­li­che Herr mit dem Or­den, der den ho­hen Hut im Arm trug, konn­te eine Be­we­gung in sei­nen Zü­gen trotz der wür­de­vol­len Hal­tung nicht ver­ber­gen. Er wand­te sei­nen Kopf zur Sei­te, um mit der Fin­ger­spit­ze eine leich­te Feuch­tig­keit von den Wim­pern zu ent­fer­nen. Das ver­merk­ten die Frau­en mit Ge­nug­tu­ung. Und dann weck­te das schwar­ze At­las­kleid und der Spit­ze­num­hang der Mut­ter lei­se ge­raun­te Be­wun­de­rung. Die Re­gie­rungs­rä­tin selbst je­doch hat­te die Emp­fin­dung, ihr Kleid wir­ke auf­dring­lich in die­ser be­schei­de­nen Um­ge­bung, und als sie zum Al­tar trat, hielt sie die Schlep­pe ängst­lich und ver­le­gen an sich ge­drückt, da­bei wein­te sie und seufz­te von Zeit zu Zeit tief und schmerz­lich. Als die Ge­mein­de den letz­ten Vers sang, stahlen sich ihre Fin­ger nach Aga­thes Hand und drück­ten sie krampf­haft. Kaum war der Got­tes­dienst zu Ende, so um­arm­te Frau Heid­ling ihre Toch­ter mit ei­ner Art von kum­mer­vol­ler Lei­den­schaft, die we­nig für die Ge­le­gen­heit zu pas­sen schi­en, und mur­mel­te meh­re­re Mal un­ter Trä­nen: mein Kind, mein sü­ßes, ge­lieb­tes Kind! – ohne mit ih­rem Se­gens­wunsch zu Ende ge­lan­gen zu kön­nen.

Doch die be­weg­te Mut­ter durf­te das Kind nicht an ih­rem Her­zen be­hal­ten. Der Va­ter ver­lang­te nach ihr, On­kel Gu­stav, Bru­der Wal­ter, Frau Pas­tor Kand­ler – alle woll­ten ihre Glück­wün­sche dar­brin­gen. Ein je­der gab da­bei noch an der Kirch­tür dem Mäd­chen ein we­nig An­lei­tung, wie sie sich dem kom­men­den Le­ben ge­gen­über als er­wach­se­ner Mensch zu ver­hal­ten habe.

Sie hör­te mit ver­klär­tem Lä­cheln auf dem ver­wein­ten Ge­sicht­chen alle die gol­de­nen Wor­te der Lie­be, der äl­te­ren Weis­heit. So schwach fühl­te sie sich, so hilfs­be­dürf­tig und so be­reit, je­der­mann zu Wil­len zu sein, al­les zu be­glücken, was in ihre Nähe kam. Sie war ja selbst jetzt so glück­lich!

Ihr Bru­der, der Abi­tu­ri­ent, lief auf­merk­sam noch­mals in die Kir­che zu­rück, ihr ver­ges­se­nes Bou­quet zu ho­len, wäh­rend alle an­de­ren sich auf den Weg zum Pfarr­haus be­ga­ben. Aga­the war­te­te auf ihn, sah ihn dank­bar an und leg­te den Arm in den sei­nen. So folg­ten sie den El­tern.

»Ver­zei­he mir auch alle mei­ne Un­ge­fäl­lig­kei­ten«, mur­mel­te Aga­the de­mü­tig dem Abi­tu­ri­en­ten zu. Wal­ter er­rö­te­te und brumm­te et­was Un­ver­ständ­li­ches, in­dem er sich vor Ver­le­gen­heit von der Schwes­ter los­riss.

»Na, Jo­chen, – was macht der Brau­ne?« schrie er dem Pas­tors­kut­scher zu, setz­te mit An­lauf und ge­schick­tem Tur­ner­sprung über einen auf dem son­nen­be­glänz­ten Hof ste­hen­den Pflug hin­weg und ver­schwand mit Jo­chen in der Stall­tür. Aga­the ging al­lein ins Haus. Es wa­ren ei­ni­ge Pa­ke­te für sie ge­kom­men, die man ihr vor­ent­hal­ten hat­te, um sie am Mor­gen vor der hei­li­gen Hand­lung nicht zu zer­streu­en. Nur das schö­ne Kreuz an fei­ner gol­de­ner Ket­te hat­te Papa ihr beim Früh­stück um den Hals ge­legt. Jetzt durf­te sie sich wohl schon ein we­nig der Neu­gier auf die Ge­schen­ke von Ver­wand­ten und Freun­din­nen hin­ge­ben.

In der nied­ri­gen, an die­sem Früh­lings­ta­ge noch et­was kel­le­rig-küh­len gu­ten Stu­be des Pfarr­hau­ses er­quick­ten sich die Er­wach­se­nen an Wein und klei­nen But­ter­bröt­chen. Aga­the ver­spür­te kei­nen Hun­ger. Sie setz­te sich eif­rig mit ih­ren Pa­ke­ten auf den Tep­pich, riss an den Sie­geln, schlug sich mit den Pack­pa­pie­ren her­um. Ihre Wan­gen brann­ten glü­hen­d­rot, die Fin­ger zit­ter­ten ihr.

»Aber, Aga­the, zer­schnei­de doch nicht all die gu­ten Bind­fa­den«, mahn­te ihre Mut­ter. »Wie Du im­mer hef­tig bist!«

»Wenn ein Mäd­chen ge­dul­dig Kno­ten lö­sen kann, so be­kommt es einen gu­ten Mann«, er­gänz­te die Pas­to­rin aus dem Ne­ben­zim­mer, wo der Ess­tisch ge­deckt wur­de.

»Ach, ich will gar kei­nen Mann!« rief Aga­the lus­tig, und ritsch – ratsch flo­gen die Hül­len her­un­ter.

»Na – ver­schwör’s nicht, Mä­del«, sag­te der di­cke On­kel Gu­stav und guck­te mit lis­ti­gem Lä­cheln hin­ter sei­nem Gläs­chen Mar­sa­la her­vor. »Von heu­te ab musst Du ernst­lich an sol­che Sa­chen den­ken.«

»Das woll­t’ ich mir ver­be­ten ha­ben«, fiel die Re­gie­rungs­rä­tin ihm ins Wort; den Ton durch­klang das Sie­ges­be­wusst­sein, wel­ches die Müt­ter sehr jun­ger Töch­ter er­füllt: Kommt nur, ihr Frei­er ihr … hei­ra­ten soll mein Kind schon – aber wer von Euch ist ei­gent­lich gut ge­nug für sie?

»Rückerts Lie­bes­früh­ling!« schrie Aga­the da plötz­lich laut auf und schwenk­te ein klei­nes ro­tes Bü­chel­chen so ent­zückt in der Luft, dass al­les um sie her in Ge­läch­ter aus­brach.

»Zur Kon­fir­ma­ti­on? Et­was früh!« be­merk­te Papa ver­wun­dernd und ta­delnd.

»Ge­wiss von Eu­ge­nie?« frag­te die Re­gie­rungs­rä­tin; sie ant­wor­te­te sich selbst: »Na­tür­lich – das ist ganz wie Eu­ge­nie.«

In­zwi­schen kam der In­halt ei­nes zwei­ten Pa­ke­tes zu Tage.

»Geroks Palm­blät­ter – von der gu­ten Tan­te Mal­vi­ne«, be­rich­te­te Aga­the dies­mal ru­hi­ger mit an­däch­ti­ger Pie­tät.

»Ach – das won­ni­ge Arm­band! Gera­de sol­ches hab’ ich mir ge­wünscht! Eine Per­le in der Mit­te! Nicht wahr, Mama, das ist doch echt Gold?« Sie leg­te es gleich um ihr Hand­ge­lenk. Knips! sprang das Sch­löss­chen zu.

»– Und hier wie­der ein Buch! Der pracht­vol­le Ein­band! Des Wei­bes Le­ben und Wir­ken als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter … Von wem denn nur? Frau Prä­si­dent Dürn­heim. Wie freund­lich! – Nein, aber wie freund­lich! Sieh doch nur, Mama! Das Weib als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter mit Il­lus­tra­tio­nen von Paul Thu­mann und an­de­ren deut­schen Künst­lern!«

»Nein – nein – wie ich mich aber freue!«

Aga­the sprang mit ei­nem Satz vom Tep­pich auf und tanz­te vor aus­ge­las­se­nem Glück in der Stu­be zwi­schen den gel­ben und brau­nen Pa­pie­ren her­um; die lo­sen Löck­chen auf ih­rer Stirn, die Ket­te und das Kreuz auf ih­rer Brust, der Lie­bes­früh­ling und das Weib als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter, das sie bei­des zärt­lich an sich drück­te – al­les hüpf­te und tanz­te mit.

Die er­wach­se­nen Leu­te auf dem Sofa und in den Lehn­stüh­len lä­chel­ten wie­der. Wie rei­zend sie war! Ach ja – die Ju­gend ist et­was Schö­nes!

End­lich fiel Aga­the ganz au­ßer Atem bei ih­rer Mut­ter nie­der, warf ihr all ihre Schät­ze in den Schoß und rieb wie ein ver­gnüg­tes Hünd­chen den brau­nen Kopf an ih­rem Klei­de.

»Ach – ich bin ganz toll«, sag­te sie be­schämt, als Mama lei­se ihr Haupt schüt­tel­te. Aga­the fühl­te ein schlech­tes Ge­wis­sen, weil Pas­tor Kend­ler ge­ra­de jetzt ein­trat. Er hat­te den Talar ab­ge­legt und trug sei­nen ge­wöhn­li­chen Hut in der Hand.

»Du gehst noch aus?« frag­te sei­ne Frau er­schro­cken.

»Ja – war­tet nicht auf mich mit dem Es­sen. Ich muss doch bei Gro­ter­jahns gra­tu­lie­ren – ich höre, dass ihre Fa­mi­lie durch ein Kälb­lein ver­mehrt wor­den ist«, sag­te er mit der gut­mü­ti­gen Iro­nie des re­si­gnier­ten Land­geist­li­chen, der längst er­fah­ren hat, dass er die Dor­fleu­te nur durch sein per­sön­li­ches In­ter­es­se für ihre ma­te­ri­el­len Sor­gen füg­sam zur An­hö­rung der christ­li­chen Heils­leh­re macht. »Ich be­stel­le also Wie­sing zu heut Abend her­auf –, Du woll­test doch wohl selbst mit ihr spre­chen, lie­be Cou­si­ne?« frag­te er die Re­gie­rungs­rä­tin.

»Ja – wenn das Mäd­chen Lust hät­te, in die Stadt zu zie­hen, möch­te ich es schon ein­mal mit ihr ver­su­chen«, ant­wor­te­te die­se.

Aga­the saß bei Tisch vor ei­nem Tel­ler, der mit gel­ben Schlüs­sel­blu­men um­kränzt war, zwi­schen Va­ter und Mut­ter. Der Kon­fir­man­din ge­gen­über hat­te Pas­tor Kand­ler sei­nen Platz, ne­ben ihm leuch­te­te On­kel Gu­stavs ro­si­ges Ge­sicht aus den blon­den Bart­ko­te­let­ten über der wei­ßen vor­ge­steck­ten Ser­vi­et­te. Die Pas­to­rin war von dem Re­gie­rungs­rat ge­führt wor­den. Un­ten, zwi­schen der Ju­gend, saß eine alte Nä­he­rin, die stets das Os­ter­fest im Pfarr­hau­se zu­zu­brin­gen pfleg­te. Nach je­dem Gang zog sie ihr Mes­ser zwi­schen den Lip­pen hin­durch, um ja nichts von den präch­ti­gen Spei­sen und der nahr­haf­ten Sau­ce zu ver­lie­ren. Wal­ter fühl­te sich in sei­ner Abi­tu­ri­en­ten­wür­de sehr ge­kränkt, weil man ihm die zahn­lücki­ge Per­son als Nach­ba­rin ge­ge­ben hat­te, und es war ihm fa­tal, dass er nicht recht wuss­te, ob es schick­li­cher von ihm sein wür­de, sie an­zu­re­den oder ihre Ge­gen­wart ein­fach zu über­se­hen. Die Re­gie­rungs­rä­tin warf gleich­falls un­be­hag­li­che Bli­cke auf die alte Flicke­rin, denn sie dach­te, ihr Mann möch­te viel­leicht an de­ren Ge­gen­wart An­stoß neh­men.

Aber auf den Re­gie­rungs­rat Heid­ling wirk­te sie nur sanft be­lus­ti­gend. Er war ja ganz im Kla­ren dar­über, dass er sich un­ter nai­ven, welt­frem­den Leut­chen be­fand. Mit wohl­über­leg­ter Ab­sicht hat­te er sei­ne Toch­ter nicht im Krei­se ih­rer Freun­din­nen bei dem Mo­de­pre­di­ger in M. kon­fir­mie­ren las­sen, son­dern bei dem be­schei­de­nen Vet­ter sei­ner Gat­tin. Er schätz­te eine po­si­ti­ve Fröm­mig­keit an dem weib­li­chen Ge­schlecht. Für den deut­schen Mann die Pf­licht – für die deut­sche Frau der Glau­be und die Treue.

Dass der Fonds von Re­li­gi­on, den er Aga­the durch die Er­zie­hung mit­ge­ge­ben, nie­mals auf­dring­lich in den Vor­der­grund des Le­bens tre­ten durf­te, ver­stand sich bei sei­ner Stel­lung und in den Ver­hält­nis­sen der Stadt eben­so von selbst, wie das Tisch­ge­bet und die alte Flicke­rin hier in dem pom­mer­schen Dörf­chen an ih­rem Platz sein moch­ten. »Lui­se« von Voß fiel ihm ein – in jun­gen Jah­ren hat­te er das Buch ein­mal durch­ge­blät­tert. Es tat sei­ner Toch­ter gut, die­se Idyl­le ge­nos­sen zu ha­ben. Aga­the war frisch und stark und ro­sig ge­wor­den in dem stil­len Win­ter, bei den Schlit­ten­fahr­ten über die be­schnei­ten Fel­der, in der kla­ren, her­ben Land­luft. Sein Kind hat­te ihm nicht ge­fal­len, als es aus der Pen­si­on kam. Et­was Zer­fah­re­nes, Eit­les, Schwatz­haf­tes war ihm da­mals an ihr auf­ge­fal­len. Nur das nicht! Er stell­te idea­le For­de­run­gen an die Frau.

Un­will­kür­lich form­ten sich ihm die Ge­dan­ken zu red­ne­ri­schen Phra­sen. Er schwieg bei den Ge­sprächs­ver­su­chen der Pas­to­rin und spiel­te mit der ge­pfleg­ten Hand an dem graublon­den Bart.

In­zwi­schen schlug schon Pas­tor Kand­ler an sein Glas. Die Re­gie­rungs­rä­tin zog aus Vor­sicht, so­bald er sich räus­per­te, ihr feuch­tes Bat­tist­tuch – es war ihr Braut­ta­schen­tuch – her­vor. Und das war gut, denn un­auf­hör­lich tropf­ten ihr bei sei­nen Wor­ten die Trä­nen über das ver­blüh­te mat­te Ant­litz, des­sen Wan­gen eine flie­gen­de, ner­vö­se Röte an­ge­nom­men hat­ten. Er sprach so er­grei­fend! Er rühr­te ihr an so vie­les!

Die Grund­la­ge der Rede bil­de­te das Bi­bel­wort: Al­les ist euer – ihr aber seid Chris­ti. Pas­tor Kand­ler such­te in sei­ner Fan­ta­sie nach ei­ner na­tur­wah­ren Be­schrei­bung der Freu­den, die das Le­ben ei­ner mo­der­nen jun­gen Dame der fei­nen bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ihr zu bie­ten habe: in der Fa­mi­lie, im Ver­kehr mit Al­ters­ge­nos­sin­nen, durch Na­tur, Kunst­be­stre­bun­gen und Lek­tü­re. Er deu­te­te auch an­de­re Glück­se­lig­kei­ten an, die ih­rer war­te­ten – denn es war nun ein­mal der Lauf der Welt – hold, un­schul­dig, wie sie da vor ihm saß, das lie­be Kind, in ih­rem schwarz­sei­de­nen Kleid­chen, die brau­nen Au­gen aus dem wei­chen, hel­len Ge­sicht­chen an­däch­tig auf ihn ge­rich­tet – wie bald konn­te sie Braut sein. Al­les ist Euer!

Aber wie soll die­ses »Al­les« be­nutzt wer­den? Be­sit­zet, als be­sä­ßet Ihr nicht – ge­nie­ßet, als ge­nös­set Ihr nicht! – Auch der Tanz – auch das Thea­ter sind er­laubt, aber der Tanz ge­sch­ehe in Ehren, das Ver­gnü­gen an der Kunst be­schrän­ke sich auf die rei­ne, gott­ge­weih­te Kunst. Bil­dung ist nicht zu ver­ach­ten – doch hüte Dich, mein Kind, vor der mo­der­nen Wis­sen­schaft, die zu Zwei­feln, zum Un­glau­ben führt. Zü­g­le Dei­ne Fan­ta­sie, dass sie Dir nicht un­züch­ti­ge Bil­der vor­spie­ge­le! Lie­be – Lie­be – Lie­be sei Dein gan­zes Le­ben – aber die Lie­be blei­be frei von Selbst­sucht, be­geh­re nicht das ihre. Du darfst nach Glück ver­lan­gen – Du darfst auch glück­lich sein – aber in be­rech­tig­ter Wei­se … denn Du bist Chris­ti Nach­fol­ge­rin, und Chris­tus starb am Kreuz! Nur wer das Ir­di­sche ganz über­wun­den hat, wird durch die dor­nen­um­säum­te Pfor­te ein­ge­hen zur ewi­gen Freu­de – zur Hoch­zeit des Lam­mes!

Aga­the muss­te wie­der sehr wei­nen. Aufs Neue er­fass­te sie das ängs­ti­gen­de Be­wusst­sein, wel­ches sie durch alle Kon­fir­man­den­stun­den be­glei­te­te, ohne dass sie es ih­rem Seel­sor­ger zu ge­ste­hen wag­te: sie be­griff durch­aus nicht, wie sie es an­zu­stel­len habe, um zu ge­nie­ßen, als ge­nös­se sie nicht. Oft schon hat­te sie sich Mühe ge­ge­ben, dem Wor­te zu fol­gen. Wenn sie sich mit den Pas­tors­jun­gen im Gar­ten schnee­ball­te, ver­such­te sie, da­bei an Je­sum zu den­ken. Aber be­dräng­ten die Jun­gen sie or­dent­lich, und sie muss­te sich nach al­len Sei­ten weh­ren, und die Lust wur­de so recht toll – dann ver­gaß sie den Hei­land ganz und gar. – Schmeck­te ihr das Es­sen recht gut – und sie hat­te jetzt im­mer einen aus­ge­zeich­ne­ten Ap­pe­tit – soll­te sie da tun, als ob es ihr nicht schmeck­te? Aber das wäre ja eine Lüge ge­we­sen.

Wahr­schein­lich hat­te sie das Ge­heim­nis des Spru­ches noch gar nicht ver­stan­den. Ach – sie fühl­te sich der Ge­mein­schaft ge­reif­ter Chris­ten recht un­wür­dig! Aber es war doch wun­der­hübsch, nun kon­fir­miert zu sein – und es war auch an der Zeit, sie wur­de doch schon sieb­zehn Jah­re alt.

Hat­te der Pas­tor dem Kin­de sei­ne Verant­wor­tung als Him­mels­bür­ge­rin klar zu ma­chen ge­sucht, so be­gann der Va­ter Aga­the nun die Pf­lich­ten der Staats­bür­ge­rin vor­zu­hal­ten.

Denn das Weib, die Mut­ter künf­ti­ger Ge­schlech­ter, die Grün­de­rin der Fa­mi­lie, ist ein wich­ti­ges Glied der Ge­sell­schaft, wenn sie sich ih­rer Stel­lung als un­schein­ba­rer, ver­bor­ge­ner Wur­zel recht be­wusst bleibt.

Der Re­gie­rungs­rat Heid­ling stell­te gern all­ge­mei­ne, große Ge­sichts­punk­te auf. Sein Gleich­nis ge­fiel ihm.

»Die Wur­zel, die stum­me, ge­dul­di­ge, un­be­weg­li­che, wel­che kein ei­ge­nes Le­ben zu ha­ben scheint und doch den Baum der Mensch­heit trägt …«

In die­sem Au­gen­blick wur­de noch ein Ge­schenk für Aga­the ab­ge­ge­ben. Der Land­brief­trä­ger hat­te es als Dank für das am Mor­gen er­hal­te­ne reich­li­che Trink­geld trotz des Fei­er­ta­ges von der klei­nen Bahn­sta­ti­on her­über­ge­bracht.

»Ach nein! – Das schickt Mani!« sag­te Aga­the und wur­de rot. »Er hat­te es ver­spro­chen, aber ich dach­te, er wür­de es ver­ges­sen.«

»Dein Vet­ter Mar­tin, von dem Du so viel er­zählst?« er­kun­dig­te sich die Pas­to­rin neu­gie­rig.

Aga­the nick­te, in glück­li­chen Erin­ne­run­gen ver­stum­mend.

Her­weg­hs Ge­dich­te. – – Und die Som­mer­fe­ri­en bei On­kel Au­gust in Bor­nau – der son­nen­be­schie­ne­ne Ra­sen, auf dem sie ge­le­gen und für die glü­hen­den Ver­se ge­schwärmt hat­te, die Mar­tin so pracht­voll de­kla­mie­ren konn­te … Wie sie sich mit ihm be­geis­ter­te für Frei­heit und Bar­ri­ka­den­kämp­fe und rote Müt­zen – für Dan­ton und Ro­bert Blum … Aga­the schwärm­te da­zwi­schen auch für Bar­ba­ros­sa und sein end­li­ches Er­wa­chen …

Sie hat­te Mar­tin seit­dem noch nicht wie­der­ge­se­hen. Er diente jetzt sein Jahr. Ach, der gute, lie­be Jun­ge.

Aga­the war zu be­schäf­tigt, das Buch auf­zu­schla­gen und ihre Lieb­lings­stel­len nach­zu­le­sen, um zu be­mer­ken, dass eine pein­li­che Stil­le am Ti­sche ent­stan­den war.

Als sie em­por­sah, be­geg­ne­te ihr Blick dem von ver­hal­te­nem La­chen ins Brei­te ge­zo­ge­nen Ge­sicht von On­kel Gu­stav, der sich eif­rig mit dem Öff­nen ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche be­schäf­tig­te. Pas­tor Kand­ler stand auf, ging schwei­gend um den Tisch her­um und nahm ihr den Her­wegh aus der Hand. Er trat zu dem Re­gie­rungs­rat und zeig­te ihm hier und da eine Stel­le. Bei­de Her­ren mach­ten erns­te Mie­nen. Es lag et­was Un­an­ge­neh­mes in der Luft.

»Dass der Ben­gel noch so dumm wäre, hät­te ich ihm doch nicht zu­ge­traut«, brach der Re­gie­rungs­rat är­ger­lich los.

»Mein lie­bes Kind«, sag­te Pas­tor Kand­ler be­schwich­ti­gend zu Aga­the, »ich den­ke, wir he­ben Dir das Buch auf und bit­ten Vet­ter Mar­tin, es ge­gen ein an­de­res um­zut­au­schen. Es gibt ja so vie­le schö­ne Lie­der, die für jun­ge Mäd­chen ge­eig­ne­ter sind und Dir bes­ser ge­fal­len wer­den.«

Aga­the war ganz blass ge­wor­den.

»Ich hat­te mir Her­weg­hs Ge­dich­te ge­wünscht«, stieß sie ehr­lich her­aus.

»Du kann­test wohl das Buch nicht?« frag­te ihr Va­ter mit der­sel­ben be­ängs­ti­gen­den Mil­de, die des Pas­tors Vor­schlag be­glei­te­te. Man woll­te sie an ih­rem Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge scho­nen, aber es war si­cher – sie hat­te et­was Schreck­li­ches ge­tan!

»Doch!« sag­te sie ei­lig und lei­se und setz­te noch schüch­ter­ner hin­zu: »Ich fand sie schön!«

»Du wirst ei­ni­ge ge­kannt ha­ben«, ent­schul­dig­te Pas­tor Kand­ler. Sein Blick haf­te­te ein­dring­lich auf ihr. Soll­te das sanf­te Kind ihn mit ih­rer in­ni­gen Hin­ga­be an das Chris­ten­tum ge­täuscht ha­ben? Wo­her plötz­lich die­ser Geist des Aufruhrs?

»Was ge­fiel Dir denn be­son­ders an die­sen Ge­dich­ten?« prüf­te er vor­sich­tig.

»Die Spra­che ist so wun­der­schön«, flüs­ter­te das Mäd­chen ver­le­gen.

»Hast Du Dir nie klar ge­macht, dass die­se Ver­se mit man­chem, was ich Dich zu leh­ren ver­such­te, in Wi­der­spruch ste­hen?«

»Nein – ich dach­te, man soll­te für sei­ne Über­zeu­gung kämp­fen und ster­ben!«

»Ge­wiss, mein Kind, für eine gute Über­zeu­gung. Aber für eine tö­rich­te, ver­derb­li­che Über­zeu­gung soll man doch wohl nicht kämp­fen?«

Aga­the schwieg ver­wirrt.

Va­ter und Seel­sor­ger spra­chen mit­ein­an­der.

»Das sind doch be­sorg­li­che Sym­pto­me«, sag­te der Re­gie­rungs­rat. »Ich ver­ste­he mei­nen Nef­fen ab­so­lut nicht! In des Kö­nigs Rock! Gera­de­zu un­er­hört!«

»Ich glau­be, wir brau­chen die Sa­che nicht so ernst zu neh­men«, mein­te Pas­tor Kand­ler, mit sei­nem stil­len, iro­ni­schen Lä­cheln den Re­gie­rungs­rat be­trach­tend. »Die Ju­gend hat ja schwa­che Stun­den, wo ein be­rau­schen­des Gift wohl eine Wir­kung tut, die bei ge­sun­der Ver­an­la­gung schnell vor­über­geht. Das wis­sen wir ja alle aus Er­fah­rung!« Er leg­te das an­stö­ßi­ge Buch bei­sei­te und ging auf sei­nen Platz zu­rück.

»Wäre den Herr­schaf­ten nicht ein Stück­chen Tor­te ge­fäl­lig?« frag­te die Pas­to­rin freund­lich.

On­kel Gu­stav ließ von ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche, die er mit weit­läu­fi­ger Fei­er­lich­keit be­han­del­te, weil sie sei­ne Bei­steu­er zum Fes­te war, den Pfrop­fen mit ei­nem Knall in die dar­über ge­hal­te­ne Ga­bel sprin­gen. Die bei­den Pas­tors­jun­gen jauchz­ten über das Kunst­stück, der schäu­men­de Wein floss in die Glä­ser, man er­hob sich und stieß an. Der Schat­ten, den die blut­dürs­ti­ge Re­vo­lu­ti­ons­lust der Kon­fir­man­din auf die Ge­sell­schaft ge­wor­fen, war der al­ten, still­be­weg­ten Hei­ter­keit ge­wi­chen. Nur in Aga­thes brau­nen Au­gen war noch et­was Sin­nen­des zu­rück­ge­blie­ben. On­kel Gu­stav klopf­te dem Nicht­chen be­gü­ti­gend die vol­le Wan­ge und rief da­bei mit sei­nem jo­via­len La­chen:

»Vor­läu­fig doch mehr Blü­te als Wur­zel!«

Dann flüs­ter­te er Aga­the ins Ohr: »Dum­mes Ding – Ge­schen­ke von net­ten Vet­tern packt man doch nicht vor ver­sam­mel­ter Tisch­ge­sell­schaft aus!«

Lei­der war On­kel Gu­stav sel­ber ein Fa­mi­li­en­schat­ten. Er hat­te kei­ne Grund­sät­ze und brach­te es des­halb auch zu nichts Rech­tem in der Welt. So hei­ra­te­te er z. B. eine Frau, die al­ler­lei Aben­teu­er er­lebt hat­te und sich schließ­lich von ei­nem Gra­fen ent­füh­ren ließ. Das moch­ten ihm die Ver­wand­ten nicht ver­zei­hen. Aga­the hat­te ihn trotz­dem lieb. Er war so gut; bot sich die Ge­le­gen­heit, ei­nem Men­schen in klei­nen oder großen Din­gen zu hel­fen, so fand man ihn ge­wiss be­reit. Was er sag­te, konn­te frei­lich nicht sehr ins Ge­wicht fal­len. Aga­the blieb nach­denk­lich.

»Al­les ist Euer«, war ihr eben ver­si­chert wor­den, und gleich dar­auf nahm man ihr das Ge­schenk ih­res liebs­ten Vet­ters fort, ohne sie auch nur zu fra­gen. Wi­der­spruch wag­te sie na­tür­lich nicht. Sie hat­te ja Ge­hor­sam und de­mü­ti­ge Un­ter­wer­fung ge­lobt für das gan­ze Le­ben.

*

Spä­ter, als die Er­wach­se­nen in al­len So­fae­cken des Pfarr­hau­ses ihr Ver­dau­ungs­schläf­chen hiel­ten – man war ein biss­chen heiß und müde ge­wor­den von dem reich­li­chen Mit­tags­mahl und dem Cham­pa­gner – ging Aga­the den brei­ten Gar­ten­weg hin­ter dem Hau­se auf und nie­der. Die Jun­gen hat­ten den Be­fehl er­hal­ten, sie heu­te nicht zu stö­ren und zum Spie­len zu ho­len, wie sonst. Sie mach­ten mit Wal­ter einen Spa­zier­gang. Die Pas­to­rin half, un­ge­se­hen von den Gäs­ten, der Magd in der Kü­che beim Tel­ler­wa­schen; von dort­her tön­te bis­wei­len ein Ge­klap­per, sonst herrsch­te Stil­le in Hof und Gar­ten. Aga­the hör­te mit heim­li­chem Ver­gnü­gen ihre sei­de­ne Schlep­pe über den Kies rau­schen, hat­te die Hän­de ge­fal­tet und bat den lie­ben Gott, er möge ihr doch nur den Är­ger aus dem Her­zen neh­men. Es war doch zu schreck­lich, dass sie heut, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge, ih­rem Pas­tor und ih­rem Va­ter böse war! Hier fing ge­wiss die Selb­st­über­win­dung und die Ent­sa­gung an. Sie war doch noch recht dumm! Ein so ge­fähr­li­ches Gift für schön zu hal­ten … Der An­fang von Mar­tins Lieb­lings­lie­de fiel ihr ein:


»Reißt die Kreu­ze aus der Er­den.
Alle sol­len Schwer­ter wer­den –
Gott im Him­mel wirds ver­zeih’n.«

Ja, das war schon eine fürch­ter­li­che Stel­le, und auf die war On­kel Kand­ler ge­wiss ge­ra­de ge­sto­ßen. Aber doch – es lag so eine Kühn­heit dar­in – und dann wur­de der lie­be Gott ja doch auch be­son­ders um Ver­zei­hung ge­be­ten. Das hat­te Aga­the im­mer sehr ge­fal­len in dem Lie­de.

Aber so war es fort­wäh­rend: was ei­nem ge­fiel, dem muss­te man miss­trau­en.

Sie blick­te fra­gend und zwei­felnd ge­ra­de in den hell­blau­en Früh­lings­him­mel hin­auf. Kein Wölk­chen zeig­te sich dar­an, er war un­end­lich hei­ter, und die Son­ne schi­en warm. Es gab noch fast kei­nen Schat­ten im Gar­ten, die gol­de­nen Strah­len konn­ten über­all durch die Baum­zwei­ge auf die Erde nie­der­tan­zen. Und das Sin­gen und Ju­beln der Vö­gel hör­te nicht auf.

Scha­de, dass sie mor­gen nach der Stadt zu­rück muss­te, ge­ra­de nun es hier so rei­zend wur­de – täg­lich schö­ner! Seit ges­tern hat­te sich al­les schon wie­der ver­än­dert. Busch und Strauch tru­gen nicht mehr das Grau des Win­ters – wie durch­sich­ti­ge bun­te Schlei­er lag es über dem Ge­zweig. Trat man nä­her und beug­te sich her­zu, so sah man, dass die Far­ben­schlei­er aus tau­send und aber­tau­send klei­nen Knösp­chen zu­sam­men­ge­setzt wa­ren. Nein, aber wie süß! Aga­the ging von ei­nem zum an­de­ren. Dun­kel­rot schim­mer­te es an den knor­ri­gen Zwei­gen der Ap­fel­bäu­me, die sich über den Weg streck­ten, grün­weiß hoch oben an dem großen Birn­baum, und schne­eig glänz­te es schon von den lo­sen Zwei­gen der sau­ren Kir­schen. Bei den Kas­ta­ni­en streck­ten sich aus braunglän­zen­den kleb­ri­gen Kap­seln wol­li­ge grü­ne Händ­chen neu­gie­rig her­aus, und die Her­lit­ze war ganz in hel­les Gelb ge­taucht. Der Flie­der – die Hain­bu­che – je­des be­saß sei­ne ei­ge­ne Form, sei­ne be­son­de­re Far­be. Und das ent­fal­te­te sich hier still und fröh­lich in Son­nen­schein und Re­gen zu dem, was es wer­den soll­te und woll­te.

Die Pflan­zen hat­ten es doch viel, viel bes­ser als die Men­schen, dach­te Aga­the seuf­zend. Nie­mand schalt sie – nie­mand war mit ih­nen un­zu­frie­den und gab ih­nen gute Ratschlä­ge. Die al­ten Stäm­me sa­hen dem Wach­sen ih­rer brau­nen, ro­ten und grü­nen Knos­pen­kin­der­chen ganz un­be­wegt und ru­hig zu. Ob es ih­nen wohl weh tat, wenn die Schne­cken, die Rau­pen und die In­sek­ten eine Men­ge von ih­nen zer­fra­ßen?

Aga­the strei­chel­te lei­se die bor­ki­ge Rin­de des al­ten Ap­fel­bau­mes.

Soll­ten die Vö­gel viel­leicht das Aus­schel­ten über­nom­men ha­ben? Das war eine ko­mi­sche Vor­stel­lung, Aga­the ki­cher­te ganz für sich al­lein dar­über. Ach be­wah­re – die Vö­gel hat­ten um die­se Zeit schon furcht­bar viel mit ih­rem großen Lie­bes­glück zu tun. Ob es wohl auch Vö­gel gab, die eine un­glück­li­che Lie­be hat­ten? Na ja – die Nach­ti­gall na­tür­lich! Üb­ri­gens – ganz ge­nau konn­ten das die Dich­ter auch nicht wis­sen.

Ach – wäre sie doch lie­ber ein Vö­gel­chen ge­wor­den oder eine Blu­me!

Auf ei­nem ganz schma­len Pfa­de ging Aga­the end­lich zum Mühl­teich hin­ab. Er lag am Ende des Gar­tens, der sich vom Hau­se her in sanf­ter Sen­kung bis zu ihm streck­te. Weil die Pas­tors­jun­gen be­stän­dig ins Was­ser ge­fal­len wa­ren, hat­te man den Weg zu­wach­sen las­sen. Aga­the muss­te die Ge­bü­sche aus­ein­an­der­bie­gen, um hin­durch zu schlüp­fen. Sie woll­te Ab­schied von dem Bänk­chen neh­men, das un­ten, heim­lich und trau­lich ver­steckt, am Ran­de des Wei­hers stand. Im ver­gan­ge­nen Herbst hat­te sie viel dort ge­ses­sen und ge­le­sen oder ge­träumt, auch in die­sem Früh­ling schon, in war­men Mit­tags­stun­den.

Am lin­ken Ufer des stil­len Sees, der wei­ter hin­aus zu ei­nem sump­fi­gen Rohr­feld ver­lief, lag die Müh­le mit ih­rem über­hän­gen­den Stroh­dach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarr­gar­ten zeig­ten sich auf dem Was­ser klei­ne Nym­phä­en-Blät­ter. Im Herbst war es hier ganz be­deckt ge­we­sen von den grü­nen Tel­lern, und dar­über flirr­ten die Li­bel­len. Die schlei­mi­gen Stie­le der Pflan­zen dräng­ten sich so­gar durch die grau­en Plan­ken des zer­fal­le­nen Boo­tes, wel­ches dort im Was­ser faul­te.

An­fangs heg­te Aga­the ro­man­ti­sche Träu­me über den al­ten Kahn: dass er drau­ßen in Sturm und Wel­len ge­dient – dass er das Meer ge­se­hen habe und an Fel­sen­klip­pen ge­schei­tert sei. Die klei­nen Pas­tors­jun­gen hat­ten sie aber mit die­ser Ge­schich­te aus­ge­lacht. Das Boot wäre im­mer schon auf dem Mühl­tei­che ge­we­sen, doch bei den vie­len Was­ser­pflan­zen und den Rohrs­ten­geln kön­ne man ja gar nicht fah­ren; da sei es durchs Stil­le­lie­gen all­mäh­lich ein so elen­des, nutz­lo­ses Wrack ge­wor­den. Nun konn­te Aga­the das Boot nicht mehr lei­den. Es stimm­te sie trau­rig. Ihre jun­ge Mäd­chen­fan­ta­sie wur­de be­wegt von un­be­stimm­ten Wün­schen nach Grö­ße und Er­ha­ben­heit. Sie dach­te gern an die Fer­ne – die Wei­te – die gren­zen­lo­se Frei­heit, wäh­rend sie an dem klei­nen Teich auf dem win­zi­gen Bänk­chen saß und sich ganz ru­hig ver­hal­ten muss­te, da­mit sie nicht um­schlug und da­mit die Bank nicht zer­brach, denn sie war auch schon recht morsch.

Plötz­lich fiel Aga­the die Beich­te wie­der ein, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und ih­rem Seel­sor­ger über­ge­ben müs­sen. Ihre Halb­heit und Unauf­rich­tig­keit … und nun wur­de es ihr zur Ge­wiss­heit, die Schuld des Un­frie­dens, der die­sen hei­li­gen Tag stör­te, lag in ihr sel­ber. Scham­voll be­küm­mert starr­te sie in das Was­ser, das auf der Ober­flä­che so klar und mit fröh­li­chen, klei­nen gol­de­nen Son­nen­blit­zen ge­schmückt er­schi­en und tief un­ten an­ge­füllt war mit den fau­len­den Über­res­ten der Ve­ge­ta­ti­on ver­gan­ge­ner Jah­re.

II.

Die Freund­schaft zwi­schen Aga­the Heid­ling und Eu­ge­nie Wu­trow be­stand schon sehr lan­ge – seit­dem sie ei­nes Mor­gens mit wei­ßen Schürz­chen und neu­en Ta­feln und Fi­bel­bü­chern zum ers­ten Mal in die Schu­le ge­bracht wur­den und ihre Plät­ze ne­ben­ein­an­der an­ge­wie­sen be­ka­men. Da hat­ten sie die Bon­bons aus ih­ren Zucker­dü­ten ge­tauscht, und nun wa­ren sie Freun­din­nen. Ihre bei­den Ma­mas schick­ten sie in die­se klei­ne vor­neh­me Pri­vat­schu­le, denn in der staat­li­chen hö­he­ren Töchter­schu­le ka­men doch im­mer­hin Kin­der von al­ler­lei Leu­ten zu­sam­men, und sie konn­ten leicht ein häss­li­ches Wort oder ge­wöhn­li­che Ma­nie­ren mit nach Haus brin­gen.

Ent­we­der hol­te Aga­the die klei­ne Wu­trow zum Schul­weg ab, oder Eu­ge­nie klin­gel­te um drei­vier­tel auf acht Uhr bei Heid­lings, wozu sie sich auf die Ze­hen stel­len muss­te, bis Mama Heid­ling ein Strick­chen an den gel­ben Mes­sin­g­ring des Glo­cken­zu­ges band. Auch in ih­ren Frei­stun­den steck­ten die Mä­del­chen be­stän­dig zu­sam­men. Am liebs­ten war Aga­the bei Eu­ge­nie, dort blie­ben sie un­ge­stör­ter mit ih­ren Pup­pen und Bild­chen und Sei­den­flöck­chen, mit ih­ren Ge­heim­nis­sen und ih­rem end­lo­sen Ge­zwit­scher und Ge­ki­cher.

Das große alte Kauf­manns­haus, wel­ches Eu­ge­nies El­tern ge­hör­te, barg eine Un­men­ge von Ecken und Win­keln, köst­lich zum Spie­len und um sich zu ver­ste­cken. Dunkle Kor­ri­do­re gab es da, in de­nen auch bei Tage ein­sa­me Gas­flam­men brann­ten und dünn­bei­ni­ge Kom­mis ei­lig an den klei­nen Mäd­chen vor­über­stri­chen – hin­ter ver­git­ter­ten, stau­bi­gen Fens­tern das Komp­toir, und dar­in saß Herr Wu­trow, ein ver­schrumpf­tes, tau­bes, gro­bes Männ­chen, auf ei­nem ho­hen Dreh­stuhl – ein Hof mit un­ge­heu­ren lee­ren Kis­ten und graue, schmut­zi­ge Hin­ter­ge­bäu­de, an­ge­füllt mit ei­ner Schar Ar­bei­ter und Ar­bei­te­rin­nen, die in kah­len Räu­men Zi­gar­ren dreh­ten. Die Fa­brik – das Komp­toir – die Kor­ri­do­re – al­les roch nach Ta­bak. Der süß­lich-schar­fe Ge­ruch drang so­gar bis in die großen Wohn­zim­mer des Vor­der­hau­ses. Hier ließ Frau Wu­trow be­stän­dig das Par­quett boh­nern und die Spie­gel­schei­ben der Fens­ter put­zen, des­halb war es im­mer kalt und zu­gig. Aber der Ta­baks­ge­ruch blieb trotz­dem haf­ten.

Auf Aga­the übte das Haus, in dem al­les ganz an­ders war als bei ih­ren El­tern, eine ge­heim­nis­vol­le An­zie­hung aus. Sie fürch­te­te sich vor den Kom­mis und den Ar­bei­te­rin­nen und noch mehr vor Herrn Wu­trow selbst, sie hat­te eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen Frau Wu­trow, und mit Eu­ge­nie zank­te sie sich sehr oft, lief dann schluch­zend nach Haus und hass­te ihre Freun­din. Aber Eu­ge­nie hol­te sie im­mer wie­der, und al­les blieb wie zu­vor. Eu­ge­nie konn­te nie­mals or­dent­lich spie­len. Sie hat­te ihre Pup­pen nicht wirk­lich lieb und glaub­te nicht, dass es eine Pup­pen­spra­che gäbe, in der Hol­de­wi­na, die große mit dem Por­zel­lan­kopf, und Käth­chen, das Wi­ckel­kind, mun­ter zu plau­dern be­gan­nen, so­bald ihre klei­nen Müt­ter au­ßer Hör­wei­te wa­ren.

Aga­the ver­dank­te ih­rer Freun­din ver­schie­de­ne Straf­pre­dig­ten, weil Eu­ge­nie sie ver­führ­te, mit ihr in al­ler­lei Ne­ben­gas­sen der Stadt her­um­zu­bum­meln, an den Klin­geln zu rei­ßen und dann fort­zu­lau­fen, al­ten Da­men, die an Par­ter­re­fens­tern hin­ter Blu­men­töp­fen sa­ßen, die Zun­ge her­aus­zu­ste­cken und sich mit Schul­jun­gen zu un­ter­hal­ten.

Am liebs­ten hielt Eu­ge­nie sich in der Fa­brik auf. Sie schlich sich an die Män­ner her­an und strei­chel­te die schmut­zi­gen Rö­cke der Ar­bei­te­rin­nen und steck­te ih­nen Ku­chen und Äp­fel zu, die sie heim­lich aus ih­rer Mut­ter Spei­se­kam­mer hol­te, da­mit die Mäd­chen ihr da­für Ge­schich­ten er­zähl­ten. Be­stän­dig muss­ten die Auf­se­her sie fort­ja­gen – im Um­se­hen war sie wie­der da.

Ja – und Eu­ge­nie wuss­te auch, dass Wal­ter eine Braut hät­te, mit der er sich küss­te, und wenn die Leh­rer das hör­ten, käme er vor die Kon­fe­renz. Meta Hil­le aus der drit­ten Klas­se wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz ge­wiss, wahr­haf­tig!!

Hat­te Eu­ge­nie et­was Der­ar­ti­ges her­aus­ge­spürt, so schüt­tel­te sich ihr klei­nes, schlan­kes Kör­per­chen vor Ver­gnü­gen, sie kniff ihre grau­en Au­gen zu­sam­men und blin­zel­te tri­um­phie­rend über ihr hüb­sches Näs­chen hin­weg.

Hei – das war fein!

Ei­nes Sonn­tags Nach­mit­tags sa­ßen die klei­nen Freun­din­nen auf dem un­ters­ten Ast des nied­ri­gen al­ten Ta­xus­bau­mes in Wu­trows Gar­ten. Sie hiel­ten ihre Bat­ti­ströck­chen mit den Fin­ger­spit­zen und weh­ten da­mit hin und her, denn sie wa­ren von ei­ner bö­sen Fee in zwei Vö­gel ver­wan­delt und schüt­tel­ten nun ihr wei­ßes und ro­sen­ro­tes Ge­fie­der. Das Spiel hat­te Aga­the an­ge­ge­ben. Sie woll­te im­mer so ger­ne flie­gen ler­nen.

Und dann wuss­ten sie nicht mehr, was sie an­fan­gen soll­ten, um den Sonn­tag Abend hin­zu­brin­gen.

Arm in Arm gin­gen sie an den Bee­ten mit blü­hen­den Au­ri­keln oder Stief­müt­ter­chen, an ih­ren stei­fen Buchs­baum-Ein­fas­sun­gen ent­lang. Zwi­schen den Mau­ern der Hin­ter­häu­ser, die den alt­mo­di­schen, zier­lich ge­pfleg­ten Stadt­gar­ten ein­schlos­sen, wur­de es schon grau und däm­me­rig, wäh­rend hoch über den Kin­dern eine rosa Wol­ke am grün­li­chen April­him­mel lang­sam ver­blass­te.

»Du«, flüs­ter­te Aga­the ganz lei­se, »es ist doch nicht wahr – das von den klei­nen Kin­dern … Mei­ne Mama …«

»Pfui – ge­klatscht! Du Petz­lie­se!«

»Nein – ich habe ja bloß ge­fragt!«

»Ach, Dei­ne Mama … Müt­ter lü­gen ei­nem im­mer was vor!«

»Mei­ne Mut­ter lügt nicht!« schrie Aga­the ge­kränkt.

Aus dem Streit ent­spann sich ein heim­li­ches Tu­scheln und Flüs­tern zwi­schen den klei­nen Freun­din­nen. Aga­the rief ein paar­mal: »Pfui, Eu­ge­nie – ach nein, das glau­be ich nicht …«

Hil­fe­schreie, die aus dem Abend­schat­ten un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo die klei­nen Mäd­chen zu­sam­men­kau­er­ten, her­vor­klan­gen, wie eine ge­ängs­te­te Vo­gel­stim­me, wenn die Kat­ze zum Nest schleicht. Und vor Auf­re­gung und Scham und Neu­gier frie­rend und glü­hend, horch­te und horch­te sie doch und frag­te lei­se, sich dicht an Eu­ge­nie pres­send, und schließ­lich in ein maß­lo­ses Ge­ki­cher ver­fal­lend.

Das war zu ko­misch – zu ko­misch …

Aber Mama hat­te doch ge­lo­gen, als sie ihr er­zähl­te, ein En­gel bräch­te die klei­nen Ba­bies.

Eu­ge­nie wuss­te al­les viel bes­ser.

Wie sie bei­de er­schra­ken und in die Höhe fuh­ren, als Frau Wu­trows schar­fe Stim­me sie hin­ein­rief. Aga­the klopf­te das Herz ent­setz­lich – es war bei­na­he nicht aus­zu­hal­ten. Sie ge­trau­te sich nicht in das Zim­mer mit der hel­len Lam­pe, hol­te ei­lig ih­ren Hut vom Flur und lief da­von, ohne Adieu zu sa­gen.

Was Eu­ge­nie ihr sonst noch er­zählt hat­te – nein, das war ganz ab­scheu­lich. Pfui – pfui – ganz gräu­lich. Nein, das konn­te gar nicht wahr sein. Aber – wenn es doch wahr wäre?

Und ihre Mama und ihr Papa … Sie schäm­te sich tot.

Als Mama kam, ihr einen Gu­te­nacht­kuss zu ge­ben, dreh­te sie has­tig den Kopf nach der Wand und wühl­te das hei­ße Ge­sicht in die Kis­sen. Nein – sie konn­te ihre Mama nie­mals – nie­mals wie­der nach so et­was fra­gen.

Am an­de­ren Mor­gen trö­del­te Aga­the bis zum letz­ten Au­gen­blick mit dem Schul­gang. Nun war es schon viel zu spät, um Eu­ge­nie noch ab­zu­ho­len. Als sie in der Klas­se hör­te, dass Eu­ge­nie sich er­käl­tet habe und zu Haus blei­ben müs­se, wur­de ihr leich­ter. Mit wah­ren Ge­wis­sens­qua­len muss­te sie sich fort­wäh­rend vor­stel­len: Eu­ge­nie könn­te viel­leicht ster­ben … Und dann wür­de kein Mensch auf der Welt er­fah­ren, was sie ges­tern mit­ein­an­der ge­spro­chen hat­ten. Das wäre doch zu gräss­lich – ach – wenn doch Eu­ge­nie lie­ber stür­be!

»Frau Wu­trow schick­te schon zwei­mal. Du möch­test her­über­kom­men«, sag­te Frau Heid­ling zu ih­rer Toch­ter. »Wa­rum gehst Du nicht hin? Habt Ihr Euch ge­zankt?«

»Ich kann Eu­ge­nie nicht mehr lei­den.«

»O, wer wird sei­ne Freund­schaf­ten so schnell wech­seln«, sag­te Frau Heid­ling ta­delnd. »Was hat Dir denn Eu­ge­nie ge­tan?«

»Gar nichts.«

»Nun, dann ist es nicht hübsch von mei­nem klei­nen Mäd­chen, ihre kran­ke Freun­din zu ver­nach­läs­si­gen. Brin­ge Eu­ge­nie die Ver­giss­mein­nicht, die ich auf dem Markt ge­kauft habe. Eu­ge­nie ist manch­mal ein biss­chen spöt­tisch, aber mein Aga­th­chen ist auch sehr emp­find­lich. Du kannst viel von Eu­ge­nie ler­nen. Sie macht so hüb­sche Kni­xe und hat im­mer eine freund­li­che Ant­wort be­reit, lässt nie das Mäul­chen hän­gen, wie mein Träu­mer­chen!«

Aga­the sah ihre Mut­ter nicht an, mür­risch pack­te sie ihre Bü­cher aus. Es tat ihr schreck­lich weh im Hal­se, als wäre ihr da al­les wund. Sie hät­te sich am liebs­ten auf die Erde ge­wor­fen und laut ge­schri­en und ge­weint. Doch nahm sie ge­hor­sam und ohne wei­ter et­was zu sa­gen den Strauß und ging. Un­ter­wegs traf sie eine Bür­ger­schü­le­rin, die sie kann­te. Da warf sie die Blu­men fort und schlen­der­te mit dem Mäd­chen.

Als sie auf ih­ren ziel­lo­sen Strei­fe­rei­en wie­der am Hau­se ih­rer El­tern vor­über ka­men, sah Mama aus dem Fens­ter und rief sie zum Es­sen.

Aga­the ant­wor­te­te nicht und ging ru­hig wei­ter. Sie hör­te ihre Mut­ter hin­ter sich her ru­fen und ging im­mer wei­ter. Sie woll­te über­haupt nicht wie­der nach Hau­se zu­rück.

Auf ei­nem frei­en Platz mit Blu­men­bee­ten setz­te sie sich auf eine der ei­ser­nen Ket­ten, die, zwi­schen Stein­pfei­lern her­ab­hän­gend, die An­la­gen schüt­zen soll­ten, hielt sich mit bei­den Hän­den fest und bau­mel­te mit den Bei­nen. Das ta­ten nur die all­er­ge­meins­ten Kin­der! Das Mäd­chen aus der Bür­ger­schu­le setz­te sich auch auf eine von den Ket­ten. So un­ter­hiel­ten sie sich. Von Ame­ri­ka. Wie weit es wäre, um dort­hin kom­men. Der Leh­rer hat­te ih­nen er­klärt, Ame­ri­ka läge ganz ge­nau auf der an­de­ren Sei­te von der Erde. Man brauch­te nur ein Loch zu gra­ben, furcht­bar tief – im­mer tiefer – dann käme man schließ­lich in Ame­ri­ka an.

»Aber da­zwi­schen kommt erst Was­ser und dann Feu­er«, sag­te Aga­the nach­denk­lich. Das hat­te der Leh­rer nicht ge­sagt. Aber Aga­the glaub­te es, ganz be­stimmt. Eine ent­setz­li­che Lust plag­te sie, das mit dem Loch­gra­ben ein­mal zu ver­su­chen.

Da kam drü­ben auf dem Trot­toir im hel­len Son­nen­schein Eu­ge­nie mit ih­rer Mut­ter. Sie hat­te ih­ren neu­en lila Sam­met­pa­le­tot an und das Ba­rett mit dem Fe­der­be­satz. Wie sie sich zier­te! Sie ging ganz sitt­sam zwi­schen ih­rer Mut­ter und ei­nem Of­fi­zier. Plötz­lich be­merk­te sie Aga­the und stand er­staunt still, sie wink­te und rief ih­ren Na­men. Aber Aga­the bau­mel­te mit den Bei­nen und kam nicht. Frau Wu­trow sag­te et­was zu Eu­ge­nie, alle drei Per­so­nen sa­hen, wie es Aga­the schi­en, em­pört zu ihr hin und spa­zier­ten dann wei­ter.

Aga­the lach­te ver­ächt­lich. Dann ging sie mit der Bür­ger­schü­le­rin, die schon um zwölf Uhr zu Mit­tag ge­ges­sen hat­te, trank mit ihr Kaf­fee und ver­such­te mit ihr im Hof das tie­fe Loch zu gra­ben, das nach Ame­ri­ka füh­ren soll­te. Ach – wenn es wirk­lich wahr wäre!! Sie müh­ten sich ganz ent­setz­lich, nur erst den Kies und die Erde fort­zu­brin­gen. Dann tra­fen sie zu ih­rem gren­zen­lo­sen Er­stau­nen auf rote Zie­gel­stei­ne. Es wur­de Aga­the ganz selt­sam zu Mut, so, als müs­se jetzt ein Wun­der ge­sche­hen – weiß Gott, was sie nun se­hen wür­den. Mit al­ler Ge­walt such­ten sie die Zie­gel­stei­ne los­zu­bre­chen, schwitz­ten und stöhn­ten da­bei. Und als der eine sich eben schon ein we­nig be­weg­te – da kam je­mand. Das an­de­re Mäd­chen schrie laut auf vor Schre­cken: »Hu – die schwar­ze Jule! Die schwar­ze Jule!«

Hei­di jag­te sie fort und Aga­the hin­ter­drein. Wäh­rend die Haus­wir­tin ins Lee­re über ih­ren ver­wüs­te­ten Hof keif­te, steck­ten bei­de klei­ne Mäd­chen im Holz­stall und reg­ten und rühr­ten sich nicht vor Angst.

Aber das Nach­hau­se­kom­men …! Sie muss­te doch ein­mal – es wur­de schon dun­kel – in der Nacht hät­te sie sich auf der Stra­ße tot­ge­fürch­tet. Es gab auch Mör­der da. Sie muss­te schon. »Ach Gott! Ach lie­ber Gott, lass doch Mama in Ge­sell­schaft sein!«

Er war ja so gut – viel­leicht tat er ihr den Ge­fal­len.

Frau Heid­ling hat­te in­zwi­schen zu Wu­trows ge­schickt, ob Aga­the bei ih­nen ge­we­sen wäre.

Nein – sie hät­te auf dem Ka­ser­nen­plat­ze ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt.

Aga­the hat­te jetzt al­les ver­ges­sen, was sie am Mor­gen ge­quält. Sie emp­fand nur noch eine große Furcht vor ih­rer Mut­ter, wie vor et­was schreck­lich Er­ha­be­nen, vor dem sie nur ein klei­nes Würm­chen war. Und da­bei misch­te sich auch eine be­stimm­te Sehn­sucht in die große Angst. Vi­el­leicht dach­te ihre Mut­ter, sie hät­te bei Wu­trows ge­spielt, und al­les war gut.

Als sie zag­haft und ganz lei­se klin­gel­te, riss Wal­ter die Tür auf, lach­te laut und rief: »Da ist sie ja, die Ran­ge!«

Ihre Mut­ter nahm sie bei der Hand und führ­te sie in die Lo­gier­stu­be. Dort ließ sie sie im Dun­keln ste­hen.

Mama wür­de doch nicht? Nein – sie war ja schon ein großes Mäd­chen, dach­te Aga­the und fror vor Angst – nein, das konn­te Mama doch nicht … Sie ging doch schon in die Schu­le …

Frau Heid­ling kam mit ei­nem Licht und mit der Rute wie­der.

»Nein! Nein! Ach bit­te, bit­te nicht!« schrie Aga­the und schlug wie ra­send um sich. Es war ein wil­der Kampf zwi­schen Mut­ter und Toch­ter, Aga­the riss Mama die Spit­zen vom Klei­de und trat nach ihr. Aber sie be­kam doch ihre Schlä­ge – wie ein ganz klei­nes Kind.

Als die schau­er­li­che Stra­fe zu Ende war, wank­te Frau Heid­ling er­schöpft in ihr Schlaf­zim­mer und sank keu­chend und wei­nend auf ihr Bett nie­der. Sie wuss­te, dass sie sich nicht auf­re­gen durf­te, und dass sie furcht­ba­re Ner­ven­schmer­zen aus­zu­ste­hen ha­ben wür­de. Bis zu­letzt, wäh­rend der Sor­ge und Angst um Aga­the hat­te sie ge­prüft ob sie es tun müs­se. Ja, es war ihre Pf­licht. Das Kind durf­te sich nicht so über alle Au­to­ri­tät hin­weg­set­zen. Als sie Aga­the sah, hat­te auch der Zorn sie über­mannt.

Das Mäd­chen lag in der Lo­gier­stu­be auf den Die­len und schrie noch im­mer, schlu­ckend und schluch­zend, sie konn­te die Töne nur noch hei­ser her­vor­sto­ßen, und ihr gan­zer klei­ner Leib zuck­te krampf­haft da­bei. Sie woll­te sich tot­schrei­en. Mit ei­ner sol­chen Schmach auf sich konn­te sie doch nicht mehr le­ben …! Was wür­de Papa sa­gen? Ihm wür­de es wohl leid tun, wenn er sein klei­nes Mäd­chen nicht mehr hät­te. Aber Mama – der war es ganz recht – ganz recht …

End­lich wur­de sie so müde, dass al­les um sie her und in ihr ver­schwamm. Mit wüs­tem Kopf stand sie auf und kroch tau­melnd in ihr Bett.

*

Aga­the hat­te ihre Mut­ter nicht mehr lieb. Heim­lich trug sie die Ge­wis­sens­not und den Schmerz dar­über – eine zu schwe­re Bür­de für ihre Kin­der­schul­tern. Ihre Hal­tung wur­de schlaff, in ih­rem Ge­sicht­chen zeig­te sich ein ver­drieß­li­cher, mü­der Zug. Aber der Arzt, den man be­frag­te, mein­te, das käme von dem ge­bück­ten Sit­zen auf der Schul­bank.

Ei­ni­ge Zeit spä­ter wur­de Aga­thes Va­ter als Ver­tre­ter des Lan­drats in eine klei­ne­re Stadt ver­setzt. Hier gab es kei­ne hö­he­re Töchter­schu­le und Aga­the be­kam eine Gou­ver­nan­te.

All­mäh­lich er­hol­te sie sich und wur­de wie­der mun­ter. Wahr­schein­lich ver­hielt sich al­les gar nicht so, wie Eu­ge­nie ge­sagt hat­te, dach­te sie nun. Weil es ihr zu un­mög­lich er­schi­en, ver­gaß sie ihre ver­wor­re­ne Weis­heit zu­letzt so ziem­lich. Nur hin und wie­der durch ein Wort von Er­wach­se­nen, eine Stel­le in ei­nem Buch, durch ein Bild ge­weckt, zu­wei­len ohne jede Ver­an­las­sung wach­te die Erin­ne­rung an die Stun­den in Wu­trows Gar­ten und in den dunklen Kor­ri­do­ren in ih­rem Ge­dächt­nis auf und quäl­te sie wie ein schlech­ter Ge­ruch, den man nicht los wird, oder wie die Mit­wis­ser­schaft ei­nes trü­ben, ver­häng­nis­vol­len Ge­heim­nis­ses.

III.

Frau Heid­ling heg­te das un­be­stimm­te Ide­al ei­nes in­ni­gen Ver­hält­nis­ses zwi­schen ei­ner Mut­ter und ih­rer ein­zi­gen Toch­ter. Doch wuss­te sie durch­aus nicht, wie sie es be­gin­nen soll­te, ein sol­ches zwi­schen sich und Aga­the her­zu­stel­len. Sie sorg­te mit pein­li­cher Pf­licht­treue für de­ren An­zug, für Zahn­bürs­ten, Stie­fel und Kor­setts. Aber wenn Aga­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­