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Gunter Gerlach

ENGEL IN ESSLINGEN

Krimi * Nautilus

KALIBER .64

Edition Nautilus

»Ein Hund kam in die Küche
und stahl dem Koch ein Ei …«

(Kinderlied)

1

Ebbe beugt sich zum Bahnsteig herab. Bei seinem dünnen Körper und den Einmetervierundneunzig sieht es immer aus, als ob er gleich vornüber fällt.

Er kommt wieder hoch, zeigt mir die Münze. »Fünf Cent. Immerhin.«

»Ebbe, begreif doch, wir beide zusammen haben fünf Jahre Knast. Das ist unser Kapital. Daraus müssen wir was machen.«

Ebbe kratzt sich den Grind am Kopf. Sein Schädel ist eine Pizza Margarita. Er stößt sich ständig, hat immer kleine Verletzungen unter seinem dünnen blonden Haar.

»Wenn ich richtig rechne, sind es nur drei Jahre und zwei Monate. Du wegen Betrugs. Ich wegen zwei Prügeleien.«

»Ja, wer nimmt es denn so genau? Hauptsache Knasterfahrung!«

»Was willst du damit anfangen? Außer einen neuen Betrug, eine neue Prügelei.«

Ebbe ist fast fünfzig, heißt eigentlich Eberhard. Als Boxer hieß er »Der Stier«, weil er immer mit dem Kopf voran in den Gegner ging. Aber er hat jeden Kampf verloren. Bis auf die privaten Schlägereien. Die hat er gewonnen. In dem Boxstall haben sie ihn wegen seiner Größe genommen, sagt er, damit die Kleinen ihn verprügeln.

»Mensch, Ebbe, wir machen ein Büro auf. Ex-Knackis machen Knastberatung für Angehörige von Knackis. Crashkurse. Wir begleiten sie beim Gefängnisbesuch, wir halten Kontakt für sie mit ihren einsitzenden Männern und kümmern uns um die daheimgebliebenen hübschen Ehefrauen. Verstehst du?«

Ebbe grinst. Sein Mund öffnet sich dabei oval, zeigt die Zahnlücken, dann hebt sich der rechte Mundwinkel, der linke ist gelähmt. Da funktioniert der Muskel nicht. Andenken an einen Boxkampf.

»Das mit den Ehefrauen, das sagst du jetzt nur für mich. Weil du weißt, dass ich scharf auf die bin.«

Unser Zug kommt. Wir greifen unsere Reisetaschen. Wir haben nur wenig Gepäck, weil wir nicht lange bleiben wollen. Nur bis der Banküberfall erledigt und die Beute geteilt ist.

2

Mit »Entschuldigung, wir haben hier einen Schwerbehinderten« dränge ich mich an allen vorbei und ziehe Ebbe an der Hand hinter mir her. Ich finde ein leeres Abteil. Es ist erschöpft von jahrelanger Fahrt. Der Boden klebt unter den Sohlen. Aus den Polstern staubt der Geruch von Urinsteinen.

»Diese Abteile sind am Aussterben, was, Ebbe?«

Er verteilt schnell unsere Jacken und Taschen auf die Sitze, sodass einer, der durch die Tür guckt, meinen könnte, hier wäre alles besetzt.

Ich habe da noch eine andere Methode, allein zu bleiben. Ich ziehe die Schuhe aus und lege meine Füße mit den feuchten Socken auf das gegenüberliegende Polster.

»Zieh deine Schuhe wieder an«, sagt Ebbe.

«Meine Methode funktioniert besser als deine.«

»Aber sie stinkt.«

»Was machst du bei deiner Verteilmethode, wenn einer fragt, ob noch was frei ist?«

»Dann tu ich das, was du immer tust: Ich lüge und sage: Tut mir leid, ist alles besetzt.«

»Ehrlich? Und wenn der dann wiederkommt und sieht, es ist nicht besetzt?«

»Mann, Blume, wir sind Verbrecher.«

»Du sollst mich nicht Blume nennen.« Jeder nennt mich Blume, obwohl das mein Nachname ist. Immer habe ich das Gefühl, dass mich die Leute nicht schätzen, wenn sie mich Blume nennen. Ich will mit meinem Vornamen angeredet werden. Ich heiße Valerian.

»Ich – heiße – Valerian!«

»Okay, Blume. Beim nächsten Mal.«

3

Ich demonstriere Beleidigung, bleibe stumm, sehe aus dem Fenster, bewege mich nicht. Wenn Ebbe jetzt etwas sagt, werde ich nicht den Kopf drehen. Ich werde jetzt so lange die Landschaft betrachten, bis er es nicht mehr aushält und sich entschuldigt. Aber Ebbe sagt nichts. Mir fällt ein, dass er manchmal stundenlang nichts sagt. Schließlich hab ich vergessen, wofür er sich entschuldigen soll.

»Was hältst du nun von meiner Idee? Gefängnisberatung. Immer mehr Leute landen immer länger im Gefängnis.«

»Woher willst du das wissen?«

»Habe ich gelesen. In der Zeitung. Da stand: Die Medien diktieren mit ihrer Sensationsberichterstattung immer mehr Gesetze und ein immer schärferes Strafmaß. Und genau daraus machen wir ein Geschäft. Wir veranstalten Seminare für alle, die das erste Mal in den Knast müssen. Rollenspiele. Wie man mit den Wärtern umgeht. Wie man sich im Gefängnis Freunde macht. Wie man sich verhält, um wegen guter Führung vorzeitig entlassen zu werden. Der Koffer für den Knast. Was hineingehört und besser draußen bleibt. Das ist doch eine Superidee! Darf ich vorstellen: Dozent Eberhard Maier. Das bist du dann. Dozent!«

»Aber wer soll denn da mitmachen? Damit rechnet doch keiner, dass er ins Kittchen muss.«

»Na ja, wenn das Gerichtsverfahren noch läuft und es nicht so gut aussieht, buchen die Typen schon unseren Kurs. Wir könnten mit den Gerichten und Gefängnissen zusammenarbeiten. Die empfehlen uns!«

»Die Gerichte? Uns? Wir sind Verbrecher.«

»Sei nicht so negativ. Ich sehe es schon voraus: Über kurz oder lang haben wir Filialen im ganzen Land.«

»Wie soll denn die Firma heißen?«

»Weiß noch nicht genau. Was hältst du von Kittchen-Service?«

»Da denken die Leute an Einbauküchen.«

»Vielleicht GmbH – Gesellschaft mit beschränkter Haftberatung.«

»SFZF«, sagt Ebbe, »Service für zurückgebliebene Frauen, wäre mir lieber.« Er formt sein Grinsen.

»Wir brauchen einen seriösen Namen, bei dem nicht gleich jeder weiß, was damit gemeint ist. Ich hab’s!« Ich klopfe mit beiden Händen auf die Sitzpolster. »Wir nennen es: Vollzug – Service fürs Einsitzen und Zurückbleiben.«

4

Unsere Dekoration nützt nichts. Nach der Hälfte der Strecke betritt ein Mann unser Abteil. Ich nehme meine Füße runter, denn er sieht aus wie ein Kontrolleur. Mächtiger Schnauzbart, blauer Anzug und ein kleines Abzeichen der Bundesbahn am Revers. Ein Fossil aus der Zeit, als es noch Salonwagen für Könige und Präsidenten gab. Ich greife nach unseren Tickets. Ich bringe es nicht fertig, schwarzzufahren. Eher drucke ich mir ein Ticket selbst. Aber unsere sind echt.

Der Mann winkt ab. »Bin nicht im Dienst.«

Er öffnet sein Jackett. Eine goldene Uhrkette schwingt sich über die Weste. Aus seiner schwarzen, schmalen Ledertasche zieht er eine Börsenzeitung. Die Bahn und die Börse, klar. Der Mann hat sich in der Führungsetage konserviert, das ist kein kleiner Kontrolleur. Jetzt holt er aus einer Tasche noch eine Dose mit Bonbons, die nach Bratwurst riechen. Der Duft breitet sich im ganzen Raum aus.

»Ich habe Hunger«, sagt Ebbe.

»Der Speisewagen ist nur drei Waggons entfernt«, sagt der Bahnmensch.

Ebbe sieht mich an. »Komm, ich lade dich ein.«

Ich wiege meinen Kopf.