Ein Tropfen Liebe …

Ein Tropfen Liebe …

Kerry Greine

Inhalt

„Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.“

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog

Danksagung

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Über den Autor

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„Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand.“

Blaise Pascal

1

Smukke Indre

Ich liebe meine Heimatstadt, ganz ehrlich. Ich möchte nirgendwo anders leben als in Hamburg. Aber es gibt Tage, da läuft einfach gar nichts, wie es sollte. Und heute ist so einer, das merke ich schon beim Aufwachen. Ich überschlafe meinen Wecker geschlagene dreißig Minuten, bis mich die Stimme des Radiomoderators endlich aus meinen wirren Träumen holen kann. Mit einem sprunghaft gestiegenen Adrenalinspiegel nach einem Blick auf die Uhrzeit schwinge ich die Beine aus dem Bett, sprinte ins Bad und nehme meine Zahnbürste gleich mit unter die Dusche. Jede Sekunde Zeitersparnis ist mir gerade recht, wenn ich nicht hoffnungslos zu spät bei der Arbeit sein möchte.

Bestzeit, innerhalb von zehn Minuten bin ich fertig angezogen und greife nach meiner Handtasche. Zeit für eine eigentlich dringend benötigte Koffeindosis habe ich leider nicht mehr, schließlich will ich meine S-Bahn noch erreichen. So ein Mist aber auch, dass mein Auto ausgerechnet heute in der Werkstatt ist, damit wäre ich in wenigen Minuten beim Laden.

Im Flur erhasche ich im Vorbeilaufen einen Blick auf mein Spiegelbild und verziehe angewidert das Gesicht. Meine sowieso immer etwas wuscheligen braunen Haare stehen wirr vom Kopf in alle Richtungen, Schminken war zeitlich nicht drin und ich sehe aus, wie … na ja, wie frisch aus dem Bett gestiegen halt. Die letzte Nacht hat mir leider nicht genug Schlaf beschert und mit meinen 27 Jahren stecke ich so etwas auch irgendwie nicht mehr ganz so leicht weg wie noch vor fünf Jahren. Egal, es nützt nichts, ich muss los. Zum Glück habe ich ein Notfall-Schminktäschchen in meiner Handtasche, dann muss ich mich halt bei der Arbeit nochmal für ein paar Minuten ins Bad begeben und die schlimmsten Schäden an meinem Gesicht restaurieren.

Das alles spricht ja jetzt noch nicht so richtig gegen meine Heimatstadt, aber als ich dann endlich im Vollsprint aus meiner Wohnung, die Treppe hinab und nach draußen stürme, weiß ich wieder, warum es so Tage gibt, an denen ich Hamburg nicht mag. Nieselregen. Dieser andauernde, alles durchdringende Nieselregen und dazu ungemütliche 15 Grad. Und das im August! Einen Regenschirm besitze ich natürlich nicht, aber ich bin ja schließlich nicht aus Zucker. Den zugegebenermaßen blöden Spruch brachte meine Mutter immer, wenn ich früher versuchte, mich zu weigern, im Regen mit dem Fahrrad in die Schule zu fahren. Damals war meine Mutter noch eine … na ja, eine Bilderbuchmutter. Mittlerweile ist sie etwas … speziell ist, glaube ich, ein schöner Begriff. Aber ich habe jetzt keine Zeit, über meine Ma und ihre Eigenarten zu sinnieren, meine S-Bahn fährt in drei Minuten. Also, Tempo erhöhen, und zwar deutlich.

Abgehetzt und schweißgebadet erreiche ich genau drei Minuten später die Station und stürze in halsbrecherischem Tempo die Treppen hinab, aber bevor ich auf dem Bahnsteig ankomme, höre ich schon dieses gemeine hydraulische Zischen, das das Schließen der Türen begleitet. Verdammt … Es sind zwar nur zwei Haltestellen von Othmarschen, wo ich gerade stehe, bis nach Altona zu meiner Arbeit, aber zum Laufen ist es doch zu weit, vor allem bei diesem Wetter.

Meine eh schon kaum zu bändigenden Haare mögen dieses Wetter so gar nicht. Sie fangen an, sich immer kleiner zu machen und mit zunehmender Feuchtigkeit mehr und mehr einer verunglückten Pudel-Dauerwelle zu gleichen. Aber nein, natürlich nicht alle Haare. Nur ein Teil der langen Strähnen. Andere wiederum machen einen auf beleidigt und hängen einfach platt herunter. Dass sie sich aber auch nie einigen können! Ein vorsichtiger Griff in meine regennassen Strähnen bestätigt meine Vermutung, es geht schon los. Bevor nichts mehr zu retten ist, ziehe ich das Haargummi von meinem Handgelenk und binde mir einen Pferdeschwanz, während ich zu der großen Uhr auf dem Bahnsteig schiele.

Na ja, jetzt ist es auch egal. Ich bin um frühestens Viertel nach neun im Laden, der leider um neun Uhr schon aufmacht. Ich kann nur hoffen, dass Lucy, meine beste Freundin und gleichzeitig Kollegin, pünktlich da ist, um aufzuschließen.

Mit einem Seufzen lasse ich mich auf eine Bank fallen und warte auf die nächste Bahn, die leider erst in zehn Minuten einfährt.

Wo ich sowieso schon zu spät komme, lege ich in Altona noch einen kurzen Zwischenstopp bei meinem Lieblingscoffeeshop ein und besorge zwei extragroße Cappuccini und zwei Muffins für Lucy und mich.

Schwer beladen angele ich mit dem Ellenbogen nach dem Türgriff und bemühe mich, möglichst alles gleichzeitig irgendwie auszubalancieren. Meine Handtasche unter einen Arm geklemmt, die Papiertüte mit dem Gebäck zwischen den Zähnen und in jeder Hand einen Becher, durch den die Hitze langsam nach außen an meine Handflächen dringt, stolpere ich endlich ins Trockene und werde von einem herzhaften Lachen begrüßt. Na danke!

„Kann ich dir vielleicht irgendetwas abnehmen?“, wagt Lucy es auch noch scheinheilig zu fragen und kommt hinter dem Verkaufstresen hervor.

„Hmpf“, brumme ich nur und versuche mit dem Kinn auf die heißen Becher zu deuten. Okay, Lucy kennt mich seit fünf Jahren, sie versteht sofort, was ich meine, und nimmt mir unser Frühstück ab, bevor sie mich einer gründlichen Musterung unterzieht.

„Was ist denn mit dir passiert?“

„Nicht mein Tag. Erst verschlafen, dann der Regen und zu guter Letzt auch noch die Bahn weg. Kann nur besser werden“, grummele ich vor mich hin, als ich ins Hinterzimmer stapfe und meine durchnässte Jacke weghänge. Zum Glück sind bisher keine Kunden da und so husche ich noch eben ins Bad, um meine Augenringe zu bekämpfen. Lucy ist mir natürlich gefolgt, steht in der offenen Tür mit ihrem Cappuccino in der Hand und beobachtet meine Bemühungen.

„Das meinte ich eigentlich nicht. Du siehst eher aus, als hättest du letzte Nacht durchgefeiert.“

„Ja, schön wär’s. Nee, ich war gestern Abend bei Steffen und irgendwie … Na ja, ‚nett‘ war‘s jedenfalls nicht.“

Lucy runzelt die Stirn und mustert mich eingehend.

„Was war denn los? Habt ihr euch schon wieder gestritten?“

„Hm, ja. Er ist ausgerastet, weil er der Meinung war, ich hätte seine Fernsehzeitung entsorgt. Die liegt immer auf dem Klo rum und gestern war sie weg. Keine Ahnung, wo er sie gelassen hat, aber deshalb so auszuflippen? Na ja, jedenfalls kam eins zum anderen, irgendwann haben wir uns angebrüllt und dann bin ich gegangen“, erzähle ich die Kurzfassung des letzten Abends bei meinem Freund.

„Ah ja, und deshalb hast du natürlich wieder mal kaum geschlafen. Mensch, Leo, du darfst dir das nicht immer so zu Herzen nehmen. Der Kerl ist nur noch übellaunig und ständig lässt er es an dir aus. Und du fühlst dich jedes Mal schuldig, obwohl du gar nichts getan hast. Du solltest lieber mal darüber nachdenken, wie lange du dir das noch gefallen lassen willst.“

Theoretisch weiß ich ja, dass sie recht hat, aber

„Er ist mein Freund, Lucy, und das schon seit zwei Jahren. Er war früher nicht so, das weißt du doch. Ich hab auch keine Ahnung, was er im Moment hat, aber ich kann ihn ja nicht einfach im Stich lassen“, versuche ich, mich und meine Beziehung zu rechtfertigen.

„Leona Reimers, wenn du nicht endlich …“

Die Glocke über der Tür erlöst mich, als ein Kunde den Laden betritt und Lucy in den Verkaufsraum eilt. Ich beende mein Schminkritual, trinke noch einen Schluck aus meinem To-go-Becher, den Lucy netterweise auf das Waschbecken gestellt hat, und folge ihr.

Der kleine Laden Smukke Indre für Inneneinrichtung im dänischen Stil verkauft fast alles, was man an Dekoration und Accessoires so braucht oder auch einfach nur haben will. Von Gardinen über Kerzenleuchter, von Sturmlaternen bis hin zu original gusseisernen Morsoe-Holzöfen, hier bekommen unsere Kunden ein wenig dänisches Flair zum Mit-nach-Hause-Nehmen. Ich liebe dieses kleine Geschäft und muss mich immer zusammenreißen, um nicht selbst mein bester Kunde zu sein und die Hälfte der Sachen, die mein Chef so einkauft, wieder mitzunehmen und damit meinen Monatslohn gleich bei ihm zu lassen. Von irgendetwas muss ich ja leider meine Miete bezahlen und ein bisschen was zu essen brauche ich auch.

Den Vormittag über besuchen ständig neue Kunden das Geschäft, die sich vom Hamburger Schmuddelwetter nicht unterkriegen lassen und Lucy kommt dadurch nicht mehr dazu, ihre kleine Ansprache von heute Morgen zu beenden. Da sich unser Chef Jesper in letzter Zeit immer weniger im Smukke Indre blicken lässt, verbringen wir auch die Mittagspause nicht wie sonst so oft gemeinsam. Dementsprechend kommen wir erst kurz vor Feierabend, als es wieder ruhiger wird und wir allmählich den Laden aufräumen, dazu, miteinander zu sprechen.

„Danke noch für den Muffin heute Morgen. Und sorry, dass ich mich so eingemischt habe. Ich weiß, es ist deine Beziehung, aber manchmal … Ich mach mir halt Sorgen und kann es nicht gut mit ansehen, wie er dich in den letzten Wochen und Monaten behandelt. Ich verstehe nicht, wieso du so daran festhältst. Ich meine … ihr wohnt ja nicht mal zusammen.“

„Ist okay, Lucy. Ich weiß es ja eigentlich auch. So geht es nicht weiter. Aber zwei Jahre … Die wirft man nicht mal so eben weg. Ich meine, ich dachte immer, Steffen wäre der Richtige für mich. Wir suchen ja nach einer gemeinsamen Wohnung, aber du weißt genau, wie schwierig das hier in Hamburg ist, wenn man halbwegs zentral, aber trotzdem bezahlbar und dann auch noch in einer gewissen Größe etwas sucht. Mensch Lucy, wir wollten heiraten, Kinder … Und jetzt? Er hat sich so verändert. Er war früher nie so aufbrausend. Und jetzt hab ich das Gefühl, er wird immer mehr zum Choleriker. Aber ich habe keine Ahnung, warum.“

„Hat er vielleicht Stress bei der Arbeit? Ärger mit den Kollegen?“, versucht Lucy, wie schon diverse Male zuvor, einen Auslöser für Steffens allgemeine Unzufriedenheit zu finden, während sie das Geschlossen-Schild an die Ladentür hängt und abschließt. Gemeinsam treten wir durch die Hintertür in die kleine Gasse, die hinter dem Laden verläuft. Im noch immer anhaltenden Nieselregen eilen wir über die nassen Straßen in Richtung S-Bahn-Station.

„Lucy, ich weiß es nicht! Er spricht nicht mit mir. Und wenn ich ihn frage, sagt er nur, es wäre alles in Ordnung. Jeder hätte doch mal schlechte Laune.“

„Ja, aber nicht zwei Monate am Stück! Okay, Leo. Du musst mal raus! Mal auf andere Gedanken kommen. Was hältst du davon, wenn wir uns morgen einen schönen Mädelsabend machen. Ein paar Cocktails im Sweet Dreams und danach ein bisschen tanzen. Nur wir zwei, was meinst du? Wir waren schon ewig nicht mehr zusammen weg.“

„Ich weiß nicht … Disco ist ja nicht so meins …“, überlege ich und brauche einen Moment, um mich zu einer Zusage durchzuringen. Vielleicht hat Lucy recht und es wäre gut, sich mal den ganzen Frust der letzten Wochen von der Seele zu tanzen und einfach alles zu vergessen.

„Na gut, okay, morgen. Holst du mich ab? So gegen neun?“, gebe ich nach und verabschiede mich, als meine Bahn einfährt, von meiner besten Freundin. Jetzt noch schnell mein Auto aus der Werkstatt abholen und dann nichts wie ab nach Hause.

Kaum dass ich meine Wohnungstür aufschließe, höre ich schon mein Telefon klingeln. Schnell lasse ich meine Tasche fallen, trete meine nassen dunkelroten Chucks von den Füßen und sprinte los.

„Hallo?“, hauche ich leicht außer Atem in den Hörer, als mir schon die Stimme meiner Mutter ans Ohr dringt.

„Kind, wo warst du denn? Ich hab mir Sorgen gemacht! Ich hab schon fünfmal probiert und du gehst nicht ran“, überfällt sie mich auch gleich.

„Mama, ich habe gearbeitet. Wie jeden Tag unter der Woche und alle zwei Wochen sogar samstags.“ Ich bemühe mich wirklich, nicht allzu genervt zu klingen, aber es fällt mir schwer. So ein Telefonat führen wir mindestens einmal im Monat.

„Ja, aber doch nur bis um vier, Leona, jetzt ist es schon nach sieben.“

Ich atme tief durch und unterdrücke ein Seufzen. Ich weiß nicht, warum meine Mutter sich meine Arbeitszeiten nicht merken kann oder will.

„Mama, ich arbeite nicht mehr bei der Reederei. Ich arbeite jetzt im Smukke Indre, schon vergessen? Da fange ich erst um neun an und bleibe dafür bis sechs. Und das bereits seit drei Jahren! Und heute musste ich noch dazu mein Auto aus der Inspektion abholen.“

Sie hat ja nicht ganz unrecht. Früher war ich Bürokauffrau in einer Reederei unten am Hafen, aber die mussten Stellen abbauen, und durch einen Zufall, genauer gesagt, durch Lucys Idee, dass ich mich dort bewerben könnte, kam ich an den Job im Laden. Ursprünglich auch nur als Bürokraft, Buchhaltung und so etwas, aber als sich eine Kollegin ein Jahr später in den Mutterschutz verabschiedet hat, fehlte eine Verkaufskraft und so bin ich da hineingerutscht.

Vor einem Jahr hat mein Chef Jesper dann eine entfernte Großtante beerbt und seitdem genießt er sein Dasein als Ladeninhaber lieber von entfernteren Orten aus. Mittlerweile macht er fast nur noch die Warenbestellungen, für die er alle paar Wochen oder Monate nach Dänemark fährt und mit den Lieferanten persönlich verhandelt. Den Rest machen Lucy und ich, unterstützt durch unsere Aushilfskraft Jasmin, genannt Jazz, eine Innenarchitekturstudentin. Meine Arbeitszeiten sind also manchmal gar nicht so festgelegt, wie ich eben erklärt habe. Es kommt durchaus häufiger vor, dass ich auch sonntags im Geschäft bin, um die Buchhaltung zu machen, oder dass ich abends spät noch arbeite, um Lagerbestände aufzufüllen und Wareneingänge zu prüfen. Alles so Sachen, die man im Zweifel nicht hinbekommt, wenn zu den Öffnungszeiten Kundenverkehr herrscht.

„Kind, was klingst du denn so gestresst? Das geht doch so nicht. Da mix ich dir mal schön einen Kräutertee zusammen. Das entspannt dich wieder“, reißt mich die Stimme meiner Mutter aus meinen Gedanken. Ich presse Daumen und Zeigefinger an meine Nasenwurzel, als sich ein leichter Kopfschmerz bemerkbar machen will. Ganz ruhig, Leo! Nicht durchdrehen! Ich versuche, mich zu beruhigen. Eigentlich war ich völlig entspannt, als ich nach Hause kam, na ja, zumindest so lange, bis ich ans Telefon gegangen und meiner leicht exzentrischen Mutter verbal entgegengetreten bin. Im Hintergrund höre ich sie irgendwelche mir unverständlichen Worte murmeln. Wahrscheinlich sucht sie zu dem blöden Kräutertee noch komische beruhigende Halbedelsteine oder Räucherstäbchen heraus. Ich sage ja, meine Mutter ist speziell

„Mama, hör mal“, unterbreche ich ihr Genuschel. „Ich bin gerade reingekommen und ich habe wirklich Hunger. Lass uns doch nächste Woche mal auf nen Kaffee treffen, okay?“

„Leona, Kind, Kaffee? Sag nicht, du trinkst das Zeug noch immer? Das ist so schädlich für deine …“

Verdammt, großer Fehler

„Mama, Stopp! Dann eben Tee!“ So langsam bin ich echt ungehalten. Sie schafft es immer wieder, mich innerhalb kürzester Zeit zur Weißglut zu treiben mit ihrem alternativ-esoterischen Öko-Kräuter-Batik-Hippie-Kram. Nicht, dass ich nicht auch gern ab und an im Biosupermarkt einkaufe, sofern mein Geldbeutel es zulässt, aber meiner Mutter, dem erklärten Gesundheitsapostel, ist das natürlich zu wenig.

Mit einer losen Verabredung für irgendwann nächste Woche schaffe ich es endlich, das Gespräch zu beenden und mir eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben. Eigentlich wollte Steffen heute Abend zu mir kommen, aber in einer SMS, die während des Telefonats gekommen ist, schreibt er, dass er länger arbeiten muss und es leider nicht mehr schafft. Auch das kommt in letzter Zeit häufiger vor. Wir leben mittlerweile in einer Beziehung, wie man sie früher hatte, als man noch zu Hause gewohnt hat und zur Schule gegangen ist. Zumindest kommt es mir so vor. Öfter als dreimal in der Woche sehen wir uns derzeit selten.

Dennoch bin ich davon überzeugt, Steffen ist noch immer mein Traummann, so wie er es die letzten zwei Jahre war. Wir stecken nur in einer Krise, aber die kommt doch in jeder Beziehung einmal vor. Wenn wir dies hier überstanden haben, beginnen wir einen neuen Lebensabschnitt miteinander.

Während ich darauf warte, dass mein Abendessen fertig wird, sitze ich am Küchentisch und überlege, was meine Mutter jetzt eigentlich gewollt haben könnte. Einen wirklichen Grund für ihren Anruf kann ich auch nach der dritten gedanklichen Wiederholung unseres Gespräches nicht feststellen. Wie gesagt, früher war sie nicht so. Diesen Spleen hat sie erst in den letzten fünf Jahren entwickelt, seit mein Vater plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben ist. Es war für uns alle ein Schock, auch für mich und meine zwei Jahre ältere Schwester Janne, aber meine Mutter hat es völlig aus der Bahn geworfen. Seitdem wühlt sie sich ständig neue Ideen aus Büchern und dem Internet, um sich und uns ein möglichst langes Leben zu ermöglichen. Von chinesischen Heilkräutern, über Meditation zur Reinigung des Geistes, bis hin zu irgendwelchen Sternzeichen-Ernährungs-Weisheiten, sie hat sich über alles ein solides Halbwissen angeeignet, an welchem sie vor allem mich nur zu gern teilhaben lässt.

Erst der Kickstart am Morgen, das Gespräch mit Lucy über meine Beziehung mit Steffen und jetzt auch noch das Telefonat mit meiner Mutter. Dieser Tag hatte es echt in sich. Dazu der Schlafmangel der letzten Nacht, das alles reicht, um mich direkt nach der Pizza ins Bett gehen zu lassen und sofort wie ein Stein einzuschlafen.

2

Ladies Night

Am nächsten Abend um Punkt neun steht Lucy vor meiner Tür. Nach einem weiteren handfesten Streit mit Steffen am Telefon um meine heutige Abendplanung bin ich eigentlich nicht in der Stimmung, jetzt feiern zu gehen. Aber ich habe es versprochen und so bin ich tatsächlich fertig gestylt, als es klingelt und Lucy die Treppen in den ersten Stock hochkommt.

Wie immer, wenn ich sie im Partyoutfit sehe, bleibt mir erst einmal die Luft weg. Lucy ist in meinen Augen wunderschön. Sie ist recht groß, fast einsfünfundsiebzig, schlank, aber an den richtigen Stellen gerundet, hat honigblonde, lange, glatte Haare und als Kontrast dazu dunkelbraune Augen. In ihrem glitzernden, roten Top zu der schwarzen Jeans sieht sie so umwerfend aus, dass ich mir dagegen wie ein graues Mäuschen vorkomme. Ich bin gegen sie fast zwergenhaft klein, gerade mal einssechzig, wenn ich mich strecke, und mager wie ein dreizehnjähriges Schulkind. Meine Chaoshaare hatte ich ja schon erwähnt und meine Augen sind einfach schlicht blau. Nicht himmelblau, auch nicht Kornblumenblau oder Neue-blaue-Orchideen-Blau, nein, einfach blau wie verwaschene Tinte. Langweilig. Selbst mein silbrig schimmerndes Oberteil mit dem hübschen Wasserfallausschnitt wirkt unscheinbar neben Lucy.

Das klingt jetzt so, als wäre ich eine dieser Frauen, die nie zufrieden sind mit ihrem Aussehen, aber das bin ich nicht. Im Gegenteil, ich bin normalerweise sehr zufrieden und weiß, dass ich ganz sicher nicht hässlich bin. Ich hatte auch nie großartige Probleme, nette Männer kennenzulernen. Trotzdem bin ich nicht schön wie Lucy, sondern eher niedlich, süß.

Heute Abend ist mir egal, ob ich neben ihr überhaupt noch auffalle. Sie will ja auch den einen oder anderen Flirt mitnehmen, während ich im Gegensatz zu ihr kein Single bin und durchaus zum treuen Typ Mensch gehöre, selbst wenn meine Beziehung gerade ziemlich kriselt. Ich schnappe mein kleines Ausgehtäschchen und wir steuern unsere liebste Cocktailbar an.


Im vollen Sweet Dreams finden wir in einer Ecke tatsächlich noch einen Platz an einem der dunklen, zerkratzten Zweiertische. Kaum haben wir unsere Caipirinhas vor uns stehen, legt Lucy auch gleich los. Ich weiß, was jetzt kommt, schließlich kenne ich sie seit Jahren und sie hat mich den ganzen Weg hierher schon so merkwürdig von der Seite angesehen.

„Was ist mit dir, Leo?“, fragt sie direkt, ohne großes Drumherumreden. „Und bevor du es versuchst, ein ‚Nichts‘ lasse ich nicht gelten.“

„Nur wieder Stress mit Steffen“, winke ich ab. „Er hat vorhin angerufen und wollte, dass ich heut Abend zu ihm komme und für ihn koche.“

„Hä? Bist du jetzt seine Köchin oder was? Kann er sich nicht selbst was machen? Außerdem, hattest du nicht gestern noch gesagt, er wäre heute mit seinen Kumpels weg?“

„Ja, hat sich aber erledigt. Irgendwie haben die wohl doch keine Zeit und jetzt hat er verlangt, dass ich dir absage und zu ihm komme. Na ja, ich wollte nicht und er war mal wieder sauer und hat am Telefon rumgebrüllt. Irgendwann hat er wutentbrannt aufgelegt.“


„Ach Süße, so geht das doch nicht weiter. Heute Abend vergisst du mal den ganzen Kram und genießt einfach. Flirte ein bisschen und hab Spaß! Ab morgen früh kannst du dir dann wieder Gedanken um Steffen machen und darum, wie es mit euch weitergehen soll, okay?“ Lucy gibt der Kellnerin ein Zeichen und bestellt noch zwei Caipis. Wann habe ich denn den ersten ausgetrunken? Wir sind doch gerade erst gekommen?


Nach dem dritten Cocktail geht es mir besser und ich vergesse den Streit mit meinem Freund. Eine wohlige Wärme hat sich in meinem Inneren ausgebreitet und auf einmal habe ich Lust zu tanzen. Wir trinken aus und nachdem wir bezahlt haben, machen wir uns auf den Weg in die Disco. Direkt um die Ecke, nur ein paar hundert Meter weiter, ist ein kleiner Club. Wenn ich schon tanzen gehe, dann wenigstens nicht so eine Großraumdisco, in der die kaum volljährigen und viel zu spärlich bekleideten Schicksen um die Gunst der reichlich anwesenden Schönlinge buhlen.


Im Club wird tanzbare Musik aus den letzten drei Jahrzehnten querbeet gespielt und wir toben uns auf der kleinen Tanzfläche aus. Als ich zwischendurch an der Bar zwei Gin Tonic für uns hole, fällt mir ein Typ ins Auge, der mich lächelnd mustert. Nicht sonderlich groß, vielleicht einsfünfundsiebzig, aber durchaus nett anzusehen mit seinen blonden Haaren, dem markanten Gesicht und der sportlichen Figur, und so lächle ich automatisch zurück. Als ich mit unseren Getränken an ihm vorbeilaufe, sehe ich aus dem Augenwinkel, wie er mir mit seinen Blicken folgt. Es dauert auch nicht lange, ich stehe mit meinem Glas in der Hand am Rand der Tanzfläche und beobachte die Leute um mich herum, da kommt er zu mir und spricht mich tatsächlich an.

„Hi! Ich bin Felix.“

„Äh, hi, Leona.“

„Hast du Lust zu tanzen?“

Ein wenig hilfesuchend sehe ich zu Lucy, die neben mir steht und auch bereits ein Flirtopfer gefunden hat. Aber sie zwinkert mir nur verschwörerisch zu und formt lautlos ein „Viel Spaß“ mit den Lippen. Okay, ein bisschen Tanzen ist ja noch kein Betrug an meinem Freund, also stelle ich mein Glas auf einen der Tische, die rund um die Tanzfläche stehen, und lasse ich mich mitziehen.

Einige Lieder später landen wir völlig außer Atem und halb verdurstet an der Bar. Über die laute Musik hinweg haben wir uns sogar beim Tanzen unterhalten. Felix ist wirklich nett, macht mir Komplimente und hat nur Augen für mich. Nach den letzten Wochen tut es gut, mal wieder von einem Mann so behandelt zu werden, so dass mein Freund tatsächlich immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Bis zu der einen gewissen Frage, die natürlich irgendwann kommt.

„Darf ich dich anrufen? Vielleicht können wir uns mal wiedersehen. Auf nen Kaffee oder so?“

Mist! Nein! Was sag ich denn jetzt? Ich kann ihm doch nicht meine Nummer geben?

„Ähm, ich glaub, das ist keine so gute Idee. Also, eigentlich hab ich einen Freund und ich vermute, der wäre nicht so begeistert davon …“ Innerlich winde ich mich und habe Sorge, dass Felix sauer werden könnte, doch er reagiert total cool.

„Okay, schade. Aber falls das mit deinem Freund mal auseinandergehen sollte, ich bin öfters hier. Vielleicht bekomme ich dann noch eine Chance?“ Er grinst, zwinkert mir zu und ordert beim Barmann neue Getränke für uns. Na, den Korb hat er aber gut weggesteckt!

Als ich mich Stunden später von ihm verabschiede, nimmt er mich in den Arm, gibt mir einen Kuss auf die Wange und flüstert mir „Man sieht sich immer zweimal im Leben“ ins Ohr. Die Worte lassen einen kleinen Schauer über meinen Rücken laufen und den ganzen Heimweg bekomme ich dieses leicht dümmliche Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Was für ein schöner Abend!

Das Erwachen am nächsten Morgen ist dann leider nicht mehr ganz so schön. Ein schrilles Klingeln weckt mich und dröhnt durch meinen leicht schmerzgeplagten Kopf. Irgendwie war der letzte Gin Tonic wohl nicht so gut

Ich überlege gerade, ob dieses Klingeln meine Haustür oder mein Telefon ist, da herrscht wieder Stille. War also anscheinend das Telefon. Seufzend drehe ich mich auf die Seite und versuche noch einmal einzuschlafen, aber keine Chance. Mein Magen rumort und mein Kopf dröhnt. Da hilft nur aufstehen, Kopfschmerztablette, Kaffee und eine lange, heiße Dusche.

Danach sitze ich in Jogginghose und gemütlichem Longsleeve mit dem letzten Schluck Koffein auf meiner Couch und lasse den Abend noch einmal Revue passieren. Es war wirklich toll, mal wieder mit Lucy loszuziehen. Das haben wir viel zu lange nicht mehr gemacht. Und Felix … Ja, der hatte schon was. Charmant, ein guter Gesprächspartner mit schönem Humor. Selbstbewusst, ohne arrogant zu sein. Liebenswert … Moment mal, liebenswert? Wieso denke ich so über ihn, nach gerade mal einem Abend? Noch dazu

Mein Gedanke wird durch die sich öffnende Wohnungstür unterbrochen. Es gibt außer mir nur eine Person, die einen Schlüssel zu meinen heiligen vier Wänden hat. Steffen. Und da höre ich ihn auch schon nach mir brüllen. Nicht, dass er das müsste! In meiner kleinen hellhörigen Zwei-Zimmer-Wohnung würde ich ihn auch verstehen, wenn er meinen Namen flüstert. Okay, vorbei die angenehm ruhigen Minuten des Kater-Pflegens und Verträumt-über-fremde-Männer-Sinnierens. Steffen betritt das Wohnzimmer und legt sofort los.

„Sag mal, spinnst du? Wo zum Henker warst du?“

„Steffen, nicht so laut, bitte. Ich hab Kopfschmerzen“, wage ich es zu sagen, nachdem ich deutlich zusammengezuckt bin, als die Lautstärke meinen Schädel traf.

„Nicht so laut? NICHT SO LAUT? Ich glaub, ich spinne! Erst verschwindest du die ganze Nacht, gehst nicht ans Handy und jetzt heulst du rum, weil ich ZU LAUT bin? Du hast doch nur die ganze Nacht gesoffen! Wahrscheinlich hast du dich auch noch schön durchvögeln lassen von irgendeinem billigen dahergelaufenen Penner.“

„Sag mal, geht’s noch? Wer spinnt jetzt hier?“, seine Vorwürfe lassen mein Blut in Wallung kommen und ich springe auf und recke mich vor ihm auf meine kompletten 160 Zentimeter. „Ich war tanzen, Steffen. TANZEN! Mit Lucy und das weißt du ganz genau!“

Okay, als ich irgendwann gegangen bin, war Lucy schwer beschäftigt mit ihrem Flirt und ich vermute, sie ist heut Nacht auch nicht allein nach Haus gegangen, aber das muss ich Steffen ja nicht auf die Nase binden.

„Was denkst du eigentlich von mir? Ich lasse mich von niemandem durchvögeln! Entschuldige bitte, dass ich in der Disco mein Handy nicht gehört habe, aber ich habe jetzt auch nicht wirklich mit Kontrollanrufen von dir gerechnet.“

Ich merke selbst, wie meine Stimme vor Sarkasmus trieft, und sehe, wie Steffen hochrot im Gesicht wird. Seine Hände ballen sich zu Fäusten, zittern, als müsste er sich zusammenreißen, mich nicht zu schlagen, und er kneift fast schon hasserfüllt die Augen zusammen. So wütend habe ich meinen Freund noch nie gesehen und zum ersten Mal, seit ich ihn kenne, verspüre ich einen Hauch von Angst vor ihm. Unangenehm kriecht sie mir den Rücken hoch und verursacht eine Gänsehaut, die mich schaudern lässt.

„Und was ist mit heute Morgen? Ich habe bestimmt zehnmal angerufen. Auf dem Festnetz, auf dem Handy, aber nein, Madam geht ja nicht ans Telefon!“ Seine Wut ist noch immer nicht verraucht und er steht vor mir wie ein Rachegott.

Unbehaglich weiche ich einen Schritt zurück. Was ist das hier gerade? Wer ist der Mann vor mir, der sich augenscheinlich kaum noch zügeln kann? Ich schlucke trocken gegen dieses üble Gefühl an und atme tief durch. Meine Wut auf ihn verpufft so plötzlich wie ein Luftballon, in den man eine Nadel gestochen hat. Ich gehe mit zittrigen Beinen zum Sessel und lasse mich hineinfallen, stütze die Ellenbogen auf die Knie und vergrabe mein Gesicht in den Händen.

„Es tut mir leid, Steffen.“ Ich weiß selbst nicht so genau, wofür ich mich hier entschuldige, eigentlich habe ich doch nichts falsch gemacht, oder? Aber ich mag nicht mehr streiten. Ich will meinen alten Steffen wiederhaben. Den Mann, der mich geliebt hat, mit dem ich lachen konnte und stundenlang einfach nur reden. Den Mann, mit dem ich letztes Jahr Hand in Hand durch Rom geschlendert bin und Zukunftspläne geschmiedet habe. Auf einmal bin ich nur noch müde.

„Was ist nur mit uns los, Steffen?“, murmele ich tonlos. Keine Ahnung, ob er mich versteht, aber plötzlich hockt er vor mir und nimmt vorsichtig meine Hände runter.

„Ich weiß es nicht, Leo. Ich will das doch auch nicht. Aber im Moment ist alles so …“ Er seufzt, zieht mich hoch in seine Arme und drückt mich an sich, aber er spricht nicht weiter.

„Was ist alles so …, Steffen? Bitte, rede mit mir. Was ist denn los? Du bist so anders in letzter Zeit, ich erkenne dich gar nicht mehr wieder. Hast du irgendwelche Probleme? Dann sprich doch mit mir. So kann es nicht weitergehen.“

Er versteift sich und schiebt mich von sich. „Gar nichts, Leo. Es ist nichts. Wollen wir nen Film gucken?“

Großartig. Da bin ich ja mal wieder richtig weit gekommen. Er blockt ab und verkriecht sich hinter einer Mauer aus Was-auch-immer und für mich hängt gut sichtbar ein Betreten-verboten-Schild daran. Ich weiß nicht mehr, was ich noch versuchen könnte, um an ihn heranzukommen.

Gemeinsam suchen wir eine DVD heraus und setzen uns mit einem Sicherheitsabstand von bestimmt dreißig Zentimetern auf das Sofa. Zum Mittagessen bestellen wir Nudeln beim Lieferservice und essen, während im Fernseher zum schätzungsweise hundertsten Mal „Stirb langsam“ läuft. Ich kenne den Film schon in- und auswendig, kann jede Textzeile mitsprechen und eigentlich wäre mir nach dieser Auseinandersetzung eher nach etwas Lustigem gewesen, aber das hier ist Steffens absoluter Lieblingsfilm und ich möchte heute nicht noch einen Streit vom Zaun brechen, indem ich auf einen anderen Film bestehe. Das vorhin hat mir gereicht und diese plötzliche Angst, die mich überkommen hat, lässt meinen Gedanken keine Ruhe. Auch wenn ich nicht wirklich greifen kann, wo sie auf einmal hergekommen ist. Steffen hat mir bisher nie einen Grund gegeben, ihn in irgendeiner Form zu fürchten und auch gerade ist ja eigentlich nichts passiert. Aber dennoch

Ich kann der Handlung auf dem Fernseher nicht wirklich folgen und irgendwann zum Ende hin schlafe ich ein. Als ich eine Stunde später aufwache, ist Steffen weg.

Kein Wort des Abschieds, geschweige denn ein Kuss. Der Fernseher ist aus und er ist weg. In mir toben die widersprüchlichsten Gefühle. Ich bin sauer und enttäuscht, weil er einfach so gegangen ist – nicht einmal einen Zettel hat er irgendwo hinterlassen. Andererseits bin ich auch froh darüber, nicht noch den Rest des Tages mit eingezogenem Kopf um ihn herumschleichen zu müssen und zu hoffen, dass ich nicht wieder etwas falsch mache, was ihn in Rage bringt.

Frustriert mache ich mir das Übriggebliebene von unserem Mittag warm und denke über meine Beziehung nach – mal wieder – bis mein Telefon klingelt. Lucy. Bestimmt will sie mir vom Rest ihrer Nacht berichten. Das ist jetzt genau das Richtige, um mich aus meiner trüben Grübelstimmung zu holen.

„Hey, Süße! Was gibt’s?“, begrüße ich sie freudig.

„Ich wollte mal horchen, ob du gut nach Haus gekommen bist. Mit Felix …“ Ich kann ihr Grinsen förmlich hören. Ich weiß genau, was sie denkt, aber da muss ich sie leider enttäuschen.

„Nichts da Felix! Wir haben uns noch in der Disco verabschiedet, ich bin allein nach Hause. Ich bin kein Single, schon vergessen? Und wie war‘s bei dir so?“, lenke ich schnell ab, bevor sie auf die Idee kommt, mich nach dem aktuellen Stimmungsstand mit Steffen zu fragen. Ich möchte da eigentlich nicht drüber nachdenken, deshalb bin ich ja so froh, dass sie angerufen hat, und ich will ihr erst recht nichts von dieser, auch im Nachhinein noch angsteinflößenden, Situation erzählen. Zum Glück hat Lucy anscheinend wirklich dringenden Redebedarf.

„Ach, herrlich! Ich war noch bis nach fünf da. Mit Nico. Und danach …“

Lucy legt eine kunstvolle Pause ein, als wolle sie die Spannung dramatisch erhöhen. Fast wie ein Quizmaster, der gefühlte Minuten wartet, bevor er den Kandidaten erlöst und die richtige Antwort bekannt gibt.

„Mensch, Lucy, spann mich nicht so auf die Folter! Ich will alles wissen. Was ist dann passiert?“

Sie kichert leise und macht ein Geräusch, das sich nach einem „Pst“ anhört. Ich höre Geraschel im Hintergrund, jemand murmelt etwas, das ich nicht verstehe.

„Lucy? Was ist da los? Hast du Besuch?“ In dem Moment dämmert es mir. Blöde Frage aber auch! „LUUUCYYY! Sag mal, ist Nico bei dir?“ Wieder ein Kichern, bevor sie antwortet.

„Äh, ja. Kann sein. Also, … Okay, ja, er ist noch hier. Er hat mich gestern nach Hause gebracht, na ja, heute Morgen, und dann hatte der Bäcker schon auf und wir haben uns Frühstück mitgenommen.“

„Wie bitte? Ihr habt zusammen gefrühstückt? Und dann?“

„Dann haben wir geschlafen. Nebeneinander. Öhm, erstmal …“

„Lucy!“, bringe ich warnend heraus, weil sie sich schon wieder unterbricht und mich echt die Neugierde plagt.

„Okay, okay, ja, wir haben miteinander geschlafen. Zweimal. Und es war toll! Nico ist toll! Ich glaub, ich hab mich ein bisschen verknallt …“

Na super. Meine allerliebste Lucy hat sich verknallt. Mal wieder. Das passiert regelmäßig. Leider entpuppen sich die Traumprinzen in der Regel nach kurzer Zeit als Frösche. Gut, Lucy versinkt dann nicht gleich in einem Tränenmeer vor lauter Liebeskummer. Eigentlich zuckt sie nur mit den Achseln und sucht sich den Nächsten, aber ich würde mir für sie schon etwas Längerfristiges, etwas Festes wünschen. Und ich weiß, dass auch Lucy gern einmal eine richtige Beziehung hätte. Eine, die länger als ein paar Wochen hält. Darum hat sie mich und Steffen immer ein bisschen beneidet. Aber dafür hat Lucy relativ regelmäßig Sex. Ist doch auch was. Ich selbst kann mich schon nicht mehr daran erinnern, wann Steffen und ich das letzte Mal … Wie ich vorhin mal wieder gemerkt habe, sind ja selbst Küsse mittlerweile out in unserer Beziehung. Der Kuss von Felix letzte Nacht war mehr, als ich von meinem Freund in den letzten Wochen bekommen habe. Nicht schön, ich weiß. Aber was soll ich tun? Ich kann ihn ja schlecht dazu zwingen.

„Und wo ist er jetzt? Sitzt er daneben und hört zu, wie du mir von seinen Künsten im Bett vorschwärmst?“ Genau das hat Lucy nämlich grad sehr anschaulich getan, während ich meinen eher unromantischen Gedanken nachhing.

„Nee, er ist in der Küche und kocht uns was. Ich glaube, er sagte was von Nudeln. Mal schauen. Wenn er jetzt auch noch kochen kann, hab ich wohl meinen Traummann gefunden“, scherzt sie und wir schütten uns fast aus vor Lachen. Lucy kann selbst nämlich leider gar nicht kochen. Sie behauptet, sie würde sogar Wasser anbrennen lassen, und wir haben immer darüber geflachst, dass sie bestimmt den erstbesten Mann heiratet, der ihr ein vernünftiges Essen zaubern kann. Wir reden noch eine Weile weiter, bis ich aus dem Hintergrund eine sympathisch klingende Stimme höre.

„Na, habt ihr den letzten Abend ausgiebig durchgekaut? Essen steht auf dem Tisch. Und grüß deine Freundin schön, sie hatte dich grad lange genug, jetzt bin ich dran.“

Lucy kichert schon wieder und auch ich muss zugeben, der Kerl scheint echt nett zu sein. Wir verabschieden uns, damit Lucy Nicos Kochkünste testen kann. Morgen bei der Arbeit sehen wir uns ja, da kann sie mir dann haarklein den Rest erzählen.