Der Bergpfarrer – 187 – Wer bist du, Fremder

Der Bergpfarrer
– 187–

Wer bist du, Fremder

Herzen, die sich wieder begegnen

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-648-9

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Ria Stubler sah den Fremden, der vor ihrer Tür stand, fragend an.

»Wollen S’ zu mir?«

Die Wirtin der kleinen Pension in St. Johann hatte den ihr unbekannten Mann eher zufällig gesehen. Sie arbeitete im Garten und hatte einen Sack mit Abfall nach vorne vor das Haus tragen wollen. Der Mann hatte noch die Hand gehoben, um zu klingeln, als Ria um die Ecke kam.

»Grüß Gott!«, sagte er und lächelte sie an. »Ja, ich wollt’ fragen, ob bei Ihnen noch ein Zimmer frei ist.«

Die Wirtin musterte ihn. Der Unbekannte machte einen sympathischen Eindruck. Er trug einen Vollbart, wodurch sein wahres Alter nur schwer zu schätzen war, aber seine Augen schauten freundlich, und überhaupt hatte Ria ein untrügerisches Gefühl für Menschen, denen sie vertrauen durfte.

»Sie haben Glück«, antwortete sie. »Grad heut’ erst hat ein Gast stornieren müssen, weil es einen Trauerfall in seiner Familie gab. Das Zimmer ist noch frei. Wie lang’ wollen S’ denn bleiben?«

»Tja, ich weiß noch gar net genau… Vierzehn Tag’ vielleicht, wenn das geht?«

»Das lässt sich einrichten«, sagte Ria erfreut. »Genauso lange wollte der Mann nämlich eigentlich hier wohnen. Warten S’ einen Moment, ich mach’ Ihnen gleich auf.«

Sie verschwand wieder um die Ecke, ging durch den Garten zurück zur Hintertür und kam durch den Flur an die Haustür.

»So, bitt’ schön, kommen S’ herein, Herr…?«

»Florian Sommer«, stellte er sich vor.

Er hatte einen großen Koffer in der Hand. Ria fiel ein, dass sie nur einen kurzen Blick auf das fremde Auto geworfen hatte, das vor der Tür stand.

»Sie können sich später eintragen«, sagte sie. »Jetzt zeig’ ich Ihnen erst einmal das Zimmer.«

Die Wirtin nahm einen Schlüssel vom Brett und ging voran, die Treppe hinauf. Oben angekommen schloss sie auf und ließ den Gast eintreten.

»Ich hoff’, Sie werden sich bei mir wohl fühlen«, bemerkte sie und erklärte, zu welchen Zeiten gefrühstückt werden konnte.

Florian Sommer nickte dankbar und meinte, er würde sich bestimmt wohl fühlen, das Zimmer gefiele ihm ausgezeichnet. Mit einem Lächeln auf den Lippen verabschiedete sich Ria Stubler und ging hinaus.

Der junge Mann atmete tief durch. Er trat an das Fenster, öffnete dann aber die Balkontür und ging hinaus. Die Arme auf die Brüstung gelegt, stand er da und schaute auf die Berge, die zum Greifen nahe schienen. Die Luft roch nach Blumen und wilden Kräutern; ein Duft, den er längst vergessen zu haben glaubte.

Während sein Blick schweifte, dachte Florian an damals. Da hinten irgendwo stand der Hof, den er bei Nacht und Nebel hatte verlassen müssen, vor der Polizei fliehend.

»Es ist ein Wahnsinn, dass du wieder zurückgekommen bist«, murmelte er vor sich hin.

Aber es musste sein. Tagelang hatte er sich dagegen gewehrt, sich gesagt, dass es falsch sei, was er sich da vorgenommen hatte. Und doch war die Sehnsucht stärker gewesen, als die Furcht, ins Gefängnis zu kommen.

Zwei Dinge hatten Florian Sommer, der eigentlich Hochleitner hieß, angetrieben, zurück in die Heimat zu fahren.

Da war zum einem die Sehnsucht nach zu Hause, der Wunsch, seinen Vater wiederzusehen, und zum anderen das heiße Verlangen, sich von jeder Schuld reinzuwaschen und den wahren Täter, denjenigen, der ihm die Verbrechen in die Schuhe geschoben hatte, zu überführen. Jetzt endlich war Florian sicher, Beweise zu haben, die seine Unschuld belegten, er musste nur geschickt vorgehen, seine Tarnung nicht zu früh lüften und dann plötzlich und unerwartet zuschlagen.

Seine Augen brannten plötzlich. Aber das lag nicht an den Sonnenstrahlen. Florian fuhr sich über das Gesicht und wischte die Tränen fort.

Zum Weinen war immer noch Zeit!

Der Heimgekehrte ging in das Zimmer zurück und packte seinen Koffer aus. Dann sah er auf die Uhr. Es war später Nachmittag. Zu spät, um heute noch etwas zu unternehmen. Außerdem musste er vorsichtig sein. Zwar hatte er sich seit seiner Flucht nicht mehr rasiert, aber sicher sein konnte er nicht, dass ihn nicht doch jemand trotz seines Vollbartes erkannte.

Also erst einmal im Dorf umsehen, schauen, was sich in den letzten Jahren alles so verändert hatte, und vielleicht im Kaffeegarten des Hotels etwas trinken.

Florian Hochleitner zog ein leichtes Jackett über und verließ das Zimmer. Als er die Treppe herunterkam und den Flur durchquerte, begegnete ihm keine Menschenseele. Er öffnete die Haustür und sah die Wirtin im Vorgarten arbeiten. Florian grüßte, und Ria wünschte ihm noch einen guten Tag.

Sie richtete sich auf und schaute ihm hinterher.

Ein netter, junger Bursche. Aber ihn schien irgendeine geheimnisvolle Aura zu umgeben. Sie hatte ein Händchen dafür und wusste immer sofort, wenn jemand vor ihr stand, der ein Problem mit sich herumschleppte.

Und bei Florian Sommer war dieses Gefühl ganz besonders stark.

*

Es hatte sich nichts verändert, stellte er sehr schnell fest. Alles war noch genauso, wie vorher, und in der Mitte des Dorfes stand noch immer die Kirche, gebaut für die Ewigkeit.

Florian hatte einen langen Spaziergang gemacht. Lange von der Zeit her, weil er immer wieder stehen geblieben war und hier und da verweilte, um sich ausgiebig dieses oder jenes Haus anzuschauen. Er kam sich vor, wie jemand, der viele Jahre von zuhause fort gewesen war und jetzt wieder heimkommt und sich neu orientieren muss. Dabei waren es kaum mehr als drei Jahre, die er in der Fremde verbracht hatte. Aber diese Jahre hatten ihn geprägt. Immer in der Furcht lebend, als Verbrecher erkannt zu werden, ständig auf der Hut vor der Polizei sein müssen, das war etwas, das ihn geformt und einen misstrauischen Menschen aus ihm gemacht hatte.

Nach seinem Rundgang durch den Ort kehrte Florian in den Bier- und Kaffeegarten ein. Wie er es von früher her kannte, herrschte hier großer Andrang. Die meisten Gäste um diese Zeit waren Urlauber, die sich hier an Kaffee und Kuchen gütlich taten.

Florian Hochleitner fand einen freien Platz an einem der langen Tische. Er grüßte die anderen Gäste mit einem Kopfnicken und setzte sich. Schnell kam eine Bedienung herbei und erkundigte sich nach seinen Wünschen. Lächelnd bestellte er ein Kännchen Kaffee. Lächelnd deshalb, weil er die junge Frau kannte. Sophie Hierlinger war die Tochter eines Nachbarn, die im Hotelfach lernte. Allerdings schien sie keine Ahnung zu haben, wen sie da bediente. Indes war der Heimkehrer froh darüber, zeigte es doch, dass seine Tarnung wirkte.

Vorhin hatte er fast einen Herzschlag bekommen, als er am Polizeirevier vorüber gegangen war, und Max Trenker plötzlich herauskommen sah. Der Polizist hatte ihn seinerzeit immer wieder verhört, musste ihn aber stets wieder laufen lassen, weil er ihm die Einbrüche und Diebstähle nicht nachweisen konnte.

Würde er ihn jetzt wiedererkennen?

Der Bruder des Bergpfarrers warf dem Vorübergehenden nur einen Blick zu und wandte sich gleich wieder ab.

Pfarrer Trenker wäre vielleicht noch eine Möglichkeit gewesen, sich jemandem anzuvertrauen. Doch das hatte Florian damals schon nicht gemacht, und heute sah er keine Veranlassung dazu. Alles, was er brauchte, um sich wieder reinzuwaschen, war in seinem Besitz.

Daran dachte er auch, als er jetzt unter den vielen anderen Gästen saß und seinen Kaffee trank. Allerdings schweiften seine Gedanken auch immer wieder ab. In der letzten Zeit hatte er vermehrt wieder an seinen Vater denken müssen, vor allem, als feststand, dass er heimfahren würde.

Josef Hochleitner, der Altbauer auf dem Hochleitnerhof, der längst an den Sohn hätte übergeben werden sollen. Florian fragte sich, wie es ihm wohl ging. Um die sechzig war der Vater mittlerweile, und sein Sohn hoffte, bei bester Gesundheit. Wissen konnte er das nicht, denn jeder seiner Briefe, die er an den Vater geschrieben hatte, in der Hoffnung, wenigstens er würde ihm glauben und daran, dass sein Sohn unschuldig war, kam ungeöffnet zurück.

›Annahme verweigert!‹, hatte der Postbote darauf geschrieben. So oft, bis er, Florian, es endlich aufgegeben hatte, noch mehr zu schreiben.

Wenigstens hatte der Vater der Polizei nicht verraten, wo sein Sohn inzwischen lebte!

Florian leerte das Kännchen und zahlte. Langsam ging er zur Pension zurück und legte sich angezogen auf das Bett. Es drängte ihn, zum Hof zu fahren und seinem Vater alles zu erzählen. Er musste ihm einfach glauben, dass er unschuldig war.

Aber Florian fürchtete sich auch vor dem Wiedersehen. Sein Vater war ein unbeugsamer Mann, hart in seinem Urteil, unbelehrbar in seinen Ansichten. Wann immer es einen Streit zwischen Vater und Sohn gegeben hatte, am Ende hatte der Bauer die Oberhand behalten, und Florian sich gebeugt. Wahrscheinlich würde sich bis heute nichts daran geändert haben.

Es war später Abend, als er die Pension wieder verließ. Mit dem Auto fuhr er die Bergstraße hinauf, die zum Hochleitnerhof führte. Ein paar Kilometer davor stieg er aus und ging zu Fuß weiter.

An der Scheune brannte eine einsame Laterne, ansonsten war alles dunkel.

Bestimmt schliefen sie schon; der Vater, Xaver, der Knecht, und Marie, die alte Magd, die schon zum Inventar gehörte, so lange war sie schon auf dem Hof in Stellung.

Plötzlich vernahm Florian ein böses Knurren. Aber es war kein wildes Tier, das seine Witterung aufgenommen hatte. Er legte die Hand an den Mund und rief leise den Namen des Hundes. Jockel kam wie ein Blitz durch die Dunkelheit geschossen und sprang an ihm hoch.

»Still, du alter Racker«, lachte Florian und klopfte ihm auf das Fell. »Du weckst ja noch alle auf!«

Der Hund hatte sich ihm zu Füßen geworfen und winselte vor lauter Freude.

»Hast mich sofort wiedererkannt, was?«

Florian spürte, wie sich ihm Tränen in die Augen drängten, und schluckte schwer dagegen an.

»Ist ja gut, mein Alter«, sagte er leise. »Vielleicht komm’ ich ja bald für immer wieder zurück.«

Als er kurze Zeit später zu seinem Wagen zurückging, war die Sehnsucht nach seinem Vater noch größer als zuvor. Am liebsten hätte er sofort kehrtgemacht und an die Tür geklopft.

Doch damals war er in der Nacht fortgegangen, jetzt wollte er am Tage wieder heimkehren.

*

»Haben S’ gut geschlafen?«, erkundigte sich Ria Stubler am nächsten Morgen.

Florian nickte, aber natürlich stimmte die Antwort nicht. Hundsmiserabel hatte er geschlafen, war immer wieder aus Albträumen hochgeschreckt und hatte dann nur sehr schwer wieder in den Schlaf zurück gefunden.

»Ich hab’ draußen auf der Terrasse gedeckt«, sagte die Wirtin. »Wie möchten S’ denn Ihr Frühstücksei haben?«

»Ein Fünf-Minuten-Ei, bitte schön, und Kaffee, wenn’s geht.«

»Aber freilich«, nickte sie. »Nehmen S’ nur schon Platz, ich bring’ gleich alles.«

Florian trat durch die offene Tür ins Freie. Auf der Terrasse saßen schon zahlreiche Gäste und frühstückten. Er grüßte und setzte sich an den einen Tisch, der für eine Person eingedeckt war. Wenig später kam Ria und brachte eine Kanne Kaffee, dazu einen Korb mit frischen Semmeln und Brot, eine Aufschnittplatte mit Wurst und Käse darauf, sowie Butter und Milch. Marmeladen und Honig standen schon auf dem Tisch.

»Das Ei ist gleich soweit«, sagte sie, während sie die Sachen auf dem Tisch verteilte.

»Ist das alles für mich?«, fragte Florian erstaunt.

Es schien ihm unmöglich, dass das alles nur für eine Person bestimmt sein sollte.

»Langen S’ nur tüchtig zu«, sagte die Wirtin und nickte ihm aufmunternd zu. »Der Appetit kommt beim Essen. Und unsre gute Luft macht hungrig.«

Sie schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und stellte die Kanne dann auf ein Stövchen.

»Außerdem dürfen S’ sich noch gern’ Proviant für später machen«, setzte sie hinzu. »Dann brauchen S’ net so oft zum Essen ins Wirtshaus geh’n und schonen Ihre Reisekasse.«

»Vielen Dank«, sagte Florian. »Das Angebot nehm’ ich gern’ an.«

»Haben S’ sich für heut’ vielleicht eine Wanderung vorgenommen?«, fragte Ria. »Ich frag’ net aus Neugier, sondern weil ich Ihnen auch einen Rucksack ausleihen kann, falls Sie keinen haben.«

Einen Rucksack besaß Florian Hochleitner tatsächlich nicht, und er bedankte sich für das Angebot. Dann ließ er es sich erst einmal schmecken. Er hatte tatsächlich großen Hunger, denn die letzte Mahlzeit lag viele Stunden zurück. Am Nachmittag hatte er die restlichen Brote verzehrt, die er sich zu Hause für die Fahrt nach St. Johann gemacht hatte.