Klappentext

Der junge Adlige Lutz von Strammin, Muttersöhnchen und dreiundzwanzigjähriger Erbe eines altehrwürdigen Gutes in Pommern, muss sich erstmals im Leben bewähren und mit einem Treck aus zwanzig Pferdewagen vierhundert Zentner Weizen zum Hafen von Stralsund bringen. Doch unvorhergesehene Ereignisse stören die Pläne und der einfache Auftrag gerät außer Kontrolle. Schräge, aber liebenswerte Charaktere kreuzen Lutzens Weg, ein böser Verwandter muss ausgeschaltet werden, um einer schutzlosen Dame beizustehen. Abenteuer, Absurditäten, und nicht zuletzt die Liebe lauern auf den jungen Kerl, der quer durch von Fallada exzellent geschilderte Milieus schlittert und dabei zum Mann wird. – Es scheint, als hätte Fallada vor der Abfassung dieses amüsanten Werkes Voltaires spöttische Novelle ›Candide‹ neu gelesen ... © Redaktion eClassica, 2018

 

Über den Autor: Hans Fallada (eigentlich Rudolf Ditzen) (1883–1947) war einer der produktivsten deutschen Schriftsteller der 30er Jahre. In der Zeit des Nationalsozialismus lebte er als »unerwünschter Autor« zurückgezogen auf einem Anwesen in Mecklenburg. Einige seiner Bücher waren von den Nazis aber auch geduldet, weil sie die Weimarer Republik kritisierten, wodurch er persönlicher Verfolgung entging.

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9 – Ich verzanke mich mit Mama, erschrecke sehr über den Raubold und bringe Catriona wider Willen nach Ückelitz

Ich habe im letzten Kapitel so viel damit zu tun gehabt, meine Leser mit allen drängenden Ereignissen bekannt zu machen, dass ich keine Zeit fand, auch noch von meinem Aussehen zu berichten. Aber vielleicht erinnert sich dieser oder jener noch, wie stolz mich meine Mama am ersten Tag dieser Erzählung entließ, in lackledernen Reitstiefeln, einer schwarz-weiß-karierten Reithose und in einer Joppe aus blaugenoppter schottischer Wolle. Selbst die wählerische kleine Thibaut hatte an mir nichts auszusetzen gefunden als den Sitz meines Schlipses, der war aber aus ganz anderen Gründen getadelt worden.

Jetzt aber, wie mich Mama so fassungslos ansah, die Augen mit ihrem Tüchlein tupfte und dazwischen immer wieder durch ihre Lorgnette starrte, ob denn dies wirklich ihr Sohn sei – jetzt wurde mir’s klar, dass ich wie ein halber Straßenräuber aussah. Ungewaschen und unrasiert, das Haar sowohl angesengt wie ungekämmt, mit einer fürchterlichen hornartigen Beule auf der Stirn. Und meine Kleidung – du lieber Himmel, durch Regen und Wind, durch Staub und Wasser geschleppt, sahen meine Lackledernen sich selbst nicht mehr ähnlich. Meine Nachtarbeit im Weinkeller hatte meinen zart farbigen Anzug mit Rotweinflecken wie mit Blut gesprenkelt und – nein, von meinem zarten Oberhemd sage ich auch nicht ein einziges Wort.

»Ja, Mama«, und ich versuchte, sie so unbefangen wie nur möglich anzulächeln, »so und nicht anders sehen deine sämtlichen Söhne aus! Unglaublich, nicht wahr? Was habe ich aber auch alles erlebt in diesen Tagen!«

»Richtig«, rief Mama und schloss mich nun wirklich in ihre Arme. »Du hast uns da einen Brief geschrieben, etwas rätselhaft, aber völlig Stramminsch. Ich kenne diese Art Briefe, nicht wahr, Benno?« Papa lächelte etwas dünn. »Nun, du wirst uns auf der Stelle alles erzählen, Lutz. Leider wusste Bessy gar nichts zu berichten, oder sie wollte nichts wissen.« Ein leicht strafender Blick Mamas zu Bessy. »Aber du wirst jetzt umso ausführlicher erzählen, Lutz, und ich bin ganz überzeugt, du wirst nur Schickliches vorzubringen haben.« Mama sah majestätisch in die Runde und flüsterte dann merklich leiser: »Und wenn doch etwas Unschickliches unterlaufen sollte, Lutz – und ich habe wirklich die schwersten Befürchtungen –, so schicken wir die jungen Mädchen und eventuell auch den Papa hinaus, und es bleibt alles ganz unter uns, nicht wahr, Lutz?«

Ich konnte nur sagen »Liebste Mama!« und ihr die Hand küssen.

Für Mama war nach ihrer Art nun schon alles völlig geregelt, und sie meinte: »Wohin geht man hier? Wohin setzen wir uns? Ich bin ja so gespannt, Lutz!«

Ich zögerte einen Augenblick, ich wusste nicht, ob Mamas zarte Natur der Höhle des Raubolds gewachsen war. Mein Blick fiel auf den alten Diener Elias, der in schicklicher Entfernung dastand, dessen Gesicht aber einen Ausdruck trug, der mir nicht recht gefiel. Er verstand aber sofort meinen Blick und sagte: »Hierher, wenn ich bitten darf!«

Er stieß eine Flügeltür auf und führte uns in eines jener Prunkgemächer, die ich anlässlich meines Rundgangs durch Ückelitz schon erwähnt habe. Mit unbewegter Miene und sehr schnell stellte er Sessel zusammen, entfernte Schutzdecken; seine Frau, die immer wieder beteuerte, sie seien hier gar nicht auf Besucher eingerichtet, hatte die Fensterflügel aufgestoßen, und schon saßen wir alle im Kreise, und ich konnte nun wohl mit meinem Bericht beginnen.

»Schönen Dank, Elias. Auf Wiedersehen, Pummelchen!« sagte Mama und nickte holdselig Entlassung.

Aber der Diener Elias ging noch nicht, er sah mich mit jenem Gesichtsausdruck an, der mir gar nicht gefallen wollte, und sagte sehr höflich: »Herr von Strammin, wenn ich mir eine Frage erlauben dürfte, wo ist der gnädige Herr von Lassenthin?«

In demselben Augenblick fiel allen ein, wen sie bisher, ohne es zu wissen, vermisst hatten: nämlich den Hausherrn.

Die Mama rief: »Ja, richtig, wo ist der Kunz?«

Papa schnarrte: »Habe mich die ganze Zeit schon gewundert, wo der Onkel bleibt.«

Das kugelrunde »Pummelchen« klagte: »Dem gnädigen Herrn wird doch nichts passiert sein?«

Die Thibaut sagte gar nichts, sah mich aber mit der spitzbübischsten Miene an. Sie hatte es natürlich schon wieder gewittert, dass ich in der dicksten Verlegenheit steckte. Nur Bessy ließ nicht die geringste Überraschung merken, sie hatte sich wohl schon ihre eigenen Gedanken gemacht, als sie den, den sie gefangen verließ, hier so frei schalten und walten sah. Und diese Gedanken waren richtig.

Hier half nur Kühnheit. Mit eiserner Stirn sagte ich zum Diener Elias: »Herr von Lassenthin wird in genau einer Viertelstunde hier sein, und ich gebe Ihnen in seinem Namen den Auftrag, zu diesem Zeitpunkt alles zu einem Abendessen für drei, fünf, sechs, acht Personen bereitzuhalten.«

»Du lieber Himmel!« schrie das Pummelchen und schoss aus der Tür.

»Acht Personen?« fragte der unerschütterliche Elias und zählte uns fünf Leute noch einmal durch.

»Acht Personen!« sagte ich ehern. »Herr von Lassenthin erwartet noch zwei weitere Gäste!«

»Und in einer Viertelstunde?« fragte Elias.

»Präzis in einer Viertelstunde!« antwortete ich.

»Sehr wohl!« sagte der alte Diener, neigte den Kopf und verließ das Prunkgemach.

Ich war schamlos genug, ihm durchs Fenster nachzuschauen, ob er wirklich fort und über den Hof ging. Er ging fort und über den Hof. Ich war noch schamloser. Unter den erstaunten Blicken meiner Angehörigen schlich ich auf die Diele, machte die Tür zu und verschloss sie. Dabei betete ich, dass Elias nicht an den Kellereingang vom Garten her denken möge. Aber wie sollte er? Wie sollte ein so untadeliger Diener seinen Herrn mit einem Kellergelass in Verbindung bringen?

Als ich in den Salon zurückkehrte, merkte ich, dass die Stimmung wesentlich abgekühlt war. Papa fingerte verlegen mit seinem Einglas herum, und Mama tupfte jetzt ernstlich mit dem Tüchlein an ihren Augen. Ich beschloss, meine Karten offen auf den Tisch zu legen. »Die Wahrheit ist«, sprach ich mit allem Mut, den ich aufbringen konnte, »dass ich Herrn von Lassenthin in seinem Weinkeller eingesperrt habe. Schon seit heute Mittag.«

Eine tödliche Stille folgte meiner Eröffnung. Dann hob ein tiefer Seufzer Mamas Brust. Papa schlug versonnen die Beine übereinander, ein leicht verhaltenes Lächeln glitt über sein Gesicht. Mama hatte es natürlich auch gesehen. Sie entschloss sich zum Englischen: »Oh, for shame, Benno!« flüsterte sie. »Take care of the children!«13

Die beiden »children«: Bessy und Madeleine starrten ausdruckslos in ihre Schöße.

Dann stand Mama energisch auf. »Das ist unwürdig von dir, Lutz«, sagte sie sehr streng. »Immerhin ist er dein Großonkel. Auf der Stelle befreist du ihn.«

»Damit er mich wieder niederschlägt oder einsperrt«, murrte ich. »Er hat mich achtzehn Stunden in demselben Loch gehalten, und ihm danke ich es nicht, dass ich wieder draußen bin!«

»In Gegenwart deiner Mama«, sprach Mama mit Hoheit, »wird niemand dich niederschlagen oder einsperren, mein armer Junge. Es war wirklich höchste Zeit, dass ich mich um deine Angelegenheiten kümmerte. Komm, Lutz, ich begleite dich. Gehen wir in den Keller!«

Damit stand Mama auf, schüttelte ihre seidenen Röcke und stand für das Wagnis bereit. Sie sah genauso aus, als hätte sie eben gesagt: Gehen wir einige Rosen pflücken! Und genauso ahnungslos war sie auch.

Ich sah nach Bessy hin, und dies gute Mädchen gab mir wirklich einen Wink: Sie bewegte verneinend den Kopf. Genau meine Ansicht, und ich entschloss mich, meine zweite Karte hinzulegen. »Vielleicht warten wir mit dieser Befreiung«, schlug ich vor, »bis die beiden anderen Besucher gekommen sind?«

Mama sah mich ganz verwirrt an, die Sache schien ihr schon jetzt zu kompliziert. »Und was sind das für zwei Besucher?« fragte sie hilflos.

»Frau von Lassenthin, Gregors Frau«, sagte ich, »und ein Freund von ihr, der Professor Arland.«

Einen Augenblick hatte ich nur Augen für Madeleine Thibauts Zunge. Von Eidechsenzüngeln konnte keine Rede mehr sein, sie streckte mir glattweg die Zunge heraus wie ein Gassenjunge. Dann aber musste ich meine Aufmerksamkeit wieder der Mama zuwenden, die sehr indigniert war, ja sie war so empört über mich, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nicht erfahren hatte.

»Oh, schäme dich, du böser Junge, vor deiner Mama von solchen Frauen zu reden! Bessy, Madeleine, auf der Stelle verlasst ihr das Zimmer, dies ist nichts für eure Ohren!«

Sie dachten nicht daran zu gehen, Mama aber war viel zu aufgeregt, um diesen Ungehorsam auch nur zu bemerken.

»Ich ahnte es ja, ich würde Unschickliches zu hören bekommen! Gleich wie ich dich so verkommen sah, ahnte ich es. Das sind die Folgen zweifelhaften Umgangs, im Gesicht stehen sie dir geschrieben, Lutz!«

Unwillkürlich fasste ich nach meiner Beule. Aber Mama war schon wieder weiter, jetzt bekam der Papa sein Teil. »Benno, ich verstehe dich nicht! Du stehst dabei und hörst derartiges an, als redeten wir vom Wetter! Auf der Stelle lässt du anspannen, Benno! Auf der Stelle verlassen wir dieses Haus. Kunz mag allein sehen, wie er seine Geschichten regelt, immer hat doch dieser Zweig der Lassenthins zweifelhafte Geschichten. Wir fahren. Hörst du nicht, Benno? Du sollst anspannen lassen!«

»Es ist angespannt, teuerste Amélie«, sagte Papa mit ergebungsvoller Miene. »Auf deinen Wunsch ist gar nicht erst ausgespannt worden, wenn du dich erinnern willst.«

»Siehst du!« rief Mama triumphierend. »Ich habe es gleich gewusst: Es lohnt sich nicht, in Ückelitz ausspannen zu lassen. Immer passieren hier die schrecklichsten Geschichten. Bitte, Benno, willst du mir nicht deinen Arm geben?«

Und Mama rauschte an Papas Arm mit sachtem Frou-Frou14 aus dem Zimmer. Notgedrungen folgten wir ihr. Ich sprang zu und schloss die eben gesicherte Dielentür wieder auf. Der Kutscher Hanf begrüßte das Erscheinen seiner Herrschaft durch ein Erheben der Peitsche an den Lackpott. Papa stieg zuerst in den Wagen und half der Mama hinein. Sie war so böse auf mich, dass sie mir ihre Hand verweigerte.

Nun sagte sie scharf: »Was wird’s? Madeleine, setzen Sie sich zu Hanf! Lutz, Bessy – uns gegenüber!«

Aber nur Madeleine folgte diesem Befehl. Ich sagte: »Verzeih mir, Mama, ich muss hierbleiben. Ich bin durch meine Ehre verpflichtet, dieser Dame zu helfen!«

»Kein Wort mehr, Lutz!« rief Mama streng. »Ich will von diesen – Unschicklichkeiten nichts mehr hören. Steig ein!«

Ich versuchte es noch einmal: »Aber, Mama, ich versichere dir, sie ist wirklich Gregors Frau.«

»Still!« rief Mama, nun so zornig, wie ich sie nie gesehen hatte. »Du willst also nicht mitfahren? Gut – oder vielmehr schlimm. So bleibe hier! Beschmutze deinen Namen, beschmutze die Ehre unseres Hauses – ich bin nur eine Frau, ich muss es erleiden.«

Einen Augenblick wurde ich diesem echten Schmerz gegenüber unschlüssig. Dann begegnete ich Bessys Blick. Sie sah mich nachdenklich, mit gerunzelter Stirn an. »Ich hoffe, Mama«, sagte ich fest, »die Stunde kommt bald, wo du verstehst, dass ich hier nicht gegen, sondern für unsere Ehre stehe.«

Aber Mama gönnte mir keinen Blick mehr. Dafür sagte sie zu Bessy, die neben mir stand: »Und du, mein Kind –?«

»Ich bleibe auch hier, Tante Amélie«, sagte Bessy.

Überraschenderweise nickte Mama ganz zufrieden. Dann rief sie: »Warum halten wir hier noch immer? Fahren Sie doch los, Hanf – und so schnell wie möglich fort von diesem schrecklichen Ort.«

Wir sahen dem Wagen nach, bis er vom Gutshof verschwunden war. Dann schauten wir einander an, Bessy und ich.

»Ich danke dir, Bessy«, sagte ich herzlich.

»Oh, du brauchst mir wirklich nicht zu danken, Lutz«, antwortete Bessy kühl. »Du kannst überzeugt sein, dass ich einige Sehnsucht verspüre, diese schöne Unbekannte endlich kennenzulernen. Ihretwegen bleibe ich, nicht deinetwegen.«

»Und du kannst überzeugt sein, Bessy«, sagte ich, »dass du schon beim Sehen die Grundlosigkeit deines Verdachtes erkennen wirst.«

»Es sollte mich freuen, Lutz«, antwortete sie, aber nicht recht überzeugt. »Und was nun?«

»Ja, was nun –?« fragte ich auch, ziemlich ratlos.

»Wie wäre es, wenn du erst einmal die Zurüstungen zu dem Festmahl abbestelltest? Drei deiner Gäste sind eben abgefahren.«

»Ach, das habe ich ja nur gesagt, um erst einmal diesen Elias aus der Stube zu kriegen! Frau von Lassenthin und Professor Arland können nicht vor neun oder zehn Uhr hier sein.«

»So lange versteckst du den Raubold aber nicht mehr vor seinem getreuen Eckardt. Ich glaube, Lutz, das Klügste ist, wir befreien ihn sofort aus seiner Haft und halten den ersten Anprall seiner Wut aus. Es ist schon besser, das liegt hinter uns, wenn deine Gäste kommen. Wir haben beide recht kräftige Schultern, während die erwartete Dame vieler Hilfe zu bedürfen scheint.«

Ich überhörte die Anzüglichkeiten in ihren Worten. »Du hast mit dieser Haft überhaupt nichts zu tun, Bessy. Ich werde ihn befreien, und zwar ich allein.«

Bessy lachte. »Du wirst mir schon erlauben müssen, dich zu begleiten. Vorläufig bist du noch mein bestes Stück, Lutz, und ich sähe dich nicht gern noch stärker ramponiert!«

Hiergegen war kaum etwas zu sagen, also gingen wir beide gemeinsam ins Schloss zurück und stiegen in den Keller hinab. Je mehr wir uns dem düsteren Gang näherten, um so langsamer ging ich, umso intensiver horchte ich. Leichter Schweiß bedeckte meine Stirn. Ich leugne es gar nicht, dass ich Befürchtungen hatte, vielleicht sogar Angst vor dem, was die nächsten fünf Minuten bringen würden.

Bessy dagegen war nicht das Geringste anzumerken, nun, sie war ein Mädchen und glaubte sich darum wohl sicher vor den Übergriffen des Raubolds. Außerdem hatte sie sich nicht wie ich in Unfrieden von ihm getrennt, im Gegenteil, und jetzt sah es sogar noch so aus, wie wenn sie als seine Befreierin käme.

So intensiv aber ich auch horchte, ich vernahm keinen Laut. Nichts von fröhlichen Saufliedern, nichts von pöbelhaftem Geschimpfe. Nun stellte ich mir den Raubold recht lebhaft vor, wie er haarig und listig hinter der Türe lauerte, um sich sofort auf mich zu stürzen. Ich ballte schon die Fäuste, ich war entschlossen, mich nicht noch einmal ohne Gegenwehr niederschlagen zu lassen.

Wir standen vor der Kellertür, meine Hand lag auf dem Schlüssel. Das Herz pochte mir sehr. Ich sagte: »Einen Augenblick, Bessy! Lass mich einen Augenblick lauschen.«

Sie sah mich nur ernst an und nickte. Wir lauschten beide, das Ohr eng gegen das Türholz gepresst, die Gesichter einander zugekehrt. Plötzlich fingen wir beide an zu lächeln. Wir beide hatten das gleiche Geräusch gehört: ein tiefes, rasselndes Schnarchen. Aufatmend drehte ich leise den Schlüssel im Schloss und öffnete die Tür ...

Ja, da saß der Schlossherr von Ückelitz in tiefem Schlaf, sein Burgunder war endlich doch Herr über ihn geworden. Er saß auf dem Kellerboden, sein Rücken lehnte gegen das kleine Gestell, auf dem Bessy und ich in der Nacht gesessen, sein Löwenkopf war weit zurückgelehnt. Die Hände hatte er über dem Bauch gefaltet, seine riesigen Beine lagen auf dem Haufen Brennholz, den ich aus seinen Regalen gemacht. Eine Unzahl Flaschen mit abgeschlagenen Hälsen stand um ihn. Aus seinem weit geöffneten Mund kam das tiefe, rasselnde Schnarchen, das mich so beruhigt hatte.

Und doch, wenn dies auch ein schlafender Trunkener war, entbehrte das Bild nicht einer düsteren Größe. Es hatte nichts von dem tierisch Widerlichen an sich, das Betrunkene so oft bieten. Etwas Tragisches lag in diesem schlafenden Riesen, der überwältigt war, doch nicht besiegt. Ich konnte es mir wohl denken, dass nur sein Leib schlief, dass sein Geist aber unterdes weite Bezirke durchirrte, sein Leben, ein Leben ohne Liebe, ein Leben voll Hass, dass sein Stolz nicht trunken war und nicht trunken seine Verzweiflung. Auch Helden können besiegt werden, aber noch in der Niederlage bleiben sie Helden.

Mein Blick begegnete wieder dem Bessys. »Und wie nun weiter, Euer Liebden?« fragte sie mit leichtem Spott.

»Ich glaube wirklich nicht, dass ich ihn hier auf dem kalten Steinboden sitzenlassen kann. Schließlich ist er ein alter Mann. Ich muss versuchen, ihn hinaufzuschaffen.«

Aber ich betrachtete zweifelnd den gewaltigen Körper, der dort lag. Er musste reichlich seine zweieinhalb Zentner wiegen, und ein schlaffer, trunkener Körper lässt sich nur schlecht tragen.

»Ich helfe dir natürlich«, sagte Bessy. »Komm, lass uns erst diese Flaschen wegräumen, dass wir wenigstens freie Bahn haben.«

Wir waren noch bei dieser Beschäftigung, als uns ein leichtes Hüsteln unter der Tür hochfahren ließ – wie die ertappten Sünder! Da stand der alte Elias und sah stumm auf unser Treiben!

Ich war wirklich sehr verlegen. In dieser Verlegenheit sagte ich natürlich eine Dummheit: »Ist das Abendessen schon fertig? Wir kommen sofort, Elias!«

Aber der Alte hatte gar nicht auf meine Worte geachtet. Sein Gesicht trug jetzt übrigens auch nicht mehr den unangenehmen Ausdruck von vorhin, jetzt war es bekümmert. »Genau, wie ich es mir gedacht habe«, sagte er. »Ich hab’s schon seit Tagen kommen sehen, und wie er heute früh den jungen Herrn Gregor weggeschickt hatte, wusste ich Bescheid. Der gnädige Herr bekommt das manchmal«, seufzte er, hinter der Hand flüsternd, hinzu, »dann will er immer allein sein, nur meine Frau und mich duldet er dann.« Lauter sagte er, mit einem gewissen Stolz: »Das ist nicht Saufen, junger Herr, das ist eine Krankheit vom gnädigen Herrn.«

Aber ich hatte keine Lust, über die goldene Brücke zu gehen, die er mir baute. Ich wollte endgültig Schluss machen mit allen feigen Lügen. »Ich fürchte, Elias«, sagte ich, »dass ich diesmal Schuld an diesem Zustand des Herrn von Lassenthin trage. Ich hatte ihn hier im Keller eingesperrt, er war sehr zornig auf mich.«

Doch der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das hat gar nichts damit zu tun, junger Herr. Dies wäre gekommen, so oder so. Es war fällig, alle drei oder vier Monate ist es fällig. Wir haben beide schon darauf gewartet, meine Frau und ich.«

Seine Worte erleichterten mich doch ein wenig, wenn sie mich auch nicht überzeugten.

»Darum war ich ja so erschrocken, als ich all die Herrschaften vorhin dort oben sah«, fuhr Elias erklärend fort. »Er muss ganz allein sein, wenn er das kriegt. Er bleibt nicht so ruhig wie jetzt, oh nein, zur Nacht wird er sehr unruhig.« Er schüttelte den Kopf. »Dann müssen alle fort sein. Meine Frau und ich sind es schon gewöhnt, aber ein bisschen grausig ist es schon.« Elias sah uns ernst an. »Der gnädige Herr«, sagte er mit Nachdruck, »hat viel Unglück gehabt in seinem Leben. Die Menschen haben ihn nie richtig verstanden. Wir kennen ihn, meine Frau und ich.«

»Das sieht man schon, wenn man nur in sein Gesicht schaut«, sagte Bessy, »dass er ein anständiger Mensch ist. Wohl wild, aber anständig.«

»Nicht wahr, gnädiges Fräulein?« sagte der alte Diener dankbar. »Das muss doch jeder sehen, der Augen im Kopf hat! Aber, ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, gehen Sie jetzt weg. Das ist kein Anblick für ein so junges Mädchen. Wenn der junge Herr mir noch helfen will, ihn hinaufzuschaffen, ist das sehr freundlich von ihm. Es geht ganz leicht, jetzt hört er noch auf meine Stimme, jetzt ist er noch nicht so weit weg von sich ...«

Bessy war auf seinen Appell hin auf den Gang hinausgetreten, aber nicht weiter. Ich merkte wohl, sie war noch nicht willens, das Feld zu räumen. Elias aber trat jetzt an den alten Lassenthin, kniete neben ihm hin und legte den einen riesigen Arm sich um die Schulter. Zugleich bedeutete er mir, dass ich auf der anderen Seite dasselbe tun sollte. Ich tat so. Elias sagte, ohne die Stimme sehr zu erheben: »Gnädiger Herr, stehen Sie auf. Hier können Sie nicht schlafen. Stehen Sie auf, gnädiger Herr!«

Dabei fing er an, sich langsam aus seiner knienden Stellung aufzurichten. Ich folgte seinem Beispiel. Und wirklich, was ich für unmöglich gehalten hätte: Der schwere, trunkene Körper folgte uns. Als wir standen, mit kirschroten Gesichtern von der Anstrengung, stand auch der Herr von Lassenthin, und der Eisengriff, mit dem er sich in meinem Jackett festgekrallt hatte, bewies mir, dass dieser Mann nicht völlig schlief, dass noch etwas wach war in ihm.

Dann traten wir unsere Wanderung an, Schritt für Schritt, fast stumm. Nur manchmal sagte Elias: »Eine Stufe, gnädiger Herr, bitte, den Fuß zu heben.« Und dann tastete der Riesenfuß wie der eines Blinden, bis er die Stufe gefunden hatte. Und wieder des Elias Stimme: »Noch eine Stufe, gnädiger Herr! Bitte, noch einmal den Fuß zu heben!«

Bei alledem aber schlief Herr von Lassenthin fest. Nicht einmal die Lider zitterten über seinen Augen, der Ausdruck tiefer Ruhe auf seinem Gesicht veränderte sich nicht. Hinter uns aber ging leise Bessy. Es tat mir gut, dass sie nicht gegangen war.

Schließlich waren wir in der Höhle angelangt. Dort wirtschaftete das »Pummelchen«. Sie hatte die Fenster weit geöffnet, aus dem abendlichen Garten drang noch etwas durchsonnte frische Luft in den düsteren Raum. Im Kamin prasselte ein Feuer von Buchenscheiten. Aber sonst war in dem Raum nichts verändert, der alte Schmutz und der alte Staub. Sie durfte hier wohl nichts ändern, sosehr es ihr auch in den Fingern zucken mochte.

Sie sah unserm Anmarsch entgegen und nickte ihrem Mann zu. Man sah es ihr sofort an, dass auch sie dies erwartet hatte. Dann, während wir ihn auf sein Ruhebett legten, schloss sie die Fenster eilig und zog große, düstere Brokatvorhänge davor, in denen kaum noch ein Goldfaden blitzte. Sie steckte Kerzen an, ging zu dem Ruhebett und legte sachte Decken über den schlafenden Mann. Mit vorsichtigem Finger öffnete sie die oberen Knöpfe an seinem Hemd. Als sie dies getan hatte, nickte sie ihrem Mann wieder zu, setzte sich auf einen Stuhl am Kamin und fing an, eilig an einem schon sehr langen Strumpf weiterzustricken.

Elias aber sah zögernd auf uns beide, die wir da noch standen, und sagte: »Gnädiges Fräulein, junger Herr, der Himmel bewahre mich, dass ich mir Freiheiten herausnehmen möchte. Aber es ist jetzt wohl doch besser, Sie gehen. Nicht, als wenn es schon sehr eilig wäre. Emma macht Ihnen gern noch einen Imbiss fertig, vor der tiefen Nacht wird er noch nicht – aufwachen. Aber es ist wirklich besser, Sie sind dann nicht mehr hier.«

»Vielleicht können wir Ihnen doch ein wenig helfen, wenn er unruhig wird?« fragte ich.

»Dann kann uns und ihm niemand helfen«, antwortete Elias fest. »Das muss seine Zeit haben und sich austoben – wie jeder Sturm. Aber sie müssen dann fort sein. Wir sind es gewohnt, aber für junge Menschen ist es nichts.«

»Die Sache ist die, Elias«, sagte ich, »dass ich wirklich noch zwei Gäste erwarte, und der eine von den beiden Gästen ist eine Dame. Ihretwegen muss ich schon hierbleiben.«

»So reiten Sie, Jungherr«, sagte der alte Diener eindringlich. »Ihr Pferd steht im Stall. Reiten Sie so schnell wie möglich, hier im Hause darf kein Gast sein in dieser Nacht.«

»Es hilft mir nichts, Elias«, erwiderte ich. »Diese Dame lässt sich nicht zurückschicken, dafür kenne ich sie. Und sie hat ein Recht, unter diesem Dach zu sein. Es ist Frau von Lassenthin, die Frau Gregors.«

Der alte Mann machte eine erschrockene Bewegung nach dem Ruhebett hin, aber der Schlossherr von Ückelitz hatte sich nicht gerührt. »Mutter«, sagte er flüsternd, durch den weiten Raum, »hast du gehört, die junge Frau ist auf dem Weg nach hier –?«

Aber seine Frau antwortete nicht. Wir hörten die Nadeln ihrer Strickerei klappern, wir sahen, wie sich ihre Lippen bewegten. Sicher zählte sie Maschen, aber zu uns sprach sie kein Wort.

»Es ist unmöglich«, sagte Elias erregt, nachdem er vergeblich auf Antwort gewartet hatte. »In dieser Nacht ist es ganz unmöglich. Sagen Sie der Dame, sie soll morgen kommen, jeden Tag, den sie will, aber nicht heute Nacht. Sagen Sie ihr das.«

»Sie lässt sich von mir nichts sagen, Elias. Sie will hierher.«

»So gehen Sie zum alten Geheimrat! Herr Gumpel soll sie zurückhalten, nur diese Nacht! Ich weiß, Herr Gumpel kann das. Gumpel hat mir selber gesagt, dass er glaubt, sie ist wirklich die richtige Frau – Gumpel muss sie überreden.«

»Ich habe der Dame sagen lassen, dass sie Gumpel, wenn irgend möglich, mitbringt. Aber vor vier Tagen, als ich hier gewesen war, ist Gumpel krank geworden, er war ohne Besinnung, als ich ihn verließ. Ich habe keine Ahnung, wie es ihm heute geht, ob er schon wieder fahren kann.«

»Ach, junger Herr«, sagte der Alte bittend, »so müssen Sie es versuchen. Sie ahnen ja nicht, was für eine Nacht dies wird. Wir haben es viele Male erlebt, und uns graust noch immer davor. Und dann so junge Menschen wie Sie –« Er rang bittend die Hände.

Aber ehe ich noch antworten konnte, ließ uns ein schrecklicher Laut zusammenfahren. Es war, als habe ein Wolf geheult ...

Wir fuhren herum, und da saß der alte Lassenthin auf dem Rand des Ruhebettes, die Füße auf der Erde, die Augen fest geschlossen, und heulte, heulte wie ein Tier, heulte wie ein wilder Wolf.

Ich zitterte an allen Gliedern, und ich sah, auch Bessy war schneeweiß geworden, Elias aber rief: »Schnell, Emma, den Rum!«

Die alte Frau schoss von ihrem Sitz am Feuer hoch, das Strickzeug fiel auf den Boden, und sie rannte, plötzlich eine Flasche in der Hand, auf ihren Mann zu. Der riss ihr die Flasche weg, sie war schon offen, ohne Furcht ging er an den heulenden Mann heran. Der schnappte nach ihm und heulte wilder, aber der alte Diener sagte mit ganz ruhiger Stimme: »Trinken Sie einen Schluck, gnädiger Herr, das wird Ihnen guttun ...«

Einen Augenblick zitterten wir alle, der Raubold würde die Flasche vom Munde stoßen und auf den alten Mann zufahren. Aber plötzlich brach das Geheul ab, und er schluckte. Er schluckte mit langen Zügen, Schluck für Schluck trank er die ganze Flasche leer. Dann saß er einen Augenblick, wie betäubt ...

Die Frau fragte flüsternd: »Noch eine?«

Aber Elias schüttelte den Kopf: »Diesmal noch nicht!« Herr von Lassenthin sank zurück. Da schob der Diener die Beine hoch und wickelte ihn wieder ein, schon schlief der Raubold. All dies hatte wohl vom ersten Schrei an keine drei Minuten gedauert. Es war mir aber vorgekommen, als sei es eine Ewigkeit gewesen. Und dabei hallte doch noch immer das Wolfsgeheul in meinen Ohren nach.

Elias schenkte aus einer Rotweinflasche zwei Gläser voll und bot sie Bessy und mir an.

»Trinken Sie, gnädiges Fräulein. Trinken Sie, junger Herr. Ich sage es ja, Sie sind das nicht gewöhnt. Und das war erst ein kleiner Anfang. So ist es recht. Nun bekommen Sie doch schon wieder Farbe! Ja, junger Herr, wie ist es nun: Werden Sie reiten oder nicht –?«

»Natürlich werde ich reiten. Ich sehe jetzt alles ein. Sie darf keinesfalls in dieser Nacht hier sein« – ich überwand den letzten Rest von Mamas mir eingewöhnter Prüderie –, »sie erwartet nämlich ein Kind.«

Wenn ich Bessy durch diese Mitteilung überrascht hatte, so ließ sie sich nichts anmerken. Den alten Elias aber erstaunte nichts mehr. »Ich habe es mir so halb und halb gedacht«, sagte er. »Der Geheimrat machte eine Andeutung. Was sollte eine junge Frau wohl in diesem Hause, wenn sie ihm nicht einen Erben bringt?«

»Junges Blut! Junges Blut!« rief die Alte vom Kamin her. »Sie soll nur kommen! Sie will ja hier leben und ein Kind großziehen – soll sie auch erfahren, wie wir hier sind!« Und in ihrer Stimme schwang ein Funken Hoffnung mit.

»Mutter«, sagte der alte Mann, jetzt wirklich verwirrt. »Du meinst also, sie soll doch kommen?«

»Soll er ihr nur entgegen reiten«, antwortete die alte Dienerin. »Soll er ihr nur abreden! Es wird sich ja zeigen, wer sie ist, ob sie kommt oder nicht! Wir Frauen halten viel mehr aus, als ihr Männer je denkt. Eine Nacht – Gott, sie wird die Nacht schon durchhalten, was ist schon eine Nacht?«

»Also ich reite«, sagte ich. »Und was ich dazu tun kann, wird sie nicht gerade diese Nacht hier zubringen.« Ich wandte mich an Bessy: »Und was tust du, Bessy?«

»Ich begleite dich über den Hof«, antwortete Bessy, und das tat sie dann auch.

Es fing sachte an zu dämmern, als wir auf dem Hof standen. Ein Heer von Schwalben flitzte noch auf einer letzten Mückenjagd durch die blassere Luft. Wir gingen langsam nebeneinander auf den Stall zu.

»Es ist zu dumm, dass du kein Pferd hier hast«, fing ich an. »Aber jetzt bekommen wir noch von einem Pächter hier herum einen Wagen geliehen, der dich nach Schalenberg bringt, Bessy. Ich habe noch Zeit, ich will dir gern behilflich sein.«

»Euer Liebden vergessen ganz«, antwortete Bessy, aber nicht spöttisch, sondern ganz ehrlich, »dass mein Interesse, Eure schöne Unbekannte kennenzulernen, nicht abgeflaut ist, nein, ganz im Gegenteil. Ich ziehe es vor, die Dame hier zu erwarten.«

»Aber sie wird nicht kommen, Bessy, ich rede es ihr bestimmt aus.«

»So kannst du mich hinterher hier immer noch abholen und Heim geleiten. Nein, vorläufig bleibe ich hier.«

»Und du denkst gar nicht mehr an das Geheul eben, Bessy? Willst du das und Schlimmeres erleben?«

Sie schauderte leicht zusammen, aber schon lächelte sie wieder. »Eure niedere Magd wird Euch auf den Stufen der Treppe sitzend erwarten, Herr Ritter, wenn Ihr vom Dienst bei schönen Frauen heimkehrt.«

»Ach, Bessy«, rief ich traurig. »Kannst du mich denn nie ernst nehmen?«

»Komm her, Lutz!« rief sie, breitete die Arme aus und hielt mich plötzlich umfasst, drückte mich so fest an sich, dass mir fast schwindlig wurde. »Ich nehme dich und mich und unsere Brautschaft viel ernster, als du es bisher getan hast. Da hast du einen Kuss, Dummerchen, vielleicht wirst du eines Tages noch klüger.«

Damit hatte sie mich geküsst, aber nicht nur einmal, und nun lief sie, so schnell sie laufen konnte, auf das Schloss zu, um die Ecke und in den Garten hinein. Ich starrte ihr eine lange Zeit nach, noch ganz benommen von dieser Überraschung. Dann musste ich mich entschließen, in den Stall zu gehen und Alex zu satteln.

Da mit Catriona mir nichts ohne Schwierigkeiten gelang, so ging es natürlich auch mit meinem Entgegenreiten nicht glatt. Durch den immer dunkler werdenden Abend ritt ich der Stadt Stralsund zu, einmal in schlankem Trabe, dann wieder im Schritt, nun sogar im Galopp – ganz wie meine Gedanken mich trieben. Schließlich, als schon Stralsunds Häuser mich mit ihren Lichtern grüßten, wurde mir klar, dass ich sie verpasst haben musste, obwohl ich nicht ahnte, wie ein zweispänniger Wagen unbemerkt an mir vorbeikommen sollte. Also ritt ich im gestreckten Galopp zurück, und nicht eher zog ich die Zügel, bis Alex und ich vor der Freitreppe von Ückelitz hielten.

Da hockte wirklich etwas Weißes auf den Stufen, und ich fragte meine getreue Magd: »Sind sie denn noch nicht gekommen?«

»Hier ist niemand gekommen«, antwortete Bessy.

»I den Donner!« rief ich. »Habe ich sie also doch nicht verpasst. Das hätte ich wissen sollen, dann hätte ich dem Alex einen heißen Ritt erspart! Und wie steht es drinnen, Bessy?«

»Jetzt schläft er wieder«, gab Bessy Auskunft. »Aber vor einer halben Stunde hat er wieder schrecklich geheult und den Elias beißen wollen. Dann hat ihn der wieder mit Rum schlafend gekriegt. Es sind diesmal aber fast zwei Flaschen geworden, ob das nun richtig ist? So viel Alkohol kann ihm doch nicht gut sein, was meinst du, Lutz?«

»Davon verstehe ich nichts, Bessy. Der Elias wird schon das Richtige ausprobiert haben. – Nun, dann will ich wieder abreiten und sehen, dass ich meine Leute treffe.«

»Guten Ritt, Lutz!«

»Danke, Bessy!« Aber ich ritt noch nicht, sondern nach einer Weile sagte ich: »Du, Bessy?«

»Ja, Lutz –?«

»Ich wär für einen Kuss wieder ganz empfänglich, Bessy.«

Sie lachte: »Geh, Lutz! Dreiundzwanzig Jahre bist du wunderbar ohne meine Küsse ausgekommen, und nun verlangst du plötzlich, dass es Küsse schneit? Fort mit dir!«

»Es gibt also nichts mehr, Bessy –?«

»Nichts, was du dir nicht selber holst!« lachte sie. Sie lief aber schon, immer weiter lachend, ins Haus und ließ mich sitzen auf meinem Alex, in Nacht und Finsternis.

Also ritt ich wieder ab. Im Reiten aber dachte ich, wie seltsam es doch war, dass ich Catriona wirklich von ganzem Herzen liebte und dass trotz dieses Gefühls Bessy mir gerade in den letzten Tagen so viel näher gekommen war. Ich musste dabei an ein Bild denken, das »Himmlische und Irdische Liebe« heißt. Aber nicht eigentlich an das Bild, das mir ein bisschen zu nackt ist, von dieser etwas schwelgerischen, protzigen Nacktheit, die ich nicht ausstehen kann – sondern ich dachte an den Namen des Bildes. Das gab es also in einer Brust: irdische Liebe und himmlische Liebe. Sie schlossen einander nicht aus, nein, sie vertrugen sich sehr gut in einem Herzen. Wenn ich es in meiner Alltagssprache ausdrücken wollte, so liebte ich Catriona, die Bessy aber hatte ich gern. Oder ich hatte sie sogar lieb, wie sich jetzt zeigte.

Mein Kopf war gar nicht für die Austüftelung so feiner Unterscheidungen gemacht, aber ich war schließlich ganz mit ihm zufrieden, als er diese Unterscheidung zwischen Lieben und Liebhaben fertiggebracht hatte. So kam ich mir doch wenigstens nicht wie ein elender Don Juan vor. Die Zeit war mir bei diesen Gedanken nicht lang geworden, und Alex hatte mich schon wieder auf den halben Weg nach Stralsund gebracht, als mir wirklich ein Kutschwagen entgegenkam. Ich erkannte ihn gleich an den mit zwei Kerzen besteckten Laternen, während Ackerwagen ja meist nur mit einer Stalllaterne ausgerüstet sind.

Ich schrie nach Kräften »Hallo!« und »Halt da!« und brachte die Pferde und ihren Kutscher auch wirklich zum Halten. Diesmal hatte ich’s richtig getroffen: Catriona und der Professor saßen in dem Landauer. Leider aber nicht der Geheimrat Gumpel, nach dem ich mich gleich erkundigte.

»Der lässt Sie grüßen«, sagte der Professor. »Es geht ihm schon viel besser. Und er lässt Ihnen sagen, Strammin, da Sie nun ganz gegen seinen Wunsch und Willen doch in diese Sache geraten seien, möchten Sie sie auch zu Ende bringen. In diesem Gedanken erholte er sich viel ruhiger. Er hat auch einen Augenblick unsere junge Frau gesehen und ihr die Hand gegeben und ihr viel Glück bei unserem Vorhaben gewünscht.«

Bis hierher hatte Catriona völlig geschwiegen, nun aber richtete sie sich auf und fragte hastig: »Und wie steht es auf Ückelitz? Ich hoffe sehr, du hast den alten Herrn nicht noch immer unter Verschluss, Lutz!«

»Darüber zu berichten, bin ich euch entgegen geritten«, erwiderte ich ein wenig gekränkt, denn ich hörte ja aus Catrionas Worten, dass sie schon wieder mein Vorgehen nicht billigte. »Aber ich erzähle wohl besser, wenn wir auf der Straße ein bisschen hin und her gehen. Mein Bericht ist nur für eure Ohren bestimmt.«

Damit deutete ich nach dem Kutscherrücken, der wie ein ragender Fels über uns stand.

Der Professor murmelte zwar etwas davon, es ginge der Frau von Lassenthin heute gar nicht recht gut, Sitzen sei ihr bestimmt besser als Gehen, Liegen aber am allerbesten – doch Catriona sagte nur: »Ach, Unsinn, Professor!« und stieg aus dem Wagen.

So musste er ihr wohl oder übel folgen. Auf der Straße nahm Catriona sofort meinen Arm und lehnte sich fest an mich, ich fühlte, dass sie damit ihre gereizten Worte von eben wiedergutmachen wollte.

Wohl eine halbe Stunde sind wir dort auf der nächtlichen Straße hin und her gegangen, in die tiefe Dunkelheit hinein, über der die Sterne leuchteten, und wieder zurück, dem traulichen kleinen Lichtschimmer des Wagens entgegen. Dann kam langsam der Mond, vertauschte Nähe mit Ferne und gab allem ein ungewisses Licht ... Ich habe geredet mit Menschen- und Engelszungen, soweit dies in meiner Kraft lag, ich habe geredet, wie ich noch nie in meinem Leben geredet hatte. Ich habe den düsteren, alten Mann in seiner Höhle geschildert, ich habe berichtet, wie mir zumute war, als er wie ein Wolf heulte und beißen wollte ... Ich habe auch von dem alten Dienerehepaar erzählt und von Bessy ...

Dann habe ich Catriona vorgestellt, dass sie nur diese eine Nacht auslassen sollte, dass sie morgen am Tage schon kommen könne und dass mit dieser einen Nacht doch nichts gewonnen, vielleicht aber vieles verloren sei ... dass sie mit dem alten Mann doch nicht sprechen könne und dass Gregor abgereist sei, heute Nacht ...

Wirklich, ich habe mit meinem Mundwerk ein gutes Stück Arbeit geleistet, ein besseres als sonst an diesem Tage mit Kopf und Herz und Händen und Beinen. Ich habe so geredet, dass ich sogar den Professor überzeugt habe, der nun seine Vorstellungen mit den meinen vereinte. »Wir fahren nicht«, sagte er immer wieder. »Wir kehren um und fahren nach Haus. Nach Sanssouci.«

An Catriona aber glitt das alles vorbei, als sei es in den Wind geredet, als habe es gar nicht ihr Ohr erreicht. Wie ein Kind wiederholte sie immer nur: »Ich will hin, noch diese Nacht. Gerade diese Nacht will ich hin.«

Sie setzte unseren Einwand, unseren überzeugenden Beweisen nicht einen Gegenbeweis entgegen. Es war immer nur dieses eine, dass sie noch diese Nacht hinwollte, gerade diese Nacht. Wie ein Kind, und auch genauso hartnäckig wie ein Kind. Mit dieser Hartnäckigkeit überwand sie uns schließlich. Zuerst verstummte der Professor, dann wurde auch ich es müde, immer die gleichen Beweise zu wiederholen, die doch nicht gehört wurden.

Schließlich sagte ich: »Also dann fahre, Catriona. Aber du weißt nicht, was du tust!«

Sie aber drückte – wieder genau wie ein Kind, das seinen Willen bekommen hat – meinen Arm fest an sich und sagte: »Ich danke dir, Lutz, du sollst sehen, es ist richtig.«

Ich half ihr in den Wagen und legte ihr die leichte Decke übers Knie. Dann warf ich den Schlag zu und rief zum Kutscher: »Also los! Ich reite Ihnen dann voran!«

So bin ich durch die immer hellere Mondnacht der Kutsche im leichten Trab vorausgeritten. Das Herz war mir sehr schwer. So wie das Mondlicht Ferne und Nähe ineinander übergehen ließ und alles verwirrte, sodass aus einem Busch ein Mann wurde, so war in mir alles wiederum verwirrt. Die schöne Unterscheidung zwischen irdischer und himmlischer Liebe war mir schon wieder verloren gegangen, seit Catriona meinen Arm so zärtlich an sich gedrückt hatte. Ich dachte immer wieder: Arme Bessy! Und manchmal dachte ich auch: Armer Lutz!

Catriona aber bedauerte ich nicht. Sie schien all meinem Bedauern und all meiner Liebe weltfern entrückt.