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Zum Buch

Der Maler Josiah Gilbert und der Naturforscher George C. Churchill veröffentlichten 1864 das Reisetagebuch „The Dolomite Mountains“, in dem sie erstmals den Namen „Dolomiten“ verwendeten. Erwin Brunner macht ihren spannenden Reisebericht nun in gekürzter und aktualisierter Form wieder zugänglich und lässt die Leser eine noch völlig unberührte Landschaft fern von jeder touristischen Entwicklung kennenlernen.

Zu den Autoren

Josiah Gilbert (* 1814 in Rotherham/Derbyshire, † 1892 in London) war Maler, Zeichner, Kunstkritiker und Schriftsteller. Als Sohn der Dichterin Ann Taylor ein klassischer man of letters, führte er eine spitze Feder, reiste viel und verehrte Tizian über alles. Von ihm stammen die meisten Texte und Zeichnungen des Buches „Die Entdeckung der Dolomiten“.

George Cheetham Churchill (* 1822 in Nottingham, † 1906 in Clifton) war Anwalt in Manchester, bevor er sich seinen wissenschaftlichen Interessen zuwandte, zumal der Botanik. Gemeinsam mit seiner Frau und dem Ehepaar Gilbert bereiste er vor allem die Alpen. Im Buch „Die Entdeckung der Dolomiten“ steuert er alles über Pflanzen, Tiere und Gesteine bei.

Zum Herausgeber

Erwin Brunner, geboren 1954 in Innichen, Studium in Wien, begann 1980 bei „profil“ als Journalist. Lebt seit 1982 in Hamburg. War Redakteur bei der „Zeit“, Textchef des „Zeitmagazins“, stellvertretender Chefredakteur von „Merian“, seit 1999 von „National Geographie“, dort zuletzt fünf Jahre Chefredakteur.

JOSIAH GILBERT & GEORGE C. CHURCHILL

Die Entdeckung der Dolomiten

HERAUSGEGEBEN VON ERWIN BRUNNER

MIT CHROMOLITHOGRAPHIEN VON JOSIAH GILBERT
UND
HOLZSTICHEN VON EDWARD WHYMPER

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INHALT

Warum dieses Buch?

Vorwort der Autoren

Bezaubert vom ersten Anblick!

Kapitel 1Von der Drau zum Eisack

Dolomieu und der Dolomit – Die zauberhaften Unholde – Liebliches Lienz – Unser Kutscher Amman – Tiroler Gasthäuser – Mehr Dolomiten – Bruneck – Amman bekreuzigt sich wieder – Brixen und die Brennerstraße – Bozen im Abendlicht – Abschied mit Handkuss

Kapitel 2Eine Wanderung ins Fassatal

Bozen als Tor zu den Dolomiten – Aufstieg nach Bad Ratzes – Die Seiser Alm – Oswalds Burg Hauenstein – Männer im Heubad – Nach Campitello – Im Bann der Marmolata – Ausflug nach Fedaia – Der Rosengarten – Vulkane und Sagen – Über Vigo zurück nach Bozen

Kapitel 3Bad Ratzes und die Seiser Alm

Nachtfahrt über den Brenner – Ruhelos in Bad Ratzes – Heilung im Wassersarg – Ein Tag auf der Alm – Spaziergang nach Kastelruth – Zuflucht in Hauenstein

Kapitel 4Von Bad Ratzes nach Cortina

Leichter Abschied – Unser Morgengottesdienst – Mittag in der Hirtenhütte – Durch das Durontal nach Campitello – Ein Fest und fliegende Steine – Über Fedaia nach Caprile – Die Schlucht von Sottoguda – Die Civetta und der See von Alleghe – Bier in Santa Lucia – Glücklich in Cortina

Kapitel 5Von Cortina nach Lienz

Loblied auf Cortina – Übereilte Weiterreise – Die Ruine Peutelstein – Durch das Höhlensteintal nach Landro – Blick auf die Drei Zinnen – Innichen und der Dreischuster – Heimkehr nach Lienz – Dölsach und ein Gewitter

Kapitel 6Als Erste in Friaul

Unser Reiseplan: von Ost nach West – Rendezvous in Ober-Tarvis – Über Pontebba nach Resiutta – Der Tagliamento und Tolmezzo – Ein Engel namens Adelaida – Endlich in Rigolato – Forni Avoltri – Die deutsche Siedlung Sappada

Kapitel 7Tizians Gegend und die Straße nach Ampezzo

Nasse Tage in Auronzo – Tizians Geburtsort Pieve di Cadore – Die großen vier: Pelmo, Antelao, Croda Marcora und Tofana – Mr. Ball auf dem Pelmo – San Vito – Cortina und die Familie Ghedina – Tirols Gavarnie – Lago di Misurina und Val Grande

Kapitel 8Rund um die Sella

Von Cortina nach Buchenstein – Meuterei der Träger – Finazzers Gasthaus – Exkursion ins Gader- und Grödental – Corvara und sechs Priester – Ein Engländer! – Die Ruine Wolkenstein – Auf der Gardenazza – Der verbotene Weg – Bei Evangelista in St. Leonhard – Eine Woche in Caprile – Erste englische Touristen! – Das Fischermädchen von Alleghe – Spaziergang nach Agordo

Kapitel 9Von Primiero nach Bozen

Schöne Tage in Agordo – Mit Ponys nach Primiero – Zwei Wirte namens Bonetti – Die Ruine von Castel Pietra – Über den Pass von San Martino – Polenta im Hospitz von Paneveggio – Endlich Predazzo – Rundblick vom Sasso di Dam – Zitterpartie über den Karerpass

Kapitel 10Die Reise im Sommer 1863

Wieder über Kärnten nach Lienz – Von Leisach ins Lesachtal – Maria Luggau – Innichen in Feierlaune – Die Sextener Dolomiten – Über den Kreuzberg ins Cadore – Churchill erkundet Prags – Riesige Betten in Forno – Belluno, Feltre, Primiero – Von Strigno mit dem Carro nach Borgo Valsugana

Nachwort des Herausgebers

Editorische Notizen

Impressum/Bildnachweis/Unterstützer

WARUM DIESES BUCH?

Sicher kennen auch Sie so etwas: Man stößt auf einen Schatz, findet ihn großartig und ist ihn dann doch bald wieder leid. Mir ging es mit einer Perle der Reiseliteratur so. „The Dolomite Mountains“, 1864 in London publiziert und schon ein Jahr später in Klagenfurt unter dem Titel „Die Dolomitberge“ auch auf Deutsch erschienen, ist ein wunderbarer Wälzer, fast 600 Seiten lang, wortreich und geistreich, ein köstlicher Erlebnisbericht – aber heute nur noch ein recht mäßiges Lesevergnügen.

Dabei muss man, so dachte ich mir, dieses Buch nur aus seiner Zeitkruste lösen, vom Staub des 19. Jahrhunderts befreien, einige Passagen etwas polieren und die hölzerne Übersetzung glätten – um so den alten Glanz zu neuem Leuchten zu bringen. Auch manche obsolete landeskundliche Erörterung habe ich weggelasssen, desgleichen die Kapitel über Kärnten und Krain sowie Churchills „Physikalische Beschreibung des Dolomitgebiets“. So bilden nun die Reisen von Gilbert und Churchill durch das damalige Tirol, Friaul und Venetien – die unüberbietbaren Traumgegenden dieser englischen Enthusiasten – das Kernstück einer gewiss eigenwilligen Neuauflage.

Genießen Sie „Die Entdeckung der Dolomiten“!

Erwin Brunner, im Februar 2018

VORWORT DER AUTOREN

Als wir vor einigen Jahren eine Reise nach Tirol planten, wurde unsere Aufmerksamkeit besonders durch diese Passagen in „Murray’s Handbook“1 erregt: «Hier erblickt der Reisende die Dolomitenberge. Sie fesseln den Blick durch das Sonderbare ihrer Formen und das Malerische ihrer Umrisse, durch ihre scharfen Spitzen und Hörner, die sich zuweilen in Gestalt von Zinnen und kühnen Obelisken erheben, während sich andere in eingesägten Rücken hinziehen und mit spitzen Zähnen besetzt sind wie der Rachen eines Alligators. Oft stürzen ihre mehrere tausend Fuß hohen Wände fast senkrecht in die Täler ab, zerschnitten von zahllosen Klüften. Sie sind vollkommen nackt, ohne jede Vegetation, und haben meist eine lichtgelbe oder weißliche Färbung.» Und weiter: «Die Dolomiten bilden einen auffälligen Gegensatz zu allen anderen Gebirgen … Sie vermitteln einen Reiz des Neuen und von erhabener Größe, der nur von denen gewürdigt werden kann, die ihren herrlichen Anblick selber genossen haben.»

Wir wollten vor allem die stärker besuchten Gegenden von Tirol durchstreifen, dabei jedoch eine Richtung einschlagen, die uns einen Blick auf diese so besonderen Berge gewähren würde. So machten wir denn im Jahr 1856 diese Reise und werden zuerst berichten, wo und wie wir die Dolomiten zum ersten Mal erblickt haben.

Zwei Jahre später, 1858, nahmen einige von uns auf der Rückfahrt von Venedig ihren Weg durch Tirol auf der damals – wie auch heute noch – sehr wenig befahrenen Ampezzaner Straße2. Sie durchschneidet zwar einen Hauptteil der Dolomitenregion, lässt jedoch nur erahnen, welch außerordentliche Ansichten in den Tälern verborgen sind oder sich beiderseits ihrer Anhöhen entfalten.

Diese zwei Reisen überzeugten uns, dass in den Dolomiten noch viel mehr zu sehen ist. Aus botanischem Interesse machte Mr. Churchill daher im Jahr 1860 eine eigene Wanderung. Es war seit vielen Jahren das erste Mal, dass wir unseren Sommerausflug nicht gemeinsam machen konnten. Da es die Umstände nicht anders zuließen, trösteten wir uns damit, dass der Weg für die auf das nächste Jahr festgesetzte Reise jedenfalls gut bereitet war.

Diese Reise, bei der wir das Glück hatten, wieder alle vereinigt zu sein, fand im unübertroffenen Sommer 1861 statt. Das prachtvolle Wetter gewährte uns jeden Vorteil, und während wir diese wundervollen Täler durchstreiften, nahm unsere anfangs noch ziemlich unbestimmte Absicht, das, was wir sahen und genossen, für einen größeren Leserkreis als die Empfänger unserer Briefe in der Heimat zu beschreiben, immer konkretere Formen an, und so machten wir fleißigen Gebrauch von unseren Notiz- und Skizzenbüchern. Dazu ermuntert wurden wir nicht nur durch die Besonderheiten dieser Gegenden, sondern vor allem auch durch ihre Abgeschiedenheit von den Routen der Touristen. Während acht Wochen und auf einer Strecke von mehr als 200 Meilen begegneten wir nicht einem einzigen Mitglied dieser rastlosen Spezies. Keinem Engländer und keinem Ausländer. An vielen Orten waren wir die ersten Engländer, die man jemals gesehen hatte.

Um das Viele, das noch zu erfahren und zu sehen blieb, besser kennenzulernen, wählten wir für das nächste Jahr eine Route, die dazu dienen sollte, die Lücken der vorherigen Ausflüge zu füllen. 1861 bewegten wir uns von West nach Ost und hielten uns mehr auf der Nordseite der Hauptkette der Dolomiten, 1862 reisten wir von Ost nach West und südlich der im Vorjahr eingehaltenen Linie. Diese beiden Reisen bilden die Grundlage unseres Buches. Eine weitere Reise unternahmen wir 1863, um unsere Kenntnisse zu vervollständigen.

Man wird merken, dass an der Ausarbeitung dieses Werks verschiedene Hände beteiligt waren. Wo nichts Gegenteiliges erwähnt ist, stammen die Schilderungen aus der Feder des auf dem Titelblatt zuerst genannten Verfassers. Und Mr. Churchill beschreibt seine im Sommer 1860 allein unternommene Wanderung ins Fassatal.

Hilfreich mag sein, hier etwas über die Reisenden selber zu erzählen. Es sind zwei Engländer, die mit ihren Ehefrauen S. und A.3 Ferien machen. Was natürlich Auswirkungen auf dieses Buch hat. «Ah! Sie haben ja Ihre Mutter dabei», hatte Herr Imseng4, Pfarrer in Saas und ein ausgezeichneter Bergsteiger, zu einem unserer Freunde gesagt. «Wenn Sie wieder einmal kommen, lassen Sie sie zu Hause, dann wird sich vielleicht etwas machen lassen.» Englische Frauen, ob Mütter oder nicht, haben übrigens seither Taten vollbracht, die die Meinung des Herrn Pfarrers etwas mäßigen dürften. Dennoch müssen wir vorab daran erinnern, dass wir keine Geschichte von alpinen Abenteuern zum Besten geben. Wir waren nicht mit Seilen und Beilen ausgerüstet, wir können nicht mit schwierigen Bergbesteigungen prahlen und uns ebenso wenig rühmen, die Nächte unter freiem Himmel in Schlafsäcken verbracht zu haben. Wenn solche Heldentaten nötig sind, um etwas zu tun – dann haben wir nichts getan. Zudem sei angemerkt, dass sich die Dolomiten nicht sonderlich zum Erklettern eignen. So gestand es uns jedenfalls ein erfahrener Mann des Alpine Club5, der dies wiederholte Male versucht hatte und mit nicht wenig Abscheu vor ihren üblen Eigenschaften in dieser Hinsicht sprach. Ebenso sei festgehalten, dass die besonderen Landschaftsbilder, die uns diese Berge gewähren, auch – wie wir glauben – ohne solche Anstrengungen völlig gewürdigt werden können.

S. und A. waren daher keine impedimenta, keine Hindernisse bei unseren Wanderungen. Im Gegenteil: Wir verdanken ihnen viele schöne Erlebnisse sowie gar manche Empfehlung an ländliche Herzen und Herde, die uns ohne sie vielleicht versagt geblieben wären. Und hätten sie sich herbeigelassen, diese Geschichten selber zu erzählen, das Buch wäre wohl weit unterhaltsamer ausgefallen.

Wir vier sind also die Reisegesellschaft. Churchill trägt eine Botanisiertrommel auf dem Rücken und eine Pflanzenmappe unter dem Arm. En route ist ein mächtiger Lederkoffer, der Verwahrungsort seiner Schätze, ein wichtiger Bestandteil des Gepäcks. Sein Freund schleppt die Zeichengeräte und stellt seinen dreibeinigen Hocker überall dort auf, wo ein Gegenstand dazu verlockt und Zeit und Wetter es erlauben. A. hält mit Pinsel und Bleistift hübsche Gesichter und schmucke Trachten fest. S. ist die feierlich ernannte Vorleserin der Gruppe – ein sehr wichtiges Geschäft, nicht nur an Regentagen, wenn man in seinen vier Wänden festsitzt, sondern vor allem auch, wenn die Zeichner im Freien bei ihrer Arbeit sind.

Unser Gepäck – ein lederner Reisesack für jedes Mitglied sowie ein paar Reisetaschen und der erwähnte Koffer – kann vollständig von einem starken Pferd oder Maultier getragen werden. Noch öfter ist es freilich auf drei, vier Männer verteilt, mit denen wir, an den Berghängen dahinziehend, eine ganz ansehnliche Karawane bilden. Der Alpenstock der Touristen wäre für uns ein viel zu edles Werkzeug. Wir benutzen Schirme, und zwar sowohl als Spazierstock wie auch zum Schutz gegen Sonne und Regen. Leichte Röcke, in der Mitte gegürtet, sind unsere Reisebekleidung. Wenn nötig, werden kräftige Wanderstäbe ausgeborgt. Unsere Ausrüstung ist also sehr einfach, wie überhaupt die Leichtigkeit des Gepäcks eine Hauptbedingung angenehmen Reisens ist. Nach der ersten Reise wurden nur noch zwei kleine Teekessel beigefügt und für außerordentlich nützlich befunden.

Obschon wir wünschen müssen, dass die Abgeschiedenheit der Dolomiten auch fernerhin erhalten bleibt, werden wir es keineswegs beklagen, wenn ausgewählte und geistig verwandte Personen sich durch eigene Reisen das Vergnügen verschaffen, unsere Schilderungen als wahrheitsgetreu wiederzuerkennen. Ernstlich verwahren möchten wir uns aber gegen den lärmigen, müßigen Strom der Touristen, die wenig Neigung zeigen, die Bequemlichkeiten der Hauptstraße zu verlassen.

BEZAUBERT VOM ERSTEN ANBLICK!

Es war im August 1856. Wir waren von der Donau über Linz, Gmunden, Hallstadt, Badgastein, Mallnitz und Obervellach nach Süden gereist und hatten in dem romantischen Dorf Winklern in einem großen, schlossartigen Gebäude eine Herberge gefunden. Zwei reizende Zimmer, rein und freundlich eingerichtet. Die Fenster gewährten eine liebliche Aussicht ins Tal, und das Mittagsmahl entsprach ganz der Behaglichkeit dieses Hauses. Während die Sonne noch zauderte, das Tal zu verlassen, und den oberen Teil eines hinter dem Ort herabstürzenden Wasserfalls mit Silber schmückte, spazierten wir ein bisschen auf den davor liegenden Wiesen.

Plötzlich, als wir uns umsahen, überraschte uns eine fremdartige Reihe nackter, zerrissener Felsspitzen, die über den Anhöhen im Süden aufragten. «Wie! Churchill», rief ich aus, «was auf Erden mag das nun sein?» – «Dies», sagte mein Freund, und dann nach einer kurzen Pause: «Dies müssen die Dolomiten sein!»

Wir wussten wohl einiges über ihre allgemeine Lage und dass sie einen nicht unbedeutenden Teil von Südtirol einnahmen. Auch hatten wir vor, auf dieser Reise einige Abstecher zu machen, um sie zu sehen. Doch wir hatten nicht erwartet, die Dolomiten schon von Kärnten aus zu erblicken. Nun sehnten wir uns danach, das Gebirge hinter Winklern zu übersteigen und waren voller Ungeduld, sie zu erkunden. Eine Bezauberung begann und ließ uns nicht mehr los …

1

VON DER DRAU ZUM EISACK. DOLOMIEU UND DER DOLOMITDIE ZAUBERHAFTEN UNHOLDELIEBLICHES LIENZUNSER KUTSCHER AMMAN – TIROLER GASTHÄUSERMEHR DOLOMITEN – BRUNECK – AMMAN BEKREUZIGT SICH WIEDER – BRIXEN UND DIE BRENNERSTRASSE – BOZEN IM ABENDLICHT – ABSCHIED MIT HANDKUSS

Vier Engländer im heiligen Land Tirol

«Was ist Dolomit?» Wir wollen diese Frage einstweilen nur damit beantworten, dass es magnesiasaurer Kalk ist, der sich in einem besonderen Zustand befindet, dessen Ursache noch immer Stoff für viele Streitfragen abgibt und dass der Name von dessen Entdecker, Monsieur Dolomieu6, hergeleitet ist. Der Begriff mag übrigens vielen geläufig sein, auch wenn ihnen die Dolomiten unbekannt sind, denn er kommt häufig vor, ohne der Gegend irgendeine Eigentümlichkeit zu verleihen. Zudem hat die Tatsache, dass unser Parlament7 aus Quadern dieses Gesteins erbaut ist, die in den Steinbrüchen bei Bolsover in Derbyshire gewonnen werden, in letzter Zeit diesen Namen oft vor die Öffentlichkeit gebracht.

Es gibt jedoch nur ein Gebiet, wo der Dolomit so vorherrschend ist, dass er die ganze Szenerie prägt. Nur hier zeigen sich jene eigenartigen Berge, die diese Landschaft von jeder anderen unterscheiden. Vor allem mit diesem Gebiet beschäftigen sich unsere Reisen, obwohl wir auch die benachbarten Gegenden besuchten, wo der Dolomit nur untergeordnet auftritt, aber seine besonderen geologischen Züge beibehält.

Das eigentliche Gebiet der Dolomiten liegt im südöstlichen Teil von Tirol, etwas nordwestlich vom venezianischen Golf. Man kann sagen, dass es im Norden vom Pustertal, im Westen von den Tälern des Eisack und der Etsch, im Süden von einer Linie, die man von Trient nach Belluno ziehen kann, im Osten durch das Tal der Piave8 und eine Linie, die nordwärts gegen das Pustertal verläuft, begrenzt wird. Im Süden und Osten sind diese Grenzen jedoch nicht so genau. Der Dolomit tritt weniger weit südlich als landschaftsbeherrschend auf, geht aber im Osten beträchtlich weiter als bis zur Piave, denn sonst hätten wir den überraschenden Anblick dolomitischer Formen nicht schon in Winklern genießen können. Das Herz der Dolomiten kann als in einem Viereck liegend beschrieben werden, dessen Eckpunkte die Städte Brixen, Lienz, Belluno und Trient bilden. Oder als im Westen von der Brennerstraße begrenzt und im Osten von der Ampezzaner Straße durchschnitten.

Der höchste und berühmteste Berg der Dolomitenregion, die Marmolata, liegt ziemlich genau in ihrer Mitte. Nordwestlich davon erhebt sich der Langkofel und im Südosten der Pelmo. Diese drei Berge führen die bekanntesten Namen, doch sind viele andere von nicht geringerer Wichtigkeit. Der Schlern ist der westlichste Gipfel der Gruppe, der Antelao, die Marcora und die Tofana überschatten majestätisch die Ampezzaner Straße und die Civetta ragt stolz oberhalb des lieblichen Sees von Alleghe in die Lüfte.

Wenn der geneigte Leser eine Karte zur Hand nimmt, wird er merken, dass wir in Winklern, in Kärnten, weit von dem hier in groben Umrissen beschriebenen Gebiet entfernt waren, und er wird begreifen, dass wir auf die plötzliche Erscheinung der Dolomitberge gänzlich unvorbereitet waren. Auch wussten wir damals noch nicht, dass sie in vereinzelten Gruppen auch in den Karnischen Alpen und in den Karawanken vorkommen.

Auf dieser ersten Reise gelangten wir jedoch noch nicht in das eigentliche Dolomitengebiet, und so habe ich hier vorerst nur zu berichten, wie wir dessen nördliche und westliche Grenzen umkreisten und dass uns verschiedene Ausblicke auf ihre fremdartigen Formen vergönnt waren, von denen freilich jeder unser Verlangen erhöhte, diese Berge zu erkunden.

In Winklern hatten wir nach dem Schauspiel am Tag der Ankunft gute Gründe, sogar das Kennenlernen der Dolomiten zu verschieben. Am oberen Ende des Mölltals steht nämlich der Großglockner, der höchste Berg der Norischen Alpen9, der östliche Nebenbuhler von Montblanc und Monte Rosa. Begleitet vom Sohn des Wirts, fuhren wir mit zwei leichten Einspännern in fast vier Stunden nach Heiligenblut. Dort hob sich, gerade vor einem steilen Abhang, der weiße Kegel rein und blendend von einem tiefblauen Himmel ab – eine der schönsten und überraschendsten Szenen unserer Reisen in den Alpen …

Bei der Rückkehr nach Winklern trafen wir unsere elegante Wirtin als Kellnerin im Ausschank der Gaststube an. Sie war deshalb nicht weniger eine Dame und wir bewunderten die Einfachheit der Sitten, die dadurch bezeugt wurde. Vierzehn Tage später bewirtete sie den Kaiser und die Kaiserin auf deren Weg von Heiligenblut nach Klagenfurt. Doch erst am nächsten Tag wurde uns die Besonderheit dieses Hauses klar. Nach einem herzlichen Lebewohl an Wirt und Wirtin brachen wir zu Fuß nach Lienz auf und wunderten uns über die überaus bescheidene Rechnung. Fast überlegten wir umzukehren, um sie berichtigen zu lassen, als eine Stelle in „Murray’s Handbook“, die uns bisher gar nicht aufgefallen war, die ganze Sache in ein unerwartetes Licht setzte: «Das Gasthaus in Winklern gehört einem vermögenden Ritter, dessen äußerst billige Rechnung von einem Gulden pro Tag alles einschließt.» Das also war die Erklärung! Wir waren in der Tat fast so etwas wie Gäste des Hauses gewesen, und es tat uns herzlich leid, dies nicht früher gewahr geworden zu sein. Alles, was wir jetzt noch tun konnten, war, uns dem Ritter Aichenegg von Winklern sehr verpflichtet zu fühlen und ihn hinfort in Ehren zu halten.

Murray erwähnt in seinen knappen Notizen über diese Gegend «die prachtvollen Ansichten der seltsamen Dolomitberge auf dem andern Ufer der Drau», und ich führe diese Stelle an, um unsere Erwartungen zu rechtfertigen. Nur ein niedriger Bergrücken trennt hier das Mölltal vom Drautal und zugleich Kärnten von Tirol. Hätten wir uns früher daran erinnert, so wären wir über das, was wir Sonntagabend sahen, weniger erstaunt gewesen. Als uns nun jeder Schritt weiter nach oben brachte, waren wir auf dem Gipfel der Erwartung – und wurden nicht enttäuscht. Die vollkommene Klarheit der Luft ließ uns bis an die äußersten Grenzen des Horizonts sehen, der im Süden und Südwesten von Felszinnen starrte. Die volle Wirkung entfaltete sich, nachdem wir vom ersten Aussichtspunkt etwas tiefer gestiegen waren. Zu unseren Füßen lag das Tal der Drau als flache, schmale Ebene, in der sich das Silberband des Flusses dahinschlängelte und aus der die Dolomitriesen aufragten: gezackt, zersplittert, gespalten und die Aussicht im morgendlichen Schatten wie eine Mauer versperrend. Die höchsten, östlichen Gipfel der Reihe – höher als 9 000 Fuß – tragen einen angemessenen Namen: „Die Unholden“10.

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LIENZER DOLOMITEN

Der weite Talboden verleiht dem unvermittelt aus ihm aufsteigenden Bergwall eine ganz eigene Wirkung. Diese Flachheit ist ein besonderes Charakteristikum der Täler des Festlandes; englische Täler haben gewöhnlich die Form eines Beckens, doch nirgends zeigt sich der Gegensatz von senkrecht und waagrecht so schön wie in dieser Aussicht von der Passhöhe des Iselsbergs.

Der Abstieg auf holprigen Wegen durch üppige Obstgärten war reizend. Ein Paradies der Pomona11, das sich in der Herbstsonne wärmte. Beim Dorf Dölsach erreichten wir die Ebene, und S. und A., die wieder ihren Pferdewagen bestiegen, wurden uns durch Maisfelder und taufunkelndes Gras gen Lienz zu entführt, die erste Stadt Tirols, deren Türme schon im oberen Teil des Tals sichtbar waren. Die Ebene wird hier von Bergmassen eingeschlossen; die Drau kommt durch eine Schlucht im Süden und die Isel von Nordwesten aus einem höher gelegenen Tal, nahe am Zusammenfluss der beiden liegt die Stadt.

Unseren Frauen folgend, die auf der Straße im Staub verschwunden waren, mussten wir in der Hitze einen Marsch von fünf Meilen zurücklegen. Nachdem wir auf einer malerischen Brücke die tobenden Wasser der Isel überschritten hatten und durch das Tor des Stadthauses gegangen waren, betraten wir die breite Straße, die als Platz gelten mochte. S. und A. saßen dort bereits auf einer Bank vor der „Post“. Da dies nicht der von uns gewählte Gasthof war, wollten sie uns nicht durch ihr Eintreten in das Haus in Verlegenheit bringen und blieben sitzen, während sich alle Fenster mit Neugierigen füllten. Wir wurden indessen bald überzeugt, dass es auch hier bequem sein würde, und der gutmütige, biedere Wirt erwies sich als der beste Mensch der Welt.

Von Lienz ist nicht nötig mehr zu sagen, als seine Lage als «eine der schönsten von ganz Tirol» zu bestätigen. Es kann auch nicht anders sein, da diese Lage auf der einen Seite die majestätischen Dolomiten, auf der anderen die Schönheit der grünbekleideten Hügel umfasst, die Vereinigung zweier Flüsse wie Drau und Isel und den Anfang des herrlichen Tals, dem der erste Fluss seinen Namen gibt. Ringsum sind Dörfer und Schlösser über jede waldbekrönte Höhe ausgestreut. Zu einem dieser Schlösser spazierten wir eines Abends und freuten uns über die herrliche Aussicht von dort oben.

Das Schloss gehört den Grafen von Görz, wird aber von einer wohlbekannten Person, Sir John Barleycorn12, bewohnt: es ist … eine Brauerei! Lienz war einst römische Station, eine Römerstraße führte von hier nach Aquileia am Adriatischen Meer. Derzeit scheint das Städtchen nichts sonderlich Bemerkenswertes zu besitzen. Es zählt nur 2 000 Seelen, doch es hinterließ bei uns den Eindruck ruhiger Freundlichkeit. Vielleicht ist ein Teil der Annehmlichkeit, die Lienz für uns hatte, dem guten Wirt der „Post“ zuzuschreiben, der ein freundliches Interesse an uns zeigte, obwohl sein unglückliches Lispeln die Verständigung erschwerte. Als wir mit ihm besprachen, wie wir nach Bozen gelangen könnten, schien sein halbes Gespräch aus dem Wort „Ponicken“ zu bestehen.

Das war reichlich verwirrend, bis uns ein genauerer Blick auf die Karte belehrte, dass er die ganze Zeit von „Brunecken“13 gesprochen hatte, dem besten Ort, um auf unserer weiteren Reise wieder Station zu machen. Ohne Zweifel lag für ihn als Postmeister die Benutzung der Post am nächsten, doch lenkte er bereitwillig ein, als wir einen „Lohnkutscher“ vorzogen, und empfahl uns einen seiner Nachbarn namens Amman.

Wir trafen diesen Mann nachmittags nicht an, aber seine Frau versprach, dass er am Abend kommen würde, zusammen mit einer etwas Französisch sprechenden Person, um bei der Verständigung zu helfen. Als wir von unserem Spaziergang zurückkehrten, stand natürlich die halbe Stadt vor Ammans Tor. Die nun folgende Verhandlung hatte den Vorteil, in mindestens vier Sprachen zugleich – Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch – geführt zu werden, und in kurzer Zeit wurde man handelseins, diese „vier Engländer“ in zwei Tagen nach Bozen zu fahren.

Die Straße von Lienz in das Pustertal steigt zuerst durch eine Schlucht an, durch die sich die Drau in die Ebene ergießt. Hier erheben sich zur Linken die großartigen waldbedeckten Lienzer Dolomiten, doch der Reisende ist viel zu nah an ihrem Fuß, um auch deren gezackte Spitzen sehen zu können. Weiter oben, bei Sillian, öffnet sich das Tal und könnte rau genannt werden, wenn nicht glänzende Kornähren und anmutige Ortschaften diesen Eindruck milderten. Man befindet sich hier auf einer Wasserscheide, die wir alsbald überschritten. Dann verloren wir die Drau und begannen hinter Innichen, das Pustertal hinunterzufahren. Hier zeigten sich wieder dolomitische Formen über den nahen Hügeln im Süden. Einer dieser Berge stach ganz besonders hervor, war mit Zinnen gekrönt und bot einen sehr erhabenen Anblick. Wir nannten ihn „das Diadem“. Von da an wollte sich keine Öffnung in den Hügeln mehr zeigen, um unsere Erwartung zu befriedigen – bis bei Toblach die Straße von Ampezzo durchbrach und der düstere Eingang zwischen steilen Felswänden uns noch neugieriger machte. Es war der gerade Weg nicht nur nach Venedig (stets ein reizvoller Gedanke!), sondern auch mitten durch das Herz der Dolomiten. Eine Qual, sie diesmal unerforscht lassen zu müssen!

In Niederdorf aßen wir zu Mittag, und auch hier waren die spitzen Gipfel, die die Ampezzaner Straße bewachen, noch sichtbar. Es müssen wohl sie gewesen sein, über die Sir Humphry Davy14 in seinem Reisetagebuch von 1819 am 20. Juni notierte: «Unter Brunecken sieht man eine großartige Bergkette im Süden gegen Italien zu, deren Anblick mich bis Sillian begleitete. Diese Berge scheinen von Granit zu sein und sind von ungemein kühnen und steilen Formen – sehr ähnlich den Nadeln im Tal von Chamonix und mit fast derselben Beziehung zum Schnee, der sie, selbst bei ihrer Vereinigung mit den fichtenbewaldeten Hügeln, in ungeheuren Mengen bedeckte.»

Sonderbar, dass Davy diese Gipfel für Granit hielt. Dolomit war ihm natürlich unbekannt, aber er hätte sie für Kalkberge halten können. Schnee sahen wir keinen, aber es war ja nicht Juni, sondern August.

Tirol ist ein für Fremde sehr angenehmes Land wegen seiner geräumigen, kühlen und reinlichen Gasthäuser an der Straße, die den Reisenden mit alter Gastfreundschaft willkommen heißen. Der Tisch wird meistens im breiten Hausflur des ersten Stocks gedeckt, auf den auch die Schlafgemächer für die besseren Stände ausmünden. Blumentöpfe schmücken die hölzernen Balkone, und die Tochter des Wirts überreicht beim Abschied zierliche Sträuße – eine vollendete Beigabe zu der kleinen Rechnung, die kaum eine Rechnung zu nennen ist. Sie wird mit Kreide in so kleinen Beträgen auf den Tisch geschrieben, dass man die Überzeugung gewinnen muss, dieses Volk besitze jegliche Tugend unter dem Himmel.

Die mittäglichen Halte unseres Kutschers brachten manche anmutige Erfahrung dieser Art. Und wenn man über Nacht bleibt, sind die ausgezeichneten Schlafgemächer selbst an Orten, wo man es gar nicht erwarten würde, so bequem und reinlich, wie sie nur sein können – und ganz ohne jenes frostige Aussehen, das in Englands Gasthäusern durchaus üblich ist. Die Möbel sind oft aus Nussholz, hübsche Holzschnitte oder Kupferstiche zieren die Wände und rote Decken die Betten. Doch leider dürfte das Tiroler Landgasthaus in seiner einnehmenden und gemütlichen Einfachheit nicht mehr lange leben. An den Hauptstraßen verschwindet es schon – dort, wo englische Reisende sich der Anmaßung überlassen, die unserem Volk oft zu eigen ist, und die bescheidene, anständige Kellnerin mit „Garçon!“ rufen. Um solchem Geschmack Genüge zu tun, wachsen Hotels empor, wo dann wirklich bald der „Garçon“ erscheinen wird.

Ein angenehmes Gasthaus wie oben beschrieben ist jenes in Niederdorf, und nach einer langweiligen, staubigen Nachmittagsfahrt durch das lange Pustertal hinab, wurden wir von einem gleichen in Bruneck aufgenommen. Hier übte die Nähe der Dolomiten wieder große Anziehungskraft auf uns aus, denn im Süden öffnet sich hier das Gadertal, einer der großen Zugänge zu ihrer Abgeschiedenheit. In Verbindung mit dem Fassatal und dem Seitental von Gröden ist es der einzige Weg, den Murray angibt, um diese Berge zu besichtigen – wenn auch, wie wir später erkannten, der weitaus am wenigsten attraktive.

Es war ein prachtvoller Abend und die Aussicht von der alten Burg zu Bruneck war herrlich. Das Schloss erhebt sich steil über dem hübschen Städtchen, das sich mit seinen schmucken Türmen an einen reißenden Fluss, die Rienz, anschmiegt. Das Tal von Taufers, das sich im Norden mit dem Haupttal vereinigt, bietet ein schönes Panorama der Tiroler Zentralalpen und macht die Lage ebenso imposant wie sehenswert.

So entlegen der Ort auch ist, so hat er doch einen Platz in der europäischen Geschichte. Als Kaiser Karl V. im Jahr 1552 aus Innsbruck floh, um den Truppen des Kurfürsten Moritz von Sachsen zu entgehen, war sein erster Zufluchtsort diesseits des Brenners eben dieses Schloss Bruneck, das damit für kurze Zeit der Mittelpunkt der Herrschaft über fast die halbe Welt15 wurde. War es an solch einem Abend, dass der gichtkranke, alte Kaiser in seiner Sänfte den Schlossberg hinaufgetragen wurde? Oder eine fackelerhellte Nacht, in der sie ihn ächzend durch das Schlosstor schleppten?

Amman war der höflichste aller Kutscher. Sein Gefährt war nicht geräumig und seine Pferde nicht besonders schön, doch gingen sie einen guten Schritt und ihr Herr glich auf der Straße einem Edelmann, der einige seiner Freunde spazieren fährt. Wir waren in sehr gutem Einvernehmen, als wir zu unserer zweiten Tagesetappe aufbrachen. Doch befürchte ich, dass unsere Gesellschaft eine Schlinge für sein Gewissen wurde. Wir hatten beobachtet, dass er – anders als die Kärntner Kutscher – keine Notiz von den vielen religiösen Darstellungen nahm, an denen wir vorüberkamen. Oder wenn er es tat, dann geschickt unter dem Vorwand, seinen Hut etwas bequemer zu richten. Wir haben diese Scheu in unserer Gegenwart auch bei anderen Gelegenheiten und stets mit Bedauern bemerkt. Denn wenn der Glaube vorhanden ist, soll er auch gezeigt werden, und es wäre unrecht, wenn man uns für fähig hielte, ihn ins Lächerliche zu ziehen.

Ein kleiner Unfall ließ uns ahnen, was in Ammans Gemüt vorgehen mochte. Im Laufe des Morgens stolperte eines der Pferde und verletzte sich am Knie. Amman machte davon zwar kein großes Aufheben, bezeugte aber von diesem Augenblick an jedem Kreuz und jedem Bildstock die allergrößte Ehrfurcht. Kein Zweifel, dass er nun das Unglück seiner früheren Nachlässigkeit zuschrieb, und vielleicht glaubte er auch, seine vier Protestanten hätten ihm nichts Gutes gebracht.

Die Häufigkeit dieser frommen Erinnerungszeichen in Tirol weckt eine günstige Meinung von der Frömmigkeit des Volkes. Doch dies ist eine heikle Frage und ich würde bezweifeln, dass man den Tirolern ein tieferes religiöses Gefühl zuschreiben kann als unserer protestantischen Bevölkerung. Der Reisende bedenke, wie schnell er selber aufhört, diese Zeichen der Ehrerbietung auch nur wahrzunehmen, vorausgesetzt, dass sie überhaupt Eindruck auf ihn gemacht haben. Und muss dies nicht noch mehr bei Menschen der Fall sein, die stets unter diesen Zeichen leben?

In einem Dorf nahe dem Stelvio16 gibt es eine lebensgroße Figur des Erlösers unter einem Dach an der Straße. Aus einer Wunde an seiner Seite fließt ein Strahl Wasser, mit dem die Frauen den ganzen Tag lang ihre Eimer füllen. Dieses geheiligte Sinnbild dient als ein gewöhnlicher Brunnen! Wir können uns nicht vorstellen, dass die Wahrheit, die dadurch gelehrt werden soll, dem täglichen Leben nähergebracht wird. Dies ist gewiss ein extremes Beispiel und zeigt, gleich den frommen Redensarten, die manchen so oft und leicht über die Lippen gehen, dass deren Bedeutung gänzlich vergessen ist. Um den Wert dieser Dinge zu schätzen, muss man auch den „Fetisch“-Charakter gehörig würdigen, der mit einem solchermaßen geheiligten Gegenstand verknüpft wird. Obwohl die Figur seit langer Zeit aufgehört haben mag, ihre Lehre zu vermitteln und Bewegtheit auszulösen, würde deren Beseitigung doch zweifellos vom ganzen Dorf als Unglück betrachtet werden. Doch sie wurde vielmehr zum Palladion, zum geheimnisvollen Wächter des Ortes. Den Sinn mit der Vorstellung zu verwechseln – das ist die menschliche Natur überall nur allzu sehr gewohnt.

Doch Tirol ist ein frommes Land. Noch auffallender als die vielen religiösen Erinnerungszeichen sind die Morgen- und Abendlitaneien, zu denen sich jedes Haus versammelt. Die bunte Dienerschaft der größeren Wirtshäuser trifft sich auf diese Weise regelmäßig zum Gebet im Flur, wo man sie – Männer und Weiber getrennt – auf ihren Knien sehen kann, während in der Dämmerung die einförmigen, feierlichen Gebete aus jeder Hütte zu hören sind. In Sterzing, das als ein bequemer Rastplatz am südlichen Fuß des Brenner fast nur aus Wirtshäusern besteht, blieben wir bei anderer Gelegenheit über Nacht, und um sieben Uhr abends war nicht ein Fuhrmann oder Müßiggänger auf der Straße zu sehen – aber aus jedem Tor drangen wie leichtes Donnergrollen die Bittgebete. Alle Ehre dem einfachen und frommen Tirol!

So hielt also das gebrochene Knie unseres Kutschpferdes, das uns im nächsten Dorf etwas aufhielt, auch unsere Erzählung auf. Endlich erreichten wir den Ausgang des Pustertals, das im Ganzen wegen seiner landschaftlichen oder irgendeiner anderen Schönheit nicht besonders bemerkenswert ist. Die Frauenzimmer verunstalten sich selber durch den erstaunlichsten Kopfputz, den man sich vorstellen kann. Mehr als allem anderen gleicht er einem Bienenkorb: Es ist ein großes wollenes Zubehör, passend eher für Eskimos. Das Tal verengt sich zu einer Schlucht, sobald es sich dem weiten Eisacktal nähert, in das es in einem rechten Winkel mündet. Wo auch immer man in Tirol zu einer solchen Schlucht kommt, kann man sicher sein, dass sich dort irgendeine Szene des berühmten Jahres 1809 abgespielt hat. So auch hier: Jenseits der Straße markiert die Ruine einer Festung den Ort eines der heftigsten Kämpfe mit den eingedrungenen Franzosen.

Nun erreicht man eine offene, hügelige Fläche. Zur Rechten sieht man den tiefen und waldigen Eingang zu der Schlucht von Mittewald, in der die Brennerstraße nach Innsbruck führt. Die weißen Umrisse einer österreichischen Festung – der Franzensfeste – zeigen, dass dies eines der Tore von Deutschland ist. Zur Linken hinab führt die gleiche Straße gen Süden, nach Brixen und Bozen. Dies war unsere Richtung. Nachdem wir durch das Pustertal die nördliche Seite des Dolomitengebietes umfahren hatten, wollten wir nun dasselbe auf der westlichen Seite tun. In Brixen, einer alten Bischofsstadt, die von Gärten und Weingärten umgeben ist, rasteten wir ein, zwei Stunden. Nach Süden zu wird das Eisacktal in seinen Zügen nun immer großartiger und die Vegetation reicher, obwohl es nur mehr oder weniger eine Klamm ist. Nachdem wir Klausen, eine schmale Häusergasse knapp am Ufer des rauschenden Flusses, hinter uns gelassen hatten, öffnete sich zur Linken das Grödental, doch in zu großer Höhe, um seine Landschaft zu enthüllen. Bemerkenswert ist es vor allem wegen des Langkofel, einem hervorragenden Gipfel, dessen Namen man sich einprägen sollte. Wir musterten jede Öffnung in dieser Richtung – aber vergeblich. Eine Mauer von Porphyr entzieht hier die Dolomiten den Blicken, und dies ist der Grund, weshalb gewöhnliche Touristen so wenig von ihnen wissen.

Unsere Annäherung an Bozen im frühen Abendlicht war prachtvoll zu nennen. Hier erhoben sich dunkle und rote Porphyrfelsen, bekleidet mit dem weichsten, reichsten Laubwerk. Unterhalb dieser Felsen rankten Weinreben über jeden Sims und Absatz und füllten auch die Talsohle. Am Punkt, an dem hier vier Täler zusammentreffen und sich zu einer weiten Mulde gegen Italien hin öffnen, liegt Bozen, eine Stadt, die durch das glänzende grüne Dach und die roten Türme seiner Hauptkirche geprägt wird: Die Farbe ihres Porphyrs liegt über allem und ergibt eine reizvolle Färbung. Hier findet man schon Merkmale des Südens. Das Ohr vernimmt italienische Klänge, und mit schweren italienischen Bogengängen versehene Straßen fesseln das Auge. Glockentürme besetzen jeden Hügel der reichen Landschaft, Freskogemälde schmücken die Mauern, und von den Altären an der Straße ist alles Fürchterliche und Tragische verschwunden. Anmutige Madonnen oder Heilige mit weiten Kleidern trösten auf dem Kalvarienberg verzweifelnde Seelen oder lassen die Schrecken der Straße vergessen. Selbst auf den Bildern des Gekreuzigten ist anstelle der bloß körperlichen Schmerzen die Entsagung dargestellt. Eine große Milde scheint hier über Natur und Kunst ausgebreitet zu sein.

Dennoch ist diese Sanftheit nicht verschwenderisch. Bozen mag seinen Rang neben Innsbruck und Salzburg dem auffallenden Charakter seiner Landschaft verdanken, daher habe ich mir die Erwähnung ihres hervorragendsten Zuges bis hierhin aufgespart.

Von den Fenstern der „Kaiserkrone“ oder von jenseits der Brücke, über welche die Straße nach Meran führt, oder, noch besser, von einer Anhöhe am Fuß der Mendel sieht man gegen Osten im Abendlicht die Türme der Dolomiten: alles überragend und noch beleuchtet, wenn alles andere schon finster ist – ein herrlicher und geheimnisvoller Anblick. Sie erheben sich mit so stolzer Unabhängigkeit aus der umgebenden Landschaft, sind in so fremdartige Massen zerrissen, zerteilen den Himmel mit so scharfen Umrissen und schimmern in einem so unirdischen Licht, dass man durch dieses großartige Schauspiel gebannt wird. Wie wild und feierlich schön muss erst das Fassatal sein, das hinter diesen Felsen liegt? Und welch ein furchtbarer Ort, um dort zu leben!

Diese Dolomiten führen den Namen „Rosengarten“ – einen Namen, den man niemals mit ihrem fast geisterhaften Aussehen verbinden würde. Die Glut des Sonnenuntergangs mag sie in ihren rosigen Farben zwar für einen Augenblick so erscheinen lassen, doch dies geht schnell vorüber. Der „Garten“, wenn denn hier einer ist, liegt auf der anderen Seite, wo die Abhänge des Fassatals am Fuß der Steilwände in der richtigen Jahreszeit in einem Meer von Alpenrosen erglühen. Doch dies ist ein Geheimnis des Tals, das ich jetzt noch nicht entschleiern darf …

Amman führte uns nicht zur „Kaiserkrone“, einem ausgezeichneten Gasthof höheren Ranges, sondern zum „Mondschein“. Dieses Haus steht in einer schmalen Gasse und hat ohne Zweifel mehr Eigentümliches als seine moderne Konkurrenz. Auf dem Flur zwischen den Türen unserer Schlafzimmer hing eine lebensgroße, aus Holz geschnitzte und bemalte Figur des Erlösers am Kreuz, die im Schein einer einzigen Lampe schreckenerregend genug aussah, um dem Haus das Aussehen eines Konvents zu geben. Doch herrschte hier keine klösterliche Stille. Der schwere Warenverkehr über den Brenner zog unablässig durch die Straße; große Fuhrwagen, jeder mit einem Dutzend Pferden bespannt, kamen oder gingen die ganze Nacht hindurch, dazu Postwagen mit ihren Lampen – allesamt wirksame Störer der Ruhe und des Schlafs.

Am Morgen erschien Amman, um von uns Abschied zu nehmen und bat, dies auch bei den Frauen tun zu dürfen. Er fiel vor jeder nieder auf ein Knie und nahm eine Hand, um sie mit dem ganzen Anstand eines Ritters an seine Lippen zu drücken. Dies war der letzte Strahl von Romantik auf unserer Reise, denn von jetzt an waren wir auf der vielbefahrenen Straße. Einen Tag nach unserer Ankunft verließen wir Bozen mit dem Postwagen, der frühmorgens nach Meran abgeht, und als wir in das Etschtal einbogen, entschwanden die Dolomiten unseren Augen – aber nicht aus unserem Sinn.

Fünf Jahre vergingen, bevor wir sie wiedersahen. Im Jahr 1858 wählten meine Frau und ich auf unserem Weg von Venedig nach Innsbruck die Ampezzaner Straße, und als wir durch das Cadore, durch Cortina und Landro fuhren, sahen wir genug, um unser Interesse für diese fremdartigen Berge aufzufrischen, das schon auf unserer ersten Reise so stark angeregt worden war.

Im Jahr 1860 unternahm Churchill in dieser Gegend eine kurze, einsame Wanderung, und er ergreift nun die Feder zur Schilderung seiner Reise.

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EINE WANDERUNG INS FASSATAL. BOZEN ALS TOR ZU DEN DOLOMITEN – AUFSTIEG NACH BAD RATZESDIE SEISER ALM – OSWALDS BURG HAUENSTEIN – MÄNNER IM HEUBADNACH CAMPITELLOIM BANN DER MARMOLATA – AUSFLUG ZUR FEDAIADER ROSENGARTEN – VULKANE UND SAGEN – ÜBER VIGO ZURÜCK NACH BOZEN

Mr. Churchill botanisiert im Rosengarten

Die Gliederung des Dolomitengebietes von Südtirol ist etwas unübersichtlich, doch die meisten seiner Haupttäler verlaufen von Nordost nach Südwest. Nördlich von Trient aus wird es von einem merkwürdigen Tal von fast achtzig Meilen Länge durchzogen. Dieses ist in seinem oberen Teil als Fassatal, in seinem mittleren als Fleimstal und in seinem unteren Teil als Cembra- oder Zimmerstal bekannt. Der Avisio durchfließt es in seiner ganzen Länge und mündet bei Lavis, etwas oberhalb von Trient, in die Etsch. Das Gadertal führt von Norden her, und auf demselben Punkt kommt ihm von Westen auch das kurze Grödental sehr nahe. Zwischen den Anfängen dieser Täler erhebt sich ein Gebirgsknoten und die von Murray angegebenen Wege beziehen sich fast alle auf diesen Punkt und dessen Zugänge. Ein anderes Tal im östlichen Teil des Gebiets ist jedoch ebenso wichtig wie das Fassatal, um zu den Dolomiten zu gelangen. Von Belluno ansteigend und gegen Nordwest ziehend, führt es zuletzt zum Fuß desselben Gebirgsstocks. In seinem unteren Lauf heißt es das Tal von Agordo, in seinem oberen Livinallongo oder, nach seinem Fluss, das Cordevoletal; beide Teile bieten schönste Dolomitenlandschaften. Weiter östlich verläuft das Tal von Ampezzo mit der einzigen befahrbaren Straße.

Cortina an dieser und Bozen an der Brennerstraße sind die zwei bequemsten Ausgangsorte, um zu den Dolomiten zu gelangen, wenn man vorhat, die Gegend zu durchstreifen und die schönsten Teile des Fassa- und des Agordotals in kürzester Zeit zu erkunden. Geographisch können die drei Täler von Fassa, Agordo und Ampezzo die Hauptschlagadern der Dolomiten genannt werden.

Der erwähnte Gebirgsknoten versammelt einige der bekanntesten Dolomitenberge. Der Schlern steht an dessen westlicher Grenze bei Bozen, der Langkofel und die Sellagruppe sind nicht weit davon, und in deren Nähe im Südosten, nur durch das Fassatal getrennt, erhebt sich die Marmolata.