Chii Rempel

S L E E P L E S S

Echo der Vergangenheit

 

GedankenReich Verlag

Denise Reichow
Heitlinger Hof 7b
30419 Hannover

www.gedankenreich-verlag.de

 

SLEEPLESS
Echo der Vergangenheit
Band 1

 

Text © Chii Rempel, 2017

Cover & Umschlaggestaltung: Marie Graßhoff, www.marie-grasshoff.de
Lektorat & Korrektorat: Kristina Licht

Satz & Layout: Nadine Reichow
Innengrafiken © Chii Rempel

Druck: bookpress

 

ISBN 978-3-947147-30-4

© GedankenReich Verlag, 2018

Alle Rechte vorbehalten.

PROLOG

 

Der Zug rüttelte über die Gleise. Ein Mädchen mit blasser Haut und rosafarbenen Lippen bewunderte das Farbenspiel des rötlichen Sonnenuntergangs am Himmel. In ein paar Stunden würde es dunkel werden. Das Mädchen schauderte bei dem Gedanken daran. Sie strich sich ihre langen dunkelbraunen Haare hinters Ohr und schloss die Augen. Eine kleine Strähne fiel zurück in ihr Gesicht und kitzelte ihre Nase, sodass sie fast niesen musste. Sie genoss die Wärme der Sonne auf ihrer Haut. Der Zug raste laut über die Gleise, in seinem Inneren kämpften die Passagiere mit dem Gleichgewicht. Doch das junge Mädchen blendete dies alles aus. Sie wandte sich selten der kalten Realität zu.

Wer sie war? Nun, dieses Mädchen war ich. Mein Name war Kaylin Baker. Und dies ist meine Geschichte.


Doch um sie erzählen zu können, muss ich früher anfangen. Viel früher.

 

London, 1576

 

Ich saß in diesem modrigen Raum schon seit Stunden. Da die wenigen Kerzen auf dem Tisch nicht besonders viel Licht erzeugten, konnte ich Lu am anderen Ende des Tisches kaum erkennen. Auch sein Blick blieb mir deshalb verborgen, der vermutlich besorgt auf mir lag. Vielleicht war es also gut, dass ich ihn nicht sehen konnte. Ich hatte genug Schwierigkeiten damit, mich ruhig zu halten.

Ich versuchte mich abzulenken, indem ich die Gemälde an den Wänden betrachtete, mühsam mit zusammengekniffenen Augen. Schwarz. Es war zu dunkel, die Farben nicht voneinander unterscheidbar. Dieses Warten war schrecklich, diese Unwissenheit darüber, was nun folgen könnte, machte mich fast verrückt.

Zwar hatte ich mich freiwillig in diese Situation begeben, doch ich hatte mir ihre Ausmaße nicht genügend vor Augen geführt. Lu musste wissen, was auf mich zukam. Doch er hatte nichts verraten wollen. War es dermaßen gefährlich? Nein, Lu war wohl nur er selbst, schweigsam und geheimnisvoll.

Die massive Holztür knarzte laut, als sich langsam ein schmaler Spalt öffnete und ein Kind, gefolgt von einer dunklen Gestalt in einem langen Mantel, den Raum betrat. Als die beiden näherkamen, sah ich, dass es sich um ein Waisenkind handeln musste oder einen Sklaven, da es nur zerrissene Lumpen um den knochigen Leib trug und die nackten Füße und Hände schmutzig und verletzt aussahen. Seine Augen waren verbunden und es weinte leise. Aufgrund des geflochtenen Zopfes hielt ich es für ein Mädchen.

Die beiden Gestalten kamen vor mir zum Stehen.

»Bitte erhebt euch, M‘lady.«

Ich erkannte die Stimme des jungen Priesters, der mich zuvor in das Ritual eingewiesen hatte. Den schweren Stuhl nach hinten schiebend stand ich auf. In diesem Moment betraten nacheinander weitere vermummte Gestalten den Raum und reihten sich in einen Kreis um den Tisch ein.

Langsam fühlte ich mich sichtlich unwohl. War es richtig gewesen, sich hierauf einzulassen? Vielleicht hätte ich weiter nach anderen Möglichkeiten suchen sollen, Lyrena'd zu betreten.

Verzweifelt suchte ich Lus Blick, doch ich konnte nur schemenhaft erkennen, wie er sich ebenfalls vom Stuhl erhob. Ich schluckte schwer.

Die Räucherung, die den Raum erfüllte, ließ frischer Luft keinen Platz und so breiteten sich allmählich Kopfschmerzen hinter meinen Schläfen aus.

Mein Blick wanderte erneut zu dem Kind, dann hoch zum Priester, der sich nun die Kapuze vom Kopf strich und etwas aus seinem Umhang hervorholte. Es blitzte leicht im Licht der flackernden Kerzen.

Er hielt es vorsichtig in den Händen, als wäre es etwas Wertvolles, etwas Heiliges und streckte es mir auf beiden Händen ausgebreitet entgegen. Ich erkannte, dass es sich bei dem Gegenstand um ein Athame handelte.

Langsam dämmerte mir, worauf das Ganze hinauslaufen würde.

Ich ergriff vorsichtig die zweischneidige Klinge. Sie war schwer und kalt. Darauf war ich nicht vorbereitet, davon hatte niemand gesprochen. Doch menschliche Magie beruhte immer auf unschuldigen Opfern, zumindest die, die eines solchen Energieaufwands bedurfte wie diese. Dieses Ritual war zu anspruchsvoll, um von einem Menschen durchgeführt werden zu können.

Der Priester wusste es, ich konnte es spüren. Und dennoch, Menschen waren so naiv, so machtgierig, dass sie den Versuch wagen würden.

Ich sah dem Priester tief in die Augen, wartete auf eine Anweisung, die ich eigentlich schon kannte. Es war nicht schwer zu erkennen, was ich zu tun hatte.

Er hob das Kind an und setzte es auf den Tisch. Es hörte langsam auf zu weinen, als wüsste es, was geschehen würde, und als hätte es sich mit seinem Schicksal abgefunden.

Eine der dunklen Gestalten aus dem Kreis trat nach vorne. Aus der Schale in ihrer Hand benetzte sie Haupt, Hände und Füße des Kindes mit Weihwasser, während alle gemeinsam im Chor begannen, etwas zu murmeln, das sich wie Latein anhörte. Ich verstand es nicht, doch ich bemerkte, dass es Lu anders ergehen musste, denn es breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, das ich nicht deuten konnte.

Der Schalenträger trat zurück und es kamen vier andere Gestalten an den Tisch. Ich wusste nicht, ob es die Räucherung war, die mein Gehirn und damit mein Denkvermögen beeinträchtigte, oder das laute Geschrei des Kindes, als es von besagten Gestalten an Armen und Beinen an den Tisch gepresst wurde. Doch im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, was in meinem Kopf vorging, als das Gemurmel des Chores immer lauter wurde, der Priester meine Hand ergriff und selbst in den Chor einstimmte und ich mit seiner Hilfe dem schreienden, unschuldigen Geschöpf auf dem Tisch die Klinge mitten ins Herz rammte.

Mit einem Schlag wurde es still. Gleichzeitig erloschen alle Kerzen und ich spürte eine seltsame Energie, die mich mit sich zu ziehen versuchte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, mein Kopf war völlig leer. Ich hätte Panik bekommen sollen, Entsetzen darüber, was ich getan hatte, doch ich fühlte mich ausgelaugt und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass sich ein Licht aus der Dunkelheit kämpfte, ein Kegel, der immer größer zu werden schien.

Hatte das Ritual Erfolg gehabt? Konnte dies tatsächlich ein Tor nach Lyrena'd sein, ein Tor in meine Freiheit?

Ich streckte meine Hand nach dem verheißungsvollen Licht aus, erinnerte mich an die süße Luft meines geliebten Waldes, die ich schon so lange nicht mehr vernommen hatte und wollte mich gerade ganz dem Schein dieses Wunders hingeben, als das nächste, was ich spürte, ein harter Aufprall gegen die Steinwand war.

Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, was geschehen war. Ich hörte, wie die Gestalten aufgeregt durch den Raum liefen, sich gegenseitig beglückwünschten und wild durcheinanderriefen.

Zwei starke Arme schoben sich unter meinen Rücken und halfen mir, aufzustehen.

Mein Kopf schmerzte von dem Aufprall. Mir war immer noch schwarz vor Augen, doch ich hatte keine Mühe, meinen Retter zu identifizieren. Ich erkannte Lu am Geruch, eher gesagt, an der Abwesenheit eines Geruchs. Ich hatte mich daran gewöhnt, dass Lu im Gegensatz zu normalen Menschen keinen Körpergeruch besaß.

»Ich habe das Gleiche gesehen wie du.«

Gesehen? Richtig, erst jetzt, als Lu es erwähnte, fiel mir ein, dass ich, bevor ich zurückgeschleudert wurde, einen Blick hinter das Licht geworfen hatte.

»Das war es!«, rief ich wie vom Schlag getroffen. Alle Schmerzen waren auf einmal vergessen. »Das war Lyrena'd! Um Himmels Willen, nach all der Suche und Anstrengung! Lu, so freu dich doch!«

In meiner Freude über den ersten Erfolg ergriff ich seine Hände und drückte sie fest. Doch er schien meine Gefühle nicht zu teilen.

»Wie kannst du dich darüber freuen? Hast du die Mauer nicht gesehen?« Lu drückte meine Hände nach unten und begann, sich die Haare zu raufen und im Kreis zu gehen. Ich sah ihn verwirrt an.

»Ich habe die Mauer gesehen, Lu. Es war zu erwarten, dass Aragon alles in seiner Macht Stehende tun würde, um meine frühzeitige Rückkehr zu verhindern.«

Plötzlich ergriff er mich hart an den Schultern und drückte mich unsanft gegen die kalte Steinwand. Sein Blick erschreckte mich, die Wut, die in ihm zu sehen war, doch am meisten erschreckten mich seine ungewohnt rot schimmernden Augen.

»Die Mauer ist nicht nur um Lyrena'd errichtet worden!«, flüsterte er wütend, während er mir tief in die Augen sah.

Ich bemühte mich, seinen Griff etwas zu lockern.

»Es ist bereits der Durchgang in die Zwischenwelt, der uns verschlossen ist.«

Ich sah Lu unverwandt an. Tatsächlich hatte ich nicht bedacht, dass ein direkter Weg nach Lyrena'd nicht existierte und wir somit nicht umhinkämen, durch die Zwischenwelt zu reisen. Wenn wir allerdings diese schon nicht betreten konnten … Mir wurde übel.

»Was machen wir jetzt?«

Ich bemerkte, wie meine Stimme brach. Meine Freude war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Sollte alles umsonst gewesen sein?

»Komm, wir sollten erst einmal von hier verschwinden.«

Lu ergriff meine Hand und zerrte mich mit durch den noch immer menschenvollen Raum. Keiner interessierte sich für uns, sie alle waren noch mit ihrem Erfolg beschäftigt. Ja, für die Menschen war es tatsächlich ein Erfolg. Aber ich fragte mich, ob dies nicht Lus Anwesenheit zu verdanken war. Diese selbsternannten Magier hatten nicht einmal bemerkt, dass derjenige, zu dem sie beteten, sich im selben Raum befand!

Wir verließen den Raum, das sterbende Kind, das Gewölbe, die Kapelle. Wir ließen schleunigst alles hinter uns und rannten von dem unerwartet hellen Sonnenlicht geblendet auf den Marktplatz. Ich war zunächst erschrocken von der sich tummelnden Menschenmasse, die stinkend und schreiend, im Lärm versunken, entweder ihre Ware an den Mann bringen wollte, oder zum günstigsten Preis das Beste zu ergattern versuchte.

Die Menschen waren gierig und egoistisch. Aber das war verständlich. Dieses Zeitalter brachte nur Elend und Armut, Furcht und Verderben unter das Volk. Regiert von der Kirche, im Glauben daran, dass Gott sie eines Tages erlösen möge. Kleine willenlose Puppen. Marionetten. Gesteuert, gespielt, von Mächten derer Existenz sie sich nicht einmal bewusst waren.

»Du kleine Ratte!«, ertönte es plötzlich aus der Menge und ich sah, wie ein kleiner Junge auf dem Boden zusammenbrach, vor ihm ein Mann von nicht gerade schmächtiger Statur, seine Faust noch immer erhoben.

»Wenn du es noch einmal wagst, meine Ware auch nur anzusehen, schwöre ich bei Gott, dass ich dich mit meinen eigenen Händen zur Hölle schicke!«

Wütend stampfte der Besitzer des kleinen Standes, der auf den ersten Blick allerlei Schmuck und Handwerk aus Holz oder Metall zu verkaufen schien, an seinen Platz zurück. Es war nicht gerade die Art von Ware, die ein Straßenjunge stehlen wollen würde. Das machte mich neugierig.

Ich sah Lu an, der mir auffordernd zuwinkte, ihm zu folgen, doch irgendetwas hatte der Junge an sich, das mein Interesse weckte.

Die Leute hatten ihr Interesse an dem Konflikt schnell verloren und niemand sah mehr hin, als der Junge sich aufrappelte und sich die blutende Nase zuhielt. Stehend wirkte er gar nicht mehr so klein. Er war definitiv jünger als ich, doch ein kleiner Junge war er auch nicht mehr.

Ich warf Lu einen entschuldigenden Blick zu und lief auf den taumelnden Knaben zu, der sich mit finsterem Gesicht einen Weg durch die Menge bahnte. Ich ging geradewegs auf ihn zu und sah ihm dabei direkt in die Augen. Er wich mir sofort aus und wollte sich an mir vorbeischleichen, doch ich packte ihn an der Schulter und drehte ihn zu mir um.

»Was wollen Sie, Lady? Ich habe nichts getan, und falls doch, dann habe ich meine Strafe bereits erhalten!«, fauchte er mich an.

Ich konnte nun deutlich seine Augen sehen, sie waren nicht auffällig schön, hatten keine einzigartige Farbe, doch sie waren so klar und strahlten eine solche Intelligenz aus und gleichzeitig eine Wut und Verzweiflung, dass es mich unsagbar traurig stimmte.

Ich hatte seine Schulter losgelassen, vielmehr hatte er meine Hand von ihr heruntergeschlagen, doch ich ließ mir noch ein paar Sekunden, um seinen dürren und schmutzigen Körper zu betrachten. Ich schätzte ihn auf vierzehn.

»Ich sehe das schon, komm mal her.«

Ohne zu überlegen, griff ich nach seinem Gesicht und wollte mir seine blutige Nase ansehen, doch er schlug rasch meine Hände weg.

»Fassen Sie mich nicht an!«

Plötzlich stand Lu neben mir. Ich hatte seine Anwesenheit gar nicht bemerkt.

»Na, na! Behandelt man so etwa eine Dame?«

Die beiden musterten sich misstrauisch. Dann sah Lu mir tief in die Augen und ich verstand sofort, dass auch er die ungewöhnliche Aura dieses Jungen bemerkt hatte.

Es brauchte eine Weile, um den Jungen davon zu überzeugen, dass wir ihm nichts Böses wollten, doch schließlich willigte er ein, uns zu folgen.

Wir brachten den Jungen zu mir nach Hause. Mein Haus war nicht besonders groß, doch dafür war es massiv und sehr schön, wie ich fand. Ich hatte es von meinen Eltern hinterlassen bekommen, nachdem zuerst meine Mutter und schließlich auch mein Vater einige Winter zuvor verstorben waren. Er hatte Vieles in diesem Haus selbst gebaut und das liebte ich besonders. Auch das Bett hatte er angefertigt, auf dem nun der Junge lag. Ich hatte ihm aufgetragen, sich auszuruhen, bis ich mit der Suppe fertig war.

Sein Name war Aldwyn und er wusste nicht genau, wie alt er war, doch er stimmte mir in meiner Schätzung zu. Mehr hatte er auch nicht über sich verraten.

»Mrs … ähm«, setzte Aldwyn an und verstummte peinlich berührt, als ihm auffiel, dass er sich noch gar nicht nach meinem Namen erkundigt hatte.

»Nenn mich Mimithe«.

Ich lächelte ihn an, füllte eine Kelle der Suppe in eine Schüssel und brachte sie ihm. Er nahm sie stumm entgegen und begann gierig, sie in sich hinein zu löffeln.

Ein kurzes Zusammenzucken verriet, dass er die Hitze der Suppe nicht abgeschätzt hatte.

»Vorsicht«, sagte ich belustigt und beobachtete ihn neugierig. »Du wolltest mich etwas fragen?«

Er schluckte schnell herunter, was er noch im Mund hatte, und sah mich nachdenklich an. Dann machte sich Betroffenheit auf seinem Gesicht breit und er senkte den Blick.

»Wieso sind Sie so nett zu mir, Mrs Mimithe?«

»Lass bitte das ‚Mrs‘ weg, ich bin nicht verheiratet.«

Ich lächelte ihn weiterhin an. Er faszinierte mich. Meine Aussage schien ihn verlegen zu machen, das verriet sein Gesicht sehr deutlich.

»Oh, es tut mir leid. Ich dachte nur, Sie und der Herr-«

»Lu. Lu ist sein Name und wir arbeiten zusammen. Er ist einer meiner ältesten Freunde.«

In diesem Moment betrat Lu das Zimmer und musterte Aldwyn und mich fragend.

»Wenn man vom Teufel spricht«, lachte ich und stand auf, um mich zu ihm zu stellen.

Einen kurzen Augenblick schien er verwirrt zu sein, doch dann entspannte sich sein Gesicht wieder und er musterte Aldwyn, der nun regungslos auf meinem Bett saß und uns anstarrte.

»Der Junge fragt, wieso wir so nett zu ihm sind.« Ich grinste.

»Du meinst, wieso du so nett zu ihm bist?«, erwiderte Lu trocken und ging hinüber zur anderen Seite des Zimmers, wo er sich an den Tisch setzte. Auch dieser war von meinem Vater gebaut worden, sowie die vier Stühle, die sich um ihn befanden. Bei einem fehlte allerdings bereits die Rückenlehne.

»Würdet ihr beide euch kurz zu mir setzen? Ich würde da gerne etwas klarstellen«, forderte Lu uns auf.

Er saß in seiner typischen Haltung da, elegant wie immer, die Beine übereinandergeschlagen und den Kopf abgestützt auf einem Arm. Doch sein übliches Lächeln fehlte, stattdessen wirkte er unsagbar ernst.

Aldwyn war sichtlich überrascht, dass er angesprochen wurde, tat aber sogleich, wie ihm befohlen. Auch ich setzte mich. Ich nahm absichtlich neben dem Jungen Platz, damit ich Lu in die Augen sehen konnte.

Lu zog etwas aus seiner Tasche und legte es demonstrativ vor Aldwyn auf den Tisch. Seine Augen musterten den Jungen eindringlich. Für einen kurzen Moment bildete ich mir ein, sie würden rot schimmern.

Was Lu da auf den Tisch gelegt hatte, war ein kleiner Holzkamm, schön verziert, aber auf den ersten Blick nichts Besonderes. Zuerst dachte ich, Lu würde eines seiner Spielchen spielen, doch dann sah ich Aldwyns Ausdruck und erstarrte. Der Junge fixierte den banalen Gegenstand verzweifelt, ja beinahe panisch. Dann huschte sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu Lu und dann zu dem Holzkamm, doch bevor der Junge sein Vorhaben ausführen konnte, schlug Lu mit der Faust heftig auf den Tisch.

»Wage es nicht, noch einmal damit davonzulaufen!«

Selbst ich hatte mich erschrocken, als Lus wütende Stimme laut durch den Raum hallte. Er war aufgestanden und starrte Aldwyn nun mit einem so tödlichen Blick an, dass ich Angst bekam, er könnte ihm tatsächlich etwas antun.

»Lu, was ist hier los? Was soll das?«

Ich erhob mich ebenfalls und stellte mich wie zum Schutz vor den Jungen.

Nun richtete sich Lus Blick auf mich. Ich erstarrte innerlich aufgrund der Kälte, die er ausstrahlte. Er schien es zu bemerken, denn sein Blick wurde schlagartig sanfter und er drückte mir den Kamm in die Hand.

»Sieh selbst.«

Ich ließ den Kamm vor Schreck fallen, als mich seine gewaltige Energie durchflutete. Das kam unerwartet. Ich brauchte eine Weile, um zu realisieren, was ich da gerade fallen gelassen hatte. Eine weitere Weile kostete es mich zu begreifen, was dieser Gegenstand mit Aldwyn zu tun hatte.

»Du bist ein Sammler …«, hauchte ich und ließ mich auf meinen Stuhl fallen.

Die Angst stand dem Jungen ins Gesicht geschrieben, doch mit Lus eiskaltem Blick im Nacken, wagte er es noch nicht einmal davonzulaufen.

»Nur kein besonders erfolgreicher, wie mir scheint.« Lus Stimme hatte seinen gewohnt kühlen Klang zurück, was mich ein wenig beruhigte. »Sie suchen nach dir.«

Aldwyn ließ sich langsam auf seinen Stuhl zurücksinken.

»Ich weiß.«

Er zitterte, während er sprach.

»Als sie das erste Mal zu mir kamen, war ich noch ein Kind. Damals war es für mich ein Spiel, eine Möglichkeit, die Armut meiner Familie ein wenig zu lindern. Ich hatte früh mit dem Stehlen angefangen, ich hatte gar keine andere Wahl ... Deshalb fiel es mir auch nicht schwer, ein paar kleine Gegenstände für sie zu klauen. Ich verstand nicht, was an diesen Dingen so besonders sein sollte, ich stahl nie etwas von hohem Wert. Es hat Jahre gedauert, bis ich einigermaßen begriffen hatte, um was es sich bei diesen Gegenständen handelte. Obwohl, ehrlich gesagt, weiß ich es bis heute nicht genau. Ich weiß nur, dass dunkle Mächte dabei im Spiel sind.«

Aldwyns Blick wurde leer und seine Gedanken schienen sich in die tiefste Ecke seiner Seele verkrochen zu haben.

»Dunkle Mächte, also. Auch, wenn du fremdweltliche Wurzeln hast, die Naivität der Menschen scheint dir nicht erspart geblieben zu sein«, sagte Lu und der Hauch von Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Der Junge sah ihn fragend an, dann wandte er sich zu mir. Seine jugendlichen Augen waren benebelt vor Angst und gleichzeitig so klar und unschuldig, ich musste mich zurückhalten, ihn nicht in meine Arme zu schließen und trösten zu wollen. Stattdessen erklärte ich so sanft wie möglich, um ihn nicht noch weiter zu ängstigen, was Lu bereits angedeutet hatte:

»Du bist ein Nachkomme einer Linie von Seelen, die sich einst hier in dieser Welt niedergelassen haben, allerdings nicht in ihr geboren wurden. Sie waren zu Forschungszwecken hier. Das Ziel war, herauszufinden, wie kompetent diese Welt war, ob Magie hier gedeihen konnte. Einigen hat es hier so gut gefallen, dass sie sich entschlossen haben, zu bleiben. Das ist die Kurzversion der Geschichte.«

Ich schwieg für einen Moment. Aldwyn schien nichts darauf entgegnen zu wollen. Ich nahm vorsichtig seine Hand in meine.

»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Vielleicht können wir dir helfen. Oder du kannst vielmehr uns helfen.«

»Wir müssen wissen, wo sich die Mitglieder des Ordens verstecken«, unterbrach Lu mich mit kalter Stimme.

Aldwyn warf ihm einen kurzen, erschrockenen Blick zu.

»Lass mich das bitte machen, Lu«, entgegnete ich sanft. Mit einem Mal stand er auf und knallte beide Fäuste auf den Tisch. Manchmal erschreckte ich mich immer noch über seine Schnelligkeit. Seine Augen bekamen erneut diesen Rotschimmer und funkelten mich zornig an.

»Wir haben keine Zeit für diese Mitleidsnummer, Mimithe! Wir brauchen Antworten, und zwar bald! Sonst sind wir ebenfalls geliefert!«, brüllte er mich an.

Ich hatte ihn lange nicht mehr so wütend erlebt. Um genau zu sein, seit meinem letzten Tod, als er warten musste, bis meine Seele wiedergeboren wurde und mein Körper gewachsen war. Wir hatten wieder fast von vorne beginnen müssen.

Nun erhob ich mich ebenfalls und bemühte mich, in meine Augen ein ähnliches Funkeln zu legen, vergeblich natürlich.

»Er ist immer noch ein Mensch, Lu! Du kannst nicht von ihm verlangen, dass er all seine Weltvorstellungen mit einem Mal aufgibt!«, schrie ich zurück.

»Und du hast zu viele Gefühle für diese Menschen!«

Ich starrte ihn verdutzt an. Sein Blick wurde sanfter und er ließ sich zurück auf den Stuhl fallen.

»Ich will nur nicht, dass du vergisst, was auf dem Spiel steht, Mimithe«, sagte er nun fast ruhig.

Ich setzte mich ebenfalls wieder. Erst jetzt fiel mir auf, wie misstrauisch Aldwyn uns betrachtete. Ich konnte es ihm nicht verübeln.

»Aldwyn, hör mir zu, – «, begann ich, doch da sprang der Junge schon von seinem Stuhl und stolperte ein paar Schritte zurück.

»Ich … Ich weiß nicht, wer ihr seid, oder was ihr wollt. Aber ich will nichts mit euren … Teufeleien zu tun haben! Ich bin vielleicht ein Dieb … aber das heißt nicht … Gott…«, seine Worte gingen in seinen Tränen unter.

Ich wollte aufstehen und ihn beruhigen, doch Lu kam mir zuvor und war mit einem Mal direkt vor dem völlig aufgelösten Jungen.

»Hör mir zu, Bursche! Das hier ist kein Spiel und ich werde dir nicht erlauben, dass du irgendetwas ruinierst. Wenn du also laufen willst, dann lauf! Aber wehe, du verrätst auch nur einer Menschenseele von dem, was du hier gehört hast!« Die Drohung war unmissverständlich. Ohne ein Wort rannte Aldwyn aus dem Haus.

Ich seufzte. Lu sah mich nur wütend an.

»Ich habe dir gesagt, du hättest ihm nicht trauen sollen«, schnaubte er.

Und ich habe dir gesagt, du sollst das mir überlassen, keifte ich in meinem Kopf.

Der nächste Morgen brach schneller an, als mir lieb war. Lu und ich hielten unsere Konversationen auf das Nötigste begrenzt. Immerhin hatte er aufgehört, mich mit diesem Blick anzufunkeln.

»Ich werde mich ein wenig auf dem Markt umsehen«, kündigte ich an und wedelte mit dem Kamm hin und her, der seit gestern noch auf dem Tisch lag.

Er schien nicht begeistert, aber entgegnete auch nichts.

Der Markt war wie immer gut besucht, noch voller als sonst, schien mir. Ich schob dies aber auf die Konstruktion des neuen Theaters, das demnächst eröffnet werden sollte.

Erst, nachdem ich ein paar Schritte gegangen war, fiel es mir auf. Der Lärm und das Getöse kamen mir bekannt vor. Nicht das neue Theater zog das Interesse der Menschen auf sich, nein. Es war eine öffentliche Hinrichtung.

Ich atmete tief durch. Ich war wirklich kein Freund von der öffentlichen Zurschaustellung des Todes, aber mich beschlich das Gefühl, dass ich mir diese ansehen sollte.

Und ich sollte Recht behalten. Als ich mich zwischen einigen Zuschauern hindurchdrängte, sah ich ihn. Er kniete über dem Richtblock, der Scharfrichter hinter ihm schärfte sein Beil. Mich überkam ein Gefühl von Verzweiflung und ich suchte Aldwyns Blick, doch er schien ins Leere zu gehen. Die Menge um mich herum tobte und das einzige Wort, das ich verstehen konnte, war Ketzer.

Was sollte ich tun? Ich hatte versprochen, dass ihm nichts geschehen würde … Ich musste etwas unternehmen!

Doch bevor ich dazu kam, spürte ich eine Hand auf meiner Schulter, die mich sanft, aber bestimmt, festhielt.

»Mach jetzt nichts Dummes«, flüsterte Lu mir von hinten ins Ohr.

Mich überkam eine Gänsehaut. Ich drehte mich rasch zu ihm um.

»Wir können ihn nicht sterben lassen!«, jammerte ich. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich Tränen in den Augen hatte. Lu schien ebenso verwirrt darüber zu sein wie ich, denn er ließ mich sofort los.

»Dieser Mensch scheint es dir wirklich angetan zu haben.« Er funkelte mich schon wieder so seltsam an. Ich wischte mir schnell die Tränen weg.

»Er ist unschuldig! Wir können nicht – «

»Wir können nichts riskieren!«, fauchte er mich an, doch senkte seine Stimme sofort wieder.

Wir wurden bereits von einigen Menschen um uns herum missbilligend begutachtet.

»Lass uns gehen, du solltest das nicht mit ansehen.«

Er griff nach meiner Hand und zerrte mich durch die Menge, doch ich riss mich schnell los. Und da wusste ich auch schon, was ich tun musste. Ich kämpfte mich durch die Menge, so weit nach vorne, wie ich konnte.

Das Jubeln wurde lauter. Aldwyns Kopf wurde bereits auf den Block gedrückt und der Richter hob sein Beil zum Schlag. Ich musste mich beeilen!

Schnell zog ich den Kamm aus meiner Tasche, hielt ihn in die Höhe und schrie, so laut es meine Lungen zuließen: „AUFHÖREN!“

Um mich herum wurde es still und ich merkte, dass ich aus Verzweiflung meine Augen geschlossen hatte. Bevor ich sie hoffnungsvoll wieder öffnen konnte, nahm ich noch dieses unangenehme Zisch-Geräusch wahr und da fiel Aldwyns eben noch lebendiger Kopf mit einem plumpen Aufprall auf den Boden.

Ich hielt den Atem an. Doch bevor ich mich meiner Verzweiflung und Wut hingeben konnte, wurde ich erneut von hinten gepackt und diesmal weniger sanft davongezogen.

»Hast du den Verstand verloren?«, zischte Lu wütend.

Diesmal unternahm ich nichts. Ich ließ mich einfach von ihm mitziehen und bemühte mich, nicht zu weinen. Doch für Tränen blieb mir keine Zeit, denn mein Plan schien nicht ganz wirkungslos gewesen zu sein. Mit dem Kamm hatte ich gehofft, die Aufmerksamkeit des Ordens auf mich zu ziehen, und wie mir schien, war mir das mehr als gelungen.

»Wir werden verfolgt!«, rief ich Lu zu.

»Ich weiß«, erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Sofort waren meine Gedanken wieder klar, die Trauer beiseitegeschoben. Lu hatte Recht, dafür blieb keine Zeit.

Ich versuchte, mich im Laufen kurz umzusehen, um mir einen Überblick über die Anzahl unserer Verfolger zu verschaffen. Drei unmittelbar hinter uns, zwei etwas weiter hinten. Das schien machbar.

Während wir an den verschiedenen Marktständen vorbeirannten, besaß ich noch die Geistesgegenwart, ein Messer von einem von ihnen zu ergreifen.

»Hier entlang!«

Lu zog mich um eine Ecke. Es ging alles schneller, als ich erwartete. Wir rannten gerade eine Seitengasse entlang und ich hatte die leise Hoffnung, wir könnten tatsächlich entkommen sein. Doch im nächsten Moment rannte eine Gruppe von rotgekleideten Männern frontal auf uns zu.

Und ehe wir uns versahen, fanden wir uns umzingelt vor einer Kirche wieder.

»Verdammt!«, fluchte Lu leise und sah sich um.

War das etwa ein leichter Anflug von Verzweiflung, den ich in seinen Augen erspähen konnte?

»Was wollt ihr?«, rief ich unseren Verfolgern schwer atmend entgegen und streckte das Messer, das ich eben ergriffen hatte, in ihre Richtung.

Doch unsere Verfolger schienen uns nicht antworten zu wollen. Stattdessen öffnete sich hinter uns die schwere Kirchentür und heraus trat ein älterer Herr, ebenfalls in Rot gekleidet.

»Sie werden sich nicht mit den Verbündeten Satans unterhalten«, verkündete der Mann in einer tiefen Stimme.

Ich wirbelte zurück und konnte mich nicht entscheiden, auf wen ich mein Messer richten sollte.

»Bitte, folgt mir in das Haus Gottes und lasst uns über alles in Ruhe reden«, lud der Rotgekleidete uns ein.

Lu holte tief Luft

»Trau ihm nicht!«, sagte er, während er den Mann nicht aus den Augen ließ.

Währenddessen schnürten unsere Verfolger den Kreis, in dem sie uns gefangen hielten, immer enger. Einige von Ihnen hatten ebenfalls Messer gezückt. Einer besaß sogar ein Schwert.

Ich blickte verzweifelt zu Lu. Selbst wenn wir wollten, Lu konnte die Kirche nicht betreten.

»Du musst verschwinden, Lu«, flüsterte ich.

Er hatte keine Wahl, er musste mich verlassen, wenn er nicht vollends auffliegen wollte. Bitte, flehten meine Augen.

Er sah mir direkt ins Gesicht, seinen Blick konnte ich nicht deuten.

»Ich werde dich nicht allein lassen, Mimithe!«

»Es steht zu viel auf dem Spiel!«, entgegnete ich, nun verzweifelter. »Geh!«

Doch ich sah in Lus Blick, dass er mich nicht verlassen würde – dass er sich vorher stellen und alles auffliegen lassen würde.

Das durfte ich nicht zulassen. Es war schließlich meine Schuld.

»Es tut mir leid, Lu«, hauchte ich und versuchte mich zu einem letzten verzweifelten Lächeln zu zwingen. »Wir sehen uns wieder.«

Für den Bruchteil einer Sekunde erschien blanke Angst in seinen Augen. Er hatte meinen Plan durchschaut.

Doch es war zu spät.

Ich hatte mir das Messer bereits in den Bauch gerammt.

 

Grafik1

 

Canterbury, 2012

 

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Ich schnappte mir schnell meine Sporttasche und hüpfte auf den Bahnsteig. Einen letzten Blick aufs Handy werfend lief ich zum hinteren Ausgang des Bahnhofs, wo die Parkplätze waren. Meine beste Freundin hatte darauf bestanden, mich abzuholen und nach Hause zu fahren, entgegen meiner Einwände. Ich hatte es nicht weit nach Hause, den Weg hätte ich auch problemlos mit dem Bus bewältigen können, doch davon wollte sie nichts hören. Was mir an der ganzen Sache jedoch unangenehm war, dass nicht wirklich sie mich fahren würde (denn dafür waren wir beide noch zu jung), sondern ihr älterer Bruder, der im Gegensatz zu meiner besten Freundin nicht gerade kommunikativ war.

»Kaylin!«, hallte eine vertraute Stimme über den Parkplatz.

»Ruth!«, rief ich zurück und lief zu dem schwarzen Volvo, an dem sie gelehnt stand.

»Danke fürs Abholen. Vor allem dir, Mike«, sagte ich ins Fahrerfenster. Von Mike kam nur ein unverständliches Grummeln.

»Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, warf ich Ruth noch einmal betonend zu. Sie kicherte nur. Die Abenddämmerung fiel auf ihre Haare und brachte ihre Lockenmähne beinahe zum Glühen. Ich hatte Ruth schon immer um ihre Haare beneidet. Meine waren einfach nur lang und glatt und taten nie das, was ich von ihnen wollte. Aber wahrscheinlich war fast jedes sechzehnjährige Mädchen genauso unzufrieden mit ihren Haaren.

Ich warf meine Tasche auf den Rücksitz und ließ mich neben sie plumpsen. Ruth stieg ebenfalls zu mir nach hinten. Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und sah mich eindringlich an.

»Und? Ich höre?«, fragte sie.

Ich verlor mich kurz in ihren Augen. Auch wenn ich Ruth schon seit Jahren kannte, hatte ich mich nie an den Anblick ihrer milchigen, beinahe weißen Augen gewöhnen können. Dass Ruth blind war, war für mich zu Anfang eine ganz neue Herausforderung gewesen. Ich wollte ihr immer bei allem zur Hand gehen, ihr jede Tür öffnen, ihr über jede Straße helfen. Bis ich irgendwann gelernt hatte, dass Ruth auf niemanden angewiesen war. Sogar in der Schule kam sie gut zurecht. Da ihre Eltern recht gut verdienten, konnten sie es sich leisten, dass Ruth auf eine ganz normale Schule ging, dafür aber gesondert für sie angefertigtes Material bekam. Während wir alle unsere Bücher vor der Nase hatten, hatte Ruth einen Laptop, auf dem sie schreiben durfte und der ihr, wenn nötig, alles über Kopfhörer vorlas. Ruth war ihren Eltern dankbar dafür, dass sie ihr ein normales Schulleben ermöglichten – auch wenn sie sonst nicht viel für sie da waren. Ruth war von Geburt an blind gewesen und kam gut damit zurecht. Manchmal erschreckte es mich sogar, wie gut sie zurechtkam. Vor allem, weil ich häufig sogar das Gefühl hatte, sie sah mehr als ich.

»Kay?«, fragte sie verwirrt.

»Sorry«, entgegnete ich. »Habe mich kurz in Gedanken verloren.«

»Das ist ja nichts Neues bei dir.«

Ich warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Also, wie war es bei deinem Dad?«

»Wie soll es gewesen sein? Wie so ziemlich jedes Wochenende, wenn ich da bin. Wir haben uns Essen bestellt und einen Film geguckt und – oh, sieh mich nicht so an. Nein, ich habe ihn nicht gefragt. Ich wusste nicht, wie ich es ansprechen sollte …«

»Och, Kaylin«, entgegnete sie, »Du hast diese Träume nun schon seit Wochen!«

»Seit meinem Geburtstag«, korrigierte ich.

»Der ist über einen Monat her. Ich will dir doch nur helfen und dein Vater ist vermutlich der Einzige, der eine Ahnung davon haben könnte.«

Ich wusste, dass sie Recht hatte. Mein Vater war wahrscheinlich tatsächlich der Einzige, der mir helfen konnte. Er war schließlich auch der Einzige außer mir, der sie sehen konnte.

»Ich weiß doch. Aber es hat sich irgendwie nicht richtig angefühlt. Diese Träume … sie wirken so real. Und irgendetwas sagt mir, dass sie meinem Vater nicht gefallen würden«, entgegnete ich.

»Mir gefallen sie auch nicht. Und trotzdem hast du mir von ihnen erzählt. Ich will dich ja zu nichts drängen, ich will nur, dass du wieder schlafen kannst.« Ruth seufzte.

Ich warf ihr ein trauriges Lächeln zu, von dem ich wusste, dass sie es spüren konnte.

»Wir sind da.«

Mikes Stimme ließ mich zusammenzucken.

»Oh«, erwiderte ich nur und griff nach meiner Tasche. »Danke nochmal.«

»Wir sehen und morgen in der Schule«, sagte Ruth zum Abschied. »Hoffentlich schläfst du heute besser.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete ich und schlug die Tür zu.

Ich kramte nach meinem Schlüssel und betrat das kleine Reihenhaus, in dem meine Mutter, mein kleiner Bruder Nathan und ich wohnten. Es befand sich in einer etwas ruhigeren Straße, mitten in einer Wohngegend. Ich mochte unser Haus, es war von Efeu überwuchert und ein alter Baum wuchs vor der Tür, den ich von meinem Fenster aus sehen konnte. Meine Eltern hatten sich vor vier Jahren scheiden lassen. Meine Mutter hatte das Haus behalten. Mein Vater bekam das Auto.

Deshalb fuhr ich seitdem jedes zweite Wochenende zu meinem Vater nach Eastbourne. Früher hatte er mich noch mit dem Auto abgeholt, aber seit letztem Jahr fanden wir, dass ich alt genug war, alleine Zug zu fahren. Es machte mir auch nichts aus, im Zug hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Manchmal war das zwar nicht unbedingt produktiv, aber die meiste Zeit über genoss ich es.

»Hey, Süße«, begrüßte mich meine Mutter, als ich das Haus betrat. »Ist alles gut gegangen?«

»Na klar«, antwortete ich und umarmte sie lächelnd.

»War dein Vater auch anständig? Hat er nicht zu viel getrunken?«

»Mum«, entgegnete ich vorwurfsvoll, »ich soll doch nicht mit dir über Dad reden, das hast du selbst vorgeschlagen.«

»Ja, ich weiß doch. Ich will nur, dass es meinem Mäuschen gut geht.«

»Es geht mir gut, Mum.«

»In Ordnung«, sagte sie lächelnd und betrachtete mich etwas länger als nötig. Das machte sie seit der Scheidung häufiger, als hätte sie Angst davor, ich würde sie ebenfalls verlassen und bei meinem Vater einziehen. Ich musste zugeben, dass ich manchmal damit drohte … aber das passierte nur, wenn wir uns wirklich schlimm stritten. Und das kam glücklicherweise sehr selten vor.

»Hast du Hunger?«, fragte sie.

»Ich bin am Verhungern«, entgegnete ich. Ihr Blick verwandelte sich in ein Lächeln.

»Gut, dann komm. Nathan ist schon im Bett, wir haben schon gegessen. Aber ich habe dir extra etwas aufgehoben.«

Nach dem Essen wünschte ich meiner Mutter eine gute Nacht und ging mit meiner Sporttasche die Treppe hoch. In meinem Zimmer im zweiten Stockwerk holte mich dann die Realität ein. Meine Realität. Ich hatte mich oft gefragt, ob es auch anderen Menschen auffiel, denn in meinen Augen gab es unterschiedliche Arten von Dunkelheit. Es gab die Dunkelheit, die die Abwesenheit von Licht nun einmal mit sich brachte, und es gab die Dunkelheit, die dessen Anwesenheit gar nicht erst zuließ. Im Moment herrschte die Letztere.

Ich fasste sofort zum Lichtschalter. Das Licht brauchte ungewöhnlich lang, um sich auszubreiten, als würde es sich erst durch die Schwärze kämpfen müssen. Womöglich war dies sogar der Fall.

Ich sah noch die letzten von ihnen weghuschen, als sich endlich das ersehnte Licht in meinem Zimmer entfaltete.

Sie. Sie verfolgten mich schon, seit ich mich erinnern konnte. Als Kind hatte ich sie nicht so genau wahrgenommen, sie waren meine Realität und an dieser rüttelte man erst, wenn man bemerkte, dass andere sie nicht teilten. Schmerzlich wurde mir damals bewusstgemacht, dass ich sie nicht sehen durfte, dass es nicht normal war. Ich nannte sie Schattenwesen.

Es waren keine gewöhnlichen Schatten, keine, die man sich in der Dunkelheit aus Angst manchmal einbildete. Ich hatte oft versucht, mir einzureden, sie wären bloße Einbildung. Doch diese Schatten brauchten kein Licht, um geworfen zu werden. Sie existierten nicht bloß auf Wänden oder Decken – sie bewegten sich frei im Raum, langsam, auf eine seltsame Art fließend.

Und sie fürchteten das Licht.

Ich warf mich auf mein Bett und starrte die Decke an. Irgendetwas stimmte nicht, das spürte ich. Und dieses Gefühl wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Es hatte mit meinem sechzehnten Geburtstag vor einem Monat begonnen und seit diesem Tag spürte ich eine Leere in mir, als hätte ich etwas vergessen. Als wäre mein Leben, das ich bis dahin geführt hatte, nutzlos und verschwendet gewesen. Die Träume waren dabei auch keine große Hilfe.

 

Die Sonne kitzelte meine Nase und weckte mich. Ich blinzelte verstört und bemerkte, dass ich noch immer komplett angezogen auf meinem Bett lag. Ich wusste nicht, wann ich eingeschlafen war, aber ich fühlte mich alles andere als erholt.

Von unten vernahm ich Geräusche, die stark nach einem nicht aufstehen wollenden Nathan klangen. Bei dem Gedanken daran musste ich grinsen und fühlte mich direkt besser. Nathan war kein anstrengendes Kind, er hatte nur seine Phasen, so wie alle vermutlich. Er war liebevoll und hatte eine blühende Fantasie. Ich hätte ihn nicht noch mehr lieben können.

Ich schlüpfte schnell aus meinen Klamotten und unter die Dusche. Ich war früher wach, als ich eigentlich für die Schule aufstehen musste, auch ohne mir einen Wecker gestellt zu haben. Also konnte ich mir etwas länger Zeit beim Duschen lassen und vielleicht sogar etwas aus meinen Haaren machen. Letzteres funktionierte im Endeffekt natürlich doch nicht.

Als ich schließlich in die Küche kam, wurde ich direkt mit einer Tasse Earl Grey begrüßt. Meinem Lieblingstee.

»Danke, Mum«. Ich setzte mich neben Nathan an den Tisch. Er löffelte schmollend sein Müsli in sich hinein.

»Wollte mal wieder jemand nicht aus dem Bett?«, fragte ich lächelnd.

Mum schüttelte nur genervt den Kopf.

»Ich hatte einen echt tollen Traum! Da war ein Engel…«, beschwerte sich Nathan, ohne das Müsli herunter zu schlucken.

Ich wuschelte ihm durch die kurzen, braunen Haare.

»Ich wünschte, ich hätte auch mal wieder einen tollen Traum«, seufzte ich leise.

Der Kopf meiner Mutter drehte sich sofort zu mir um. Ups, ich hatte Mum aktiviert.

»Geht es dir nicht gut, Liebling? Hast du bei deinem Vater schlecht geschlafen?«

Ich verneinte schnell. »Darum geht es nicht.«

»Worum geht es dann?«

»Mum, es ist wirklich alles in Ordnung…«

»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete sie mit Ernst in der Stimme und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. »Jedes Mal, wenn du von deinem Vater zurückkommst, wirkst du erschöpft und ausgelaugt! Du erzählst mir sowieso nie, was ihr beiden überhaupt das ganze Wochenende treibt …«

»Mum, du übertreibst.«

»Du hast Geheimnisse vor mir.«

»Nein…«, sagte ich sanft. Doch, die hatte ich. »Ich erzähle dir immer alles.« Eine Lüge. »Aber du willst wohl kaum hören, wie Dad und ich in irgendwelchen Restaurants essen waren, oder welchen Film wir gesehen haben. Das ist doch wirklich uninteressant.« Ich griff nach ihrer Hand. »Ich weiß, du hast es nicht leicht. Aber mir geht es gut, wirklich.«

»Mir geht es auch gut«, warf Nathan ein. Ich musste kurz lachen. Der Blick meiner Mutter entspannte sich ebenfalls.

»In Ordnung, aber du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst«, sagte sie und drückte meine Hand.

»Ich weiß«, erwiderte ich. Ich weiß nur nicht, ob du mir glauben würdest.

»Kay, kann ich bei dir abschreiben?«, ertönte Sabrinas Stimme leise an meinem Ohr.

Ich warf meiner Sitznachbarin einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Du hast schon letzte Woche meinen Essay abgeschrieben. Mach deine Hausaufgaben lieber selbst, in der Klausur kannst du auch nicht abschreiben«, mahnte ich, schob ihr aber dennoch meine Unterlagen für die nächste Stunde zu.

»Ich kann nichts dafür, wenn man uns so einen Mist lesen lässt. Ich versteh kein Wort von dem Gebrabbel«, ächzte Sabrina und fing an, meinen Aufsatz über die Darstellung der Beziehung zwischen Hamlet und Ophelia abzuschreiben.

»Es ist Shakespeare, Sabrina. Du musst dich darauf einlassen können.«

»Ich verstehe wirklich nicht, wie du den Quatsch mögen kannst.«

Ich zuckte mit den Schultern und lauschte weiterhin dem Matheunterricht.

Der restliche Schultag verlief ereignislos, wie eigentlich die meiste Zeit. Meine Freunde ließen mich schnell meine Probleme vergessen und für den Moment fühlte ich mich wieder ganz normal, als hätte ich nachts keine seltsamen Träume, die mich nicht schlafen ließen – als verfolgten mich nicht seltsame Schatten, wo immer ich hinging.

Ich sah die Schattenwesen in letzter Zeit immer häufiger, was mir Sorgen bereitete. Das war es auch, worüber ich in den letzten Wochen am meisten mit meinem Vater gesprochen hatte. Schließlich war er der Einzige außer mir, der sie ebenfalls wahrnehmen konnte … Er war der Einzige, der mir helfen konnte. Er versuchte mir beizubringen, wie ich mich gegen sie verteidigen oder sie zumindest vertreiben konnte. Doch er war kein geduldiger Lehrer. Seine Launen waren über die letzten paar Jahre noch schlimmer geworden. Meiner Mutter erzählte ich nichts davon, sie hätte nur einen unnötigen Aufstand gemacht. Ich fragte mich manchmal selbst, warum ich überhaupt noch so oft zu ihm fuhr. Doch außer ihm gab es niemanden, mit dem ich über all das reden konnte.

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