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Der Geisterjäger
– Jubiläumsbox 1 –

E-Book 1-6

Andrew Hathaway

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-715-8

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Turm der lebenden Leichen

Roman von Andrew Hathaway

Ein Mann schritt durch die kahlen Gänge der Londoner Gerichtsmedizin. Ein Mann, der noch vor Minuten in einem Kühlfach gelegen hatte.

Ein Mann, der vor wenigen Tagen ermordet worden war!

In dem grellen Licht der Neonlampen klaffte an seinem Hals eine fürchterliche Wunde. Eine Wunde, mit der kein Mensch leben konnte.

Auch dieser Mann nicht. Dieser Mann war seit Tagen tot. Doch nun lebte er wieder, und er verließ unbemerkt den Leichenkeller.

Der Mann hieß Benjamin Potter und begann in dieser sturmgepeitschten Aprilnacht seinen Weg des Schreckens.

Sein Ziel war der Turm der lebenden Leichen!

*

Nach einem letzten Zug drückte Roddy Benares seine Zigarette in einem der schweren Standaschenbecher aus und warf noch einen Blick durch die Glasfront ins Freie. Der City Tower, eines der höchsten Häuser der Londoner City, wurde von einem heulenden Aprilsturm umtost. Regentropfen prasselten gegen die riesigen Scheiben. Abgerissene Äste segelten fast waagrecht durch die Luft und krachten auf geparkte Autos.

»In einer solchen Nacht bin ich über meinen Job froh«, sagte Roddy Benares zu dem Nachtpförtner des City Towers. Der Mann stand mit verschränkten Armen neben ihm und beobachtete ebenfalls das Unwetter. Zu tun hatte er so gut wie nichts, da sich bei einem solchen Sturm kein Bewohner des Hochhauses auf die Straße wagte und auch kein Besucher kam, dem er aufschließen mußte.

»Hoffentlich bläst der Sturm unseren Turm nicht um«, meinte der Pförtner skeptisch. »Es genügt schon, was bisher in diesem Spukhaus passiert ist.«

»Abergläubisch?« Roddy Benares zog spöttisch die Augenbrauen hoch. Seine braune Haut hatte er von seinem indischen Vater geerbt, von der englischen Mutter den Gleichmut. »Sie lassen sich doch nicht von ein paar Zwischenfällen ins Bockshorn jagen?«

Der Pförtner zuckte unbehaglich die Schultern. »Zwischenfälle ist eine harmlose Untertreibung.«

»Hören Sie bloß auf.« Benares lachte. »Ist doch mittlerweile bekannt, daß in Hochhäusern schon mal etwas passiert. Außerdem hat dieses Haus zweiundvierzig Stockwerke, auf jeder Etage zwanzig Wohnungen. Bei einer solchen Anzahl von ?Mieter, sind ein paar schwarze Schafe darunter. Und Einbrecher oder Räuber werden auch angelockt, weil die Mieter gut betucht sind.«

»Das ist es nicht allein.« Der Pförtner starrte unablässig durch die Scheiben in die chaotische Nacht hinaus. »Es ist… ich weiß nicht recht… unheimlich! Es geht nicht mit rechten Dingen zu!«

Benares, der es mit zweiundvierzig Jahren zum Heizungstechniker gebracht hatte, schlug dem Pförtner auf die Schulter. »Ich habe jedenfalls keine Angst, Mister. Und jetzt mache ich meinen Rundgang, damit es die lieben Mieter auch schön warm haben.«

Der Pförtner sah ihm beunruhigt nach, als er zu den Aufzügen ging. Dieser Mann war seiner Meinung nach zu unbekümmert, und das konnte schlimme Folgen haben.

Als sich der Pförtner wieder der breiten Fensterfront der Halle zuwandte, glaubte er, für einen Moment draußen ein bleiches, verzerrtes Gesicht zu sehen. Im nächsten Augenblick war es jedoch verschwunden.

Erschrocken wich der Pförtner zurück, sagte sich jedoch, daß er sich wahrscheinlich nur etwas eingebildet hatte. Vermutlich hatte der Sturm eine Plastiktüte oder eine Zeitung vorbeigetrieben, sonst nichts. Er ahnte nicht, daß der Heizungstechniker inzwischen im zweiten Untergeschoß eingetroffen war und direkt in die für ihn errichtete Todesfalle lief.

*

Meistens verbrachte Rick Masters, der bekannte Londoner Geisterdetektiv, seine freien Abende mit seiner Freundin Hazel Kent. Freie Abende waren für die beiden ohnedies selten genug. Entweder hatte Rick Masters wieder einen seiner kniffligen Fälle zu lösen, oder Hazel Kent war verhindert. Sie leitete einen der größten Konzerne des Landes, so daß es oft genug auch abends Konferenzen oder Essen mit Geschäftspartnern gab.

An diesem sechzehnten April hatten sie beide eigentlich nichts vorgehabt, doch um neun Uhr abends war dann ein Anruf von Scotland Yard gekommen. Und nun, um elf Uhr nachts, saß Rick Masters in Chefinspektor Hempshaws Büro.

»Tut mir leid, daß ich Sie störe, Rick«, meinte der Chefinspektor, der mit dem Geisterdetektiv befreundet war, und schon oft mit ihm zusammengearbeitet hatte. »Aber die Sache wird langsam mehr als unheimlich. Es ist noch nicht viel an die Presse gesickert, aber der Yard steht kopf.«

»Wollen Sie mir nicht sagen, worum es geht, Kenneth?« erwiderte Rick Masters lächelnd und strich Dracula über den Kopf.

Dracula war sein kleiner Mischlingshund, den er ursprünglich zum Polizeihund hatte ausbilden wollen. Da Dracula jedoch nicht viel größer als eine Katze geworden war, hatte Rick darauf verzichtet. Dafür entwickelte der Hund einen besonders feinen Instinkt für Übersinnliches und das Wirken Schwarzer Magie, so daß er seinen Herrn schon oft vor Gefahren gewarnt hatte. Rick verdankte dem Hund mehrfach sein Leben, kein Wunder also, wenn er an seinem vierbeinigen Begleiter hing. Dracula besaß allerdings eine unangenehme Eigenschaft. Grundlos konnte er den Chefinspektor nicht leiden und ließ keine Gelegenheit verstreichen, um Hempshaw zu beißen. Deshalb mußte er bei Rick auf dem Schoß bleiben.

»Es geht um den City Tower.« Der Chefinspektor warf Dracula einen mißtrauischen Blick: zu, lehnte sich aber beruhigt zurück, als er erkannte, daß ihm von dem kleinen weißen Hund mit den überdimensionalen Ohren keine Gefahr drohte. »Das Management dieses Hochhauses hat bisher strengstes Stillschweigen über die Vorfälle in dem Turm bewahrt. Die Leute befürchten, daß niemand mehr eine Wohnung oder ein Büro kaufen oder mieten will, wenn alles bekannt wird.«

»Und was sollte bekannt werden?« fragte Rick, nun schon leicht ungeduldig, weil er sich nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen wollte.

»Überfälle, Brandstiftungen, Einbrüche.« Hempshaw schluckte. »Und ein Mord.«

Rick Masters wiegte den Kopf, während er sich umständlich eine Zigarette anzündete. »Alles unangenehme Dinge, aber normal für solche Hochhäuser. Sie stellen praktisch eine Kleinstadt für sich dar.«

»Sie brauchen mir nicht das Ergebnis von kriminalistischen Untersuchungen über Hochhäuser vorzuhalten«, sagte der Chefinspektor gereizt. »Ich kenne sie auswendig. Aber es hat Merkwürdigkeiten gegeben. So hat zum Beispiel ein Räuber vor den Augen der Überfallenen mit bloßen Händen ein Trinkglas angefaßt. – Wir haben aber keine Fingerabdrücke gefunden. Das ist noch nicht alles. Sein Büro war durch elektronische Warneinrichtungen gesichert. Trotzdem wurde der Safe ausgeräumt. Der Dieb hat die Sicherungen nicht ausgeschaltet, und er hat den Safe nicht beschädigt.«

Rick Masters begann zu grinsen, nicht über das Verbrechen, da diese zu ernst waren. Er amüsierte sich über etwas ganz anderes. »Sie sind doch immer so skeptisch, Kenneth, wenn es sich um übersinnliche Phänomene dreht«, sagte er zufrieden. »Und jetzt haben Sie auf einmal erkannt, daß Magie ein Spiel ist?«

»Das habe ich nicht gesagt!« wehrte der Chefinspektor hastig ab. Obwohl er schon oft gemeinsam mit Rick Masters gegen Übersinnliches gekämpft hatte, wehrte er sich stets bis zum Vorliegen unumstößlicher Beweise gegen das Eingeständnis, es mit einem Geist oder einem Magier zu tun zu haben. »Ich habe nur angedeutet, daß es im City Tower rätselhafte Vorfälle gibt. Sie müssen uns helfen! Ich habe auch einen Auftraggeber für Sie, Rick! Morgen vormittag können Sie mit dem Manager der City Tower Gesellschaft sprechen. Die Gesellschaft ist daran interessiert, daß diese Vorfälle so schnell wie möglich aufhören, besser noch gestern als heute.«

»Verständlich«, murmelte der Geisterdetektiv, der sich schon ganz auf seinen neuen Fall einstellte. »Und wie war das mit dem Mord? Wer ist das Opfer, wer der Täter?«

»Den Täter haben wir noch nicht«, erwiderte der Chefinspektor verdrossen. »Das Opfer heißt Benjamin Potter und arbeitete als Wartungsingenieur für jene Aufzugsfirma, die die Aufzüge im City Tower gebaut hatte. Er wurde in einer der Liftkabinen mit durchschnittener Kehle gefunden. Seine Leiche liegt in der Gerichtsmedizin.«

Rick Masters nickte knapp und stand auf. »Dann werden wir dort beginnen«, erklärte er und warf einen Blick aus dem Fenster, gegen das die Regentropfen prasselten.

»Bei diesem Wetter und um diese Zeit?« rief der Chefinspektor entsetzt.

Rick Masters lächelte. »Sie hatten es doch sehr eilig, oder nicht? Außerdem richten sich diese rätselhaften Zwischenfälle vermutlich nicht nach dem Wetter. Gehen wir!«

Dagegen hatte der Chefinspektor nichts mehr einzuwenden. Achselzuckend stand er auf und warf Dracula einen finsteren Blick zu, der die Zähne fletschte und ihn anknurrte.

»Also gut, gehen wir«, meinte Hempshaw. »Aber lassen Sie Ihren Hund um Himmels willen zu Hause.«

Doch Rick schüttelte grinsend den Kopf. »Im Gegenteil, Kenneth. Dracula kommt mit. Er soll mir verraten, ob dieser Aufzugsmonteur etwas mit Schwarzer Magie oder einem Geist zu tun hatte.«

Daraufhin murmelte Hempshaw etwas, das Rick nicht verstand. Es hörte sich jedoch nicht freundlich an.

Die beiden Männer und der Hund machten sich auf den Weg, ohne zu ahnen, was in der Zwischenzeit in der Gerichtsmedizin geschehen war. Und was sich zur selben Zeit im City Tower abspielte.

Ungehindert nahm das Grauen seinen Lauf.

*

Die Versorgungseinrichtungen des Wolkenkratzers mußten rund um die Uhr überwacht und notfalls sofort repariert werden. Die Heizungsanlage gehörte dazu.

Roddy Benares gehörte zu der ständigen Wartungsmannschaft. Gegen Mitternacht unternahm er einen seiner regelmäßigen Rundgänge. Er verließ den Aufzug im zweiten Untergeschoß und wandte sich nach rechts.

An den nackten Betonmauern liefen Röhren entlang, die für einen Laien ein verwirrendes Chaos darstellten. Benares wußte genau, welche Röhre zu welchem Kreislauf gehörte und konnte feststellen, ob alles in Ordnung war.

Er kam zu den Kesseln der Ölheizung.

In diesen Räumen herrschten tropische Temperaturen, die vergessen ließen, welch kalter und unfreundlicher Sturm in London wütete. Mit Unbehagen dachte Benares an das Ende seiner Schicht, wenn er nach Hause fahren mußte. Er wohnte nicht im City Tower. Das war nur etwas für finanzkräftige Leute. Gegen die Wärme dieser unterirdischen Räume würde ihm die Kälte in den Straßen doppelt schlimm erscheinen.

Als er die Heizungsanlage wieder verließ, drehte er sich irritiert um. Er hatte ein Geräusch gehört, das nicht zu den üblichen Betriebsgeräuschen gehörte. Da besaß er ein besonders feines Ohr. Tatsächlich hatte er sich nicht geirrt.

Im nächsten Moment tauchte zwischen den Kesseln und den dicken Rohrleitungen ein Mann auf.

Im ersten Moment verkrampfte sich Benares. Er hatte sich also doch von den Schauergeschichten anstecken lassen, die manche Leute über dieses Hochhaus erzählten. Als er den Mann jedoch erkannte, entspannte er sich wieder und nickte freundlich.

Das Lächeln war aus seinem Gesicht wie weggewischt, als er das dünne Nylonseil in den Händen des Manries entdeckte. Im Schein der grellen Leuchtstoffröhren sah es wie ein glühender Lichtstreifen aus, der sich zwischen den Fingern des anderen drehte.

Leicht geduckt und mit einem lauernden Gesichtsausdruck kam der Mann auf Benares zu. Das NylonseiI ließ er schwingen, daß es einen pfeifenden Ton erzeugte.

»He, was soll das?« rief Benares erschrocken. »Tun Sie das weg! Sind Sie verrückt? Wieso…?«

Er sah ein, daß es keinen Sinn hatte, mit diesem Mann zu sprechen. Alarmiert wich er auf den Korridor aus und wollte sich in Sicherheit bringen.

Er hatte jedoch erst ein paar Schritte getan, als er gegen einen Widerstand stieß.

Mit einem unterdrückten Aufschrei wirbelte er herum und brach fast zusammen, als er den hinter ihm stehenden Mann sah.

Roddy Benares kannte den Mann nicht, dessen schauderhafter Anblick ihn fast um den Verstand brachte. An seinem Hals klaffte eine fürchterliche Wunde, die nicht blutete, als wäre sie schon mehrere Tage alt.

Die Erkenntnis, daß der Unbekannte mit diesem schrecklichen Schnitt nicht leben konnte, lähmte den Heizungsfachmann. Regungslos stand Benares vor dem Untoten und sah ihm in das leichenblasse Gesicht mit den ausdruckslosen erloschenen Augen, die an blank polierte Steine erinnerten.

Ohne erkennbare Gefühlsregung hob der Untote die Hände und streckte sie Benares entgegen. Mit einem kräftigen Ruck stieß er den Unglücklichen von sich.

Benares taumelte rückwärts. Vor seinen Augen blitzte es kurz. Er hörte ein zischendes Geräusch.

Die hauchdünne Nylonschnur legte sich um seinen Hals.

Niemand wußte, daß sich in diesen Minuten im Keller des City Towers ein Mord ereignete, auch nicht der Nachtpförtner, der noch immer in der Halle stand und das Toben des Unwetters beobachtete. Der Mann hatte den kurzen Zwischenfall mit dem bleichen Gesicht vor dem City Tower bereits wieder vergessen.

AIs er hörte, daß eine Aufzugskabine im Erdgeschoß hielt, drehte er sich um. Die Türen glitten zurück. Der Heizungsmonteur trat in die Halle.

Der Pförtner nickte Benares flüchtig zu. »Alles in Ordnung?« rief er dem Techniker zu.

Und Roddy Benares hob die rechte Faust und reckte den Daumen nach oben, um anzuzeigen, daß alles bestens lief.

Zufrieden wandte sich der Pförtner wieder der sturmgepeitschten Straße zu. Hätte er geahnt, mit wem er soeben gesprochen hatte, wäre er schreiend davongelaufen.

*

Es dauerte eine ganze Weile, ehe jemand in der Gerichtsmedizin öffnete. Rick Masters war in seinem eigenen Wagen hierhergefahren, einem dunkelgrünen Morgan. Das war ein Nachbau eines Oldtimers mit moderner Technik, ein offener Sportwagen, an dessen Stoffverdeck der Sturm gewaltig rüttelte.

Chefinspektor Hempshaw hatte sich selbst an das Steuer seines Dienstwagens gesetzt und war vorausgefahren. Nun preßte er seinen Daumen ununterbrochen auf den Klingelknopf, bis endlich eine Sichtklappe im Tor aufsprang. Der Nachtpförtner kannte den Chefinspektor, da er sofort öffnete.

»Kommen Sie, Rick!« rief Hempshaw seinem Begleiter zu und winkte nur ab, als der Nachtpförtner etwas gegen Dracula einwenden wollte. Auch der verschlafene Angestellte, der den Chefinspektor in den Leichenkeller führen sollte, machte große Augen, als er den Hund auf Ricks Arm entdeckte. Er wagte jedoch keinen Einspruch.

»Warten Sie, Kenneth!« Rick Masters blieb auf der Treppe stehen, die in die Tiefe führte. »Hier stimmt etwas nicht.«

Hempshaw runzelte die Stirn. »Was soll nicht stimmen? Ich sehe nichts.«

Rick setzte wortlos seinen Hund auf den Boden und deutete mit einem Kopfnicken auf ihn. Nun merkte auch Hempshaw, daß mit dem Hund eine Verwandlung vor sich ging.

Dracula legte die Ohren an und zog den Schwanz ein. Mit leisem Winseln flüchtete er sich in eine Ecke des Treppenhauses.

»Hier ist etwas passiert«, stellte Rick Masters fest und sah sich aufmerksam um. Er wandte sich an den Angestellten der Gerichtsmedizin. »Haben Sie in den letzten Stunden etwas Ungewöhnliches bemerkt?«

Als der Mann nur den Kopf schüttelte, nahm Rick den Hund wieder auf den Arm und ging weiter. Er war jetzt überzeugt, daß in diesem Gebäude Dinge vor sich gingen, die etwas mit Magie oder Geistern und Dämonen zu tun hatten. An Hempshaws forschenden Blicken erkannte er, daß auch der Chefinspektor die Gefahr ahnte.

Sie betraten einen der großen, gekachelten Räume mit dem häßlich kalten Licht und den Türen ringsum in den Wänden, hinter denen die Kühlfächer untergebracht waren.

»Benjamin Potter«, sagte der Chefinspektor. »Und beeilen Sie sich! Ich will hier nicht erfrieren.«

Mit dem Gleichmut eines Mannes, der seit Jahren diesen Job ausführte, suchte der Angestellte die richtige Klappe heraus und zog daran. Mit einem heiseren Schrei ließ er den Griff los.

Auf gutgeölten Kugellagern rollte die Bahre vollständig aus der Wand und rastete mit einem dumpfen Laut ein. Rick Masters biß die Zähne zusammen, obwohl er mit etwas Ähnlichem gerechnet hatte. Chefinspektor Hempshaw murmelte eine Verwünschung.

Die Bahre, auf der Benjamin Potter liegen sollte, war leer, das Laken zusammengeknüllt am Fußende, auf der Bahre selbst auf rätselhafte Weise der Abdruck des Körpers verewigt, als ob jemand mit Kreide die Lage der Leiche markiert hätte.

»Das also war es«, stellte der Geisterdetektiv fest.

»Geben Sie Großalarm!« schrie der Chefinspektor den Angestellten an. »Die Leiche muß noch im Haus sein!«

Der Mann löste sich aus seiner Erstarrung und rannte auf den Korridor hinaus, wo ein Wandtelefon hing. Doch während er den Alarm durchgab, schüttelte Rick den Kopf.

»Diese Leiche werden Sie wahrscheinlich nicht mehr in diesem Haus finden«, behauptete er. »Oder meinen Sie, daß jemand den Toten gestohlen hat?«

»Ich weiß nur«, antwortete der Chefinspektor scharf, »daß ich mich an meine Vorschriften halten und eine Suchaktion einleiten muß! Alles Weitere ist Ihre Sache, Rick!«

Der Geisterdetektiv nickte und ging zu der Treppe. In der Gerichtsmedizin wurde es bereits lebendig. Die übrigen Angestellten, die auch nachts ihren Dienst versehen, machten sich auf die Suche nach der Leiche des Mordopfers. Die ersten Streifenwagen trafen ein.

Rick Masters wartete das Ergebnis nicht ab. Er kannte es im voraus, da er sicher war, Benjamin Potter habe sich in einen Untoten verwandelt. Es war nicht das erste Mal in seiner Laufbahn als Geisterdetektiv, daß ein Toter zu einem zweiten, einem unnatürlichen Leben erwachte.

Blieb nur die Frage, warum das geschehen war und wohin sich der Untote gewandt hatte. Vorläufig bekam Rick von niemandem eine Antwort auf diese Fragen, doch er war jetzt schon entschlossen, nicht früher locker zu lassen, als bis er diesen Fall gelöst hatte. Da er nicht den geringsten Anhaltspunkt besaß, wollte er dort einhaken, wo sich der Mord an Benjamin Potter ereignet hatte und wo sich auch die übrigen rätselhaften Zwischenfälle abgespielt hatten.

Der Geisterdetektiv fuhr mit seinem Hund zum City Tower. Draculas feiner Instinkt hatte sich auch diesmal bewährt. Mit seiner Hilfe, so hoffte Rick, würde es ihm gelingen, in dem riesigen Wolkenkratzer eine konkrete Spur aufzunehmen.

Er konnte noch nicht ahnen, in welches Wespennest er stach.

*

Seit der City Tower von unerklärlichen Zwischenfällen und Verbrechen heimgesucht wurde, sorgten zusätzlich zu dem üblichen Personal Nachtwächter für die Sicherheit der Bewohner. Sie standen allerdings auf verlorenem Posten, da man für jede Etage einen Wächter gebraucht hätte, um alle Zwischenfälle zu unterbinden.

Frank Bletcher war einer dieser Nachtwächter. Er hatte insgesamt zehn Etagen zu überprüfen, dazu noch das Treppenhaus und die Fahrstühle in seinem Bereich. Er wußte, daß er vorsichtig sein mußte, weil der City Tower inzwischen zu einem gefährlichen Pflaster geworden war. Er ahnte jedoch genausowenig wie alle anderen Beteiligten, mit welchen Gefahren sie es tatsächlich zu tun hatten.

An dem melodiösen Gong hörte er, daß der Aufzug auf der zweiunddreißigsten Etage hielt. Er selbst befand sich im Treppenhaus eine halbe Etage tiefer. Es war ein Uhr nachts. Frank Bletcher kam es seltsam vor, daß um diese Zeit jemand unterwegs war. Er wußte, daß wegen des schlechten Wetters fast alle Leute zu Hause blieben.

Natürlich konnte es sein, daß erst jetzt ein Mieter in sein Apartment zurückkehrte oder soeben weggehen wollte, doch Bletcher mußte sich davon überzeugen. Er hastete die Treppe hinauf und betrat den Korridor.

Wer immer mit dem Aufzug gekommen war, hatte kein Licht eingeschaltet. Das war verdächtig.

Unbehaglich sah sich der Nachtwächter um. Im Halbdämmer der Notbeleuchtung lag der Korridor vor ihm. Nichts regte sich. Die Kabine hielt auf diesem Stockwerk, die automatischen Türen standen offen, die Innenbeleuchtung brannte. Niemand stand im Aufzug.

Der Nachtwächter war kein besonders sensibler Mann. Trotzdem spürte er fast körperlich die Gefahr, die in der Luft lag. Er strengte seine Augen an und tastete nach dem Schalter für das Drei-Minuten-Licht.

Noch ehe seine Finger den Knopf erreichten, entdeckte er weiter hinten eine Bewegung. Tatsächlich, dort stand jemand dicht an die Wand gepreßt und versuchte, sich in einer Türnische zu verbergen.

Der Nachtwächter drückte den Schalter, doch das Licht flammte nicht auf. Statt dessen breitete sich ein unerklärlicher bläulicher Schimmer im Korridor aus, ein unheimliches Leuchten, das aus den Wänden drang und für das es keine vernünftige Erklärung gab.

Zitternd trat der Wächter einen Schritt vor. Er mußte trotzdem nachsehen, was da vorn vor sich ging. Dafür wurde er schließlich bezahlt, und er wollte seinen Job nicht verlieren.

Doch kaum hatte er drei Schritte getan, als er das Klappen einer Tür hörte. Der Unbekannte war verschwunden. Im nächsten Moment flammte die normale Beleuchtung auf.

In ihrem grellen Schein sah der Wächter, daß sich niemand mehr im Korridor aufhielt. Der Eindringling mußte die Tür geöffnet haben, vor der er sich versteckt hatte.

Frank Bletcher dachte nicht weiter über das geisterhafte Leuchten nach. Jetzt ging es nur mehr darum, den vermeintlichen Einbrecher zu stoppen.

Er lief auf die Tür zu, die er sich genau gemerkt hatte. Sie gehörte zu einer nicht vermieteten Wohnung und schwang auf leichten Druck zurück. Sie war nicht abgeschlossen.

Der Vormieter hatte offenbar den Stromanschluß nicht abgemeldet, da in allen Räumen nackte Glühlampen an der Decke waren und auch brannten.

Das Apartment besaß keinen zweiten Ausgang und nicht die geringsten Möglichkeiten für ein Versteck. Frank Bletcher sah in allen Räumen nach, und zuletzt war er verwirrt wie noch nie in seinem Leben.

Der Unbekannte hatte sich in Luft aufgelöst. Nach draußen konnte er nicht geflohen sein, da vor den Fenstern ein zweiunddreißig Stockwerke tiefer Abgrund gähnte, es keine Simse gab und die Fenster nur mit einem Spezialschlüssel geöffnet werden konnten. Auf den Korridor konnte er nicht ausgewichen sein, sonst wäre er dem Nachtwächter in dieArme gelaufen. Und in der Wohnung war er auch nicht.

Lange blieb Frank Bletcher verstört in dem leeren Apartment stehen. Dann löschte er die Lichter und trat auf den Korridor hinaus. Er setzte seinen Rundgang fort, als wäre nichts geschehen.

Zwar hatte er keine Erklärung für sein Erlebnis, aber er beschloß, mit niemandem darüber zu sprechen. Bestimmt hätten seine Vorgesetzten angenommen, daß er betrunken war, und seine Stelle wollte er nicht riskieren. Lieber vergaß er diesen ganzen Vorfall.

*

Am City Tower stieß Rick Masters auf unerwartete Schwierigkeiten. Der Nachtpförtner sprach mit ihm nur über eine Mikrofonanlage und weigerte sich zu öffnen. Er ließ sich auch von dem Ausweis als Privatdetektiv in keinster Weise stören, sondern berief sich auf seine Anweisungen, nach denen er keinen Fremden einlassen durfte.

Da Rick Masters noch keine offizielle Vollmacht des Managements des City Towers besaß, wollte er schon wieder fahren, als Chefinspektor Hempshaw eintraf. Dieser durfte sofort die Halle betreten, und als er für Rick bürgte, gelangten auch der Geisterdetektiv und sein Hund in das Hochhaus.

»Irgendwelche besonderen Vorfälle?« erkundigte sich Hempshaw bei dem Nachtpförtner.

Der Mann versicherte mit gutem Gewissen, daß nichts passiert war. Er hatte schließlich keine Ahnung, welche Dinge in diesem Gebäude vor sich gingen.

Während sich die drei Männer unterhielten, ließ Rick seinen Hund frei in der Halle herumlaufen. Dabei beobachtete er Dracula ständig und zuckte zusammen, als der Hund winselnd vor einem der Aufzüge zurückwich.

»Was ist mit dieser Kabine dort drüben?« fragte Rick den Pförtner.

»Nichts, was soll sein?« lautete die erstaunte Antwort.

Der Geisterdetektiv überlegte angespannt. »Über der Schiebetür befindet sich eine Leuchtanzeige, in welchem Stockwerk die Kabine steht. Im Moment ist das Nummer zweiunddreißig. Wurde der Aufzug in der letzten halben Stunde benutzt?«

Diesmal nickte der Pförtner. »Einer der Heizungstechniker fuhr von der Halle in das zweite Untergeschoß. Routineüberprüfung. Ja, und dann kam er wieder in die Halle und… Ich weiß jetzt nicht, wohin er ging. Ist das wichtig?«

»Was war weiter mit dem Aufzug?« Rick überging die Frage.

Der Pförtner sah sich hilflos um. »Ich achte nicht ständig darauf, Mr. Masters. Vor etwa zwanzig Minuten fuhr die Kabine in den zweiunddreißigsten Stock hinauf, und dort steht sie seither. Es ist eine ungewöhnlich ruhige Nacht. Sonst haben wir trotz der späten Stunde hier ein ständiges Kommen und Gehen.«

»Kommen Sie, Kenneth, sehen wir uns das einmal an«, forderte Rick seinen Freund von Scotland Yard auf. »Das ist doch interessant.«

Sie riefen eine andere Kabine ins Erdgeschoß und fuhren zum zweiunddreißigsten Stock hinauf. Die erste Kabine stand noch auf dieser Etage.

»Ich kann nichts daran entdecken«, meinte der Chefinspektor.

»Dracula weicht davor zurück.« Rick ging näher. »Äußerlich gibt es keine Spuren, aber mit diesem Aufzug ist etwas geschehen. Vielleicht hat ihn jemand benutzt, der Verbindung zur Schwarzen Magie hat.«

Das Schnappen eines Türschlosses ließ die beiden Männer herumwirbeln. Auch Dracula drehte sich blitzschnell um und knurrte leise, zeigte jedoch nicht sein übliches Verhalten bei magischen Gefahren.

Aus dem Treppenhaus trat ein Mann in einer schwarzen Uniform. Rick erkannte in ihm den Wächter eines privaten Wachunternehmens.

»Was machen Sie hier?« fragte der Mann und kam vorsichtig näher.

Hempshaw zeigte seinen Ausweis.

»Haben Sie in der letzten Stunde etwas Verdächtiges bemerkt?« fragte er.

»Nein.« Der Wächter sagte es erst nach kurzem Zögern.

Rick war nicht entgangen, daß der Mann mit etwas hinter dem Berg hielt. »Heraus mit der Sprache.« Er klopfte auf den Busch. »Da war etwas, und es hat mit dem Aufzug zu tun.«

Der Wächter musterte ihn erschrocken, nickte und schilderte sein Erlebnis in dem leerstehenden Apartment. Rick und Hempshaw ließen es sich zeigen, und der Geisterdetektiv nickte befriedigt. Dracula war nicht dazu zu bewegen, diese Wohnung zu betreten.

»Ich lasse meine Leute anrücken«, entschied der Chefinspektor. »Die Spurenexperten sollen sich die Wohnung vornehmen.«

»Sie werden nichts finden«, prophezeite der Geisterdetektiv. »Untote hinterlassen keine Spuren.«

»Sie denken an Benjamin Potter?« fragte der Chefinspektor so leise, daß nur Rick ihn verstand.

Masters zuckte die Schultern. »Es wäre zumindest möglich. Potter ist aus der Gerichtsmedizin verschwunden. Meiner Meinung nach wurde er auf magische Weise zu einem zweiten Leben erweckt. Warum sollte er nicht an den Ort zurückgekehrt sein, an dem er ermordet wurde? Er wurde doch im Fahrstuhl ermordet, oder?«

»Genau in dieser Kabine.« Der Chefinspektor nickte düster und deutete auf den Aufzug, vor dem Dracula auf seine Weise gewarnt hatte. »Trotzdem hole ich meine Leute.«

Rick blieb noch eine Weile im City Tower, mußte jedoch einsehen, daß er in dieser Nacht nichts mehr erreichte. Für den nächsten Vormittag hatte er einen Termin bei dem Manager der Verwaltungsgesellschaft. Wenn er nicht während der Besprechung einschlafen wollte, mußte er endlich nach Hause.

Er verabschiedete sich von Chefinspektor Hempshaw und fuhr zu seinem Wohnbüro. Es war nicht weit, da es ebenfalls in der Londoner City lag.

Für einen Anruf bei Hazel Kent war es schon zu spät. Rick beschloß, am nächsten Morgen mit ihr zu telefonieren und zu versuchen, sie für den verdorbenen gemeinsamen Abend zu entschädigen.

Er wußte allerdings jetzt schon, daß es noch viele verdorbene Abende geben mußte, so lange dieser Fall nicht abgeschlossen war.

*

Äußerlich hatte sich Roddy Benares kaum verändert. Ein flüchtiger Beobachter hätte an ihm gar nichts festgestellt. Nur bei genauerem Hinsehen fielen die starren, wie polierte Steine wirkenden Augen auf, das unbewegte Gesicht und die eckigen Bewegungen. Ansonsten unterschied sich Roddy Benares nicht von einem gewöhnliches Menschen.

Gegen drei Uhr morgens hatte Roddy Benares ein unheimliches Treffen mit einem Artverwandten. Vor Stunden noch war er über den Mann mit der klaffenden Halswunde zu Tode erschrocken. Jetzt zeigte er keine Gefühlsregung, als er mit ihm auf der obersten Etage des City Towers zusammentraf.

Sie sprachen nicht miteinander. Untote besaßen andere Möglichkeiten der Verständigung, Außerdem hatten beide einen klaren Befehl erhalten, so daß eine Absprache unnötig war.

Mit gleichförmigen Bewegungen betraten sie nebeneinander eines der Chefbüros. Wie Roboter begannen sie ihr Zerstörungswerk. Sie gingen systematisch vor und vergaßen nichts.

Mit der Präzision von Maschinen verwandelten sie das Büro in ein Trümmerfeld, vernichteten auch Kleinigkeiten und persönliche Gegenstände des Benutzers und zogen sich schließlich genauso unbemerkt zurück, wie sie gekommen waren.

Nebeneinander stellten sie sich vor den Aufzügen auf. Potter drückte den Rufknopf.

Die Leuchtanzeige über den automatischen Schiebetüren verriet, welche Kabine zu ihnen hochfuhr. Sie gab jedoch keine Auskunft darüber, daß sich in dieser Kabine jemand befand.

Ein wohltönendes Glockensignal zeigte die Ankunft der Kabine an. Die Türen öffneten sich.

Nebeneinander betraten die beiden lebenden Leichen den Aufzug. Genau in diesem Moment wollte Frank Bletcher die Kabine verlassen. Er sah sich plötzlich zwei Männern mit unheimlich starren Gesichtern und erloschenen Augen gegenüber. Sein Blick fiel auf die Halswunde des einen.

Mit einem erstickten Gurgeln brach Bletcher in die Knie. Der erste Zwischenfall in dieser Nacht hatte ihn schon Nerven gekostet. Dieser Anblick war jetzt zuviel für ihn.

Wie eine Puppe fing Benjamin Potter den Ohnmächtigen auf und legte ihn vor den Aufzügen auf den Boden. In der Halle stand ein Hausbewohner und unterhielt sich mit dem Nachtpförtner. Der Mann wartete auf den Aufzug, den er gerufen hatte.

Die Kabine kam, fuhr jedoch am Erdgeschoß vorbei in das zweite Untergeschoß.

»Merkwürdig«, murmelte der Pförtner. »Er hätte halten müssen.«

»Nicht so schlimm, fahre ich eben mit einem anderen Aufzug«, meinte der ahnungslose Hausbewohner.

Dem Nachtpförtner ließ das jedoch keine Ruhe. Er sah im zweiten Kellergeschoß nach und fand dort nichts. Allerdings erinnerte er sich daran, daß die Kabine aus dem obersten Stockwerk gekommen war. Dort prallte er erschrocken zurück.

Vor ihm lag einer der Wächter, und der Pförtner verstand genug von Erster Hilfe, daß er eine Diagnose stellen konnte.

»Herzinfarkt!« meldete er auch gleich danach von dem Telefon in seiner Kabine unten in der Halle.

Als der Pförtner jedoch gemeinsam mit dem Notarzt in der zweiundvierzigsten Etage den Aufzug verließ, war von dem Kranken nichts zu sehen.

*

Um wenigstens während des Schlafes ungestört zu sein, hatte Rick Masters einen automatischen Anrufbeantworter in seinem Wohnbüro in der Londoner City installiert. Wenige Eingeweihte wußten, daß das Telefon trotzdem klingelte, wenn man lange genug wartete. Chefinspektor Kenneth Hempshaw gehörte zu diesen Eingeweihten, so daß Rick nicht erstaunt war, Hempshaws Stimme zu hören. Das Telefon hatte um sieben Uhr morgens infernalisch zu klingeln begonnen und erst damit aufgehört, als Rick abgehoben hatte.

»Tut mir leid, daß ich Sie störe, Rick«, sagte der Chefinspektor, dem man deutlich anmerkte, daß er selbst noch sehr müde war. »Aber ich habe soeben eine Meldung aus dem City

Tower erhalten. Dort ist wieder etwas passiert, und zwar schon vor mehreren Stunden.«

»Wieso hören Sie dann erst jetzt davon?« murmelte Rick und starrte zu den Fenstern. Draußen war es noch dunkel, und der Regen klopfte nicht gerade einladend gegen die Scheiben.

»Eine Panne, die ich erst aufspüren muß.« Hempshaw räusperte sich. Der Nachtpförtner behauptet, er hätte einen Wächter bewußtlos in der zweiundvierzigsten Etage gefunden. Vor den Aufzügen. Herzinfarkt.«

»Ein Wächter?« Rick wurde nur in Stufen wach. Die Nachricht half mit, ihn aus dem Schlaf zu rütteln.

»Der Wächter, mit dem wir gesprochen haben«, fuhr der Chefinspektor fort. »Der Nachtpförtner besitzt einige medizinische Kenntnisse. Er schwört, daß es ein Herzinfarkt war.«

»Können das denn die Ärzte nicht feststellen?« Nun richtete sich der Geisterdetektiv erstaunt in seinem Bett auf »Müßte doch möglich sein, oder etwa nicht?«

»Oder etwa nicht.« Hempshaw lachte kurz bitter auf. »Der angeblich so schwer Kranke war verschwunden, als der Nachtpförtner mit dem Notarzt eintraf. Was sagen Sie dazu?«

»Wo sind Sie?« fragte Rick nur knapp.

»Noch in meiner Wohnung«, gab der Chefinspektor zurück. »Ich fahre jetzt zum Tower.«

»Wir treffen uns dort«, erwiderte der Geisterdetektiv, legte auf und stellte sich unter die Dusche. Danach ging es ihm besser. Auf Kaffee oder Tee verzichtete er.

»Tut mir leid, mein Bester«, murmelte er, als Dracula ungnädig brummte, weil Rick ihn aus seinem Bett hob. »Du mußt mit! Ich brauche einen Geisterspürer.«

Dracula hatte vermutlich keine Ahnung, was sein Herr damit meinte. Er bekam jedoch die Auswirkungen zu spüren, weil Rick ihn in den regnerischen Morgen hinaustrug und mit ihm losfuhr.

Hempshaws Dienstwagen stand bereits vor dem City Tower. Der Chefinspektor wartete auf den Geisterdetektiv. Sie begrüßten einander mit einem knappen Kopfnicken und fuhren nach oben.

»Der Pförtner ist jetzt bei Mr. Brinkfield«, erläuterte Hempshaw. »Brinkfield ist der Manager der City Tower Gesellschaft und Ihr offizieIler Auftraggeber.«

»Den Wächter hat man nicht gefunden?« erkundigte sich Rick.

»Der Mann ist wie vom Erdboden verschluckt.« Hempshaw blickte starr geradeaus. Dieser Fall bereitete ihm größeres Kopfzerbrechen, als er sich anmerken lassen wollte.

Eine Sekretärin nahm die beiden in Empfang, lächelte besonders dem gutaussehenden Geisterdetektiv zu und führte die Besucher in ein spärlich und sehr nüchtern eingerichtetes Büro. Rick wunderte sich, daß der Manager in einem solchen Büro arbeitete.

Der Nachtpförtner saß zusammengesunken und ziemlich unglücklich in einem abgeschabten Sessel. Hinter dem winzigen, wie ausrangiert wirkenden Schreibtisch erhob sich ein ungefähr vierzigjähriger massiger Mann mit einem energisch offenen Gesicht und kam auf Hempshaw und Rick zu.

»Ich bin Mort Brinkfield, Mr. Masters.« Er schüttelte Rick die Hand.

»Freut mich«, murmelte der Geisterdetektiv. »Woher kennen Sie mich?«

»Aus der Zeitung!« Brinkfield strahlte. »Es wird oft genug über Ihre Erfolge berichtet. Chefinspektor! Guten Morgen! Gentlemen, es tut mir leid, daß ich Sie in diesem Büro empfangen muß. Mein eigenes ist nicht benutzbar. Kommen Sie und sehen Sie selbst!«

Er führte die beiden Detektive zu einem der angrenzenden Büros, an dem ein Namensschild verkündete, daß es dem Manager gehörte. Als er die Tür öffnete, stieß Rick einen überraschenden Pfiff aus. Das Büro war in ein Trümmerfeld verwandelt worden.

Gleichzeitig wich Dracula jaulend zurück. Rick schloß hastig die Tür. Sofort beruhigte sich der Hund. Als der Geisterdetektiv die Tür erneut öffnete, jaulte Dracula los.

»Also waren wieder unsere Freunde am Werk«, stellte Hempshaw fest und gab gleichzeitig zu, daß er an das Wirken einer magischen Kraft glaubte.

»Sie machen Fortschritte und bessern sich zusehends.« Rick konnte sich diesen kleinen Seitenhieb nicht verkneifen. »Und nun zu Ihnen, Mr. Brinkfield. Weiß jemand, wer das getan hat? Hat niemand etwas bemerkt?«

»Erst heute morgen meine Sekretärin.« Brinkfield räusperte sich vielsagend. »Mein Büro war verschlossen, niemand hatte Zutritt, nicht einmal die Nachtwächter.«

»Dann hören wir uns an, was der Nachtpförtner zu sagen hat«, schlug Rick vor, der nicht weiter auf die Zerstörung des Büros einging.

Der Pförtner war gebrochen. Er war davon überzeugt, daß niemand ihm glaubte.

»Sie werfen mich doch nicht hinaus, Mr. Brinkfield?« fragte er besorgt. »Sie glauben doch nicht, daß ich im Dienst getrunken habe? Ich trinke nie!«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Rick Masters, ehe der Manager etwas erwiderte. »Mr. Brinkfield, ich möchte verständigt werden, sobald dieser Frank Bletcher auftaucht. So hieß doch der Wächter, der den Herzinfarkt erlitt.«

»Richtig«, bestätigte der Manager. »Da ist allerdings noch etwas, Mr. Masters, das ich Ihnen nicht verschweigen will.« Er schickte erst den Nachtpförtner weg, nachdem er diesem versichert hatte, daß er nichts befürchten mußte. »Mr. Masters, ich beauftrage Sie hiermit, die Vorgänge im City Tower zu klären. Ich sorge auch dafür, daß Sie Ihr Honorar bekommen. Aber nicht alle in der Firmenleitung sind meiner Meinung!«

»Richtig«, ertönte es von der Tür her, die sich unbemerkt geöffnet hatte.

Ein Mann trat ein, der sofort die Aufmerksamkeit fesselte. Er war noch größer als Rick, etwa sechzig, und seine schwarzen Augen standen in einem starken Kontrast zu den dichten weißen Haaren. Trotz seines Alters wirkte seine breitschultrige Gestalt sehr sportlich. Er nickte Rick Masters und Chefinspektor Hempshaw freundlich zu, obwohl seine Haltung deutlich ablehnend war.

»Ich bin Ernest Patmore, Generalmanager der City Tower Gesellschaft«, stellte er sich selbst vor. »Ging es nach mir, würde ich Sie nicht engagieren, Mr. Masters. Aber in diesem Punkt hat Mr. Brinkfield freie Entscheidung.«

»Und was haben Sie gegen mich?« fragte Rick ruhig. Er war gewohnt, daß ihn nicht alle Leute mit offenen Armen empfingen.

»Nicht Persönliches.« Ernest lächelte knapp. »Es geht um den Ruf unseres Hauses. Wird allgemein bekannt, was sich schon alles ereignet hat, sind wir ruiniert. Wird außerdem bekannt, daß die Polizei bisher machtlos war, wird eine Massenflucht aus diesem Haus einsetzen. Innerhalb weniger Wochen haben wir einen leeren Wolkenkratzer in der City von London, und innerhalb weiterer drei oder vier Wochen müssen wir Konkurs anmelden.«

»Wäre es Ihnen lieber, die Leute blieben hier und werden umgebracht?« fragte Chefinspektor Hempshaw scharf, dem der Seitenhieb auf die Polizei nicht gefiel.

»Ich möchte, daß die Polizei den Fall klärt und daß die Leute bleiben«, erwiderte Patmore mit unerschüttlicher Ruhe. »Mr. Masters aber ist bekannt dafür, daß er besonders gefährliche und schwierige Fälle übernimmt. Wenn er in diesem Gebäude auftaucht und die Presse davon Wind bekommt, sind wir ruiniert.«

»Ich werde so diskret wie möglich vorgehen«, sagte der Geisterdetektiv. »Im übrigen können Sie sich beruhigen. Ich unterhalte keine Verbindungen zur Presse, weil ich lieber im Verborgenen arbeite. Und die Zeitungsberichte über mich sind mir auch nicht angenehm. Außerdem würden Sie mich jetzt nicht mehr loswerden. Wenn ich auf einen Fall gestoßen bin, in dem lebende Leichen und magische Kräfte eine Rolle spielen, lasse ich nicht mehr locker.«

Mort Brinkfield riß die Augen auf und starrte Rick an, als habe dieser von ihm verlangt, aus dem Fenster zu springen. Ernest Patmore hingegen legte den Kopf in den Nacken und lachte dröhnend.

»Brinkfield!« rief er und schlug dem Manager auf die Schulter. »lch nehme alles zurück! Mr. Masters gefährdet den Ruf unseres Unternehmens in keiner Weise! Man kann ihn nämlich nicht ernst nehmen!«

Damit trat er aus dem notdürftig eingerichteten Büro und ließ einen völlig verstörten Manager zurück.

»Haben Sie das eben ernst gemeint, Mr. Masters?« vergewisserte sich Brinkfield.

»Absolut!« Rick stand auf und nahm Dracula auf den Arm. »Wenn Sie sich alles durch den Kopf gehen lassen, was bisher geschehen ist, werden Sie erkennen, daß ich recht habe. Sie brauchen mir jedoch nicht zu glauben. Es stört mich nicht. Ich liefere Ihnen den Täter, der das alles angezettelt hat, ob Sie wollen oder nicht!«

Damit ging auch der Geisterdetektiv. Er sah eben noch das fassungslose Gesicht des Managers, dann schloß er die Tür hinter sich und wandte sich dem Aufzug zu.

Eine der Kabinen hielt soeben auf seiner Etage. Die Schiebetüren glitten zurück und gaben den Blick auf den einzigen Benützer des Aufzuges frei. Rick kannte den Mann von dem Foto in einer Personalakte.

Es war der Nachtwächter Frank Bletcher.

*

»Mr. Bletcher?« Rick Masters war für einen Moment so sprachlos, daß er nichts mehr hervorbrachte.

Der Wächter musterte ihn mit einem starren Blick. »Ja, warum nicht?« fragte er kopfschüttelnd.

Der Geisterdetektiv erholte sich rasch. »Weil Sie angeblich in der letzten Nacht einen Herzinfarkt erlitten haben.«