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Blanca Imboden – Arosa | Von Bären, Eichhörnchen und Mister 99-Prozent – WÖRTERSEH

 

Wörterseh wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt und dankt herzlich dafür.

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2018 Wörterseh, Gockhausen

Lektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Korrektorat: Claudia Bislin, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Foto Umschlag vorn: www.istockphoto.com
Fotos Umschlag vorn und hinten: Arosa Tourismus/Nina Mattli
Layout, Satz und herstellerische Betreuung:
Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-096-9
E-Book ISBN 978-3-03763-747-0

www.woerterseh.ch

 

Die Geschichte dreht sich zwar um das »Arosa Kulm Hotel«; Gäste, Personal, Direktion und vieles mehr sind jedoch der Fantasie entsprungen.
Die Szenen mit Monika Fasnacht sind frei erfunden, allerdings mit ihrer Erlaubnis.
Auch was Sie über das »Arosa Bärenland« lesen, ist reine Fantasie. Das Bärenland wird erst im Sommer 2018 eröffnet. Dann wird ein Einbruch in das Gehege unmöglich sein.

 
Für Hans.

Ich durfte den glücklichsten August meines Lebens mit Hans in Arosa verbringen.

Danke, Hans. Danke, Arosa.

 
»Eine Krise ist ein produktiver Zustand.
Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.«

Max Frisch

 

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

1. Berg, Hügel, Gipfel, Anhöhe, Anstieg

2. Frauen-WG im Herrenhaus

3. Kultur, Lebensart, Verfeinerung, Bildung

4. Berge, Bündnerland, Eichhörnchen

5. Hermann Hesse, Thomas Mann und ich

6. Einfach nur sein

7. Noch rund dreihundert Seiten

8. Spannung, Vorfreude, Erwartung, Thrill

9. Keine Delfine, aber Bären

10. Schlaflos in Arosa

11. Von Bettwanzen und Eichhörnchen

12. Ein Überraschungsbesuch

13. Nett, gewinnend, gefällig, einnehmend

14. Warum denn »Arosa«?

15. Wandern ist nicht doof

16. Schreibfreude, Schreibwahn, Schreibfluss

17. Große Jagd auf kleine Gespenster

18. Im Eichhörnchenparadies

19. Die große Liebe wird zum Albtraum

20. Der Bärenflüsterer

21. »ENDE!«

22. Sehnsucht, Trauer, Wehklagen, Pathos

23. Danke für alles!

24. Erfüllt, beschwingt, frohgemut, ungetrübt

Danke

 

Über die Autorin

Blanca Imboden
© Laura Vercellone

BLANCA IMBODEN, geb. 1962, war Sekretärin, Sängerin und Seilbähnlerin, bevor sie ihren Traumberuf Schriftstellerin leben konnte. Heute schreibt sie neben ihren Büchern immer wieder Zeitungskolumnen und reist für ihre Lesungen quer durch die ganze Deutschschweiz. Weil sie Berge und den Kontakt zu Menschen liebt, hat sie wieder ein kleines Pensum als Seilbähnlerin angenommen, bei der Stanserhornbahn. Für Wörterseh schrieb sie zahlreiche Bestseller – der erfolgreichste: »Wandern ist doof« – und zusammen mit Frank Baumann die Jugendbuchreihe »Schule ist doof«. Als sie das Angebot bekam, sich in Arosa zu einem neuen Roman inspirieren zu lassen, war sie sofort bereit, sich im »Arosa Kulm Hotel« einzunisten. Blanca Imboden lebt dort, wo sie geboren wurde, in Ibach SZ.
www.blancaimboden.ch

 

Über das Buch


Die Schriftstellerin Liz Lenzlinger hatte mit ihrem Buch »Paris« einen in siebzehn Sprachen übersetzten internationalen Bestseller gelandet. Die Geschichte hinter dem Roman hat sie tatsächlich erlebt – eine ekstatische, inzwischen aber leider längst vergangene Liebe in Paris. Seit ihrem Erfolg schreibt sie zwar noch Kurzgeschichten und Kolumnen, aber für ein weiteres Buch fehlt ihr die zündende Idee, und so befürchtet sie, dass sie als literarisches One-Hit-Wonder in die Geschichte eingehen wird. Mit der Zeit weitet sich ihre Krise zu einer veritablen Schreibblockade aus. In ihrer Verzweiflung erreicht sie die Mail eines Singleportals, in das sie von ihrer Freundin eingeschrieben wurde. Man habe, steht da, ihren Traummann gefunden. Er stimme zu 99 Prozent mit ihrem Profil überein, was – sie könne jubeln! – einem Lottosechser gleichkomme. Liz interessiert aber nur eines: Kann dieser Mister 99-Prozent endlich den ersehnten Schreibrausch auslösen? Das wird sich schnell zeigen, denn die Sterne stehen auch sonst wieder besser – Liz erhält von einem Hotel in Arosa ein Literaturstipendium. Kaum in der Bergwelt angekommen, überschlagen sich die Ereignisse. Eine Jass-Wandergruppe rund um Monika Fasnacht sorgt für ordentlich viel Trubel. Das Zimmermädchen Maria verliert beinah seinen Job, ein Eichhörnchen seine Heimat, und ein Drohnen-Besitzer lässt sich auf ein Bärenabenteuer ein. Und dann taucht auch noch ein Mann auf, den Liz hier nie erwartet hätte.

Als Blanca Imboden mich bat, mit ihr als Arosa-Neuling über ein Arosa-Buch zu reden, hüpfte mein Herz vor Freude. Nie hätte ich zu träumen gewagt, dass dereinst ein Roman unter dem Titel »Arosa« erscheinen würde. Aber jetzt ist er tatsächlich da. Ich habe ihn vorab lesen dürfen und kann sagen: Ich bin begeistert, fasziniert und äußerst glücklich, denn wie sehr Blanca Imboden ihr Herz an unsere schöne Bergwelt verloren hat, das spürt man in jedem Wort.
Blanca, ich danke dir und ernenne dich zur »Aroserin«!

Pascal Jenny, Kurdirektor Arosa

 

1
Berg, Hügel, Gipfel, Anhöhe, Anstieg

Nach einer schlaflosen Nacht sitze ich am frühen Morgen im Innenhof beim Brunnen und warte geduldig auf den Tag. Weil es noch kühl ist, habe ich mich in meinen alten Kaschmirschal gewickelt und wärme meine Hände an einer Tasse Kaffee. Um mich herum zwitschern bereits die Vögel in den Bäumen, als könnten sie den neuen Tag vor lauter Vorfreude kaum erwarten. »Ich liebe den Duft der Möglichkeiten am Anfang eines neuen Tages«, las ich mal auf Facebook. Ich persönlich bin schon froh, wenn mein Kaffee duftet. Ich möchte den Tag nicht mit zu großen Erwartungen belasten.

Mein Morgenritual: Auf meinem Laptop stöbere ich durchs Internet und schaue, was es an Lesenswertem zu bieten hat, immer auf der Suche nach Inspiration, nach Ideen, nach Anregungen. Gerade bin ich an einem Artikel über Berge hängen geblieben.

»Es ist einfacher, am Meer den Verstand zu verlieren als in den Bergen.«

Wie bitte?

»Die Berge sind gewaltig und einschüchternd, aber sie geben auch Halt. Darum hat man hier die ganzen Sanatorien für Lungen- und Nervenkranke gebaut, darum suchten hier Literaten und Künstler Inspiration, darum fanden hier Revolutionäre und Anarchisten Zuflucht.«

Blödsinn!

»Man kann Berge beengend empfinden, aber sie geben Struktur und Stabilität.«

Struktur und Stabilität?

Das ist wohl ein Witz!

Ich lese den unter anderem im »Bund« veröffentlichten Artikel von Michèle Binswanger und ärgere mich. Keine Ahnung, wo die Autorin herkommt. Ich nehme mal an aus einer großen Stadt, weit weg von hier. Wenn sie aus ihrem Schlafzimmerfenster blickt, sieht sie wahrscheinlich direkt an die nächste Hauswand, und nur wenn sie sich ganz weit aus ihrem Küchenfenster lehnt, wenn das Fensterbrett schmerzhaft an ihre Rippen drückt, kann sie in der Ferne ein paar Umrisse von Berggipfeln erahnen.

Ich hätte dringend ein paar berglose Tage am Meer nötig. Es ist so wohltuend, am Meer zu sitzen und den Blick in unendliche Weiten schweifen zu lassen, ohne dass er schon an der erstbesten finsteren Felswand hängen bleibt. So entspannen sich nicht nur die Sehnerven – nein, einfach alles entspannt sich, innerlich und äußerlich. Die Weitsicht belebt die Träume, die Fantasie, die Inspiration. Alles hat mehr Raum, auch das eigene Ich fühlt den Hauch von Freiheit, atmet mit dem Meersalz Energie und Kraft. Und die Sonnenaufgänge, die Sonnenuntergänge … Man möchte Gedichte schreiben ob so viel täglich erlebter Schönheit.

Hier in Schwyz macht es abends zack, und die Sonne ist weg, verschwunden hinter dem Urmiberg. Das hat rein gar nichts Romantisches oder Inspirierendes. Auch am Morgen schleicht sich die Sonne recht unspektakulär hinter dem Großen Mythen hervor. Tja, so ist es halt, wenn man im Talkessel von Schwyz wohnt. Das Wort »Talkessel« sagt es ja schon deutlich: Wir sind umzingelt und eingekesselt von Bergen.

Ich könnte auswandern. Klar. Über 760 000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland; jedes Jahr wandern etwa 30 000 aus. Warum auch nicht. Ich schaue immer gern die Auswanderer-Serien auf den verschiedenen Fernsehkanälen, bin dabei im Wechsel amüsiert und schockiert, leide mit und schäme mich ab und zu für die Naivität der Akteure. Manchmal bin ich auch richtig neidisch. Allerdings lebe ich eigentlich gern hier in der Schweiz. Ich jammere und schimpfe ja nur, weil es mir gerade schlecht geht. Und weil mir die Berge im Moment einfach keinen Halt geben, keine Struktur und Stabilität vermitteln. Viel eher habe ich das Gefühl, langsam durchzudrehen, obwohl das – laut Michèle Binswanger – hier in den Bergen ja schwieriger sein soll als am Meer. Vielleicht bin ich eine Durchdreh-Begabung? Ein Talent?

Ich bin richtig froh, dass mich mein Handy aus den Grübeleien herausholt. Frau Wiget-Weber, die in Luzern Schreibseminare organisiert, ruft an.

»Entschuldigen Sie meine frühe Störung, aber …«

»… schon gut. Ich bin längst auf«, falle ich ihr ins Wort. Sie weiß ja, dass ich Frühaufsteherin bin. Sie kennt mich. Wir hatten schon oft Gespräche um diese Zeit.

»Da bin ich froh. Wie geht es Ihnen denn, Frau Lenzlinger?«

»Gut«, lüge ich.

Sie will es auch gar nicht so genau wissen und fährt fort: »Frau Lenzlinger, hätten Sie im November noch Termine frei? Ich würde Sie gern engagieren. Es geht um einen Vortrag mit anschließendem Gespräch. Hauptthema: Schreibblockaden.«

Ich schlucke zweimal leer und sage nur: »Aha.«

»Mir ist schon klar, dass Sie das wahrscheinlich nur vom Hörensagen kennen, aber ich halte Sie trotzdem für kompetent, darüber zu reden. Was tun Sie, um keine Schreibstaus aufkommen zu lassen? Wie gehen Sie mit diesem Thema um? Was für Tipps haben Sie zur Vermeidung von Blockaden? Bei uns sitzen ja vor allem Schreibanfänger, und die möchten halt nicht nur Theoretiker sprechen hören, sondern auch bekannte Autorinnen.«

»Mmmhhh«, murmle ich, damit sie weiß, dass ich ihr zuhöre. Schließlich nennt sie mir ein fantastisches Honorar, und ich sage zu.

»Wann dürfen wir uns denn wieder über ein neues Buch von Ihnen freuen?«, fragt Frau Wiget-Weber dann.

Schade, ich habe mich nicht schnell genug verabschiedet.

Bevor ich antworten kann, redet sie weiter: »Ich muss es Ihnen wieder einmal sagen, Ihr Buch ›Paris‹ werde ich nie vergessen. Es hat mich so berührt. Die Liebesgeschichte ging mir richtig nahe. Und man spürte Paris aus jeder Zeile. Ich kenne die Stadt ja recht gut. Und es hat mich so gefreut, dass das Buch ein riesiger Erfolg wurde, auch international. Meine Nichte in Frankreich hat es gelesen und meine ehemalige Schulkameradin in Italien ebenso. Auch sie fanden es einfach großartig.«

»Danke für die Blumen«, sage ich und präsentiere ihr dann meine Standardantwort: »Sie wissen ja, alles braucht seine Zeit. Ich arbeite. Es geht voran.«

Als das Gespräch beendet ist, fange ich an zu weinen. Ganz leise. Ganz traurig.

So viel zu meinem Gemütszustand.

So viel zu den Bergen, die mir Halt geben.

Woran ich leide?

An mir.

In der Musikbranche gibt es einen Ausdruck, der es ziemlich gut auf den Punkt bringt. Man spricht bei einem Künstler, der nur einen einzigen Hit hatte, von einem One-Hit-Wonder. Im Unterschied zu mir geben diese Musiker nach ihrem grandiosen Superhit meist noch einige Songs heraus, die aber alle nicht mehr erfolgreich sind. Auch wenn sie sehr gut sind, vielleicht sogar besser als der große Hit.

Ich bin da um Klassen schlimmer.

Vor fünf Jahren schrieb ich mit »Paris«, meinem ersten Buch, gleich einen Bestseller, es war ein riesiger Erfolg. Es wurde in siebzehn Sprachen übersetzt, am Ende sogar verfilmt. Ich habe richtig viel Geld verdient. Meine Lesetouren waren großartig: Man feierte mich geradezu. Ich wurde berühmt, bekannt, war in den Medien allgegenwärtig. Und nein, es ist nicht so, dass alle meine weiteren Bücher ein Flop waren. Weit gefehlt! Es ist viel schlimmer: Es gab gar keine weiteren Bücher. Ich habe nicht nur eine Schreibblockade, ich bin die personifizierte Schreibblockade. Natürlich verfasse ich ab und zu eine Zeitungskolumne. Auf Anfrage schreibe ich auch mal eine Kurzgeschichte zu einem aktuellen Thema, wie zum Tag der Frau oder zum Valentinstag.

Aber ansonsten?

Funkstille!

Keine einzige Idee, die sich nicht schon nach einigen Kapiteln als unbrauchbar erweist.

Für einen Roman, der sich auch nur annähernd mit »Paris« vergleichen ließe – und das muss mein Anspruch sein –, fehlen mir Inspiration, eine zündende Idee, ein Konzept.

Somit bin ich eigentlich die beste Expertin für einen Vortrag über Schreibblockaden. Ich habe alles darüber gelesen, gefühlte tausend Tipps umgesetzt und ausprobiert, mir unzählige gebetene wie ungebetene Ratschläge angehört. Doch öffentlich rede ich sicher nicht über meine Probleme. Das ist mir peinlich.

Und ich denke, sobald ich darüber rede und erstmals in einer Zeitung die Schlagzeile steht: »Liz Lenzlinger hat eine Schreibblockade – war ›Paris‹ ihr erstes und letztes Buch?«, dann ist es definitiv so. Dann bin ich raus. Das wäre mein Ende.

 

2
Frauen-WG im Herrenhaus

»Guten Morgen, Liz. Kommst du frühstücken?«

Meine Freundin Karin winkt fröhlich aus dem Fenster. Sie hat fast immer gute Laune und lacht bereits am frühen Morgen. Ich schüttle mich kurz und atme tief durch.

Wahrscheinlich ist es gut, dass ich nicht allein lebe. Ich würde in Selbstmitleid oder Depressionen versinken ohne diese liebenswerten Menschen um mich herum. Manchmal fühle ich mich von ihnen eingeengt, aber das sind nur kurze Momente. Niemals träumte ich von einer WG, und als man mir diese riesige Wohnung hier im Haus Immenfeld anbot, war ich begeistert von so viel Freiraum. Der junge Besitzer verlangte nur einen lächerlichen Mietzins. Das sei seine Art von Kultur-Sponsoring, erklärte der großzügige Mann. Nach meiner Scheidung von Leo war ich in ein extrem winziges, möbliertes Studio in Brunnen gezogen. Karin nannte es einen bewohnbaren Schrank. Hier im Haus Immenfeld fühlte ich mich wie neugeboren: Platz ohne Ende, ein Gefühl von Freiheit, leere Räume, großer Garten. Mir war sofort klar: Hier würde ich durchatmen und neu starten können.

Allerdings merkte ich dann leider bald, dass große Räumlichkeiten nicht automatisch große Ideen auslösen. Und eines Tages stand meine Freundin da, mit Sack und Pack, mit ihrem kleinen Sohn Sven und dessen Hund Struppi. Hätte ich sie zu ihrem jähzornigen Ehemann zurückschicken sollen, der gerade mal wieder in einem unbändigen Wutanfall ihre Wohnung zerlegt hatte? Nein. Ich hatte mir schon lange Sorgen um Karin gemacht.

So entstand diese Wohngemeinschaft. Ungeplant. Provisorisch. Vorübergehend. Und daraus wurde dann ein äußerst gelungenes Wohnmodell, mit dem Segen unseres Vermieters.

»Hast du geweint?«, fragt Karin voller Mitgefühl, als ich mich zu ihr und Sven in die Küche setze. Sie streicht mir kurz übers Haar und stellt eine Tasse Kaffee vor mich hin. Ich winke ab, mag nicht darüber reden. Es gibt ja nichts Neues zu erzählen. Es ist das alte Lied.

»Hast du geweint?«, wiederholt der kleine Sven, der sich gerade sein Gesicht mit Nutella verschmiert hat und furchterregend aussieht, wie ein Krieger aus einer fernen Galaxie.

»Höchstens ganz kurz, nur so ein paar Tropfen«, erkläre ich, und ausnahmsweise lässt Sven mir diese Antwort kommentarlos durchgehen, wahrscheinlich weil er Hunger hat.

Karin schüttelt den Kopf und meint: »Du müsstest wirklich mal raus und weg. Hast du schon Bescheid bekommen? Du hattest dich doch für ein weiteres Atelierstipendium in Paris beworben?«

»Ja, sogar für eines in Berlin und für eines in London. Aber ich glaube, meine Chancen sind gering. Solche Stipendien gibt man doch nicht einer Bestsellerautorin. Damit unterstützt man junge Talente, aufstrebende Autoren.«

»Was ist auf… – äh – sterbend?«, fragt Sven neugierig. Er hat gerade eine Fragephase. Damit kann er uns alle verrückt machen. Jeder Frage folgt garantiert eine Folgefrage, wenn man nicht ganz vorsichtig antwortet.

»Aufstrebend, Sven, aufstrebend!«, korrigiere ich schon einmal.

Karin hilft mir dann: »Aufstrebende Autoren sind Schriftsteller, die gerade erste Erfolge haben. Nicht solche wie Liz, die schon richtige Stars sind.«

Ich bin ein Star?

Ich lächle.

Selbst in meinen erfolgreichsten Tagen, als der plötzliche Ruhm wie ein Rausch war, fühlte ich mich nie wie ein Star. Es kam mir viel mehr vor, als wäre Aschenbrödel plötzlich im falschen Film gelandet und als könnte jederzeit einer mit dem Finger auf mich zeigen und rufen: »Das ist eine Betrügerin!« Ich stand im Mittelpunkt des Interesses, saß in jeder Talkshow, war in jedem Magazin abgebildet. Sogar meine Scheidung wurde medial ausgeschlachtet, was mich zutiefst schockierte. Die Idee, fremde Menschen könnten sich für meine Eheprobleme interessieren, fand ich völlig grotesk. Plötzlich konnte ich nicht mehr steuern, wie viel über mein Privatleben an die Öffentlichkeit gelangte. Außerdem hatten auf einmal alle meine Aussagen Gewicht, und meine Meinung war gefragt, sogar zu politischen Themen, mit denen ich mich nicht einmal auseinandergesetzt hatte. Eine Partei wollte mich sogar auf ihre Wahlliste für den Kantonsrat setzen. Mich!?! Journalisten wollten wissen, wie ich Weihnachten feiere, wohin ich in den Urlaub fahre, was ich zum Muttertag zu sagen habe, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube. Alles, was ich auf Facebook schrieb, erschien in irgendeiner Zeitung.

Wenn man plötzlich berühmt ist, könnte man anfangen zu malen und fände sofort eine Galerie, die sogar das dilettantischste Geschmiere ausstellen würde. Sicher käme auch das Fernsehen an die Vernissage. Man könnte in Kochsendungen auftreten, als Ehrengast ein Velorennen starten, ein Schiff einweihen. Ein bekannter Name öffnet viele Türen. Man könnte das Aushängeschild für eine Diätfirma, Ehrenpräsidentin eines Frauenförderungsvereins werden, für eine Schokoladenfirma Werbung machen oder für eine Entwicklungshilfeorganisation um die Welt jetten. Plötzlich sitzt man in einem Wirtschaftsforum und redet über Erfolg oder in einem Forum für das Alter und diskutiert über das Älterwerden. Am Ende wurde ich sogar angefragt, ob ich meine kaputtgegangene Ehe in der Sendung »Club« zum Thema »Ist die Ehe ein Auslaufmodell?« vor laufender Kamera diskutieren wolle.

Zu viele offene Türen verursachen unangenehmen Durchzug. Sie verwirren, wie ein Labyrinth. Kein Wunder, heben so viele Stars ab und verlieren ihre Bodenhaftung. Ich habe volles Verständnis für die Michael Jacksons und Whitney Houstons dieser Welt, die an ihrem Ruhm zerbrechen.

Ich blieb am Boden. Zu lange war ich Lehrerin gewesen, nicht besonders glücklich zwar in einem Beruf, in den mich mein Vater, ebenfalls Lehrer, mit sanftem, aber bestimmtem Druck gedrängt hatte. Doch als der Rummel einsetzte, war ich alt und besonnen genug, ihn auszuhalten. Dass mein Erstling in siebzehn Sprachen übersetzt wurde – und spontan könnte ich diese siebzehn Sprachen wahrscheinlich nicht einmal aufzählen –, das war schon sehr ungewöhnlich für eine Schweizer Autorin. Ich habe mit »Paris« eines der erfolgreichsten Bücher der Schweiz überhaupt geschrieben. Jetzt aber, jetzt ist der Rummel vorbei, und mein Erfolg hängt wie eine übergroße, tonnenschwere Medaille um meinen Hals, drückt mich nieder, sodass ich kaum mehr atmen kann.

Und die Anrufe meines Verlegers werden immer ungeduldiger.

Irgendwann wird er mich aufgeben.

Irgendwann gebe ich mich selber auf.

Irgendwann bin ich vergessen.

John Irving, der nicht nur ein mit zahlreichen Preisen ausgezeichneter Bestsellerautor ist, sondern auch Ringer war, soll gesagt haben: »Schreiben ist wie Ringen. Man braucht Disziplin und Technik. Man muss auf die Geschichte zugehen wie auf einen Gegner.«

Ich liege mit schmerzverzerrtem Gesicht geschlagen im Ring. Dabei hatte ich tapfer gekämpft. Jetzt wälze ich mich auf dem Boden und bade in Selbstmitleid.

Auch Rilke schrieb zu diesem Thema: »Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?«

Hier liegt die Krux: Natürlich muss ich nicht schreiben. Aber ich will. Das Schreiben von »Paris« war beglückend. Es war eine befreiende, inspirierte, großartige Zeit. Dass die Leser meine Geschichte auch angenommen und mit mir gefühlt haben, von meinen Zeilen berührt wurden, das war überwältigend. Somit muss und will ich wieder schreiben können. Das ist mein Leben, meine Zukunft.

»Ich gehe jetzt runter«, sagt Karin nach einer Weile. »Sven nehme ich mit. Struppi auch.«

»Was ist heute los?«, frage ich.

»Du wirst es hören«, erklärt Karin und verdreht die Augen.

»Ach – hören?«

Im Erdgeschoss unseres Herrenhauses werden regelmäßig Seminare aller Art abgehalten. Diese zu betreuen, ist der neue Job von Karin. Gemeinsam mit dem jungen Herrenhausbesitzer, der ganz oben in der Dachwohnung lebt, organisiert sie die Seminare, kocht sogar für die Gäste.

»Ja, Trommelworkshop – es wird laut.«

Schon mischt sich Sven ein und fragt: »Mama, was ist ein Work… – äh – Dings?«

Karin lacht und meint: »Komm mit, dann kannst du es selber sehen.«

Die beiden ziehen ab, Struppi begleitet sie freudig.

Gut, dass Sven in einem Gastrobetrieb aufgewachsen ist. Er ist ein extrem pflegeleichter Junge. Karin führte mit ihrem Ex ein Hotel in Morschach, und Sven musste deshalb schnell lernen, sich auch mal allein zu beschäftigen. Das kann er tatsächlich. Und so hat Karin hier in »meinem« Herrenhaus eigentlich alles gefunden, was sie suchte.

Immenfeld heißt unser besonderer Wohnsitz. Im Internet lese ich dazu:

»Schlossähnliches Herrschaftshaus mit Kapelle, Hof- und Gartenanlage sowie Ökonomiegebäude. Als Riegelhaus 1637 erbaut. Mehrere Umbauten. Originelles Erkerpolygon über stuckiertem dreiarkadigem Vorzeichen; Wappenkartusche, wohl italienischer Meister; Täferzimmer mit Kassettendecke; zweigeschossiger Saal mit Barockstuckaturen.«

Ja, wo andere einfach Decken, Wände, Türen, Treppen haben, gibt es bei uns ein Erkerpolygon, eine Wappenkartusche und ein dreiarkadiges Vorzeichen …

Das historische Haus steht mitten im Grünen. Keine Nachbarn weit und breit, außer ein paar Eseln, zottelhaarigen Poitou-Eseln, um es genau zu nehmen. Sie stammen von Somali-Wildeseln aus Nordafrika ab und gehören dem Tierpark Goldau. Sie leben zusammen mit blauäugigen, weißen Barock-Eseln. Diese galten früher als Lichtbringer und standen für das Gute. Das unheimliche, krächzende Rufen der Tiere, manchmal mitten in der Nacht, muss man aushalten. Das Spital Schwyz liegt in Sichtweite. Dort denken Patienten manchmal, sie würden jetzt von bösen Geistern abgeholt, wenn sie die völlig fremden, irritierenden Geräusche hören.

Thomas Weber kann sich hier wirklich ausleben. Dieser Mann ist für uns alle ein Glückstreffer. Er ist nicht nur der jüngste Herrenhausbesitzer der Schweiz und ein cleverer Geschäftsmann, er ist auch ein großzügiger Sponsor und inzwischen sogar ein herzlicher Freund. Seine kleinen, feinen Helferpartys im Innenhof sind legendär. Da wird zuerst gemeinsam gearbeitet, geputzt, gemalt, Rasen gemäht, repariert. Das Fest macht anschließend die Nacht zum Tag. Es wird gesungen, getanzt, gelacht. Thomas hat ganz wunderbare Freunde. Ich schreibe Texte für ihn, manchmal formuliere ich schwierige Briefe, schreibe zurzeit auch einen kleinen Abriss der Geschichte des Hauses, der dereinst als Büchlein gedruckt werden soll, betreue seine Facebook-Seite und seine Website. So revanchiere ich mich für seine Gastfreundschaft.

O ja, es trommelt ohne Ende. Den ganzen Tag über klopft und klappert es. Drinnen und draußen wird getrommelt. Mein Schreibtisch vibriert. Eine Weile amüsiere ich mich. Mit etwas Fantasie katapultieren mich die Trommeln mitten hinein in den afrikanischen Dschungel. Herzige Äffchen turnen durch die Bäume im Park. Der Duft von exotischen Blumen und feuchter Erde steigt mir in die Nase. Bunte Vögel hocken auf dem Fenstersims und schauen neugierig zu mir ins Zimmer. Vielleicht sollte ich einen Afrika-Roman schreiben und heute und jetzt damit beginnen? Dann hätte ich den besten Soundtrack. Stattdessen fühle ich mich nach einer Weile belästigt, verfolgt, genervt. Ich muss hier raus und weg. Ich flüchte. Im Treppenhaus klettere ich über ein paar Trommeln und bin draußen, marschiere flotten Schrittes davon.

Unterwegs begegnet mir Jürg, der Postbote, und drückt mir ein Schreiben der Kulturkommission des Kantons Schwyz in die Hand.

»Endlich der verdiente Kulturpreis. Ich gratuliere«, witzelt Jürg, der natürlich den Absender angeschaut hat.

Diesen Preis habe ich längst bekommen, aber ich korrigiere ihn nicht, lache über seinen Scherz. Ungeduldig reiße ich den Umschlag auf. Es ist die Liste mit den Künstlern, die Auslandstipendien bekommen haben. Ich stehe nicht drauf. Ich wurde übergangen. Auf der Liste stehen Namen, die ich nicht einmal kenne, Leute, die nicht nur am Anfang stehen, sondern weit vor dem Anfang von irgendetwas. Gut, gut, ich weiß: Ich hatte auch erst einen Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen, als ich nach Paris gehen durfte.

Ich weiß.

Ich verstehe.

Und ich will es trotzdem nicht akzeptieren.

Ich beschließe, beim Chef der Kulturkommission des Kantons Schwyz vorbeizugehen. Sein Büro liegt auf der Strecke meines geplanten Spaziergangs. Baumeler soll mir in die Augen schauen müssen, wenn er mir erklärt, warum ich kein Atelierstipendium bekommen habe, obwohl ihm meine eingereichte Geschichte angeblich so ausgezeichnet gefallen hatte.