Fußnoten

1

W. B. Yeats Die Gedichte © Luchterhand, 2005

2

William Shakespeare Romeo und Julia. In der Übersetzung von Schlegel und Tieck © Severus Verlag, 2014

3

Kurt Vonnegut Schlachthof 5 oder Der Kinderkreuzzug © Rowohlt Verlag, 2010

 

 

 

In Liebe und Dankbarkeit für meine Eltern,

die mir nie ein Buch aus der Hand genommen haben.

 

 

 

Fort ging ich in den Haselwald,

Weil Feuer war in meinem Kopf.

 

– W. B. Yeats, »Das Lied des irrenden Aengus« [1]

1.

Althea Proserpine zieht ihre Tochter mit Märchen groß. Einst war sie ein Mädchen namens Anna Parks, das um die Mitte des Jahrhunderts mit Scharen anderer Träumer und einem Koffer voller Hoffnungen im Gepäck nach Manhattan kam. Dann verschwand sie. Als sie schließlich zurückkehrte, brachte sie es zu fragwürdigem Ruhm – schillernd auf eine Weise, düster auf andere. Nun ist sie abermals verschwunden, geflohen in ein turmbewehrtes Haus tief in dunklen Wäldern. Dort lebt sie mit ihrer fünfjährigen Tochter und ihrem Ehemann, einem leibhaftigen Adeligen – sie kommt von den Märchen einfach nicht los. Als ich sie am Telefon habe, ist ihre Stimme so verführerisch wie das berühmteste Foto, das es von ihr gibt – mit dem Ring und der Zigarette. Ich frage, ob ich vorbeikommen und persönlich mit ihr reden könne, und ihr Lachen gleicht heißem Whiskey auf Eis. »Du würdest dich auf der Suche nach mir verirren«, sagt sie. »Du bräuchtest Brotkrumen oder eine Spule Garn.«

 

»Die Königin des Hinterlands«, Vanity Fair, 1987

 

 

Meine Mutter ist mit Märchen großgezogen worden, aber ich bin auf Highways aufgewachsen. Meine früheste Erinnerung: der Geruch heißen Asphalts und der Anblick des Himmels durch das Schiebedach, als blauer Fluss, der über uns dahinjagt. Meine Mom meint, das sei unmöglich – unser Auto hat gar kein Schiebedach. Doch wenn ich die Augen schließe, kann ich alles genau so vor mir sehen, also halte ich daran fest.

Hunderte von Malen haben wir das Land durchquert, in unserer alten Klapperkiste, die nach Pommes, abgestandenem Kaffee und einem künstlichen Erdbeeraroma riecht, seit ich einmal meinen Tinkerbell-Lippenstift in die Lüftungsschlitze der Klimaanlage gestopft habe. Wir haben an so vielen verschiedenen Orten und bei so vielen unterschiedlichen Menschen übernachtet, dass ich nie wirklich gelernt habe, mich vor Fremden in Acht zu nehmen.

Deshalb bin ich im Alter von sechs Jahren in den alten blauen Buick eines rothaarigen Mannes gestiegen, den ich nie zuvor gesehen hatte, und ganze vierzehn Stunden bei ihm mitgefahren – mit zwei Toilettenpausen und einem Halt, um Pfannkuchen zu essen –, bevor die Polizei uns angehalten hat. Eine Kellnerin hatte mich auf die Beschreibung aus dem Radio hin erkannt und den Notruf gewählt.

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits dahintergekommen, dass der Mann nicht der war, der er zu sein behauptete: ein Freund meiner Großmutter Althea, der mich zu ihr bringen wollte. Schon damals lebte Althea zurückgezogen in ihrem großen Haus und ich hatte sie noch nie getroffen. Sie hatte keine Freunde, nur Fans, und meine Mutter erklärte mir, ein solcher Fan sei auch der Mann. Ein Fan, der mich dazu benutzen wollte, an meine Großmutter heranzukommen.

Nachdem feststand, dass ich unverletzt war, und nachdem die Polizei den rothaarigen Mann als Herumtreiber identifiziert hatte, der einige Meilen von unserer Unterkunft in Utah entfernt ein Auto gestohlen hatte, entschied meine Mutter, dass wir nie wieder über den Vorfall reden würden. Sie wollte nichts davon hören, wenn ich ihr erzählte, der Mann sei nett gewesen, habe mir Geschichten erzählt und ein warmes Lachen gehabt, das mich tief in meinem sechsjährigen Herzen hatte glauben lassen, er sei in Wirklichkeit mein Vater und gekommen, um mich zu sich zu holen. Durch einen Einwegspiegel hatte man ihr auf der Polizeiwache den rothaarigen Mann in Untersuchungshaft gezeigt, und sie schwor, ihn nie zuvor gesehen zu haben.

Ein paar Jahre lang hielt ich stur an der Überzeugung fest, er sei mein Dad. Und als wir Utah nach seiner Verhaftung verließen, um uns für ein paar Monate in einer Künstlerkommune außerhalb von Tempe einzuquartieren, hatte ich Sorge, er würde mich nicht wiederfinden können.

Das hat er auch nicht. Mit neun erkannte ich dann, was tatsächlich hinter meiner heimlichen Überzeugung steckte: ein kindlicher Wunschtraum. Ich packte ihn ordentlich weg wie all die anderen Dinge, die ich nicht mehr brauchte – alte Spielsachen, Einschlafrituale, zu klein gewordene Kleider. Meine Mom und ich lebten wie Vagabunden: Wir ließen uns an abenteuerlichen Orten nieder, blieben bei Freunden, bis deren Gastfreundschaft an den Ellenbogen durchgescheuert war, und zogen anschließend weiter. Wir konnten es uns weder leisten, nostalgisch zu werden, noch hatten wir je Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Bis zu jenem Jahr, in dem ich siebzehn wurde und Althea in Hazel Wood starb.

 

Als meine Mutter – Ella – den Brief bekam, überlief sie ein Schauder. Und das, noch bevor sie ihn geöffnet hatte. Der Umschlag war pastellgrün, bedruckt mit ihrem Namen und unserer derzeitigen Adresse. Wir waren erst am Vorabend angekommen, und ich fragte mich, wie der Brief uns gefunden hatte.

Meine Mutter nahm einen Brieföffner aus Elfenbein vom Tisch neben sich, denn die Leute, deren Wohnung wir gerade hüteten, fanden es anscheinend schick, sie mit Teilen ermordeter Elefanten zu dekorieren. Mit zitternden Händen schlitzte sie den Umschlag unsauber entlang der Kante auf. Ihr Nagellack war so rot, dass es aussah, als hätte sie sich dabei geschnitten.

Als sie den Brief auseinanderfaltete, ließ das Licht schwarze Textblöcke durch die Rückseite schimmern. Lesen konnte ich sie allerdings nicht.

Ella gab ein Geräusch von sich, das ich von ihr nicht kannte: ein kaum fassbares, schmerzerfülltes Keuchen, das meinen Atem stocken ließ. Sie hielt sich das Papier dicht vors Gesicht, was ihrer Haut einen blassen, selleriegrünen Teint verlieh, und ihre Lippen bewegten sich lautlos, während sie wieder und wieder die Worte las. Dann knüllte sie den Brief zusammen und warf ihn in den Müll.

In der Wohnung – einem beengten Apartment in der Upper West Side von New York, das nach teurer französischer Seife und nassem Yorkshire Terrier roch – durften wir eigentlich nicht rauchen. Trotzdem zog Ella jetzt eine Zigarette hervor und steckte sie sich mit einem antiken Kristallfeuerzeug an. Gierig sog sie den Rauch ein und trommelte mit den Fingern einer Hand gegen den schweren grünen Stein, der an einer Kette um ihren Hals lag.

»Meine Mutter ist tot«, stieß sie hervor, als sie das nächste Mal ausatmete, und hustete dann.

Die Neuigkeit traf mich wie eine Unterwasserbombe, die man nicht kommen sieht: ein plötzlicher Schlag in meinen Bauch, ein Schmerz, der immer weiter ausstrahlte. Doch es war schon lange her, dass ich meine Stunden damit zugebracht hatte, von Althea zu träumen. Die Nachricht hätte mir überhaupt nicht wehtun sollen.

Ella kauerte sich vor mich hin und legte mir ihre Hände auf die Knie. Ihre Augen glänzten, waren jedoch trocken. »Das ist nichts … Verzeih mir, aber das ist nichts Schlimmes. Wirklich nicht. Für uns könnten sich dadurch ein paar Dinge ändern, vielleicht …« Ihre Stimme brach, bevor sie zu Ende sprechen konnte. Sie legte den Kopf auf meine Knie und schluchzte einmal auf. Es war ein hoffnungsloser Laut, der anderswo hingehörte – nach draußen auf dunkle Straßen, wo es nach modrigen Blättern roch, und nicht in dieses hell erleuchtete Zimmer inmitten einer lauten, hellen Stadt.

Als ich ihren Scheitel küsste, roch ich billigen Tankstellenkaffee und den Rauch, der sich von ihrer Zigarette nach oben kräuselte. Sie atmete ein und wieder aus und sah hoch in mein Gesicht.

»Weißt du, was das für uns bedeutet?«

Ich starrte sie an und blickte dann in dem Zimmer umher, in dem wir saßen: prunkvoll und spießig. Das Zuhause fremder Leute. »Moment! Bedeutet das, wir erben Hazel Wood?«

Das Anwesen meiner Großmutter, das ich bisher nur auf Fotos gesehen hatte, fühlte sich an wie ein Ort, an den ich mich aus einer anderen, einer selbst ausgedachten Kindheit erinnerte. Einer Kindheit, in der ich auf Pferden geritten und ins Ferienlager gefahren war. Es war der Tagtraum, in den ich mich flüchtete, wann immer ich eine Pause brauchte von der endlosen Folge an Highways und neuen Schulen und dem Geruch fremder Häuser. In solchen Momenten versetzte ich mich in diese ferne Welt aus Springbrunnen und Hecken, aus Cocktailgläsern und Pools, deren Wasser so strahlend funkelte, dass man beim Hinsehen die Augen zusammenkneifen musste.

Da legten sich die knochigen Finger meiner Mutter um mein Handgelenk und zogen mich fort von den farbenprächtigen Rasenflächen Hazel Woods. »Gott, nein! Niemals. Es bedeutet, dass wir frei sind.«

»Frei wovon?«, fragte ich dumm, aber sie gab keine Antwort. Stattdessen stand sie auf, warf ihre halb gerauchte Zigarette in den Müll direkt auf den Brief und ging hoch aufgerichtet aus dem Zimmer, als hätte sie etwas Wichtiges zu tun.

Kaum war sie fort, schüttete ich kalten Kaffee auf das Feuer im Mülleimer und zog den nassen Brief wieder hervor. Teile davon waren bereits zu Asche zerfallen, doch ich strich die durchweichten Reste auf meinen Knien glatt. Die Schrift war so dicht und sonderbar gesetzt wie der Text in alten Telegrammen.

Der Brief wirkte nicht neu. Er roch sogar, als wäre er aus der Vergangenheit abgeschickt worden. Ich stellte mir vor, dass jemand ihn auf einer dieser alten Schreibmaschinen abgetippt hatte, wie sie auf der Postkarte mit Françoise Sagan zu sehen war, die ich mir – egal, wo wir übernachteten – über das Bett hängte. Ich atmete seinen Duft nach Asche und pudrigem Parfüm ein und überflog, was vom Text übrig war. Viel war es nicht: … sprechen wir Ihnen unser Beileid aus … und … kommen Sie, so schnell Sie es einrichten können.

Und dann noch ein einzelnes, einsames Wort inmitten eines Meeres aus angesengtem Papier: Alice. Mein Name. Was davor oder danach kam, konnte ich nicht entziffern und fand auch keinen weiteren Hinweis auf mich. Ich ließ den nassen Fetzen zurück in den Müll fallen.

2.

Bis Althea Proserpine (geborene Anna Parks) ganz allein auf dem prachtvollen Anwesen, das sie Hazel Wood getauft hatte, starb, waren meine Mutter und ich unser gesamtes Leben lang vom Unglück verfolgt gewesen. Wir zogen mindestens zweimal im Jahr um, manchmal häufiger, und doch fand uns das Unglück stets aufs Neue.

In Providence, wo meine Mutter Kunstunterricht für Senioren anbot, wurde in einer regenlosen Augustnacht das gesamte Erdgeschoss des Hauses, das wir gemietet hatten, überflutet. In Tacoma kroch eine Wildkatze durch ein Fenster unseres Trailers, pinkelte auf all unsere Sachen und fraß das letzte Stück meines Geburtstagskuchens.

In Los Angeles versuchten wir, ein ganzes Schuljahr in einem Gästehaus zu überstehen, das Ella von einer ernsten Hippiefrau mit Treuhandfonds gemietet hatte, als sich nach vier Monaten bei deren Ehemann Symptome chronischer Müdigkeit einstellten. Nachdem Ella ins Haupthaus gezogen war, um den beiden unter die Arme zu greifen, stürzte die Decke im großen Schlafzimmer ein und die Hippiefrau fiel beim Schlafwandeln in den Pool. Wir wollten nicht warten, bis es Tote gab, also zogen wir weiter.

Wenn wir unterwegs waren, behielt ich die Autos hinter uns immer mit Adleraugen im Blick, so als könnte das Unglück menschliche Gestalt annehmen und uns in einem Minivan verfolgen. Aber das Unglück war raffinierter. Es ließ sich nicht überlisten. Man konnte bloß weiterziehen, sobald es einen ins Visier genommen hatte.

Nach Altheas Tod zogen wir nicht mehr um. Ella überraschte mich mit dem Wohnungsschlüssel zu einem Apartment in Brooklyn und wir zogen mit unserem kümmerlichen Hausrat ein. Es vergingen Wochen, dann Monate. Ich war nach wie vor wachsam, doch unsere Koffer blieben unter dem Bett. Im Laufe des Tages nahm das Licht in unserer Wohnung sämtliche Farbnuancen von Metall an – ein gleißendes Platin am Morgen, Gold am Nachmittag und das Bronze vom Glanz der Straßenlaternen am Abend. Stundenlang konnte ich dabei zusehen, wie sich das Licht über unsere Wände ergoss und veränderte. Es war mein.

Trotzdem bemerkte ich weiterhin Schatten des Unglücks: eine Frau, die mir durch einen Secondhand-Buchladen folgte, mir etwas Unanständiges ins Ohr flüsterte und dabei das Handy aus der Tasche klaute; Straßenlaternen, die eine nach der anderen direkt über meinem Kopf erloschen, wenn ich nach Mitternacht die Straße entlangging; denselben Straßenmusiker, der eine Woche lang mit seiner Gitarre in jeder Bahn auftauchte, in die ich einstieg, und in seinem unheimlichen Tenor »Go Ask Alice« sang.

»Pah«, hatte Ella gesagt. »Das ist kein Unglück, das ist New York.«

Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich verändert. Sie rauchte weniger, nahm etwas an Gewicht zu und kaufte sich ein paar T-Shirts, die nicht schwarz waren.

Dann kamen wir eines Abends nach Hause in die Wohnung und fanden anstelle unserer Fensterscheiben glitzernde Scherbenhaufen vor. Ella presste die Lippen aufeinander und sah mich an. Ich machte mich schon auf den Abmarschbefehl gefasst, doch sie schüttelte nur den Kopf.

»New York.« Ihre Stimme klang bestimmt und unnachgiebig. »Kein Unglück mehr für uns, Alice. Hörst du? Das ist vorbei.«

Also ging ich auf eine öffentliche Schule. Ich hängte zu Weihnachten Lichterketten über den Kaminsims hinter unserem Bett und nahm einen Job in einem Café an, das nach Sonnenuntergang zu einer Bar wurde. Ella fing an, über Dinge zu reden, über die sie nie zuvor gesprochen hatte: unsere Wände zu streichen, ein neues Sofa zu kaufen. Collegebewerbungen.

Dieser letzte Punkt war es, der uns in Schwierigkeiten brachte – Ellas Traum von einem normalen Leben für mich, einem Leben mit Zukunft. Denn wenn man sein ganzes Leben auf der Flucht verbracht hat, wie lernt man dann, innezuhalten? Wie bekommt man heraus, wie man sein Haus aus Stroh in eines aus Backstein verwandeln kann?

Ella versuchte es so, wie wir es in Filmen gesehen hatten – in all den verlogenen Fernsehserien, die wir in Motelzimmern und gemieteten Bungalows geschaut hatten, in umgebauten Gartenhütten und Gästehäusern und einmal sogar in einem Studentenwohnheim.

Sie heiratete sich hoch.

 

Grelles Oktoberlicht stach mir in die Augen, als die Bahn über die Brücke nach Brooklyn ratterte. Mein Kopf war voll mit der scheiternden Ehe meiner Mutter und gefühlt hatte ich fünf gebrochene Zähne im Mund. Schon mein ganzes Leben lang kämpfte ich mit Aggressionen, gegen die Ella mit Meditations-CDs anging, mit billiger Reiki-Therapie, die sie sich mithilfe eines Buchs selbst beigebracht hatte, und mit einer Kieferschiene, die ich tragen sollte, jedoch nicht ausstehen konnte. Tagsüber verbiss ich mir jedes böse Wort über meinen Stiefvater. Nachts ließ ich meine Wut an meinen Zähnen aus.

Der Mann, den meine Mutter – keine vier Monate, nachdem er sie im Rahmen einer Abendveranstaltung, bei der sie Cocktails servierte, zum ersten Mal um eine Verabredung gebeten hatte – geheiratet hatte, bewohnte ein Apartment im zweithöchsten Stockwerk eines Gebäudes in einer Nebenstraße der Fifth Avenue. Er hieß Harold, war reich wie Krösus und hielt die Schriftstellerin Lorrie Moore für eine Wandfarbenmarke. Mehr musste man über Harold nicht wissen.

Ich war auf dem Weg zum Salty Dog, wo ich den ersten Job gefunden hatte, für den ich je lange genug am selben Ort gelebt hatte. Das Café gehörte einem Pärchen aus Reykjavík, das mich durch einen sechsstündigen Kaffeeverkostungsmarathon gejagt hatte, bevor ich auch nur die Kaffeemaschine sauber machen durfte. Für mich war es ein guter Job, denn ich konnte mich so viel einbringen, wie ich wollte. Ich konnte hart arbeiten, perfekten Kaffee zubereiten und zu allen Kunden, die durch die Tür kamen, freundlich sein. Oder ich konnte auf Autopilot schalten und mit niemandem reden und bekam dennoch kaum weniger Trinkgeld.

An jenem Tag verlor ich mich im behaglichen Rhythmus des Cafés, brühte Espresso und Filterkaffee auf, griff mit Silberzangen nach Scones und atmete den verbrannten Karamellduft der gemahlenen Bohnen ein.

»Guck jetzt nicht hin, aber der Typ mit dem Hut ist da«, flüsterte mir meine Kollegin Lana ins Ohr. Lana war angehende Keramikerin in ihrem zweiten Jahr am Pratt Institute, sah aus wie David Bowies noch attraktivere Schwester und trug abgrundtief hässliche Klamotten, die an ihr trotzdem gut aussahen. Diesmal steckte sie in einem viel zu weiten orangefarbenen Jumpsuit, der an das Outfit eines Guerillakämpfers erinnerte. Sie roch, wie Michelangelo gerochen haben musste – nach Gipsstaub und Schweiß. Auch das passte irgendwie gut zu ihr.

Bei dem Typen mit dem Hut handelte es sich um den Kunden, den wir am wenigsten leiden konnten. Lana tat, als sei sie vollauf damit beschäftigt, den Milchaufschäumer zu reinigen, sodass natürlich ich mich um ihn kümmern musste.

»Hey, Alice«, sagte er, wobei er eine Show daraus machte, mein Namensschild zu lesen, obwohl er jeden Tag vorbeikam. Er nickte im Takt zur Musik von T. Rex, die aus Lanas Handy ertönte. »Coole Beats. Sind das die Stone Roses?«

»Oh. Mein. Gott«, flüsterte Lana überdeutlich.

Er starrte volle zwei Minuten lang die Speisekarte an und trommelte dabei mit den Fingern auf die Theke. Ärger sammelte sich brodelnd unter meiner Haut, während ich wartete. Schließlich bestellte er das Gleiche wie immer. Ich stopfte seine Cantuccini in eine Tüte, reichte ihm eine Flasche Mineralwasser und stellte mich hinter die Kasse, um dem komplizierten Abklatschritual zu entgehen, das er mir bei meinen letzten fünf Schichten beizubringen versucht hatte.

Ich beobachtete, wie er davonging, und hasste seinen kurzen Stummelhals, die feinen blonden Haare auf seinen Armen und sein nervöses Fingerschnippen, das überhaupt nicht zum Takt der Musik passte. Mein Blutdruck rauschte nach oben, als er im Vorbeigehen eine sitzende Frau streifte und ihr dann entschuldigend die Hände auf die Schultern drückte.

»Gott, was für ein Arschloch«, sagte Lana in voller Lautstärke und sah zu, wie der Typ mit dem Hut auf dem Weg nach draußen mit der Tür kämpfte. Sie stieß mich mit der Hüfte an. »Alice, entspann dich. Du siehst aus, als würdest du ihn am liebsten erwürgen. Ist doch bloß die Hutablage.«

Mein Ärger ebbte ab und ließ brennende Scham zurück. »Ich hatte nicht vor …«, setzte ich an, doch Lana schnitt mir das Wort ab. Darin war sie immer gut.

»Hab ich dir schon erzählt, dass ich Christian nackt gesehen habe?« Sie stützte ihr Kinn in die Hände.

Christian war unser Boss. Er hatte eine zierliche, wunderhübsche Frau und ein riesiges, rotgesichtiges Baby, das aussah wie die Dämonen in Holzschnittbüchern. Ich suchte nach einem harmlosen Grund, aus dem Lana ihn unbekleidet gesehen haben könnte – vergeblich.

»Bist du … hast du ihn nackt gesehen, weil du mit ihm geschlafen hast?«

Sie lachte, als sei sie um ein Vielfaches weltgewandter als ich. Was natürlich stimmte, aber im Ernst: Fick dich, Lana. »Kannst du dir das vorstellen? Luisa würde ihr gruseliges Baby auf mich hetzen. Nein, er hat mich mit einer Skulptur der Familie beauftragt.«

»Nackt?«

»Jep«, sagte sie, verlor aber bereits das Interesse an ihrer Geschichte.

»Oh. War er … war es eklig?«

Sie zuckte mit den Schultern, längst wieder in ihr Handy vertieft.

Als Ella anfing, mit Harold auszugehen, kam mir die Idee, mich mit Lana anzufreunden, damit auch ich jemanden für mich hätte. Doch so richtig hatte das nicht funktioniert. Sie war eher auf Publikum als eine Freundin aus.

Ich schnappte mir einen Lappen und trat hinter der Theke hervor, um Geschirr abzuräumen, nur damit Lana zur Abwechslung einmal ein paar Getränke zubereiten musste. Während ich mich zwischen den Tischen hindurchschlängelte, überfiel mich dieses kribbelnde Gefühl zwischen den Schulterblättern, als würde ich beobachtet. Ich bin nicht Lana – ich ziehe selten Aufmerksamkeit auf mich – und stellte mich daher entsprechend ungeschickt an. Ich stieß eine Teetasse um, fluchte laut und wischte die Sauerei auf. Dabei nahm ich die Gäste genauer unter die Lupe.

An einem Tisch drängte sich eine Gruppe Frauen mit blitzenden Verlobungsringen um Tassen mit grünem Tee und einen einzelnen Kokos-Donut mit vier Gabeln. Zwei komplett gleich aussehende, bärtige Typen in karierten Hemden saßen an unterschiedlichen Tischen über identischen Laptops, ohne sich des jeweils anderen bewusst zu sein. Eine Frau versuchte, Jane Eyre zu lesen, und warf dabei immer wieder verstohlene Blicke zu der abgespannten Mutter am Nebentisch hinüber, deren Säugling in einem fort seinen Löffel auf den Tisch schlug. Und in der Nähe der Tür saß ein Mann mit Carhartt-Jacke und Sonnenbrille. Er trug trotz der Schwüle eine Mütze und nippte an einem Glas Wasser.

Dann passierten drei Dinge gleichzeitig: Lana ließ den Teller fallen, den sie in der Hand gehalten hatte, und er landete klirrend auf dem Boden; der Carhartt-Mann blickte über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg auf; und mich durchfuhr eine Schockwelle des Wiedererkennens, die mich wie Espenlaub erzittern ließ.

Wir starrten einander an – der Mann und ich –, und er sah, wie meine Erinnerung zurückkehrte. Als unsere Blicke sich trafen, fielen mir Dinge wieder ein, die ich längst vergessen hatte: Vor über zehn Jahren hatte sein Auto nach Weihnachtsbäumen gerochen. Er hatte Pfannkuchen und Eier bestellt, als wir zum Frühstücken angehalten hatten. Ich hatte einen lilafarbenen Pulli aus Cordsamt über einem gestreiften T-Shirt getragen, dazu Leggings und weiße Cowboystiefel mit silbernen Schnallen, auf die ich ungeheuer stolz gewesen war. Er hatte mir Geschichten erzählt, von denen ich einige gekannt hatte und andere nicht. Ich hatte nicht behalten können, wovon sie gehandelt hatten, aber ich erinnerte mich an das Gefühl, das sie mir vermittelt hatten: ein Gefühl, wie man es von guter Poesie bekommt, von echter Poesie, die einem den Nacken kribbeln lässt und Tränen in die Augen treibt.

Es war der Mann, der mich in seinem blauen Buick fortgestohlen hatte. Der Mann, den ich für meinen Vater gehalten hatte. Sein rotes Haar war unter der Mütze verborgen, aber ich erkannte seine blauen Augen wieder. Damals war ich klein gewesen und mir lediglich bewusst, dass es sich bei ihm um einen Erwachsenen handelte. Nun bemerkte ich, wie jung er war – er wirkte wie zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig. Seit ich ihn zuletzt gesehen hatte, waren elf Jahre vergangen, und trotzdem sah er haargenau so aus wie damals: absurd jung. Es war absurd. Und doch wusste ich mit absoluter Gewissheit, dass er es war und dass er meinetwegen hier war.

Während all das auf mich einstürzte, war er bereits aufgestanden. Er hatte sich sein Buch gegriffen und hielt mit großen Schritten auf den Ausgang zu. Und noch bevor die Glöckchen über der Tür des Cafés zu bimmeln aufhörten, setzte ich ihm auch schon nach. Dabei kam mir ein Laptopkabel in die Quere und beinahe hätte ich den dazugehörigen Computer vom Tisch gerissen. Doch bis ich mich entschuldigt und die Tür aufgestoßen hatte, war der Mann nicht mehr zu sehen. Ich suchte mit den Augen den ruhigen Gehsteig zu beiden Seiten ab, und meine Hände sehnten sich nach einer Zigarette, an der sie sich festhalten konnten. Meine Mom und ich hatten aufgehört zu rauchen, als wir bei Harold eingezogen waren.

Aber der Mann war verschwunden und nach ein paar Minuten ging ich wieder hinein.

Auf dem Tisch hatte er eine leere Tasse zurückgelassen. Eine zusammengeknüllte Serviette. Und eine Feder, einen Kamm und einen Knochen. Die Feder war dunkelgolden, mit einer feinen glasgrünen Spitze. Der Kamm bestand aus rotem Plastik. Der Knochen musste von einem Huhn stammen, doch er hatte die Form eines menschlichen Fingerknochens. Er war ausgeblichen und makellos sauber. Die drei Gegenstände waren wie eine Hieroglyphe angeordnet, ungefähr in Form des Pi-Zeichens, das sich mir ins Hirn brannte, während ich sie allesamt in meine Schürzentasche schob.

»Okay, was war das denn?« Ich hatte Lana noch nie so interessiert an mir erlebt. »Süße, deine … deine Lippen sind ganz weiß. Hat der Kerl dir was getan?«

Er hat mich entführt, als ich sechs war. Ich glaube, er ist vielleicht ein Time Lord. »Niemand. Ich meine, das war niemand. Ich habe mich getäuscht. Ich dachte, ich hätte ihn erkannt, aber ich habe mich geirrt.«

»Nee, klar. Nichts von dem, was du gerade gesagt hast, stimmt, aber wie du meinst. Du setzt dich jetzt einfach hier hin, ich bringe dir was zu essen, und du arbeitest erst weiter, wenn du nicht mehr so beschissen aussiehst. Allerdings muss ich in zwanzig Minuten los, also schaust du bis dahin hoffentlich wieder besser aus.«

Ich ließ mich mit wackeligen Knien auf einen Stuhl fallen. Eine der Verlobungsringdamen warf mir einen stirnrunzelnden Blick zu und klopfte mit den Knöcheln an ihre Tasse, als erwarte sie, ihr Getränk kostenlos nachgefüllt zu bekommen. Provozier mich ruhig, dachte ich. War jedoch zu schwach, um wütend zu werden.

Zu verängstigt. Nennen wir es ruhig beim Namen, Alice. Vielleicht hätte ich mir selbst einreden können, was ich so gern glauben wollte: dass ich den Mann nie zuvor getroffen hatte, er bloß ein wenig jemandem ähnelte, dem ich vor über zehn Jahren kurz begegnet war. Und vielleicht hätte ich ihn auch wieder ganz vergessen können – wäre da nicht das Buch gewesen, das ich in seinen Händen entdeckt hatte, als er aus der Tür gerauscht war.

Ich hatte das Buch seit Jahren nicht mehr gesehen, doch ein Blick auf das vertraute grüne Cover hatte mir genügt.

Er hatte die Märchen aus dem Hinterland gelesen. Natürlich. Was auch sonst.

3.

Mit zehn hatte ich das Buch zum ersten Mal gesehen. Es war klein genug, um in die Tasche zu passen, und hatte einen grünen Einband mit Goldprägung. Und unter dem sonderbaren Titel stand der Name meiner Großmutter, komplett in Versalien.

Schon damals war ich ein Mädchen, das die Rückseiten der Möbel nach verborgenen Türen abklopfte und jeder Sternschnuppe am Nachthimmel einen Wunsch hinterherschickte. Ein grün-goldenes Buch mit einem Märchentitel ganz hinten in einer Schublade einer ansonsten langweiligen Kommode zu entdecken, fand ich aufregend. Ich hatte auf dem Dachboden einer Familie herumgestöbert, bei der wir eine Zeit lang wohnten – ein steinreiches Ehepaar mit einem zweijährigen Sohn, das kein Problem damit hatte, ein Kindermädchen einzustellen, das mit im Haus lebte und selbst ein Kind mitbrachte. Die komplette erste Hälfte meines fünften Schuljahrs hatten wir – auf wundersame Weise ohne Zwischenfall – in ihrem Gästeschlafzimmer verbracht, bis der Ehemann Ella immer zugetaner wurde und sie die Reißleine zog.

Ich hatte mich im Schneidersitz auf dem schäbigen Flickenteppich niedergelassen, das Buch ehrfürchtig aufgeschlagen und war mit dem Finger das Inhaltsverzeichnis entlanggefahren. Natürlich war mir bewusst, dass meine Großmutter Schriftstellerin war, doch bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich recht wenig für sie interessiert. Ich wusste beinahe nichts über sie und hatte angenommen, sie schreibe trockenen Erwachsenenkram, den ich ohnehin nicht hätte lesen wollen. Das hier aber war eindeutig ein Buch mit lauter Geschichten, oder noch viel besser: ein Buch voller Märchen. Insgesamt waren es zwölf.

Die Tür, die keine war

Hansa, die Wanderin

Die Uhrwerkbraut

Jenny und die Nachtfrauen

Die gehäutete Jungfrau

Alice-mal-drei

Das Haus unter der Treppe

Ilsa wartet

Der Meereskeller

Die Mutter und der Dolch

Die doppeltote Katherine

Der Tod und das Waldweib

Natürlich hatte mein eigener Name mich direkt zu »Alice-mal-drei« blättern lassen. Die Seiten waren gewellt, als wären sie irgendwann einmal nass geworden, und sie rochen wie die faden lilafarbenen Bonbons, die meine Mutter so liebte und ich hasste. Ich erinnerte mich noch an den ersten Satz der Geschichte. Mehr hatte ich nicht lesen können, weil Ella – gewarnt von mütterlichem Instinkt – hereingestürmt war und mir das Buch aus den Händen gerissen hatte.

Als Alice geboren wurde, waren ihre Augen abgrundtief schwarz, und die Hebamme blieb nicht einmal lang genug, um sie zu waschen.

Das war so unheimlich, dass es mir das Herz zusammenzog und ich froh war, Ella zu sehen. Ich verstand nur nicht, warum ihre Augen so glänzten und warum sie so schwer atmete. »Das ist kein Buch für Kinder!«, rief sie in schrillem Ton.

Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte. Meine Mom sagte mir nie, dass ich für irgendetwas zu jung war. Als ich sie gefragt hatte, woher die Babys kämen, hatte sie mir in aller Anschaulichkeit und Ausführlichkeit geantwortet. Wann immer ihre Freundinnen versuchten, das Gesprächsthema zu wechseln, sobald ich ins Zimmer kam, tat Ella jegliche Bedenken mit einer Handbewegung ab. »Sie weiß ganz genau, was eine Überdosis ist«, sagte sie dann. »Unterschätzt sie nicht.« Danach tippte sie in den meisten Fällen gegen ihr Glas und schickte mich mit einem Kopfnicken in die Küche, wo ich ihr gehorsam einen perfekten Martini zubereitete.

Dass sie zum ersten Mal, solange ich mich erinnern konnte, die Alterskarte ausspielte, weckte in mir eine schreckliche, brennende Neugier. Ich musste dieses Buch lesen. Ich musste. Die Ausgabe vom Dachboden sah ich nie wieder, aber ich merkte mir den Titel und wartete auf die passende Gelegenheit. Ich suchte in Bibliotheken und Buchhandlungen nach dem Buch und in den Regalen sämtlicher Leute, bei denen wir übernachteten, fand es nur nie. Einmal tauchte es auf eBay auf – ich hatte Google Alerts so eingestellt, dass ich im Falle eines Falles eine Benachrichtigung per Mail erhielt –, doch die Gebote kletterten schnell über mein Budget hinaus.

Also verlegte ich mich stattdessen darauf, mehr über die Autorin herauszufinden. Und so begann meine Besessenheit mit meiner Großmutter, Althea Proserpine.

 

Lana ging, und ein Kerl namens Norm nahm ihren Platz hinter dem Tresen ein. Er erzählte mir während der nächsten drei Stunden von einem Treffen mit Lana, das ein Date gewesen sein könnte oder auch nicht – nicht, dass er sich darüber noch Gedanken machen würde, aber was ich denn davon hielte und ob sie ihn erwähnt hatte?

Meine Antworten waren unverbindlich, bis mir schließlich der Kragen platzte. »Mein Gott, Norm! Schau mal hier, das ist der ›Leb-dein-Leben-weiter-Tanz‹.« Ich imitierte einen fahrenden Zug. »So, kapiert? Lana hat deinen Namen in meiner Gegenwart buchstäblich kein einziges Mal in den Mund genommen.«

Seine verletzte Miene verschaffte mir einen Rausch düsterer Genugtuung. »Mann, Alice, das war jetzt echt eiskalt.« Er nahm seine Kappe ab, knickte den Schirm, sodass sie noch protziger aussah, und setzte sie sich wieder auf den Kopf.

Den Rest des Abends sprach er kein Wort mehr mit mir, und das gab mir Zeit, nachzudenken – Zeit, wieder und wieder im Kopf durchzuspielen, was ich gesehen hatte. Als meine Schicht zu Ende war und ich in die Nacht hinaustrat, fühlte ich mich schutzlos. Es war bereits dunkel, und die Häuser, an denen ich auf dem Weg zur Bahn vorüberkam, wirkten verschlossen und feindselig. Ich zuckte zurück, als ein Mann auf dem Gehsteig zu dicht an mir vorbeiging. Seine Haut roch verbrannt und seine Augen schienen in der Dunkelheit zu hell.

Er eilte weiter, ohne mich zu beachten, und ich kam mir paranoid vor. Überall hielt ich Ausschau nach jener Mütze und den blauen Augen. Nichts.

Eine Handvoll Leute wartete bereits auf die U-Bahn. Ich stellte mich nah genug zu einer Frau mit einem Baby im Buggy, sodass man hätte glauben können, wir gehörten zusammen. Sie sah mich nicht an, doch ich merkte, wie ihre Schultern sich strafften. Als der Zug kam, stieg ich ein und sprang im letzten Moment wieder nach draußen – ganz so, wie ich es in Filmen gesehen hatte.

Allerdings war der Bahnsteig nun noch leerer. Ich stöpselte mir einen Kopfhörer ins Ohr und öffnete die App mit dem weißen Rauschen, die Ella auf meinem Handy installiert hatte und die sie mich immer dann anzuhören zwang, wenn ich mich derart geladen oder angespannt fühlte.

Als der nächste Zug einfuhr, stürzte ich mich geradezu hinein. Die Szene aus dem Café lief noch immer wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab: das Klirren des Tellers, das Blau seiner Augen und wie er mit dem Buch in der Hand durch die Tür verschwunden war. Allerdings waren die Ecken und Kanten der Erinnerung schon etwas abgestoßen, und ich konnte spüren, wie sie mir zwischen den Fingern zerrann.

Mein Hals schmerzte, weil ich ihn ständig krampfhaft in alle Richtungen drehte. Die permanente Wachsamkeit wurde zu einem Pochen hinter meinen Augen. Als ein Typ mit einem Saxofonkoffer die Tür zwischen zwei Wagen aufstieß, entlud sich meine Panik in einer heißen, heftigen Explosion in meiner Brust.

Was, wenn es eine Erklärung gab für das faltenlose Gesicht des Mannes? Für meinen Eindruck, dass er um keinen Tag gealtert war? Botox, französische Feuchtigkeitscreme, eine optische Täuschung? Oder aber mein schwarzes Loch von einem Gehirn, das mir ein Bild aus der Vergangenheit über die Gegenwart gelegt hatte.

Und doch wäre er dann immer noch ein Mann, der ein Buch bei sich trug, das unmöglich aufzutreiben war. Der mir vor über zehn Jahren erzählt hatte, er kenne meine Großmutter und wolle mich zu ihr bringen. Was, wenn das die Wahrheit gewesen war? Wenn Ella sich getäuscht hatte und er gar kein Fremder war?

Oder was, wenn Ella gelogen hatte?

Nachdem ich jahrelang geglaubt hatte, die alte Besessenheit begraben zu haben, regte sie sich nun wieder. Als der Zug schließlich aus dem unterirdischen Tunnel hinausfuhr, rief ich auf meinem Handy einen alten Artikel über Althea auf. Er war einst mein Lieblingstext über sie gewesen, der längste, den ich hatte finden können. Ich besaß sogar eine Originalausgabe der Zeitschrift, in der er erschienen war. Ich hatte sie wie durch ein Wunder in einem Secondhand-Buchladen in Salem entdeckt: Vanity Fair, September 1987, mit einem sechsseitigen Feature über meine Großmutter auf ihrem neu erworbenen Anwesen Hazel Wood. Auf den Fotos ist sie so schlank wie die Zigarette, die sie raucht; sie trägt abgeschnittene Shorts und roten Lippenstift und einen Ausdruck im Gesicht, der Glas zerschneiden könnte. Meine Mutter drückt sich als verschwommene schwarzhaarige Gestalt an ihre Knie – ein unscharfer Schatten im Funkeln des Pools, neben dem sie stehen.

Der Text beginnt mit dem Satz: »Althea Proserpine zieht ihre Tochter mit Märchen groß.« Ein merkwürdiger Einstieg, zumal meine Mutter im restlichen Artikel kaum vorkommt, doch ich glaube, dem Journalisten gefiel die Doppeldeutigkeit: dass meine Mutter beim Aufwachsen Märchen hörte wie alle anderen Kinder und außerdem mit dem Geld aufgezogen wurde, das die Märchen einbrachten. Auch Altheas Anwesen Hazel Wood wurde mit Märchengeld bezahlt.

Bevor sie jedoch das seltsame, kurze Werk verfasste, mit dem sie sich einen Namen machen sollte, schrieb meine Großmutter für Frauenmagazine – damals, als es darin noch weniger um »20 sexy Verwendungsmöglichkeiten für Eiswürfel« ging, sondern eher darum, »wie Sie den Fleck aus dem weißen Hemd Ihres Mannes bekommen«.

Bis sie im Jahr 1966 eine Reise unternahm. Sie nennt keine Namen, doch sie knausert dem Reporter gegenüber auch nicht mit pikanten Details: Sie war mit einem älteren Mann unterwegs, dem verheirateten Herausgeber eines monatlich erscheinenden Männermagazins, und zusammen mit einer Gruppe anderer gelangweilter amerikanischer Touristen ließen sie sich ziellos durch Europa treiben. Nachdem sie neun Tage lang warmen Whiskey getrunken (den Eiswürfeln war damals nicht zu trauen) und Briefe an Freunde zu Hause geschrieben hatten, kam es zum Bruch zwischen ihr und dem verheirateten Mann. Sie setzte sich ab, um auf eigene Faust weiterzureisen. Und etwas passierte.

Sie sagt nicht genau, was es war. »Ich jagte einer neuartigen Geschichte durch eine sehr alte Tür hinterher«, erzählte sie dem Journalisten. »Und ich brauchte lange, um den Rückweg zu finden.« Kein weiteres Wort über das, was sie zwischen 1966 und 1969 getan hatte, während ihre Zimmerpflanzen verwelkten, ihr Job in die Binsen ging und ihr Leben in New York von Moos überwuchert und schließlich fortgeschwemmt wurde.

Als sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, hatte die Welt sie vergessen. Sie fühlte sich, so erklärte sie, »wie ein Geist, der das Museum meines alten Lebens durchstreifte«. (Sie redete wie eine Frau, die mit Büchern vertrauter war als mit Menschen.) Sie fand eine Bleibe bei einer Freundin, mit der sie früher aufs College gegangen war und die ein Zimmer frei hatte. Dort setzte sie sich hin und tippte zwölf Geschichten auf einer Schreibmaschine ab. Sie wurden zu einem Buch mit dem Titel Märchen aus dem Hinterland zusammengefasst und von einem winzigen, unabhängigen Verlag in Greenwich Village veröffentlicht, der sich auf Literatur von Frauen spezialisiert hatte, die niemand las.

Aus irgendeinem Grund aber wurde das Buch meiner Großmutter doch gelesen. Ihr hübsches Gesicht auf dem hinteren Umschlag wird dem Absatz nicht geschadet haben: die Augen auf gleicher Höhe, in Wirklichkeit blau, im Schwarz-Weiß-Druck ein blasses Grau. Eine Augenbraue zieht sie nach oben, ihre Lippen sind umrandet und leicht geöffnet. Sie trägt ein weißes Männerhemd, an dem ein Knopf zu viel offen steht, und einen schweren Onyxring am Zeigefinger ihrer rechten Hand. In der sie natürlich eine Zigarette hält.

Das Buch wurde in einigen kleineren Zeitschriften rezensiert und durch Mundpropaganda zur Sensation. Dann sicherte sich ein französischer Regisseur, der nach einem Stoff für seinen ersten amerikanischen Streifen suchte, die Filmrechte.

Es wurde ein anrüchiger Dreh, überschattet von prominenten Affären, beruflichem Gezänk und dem Verschwinden zweier Crewmitglieder im Rahmen von Vorfällen, die in keinerlei Zusammenhang miteinander standen. Der Film selbst jedoch war im Programmkino ein Hit. Er wurde umgeschrieben zu einem Psychodrama über eine Frau, die im Wald ohne jede Erinnerung an ihr früheres Leben wieder zu sich kommt. Die Geschichten meiner Großmutter entfalteten sich dabei als Traumsequenzen oder Rückblenden. Allen Besprechungen, die ich fand, zufolge hatte er nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner Vorlage.

Der Erfolg des Films, zum Teil befeuert durch die Skandale, führte zu mehreren kurzlebigen Bühnenproduktionen, einer Minifernsehserie, die nie ausgestrahlt wurde, und Altheas gescheitertem Engagement als TV-Consultant in Los Angeles. Als sie an die Ostküste zurückkam, kaufte sie Hazel Wood, das zu einem Spottpreis verscherbelt wurde, nachdem der letzte Besitzer unter fragwürdigen Umständen ums Leben gekommen war – bei einem Feuer, das Teile des Anwesens zerstört hatte.

Sie hatte im Laufe der Zeit ein paar Ehemänner aufgegabelt: der erste ein Schauspieler, den sie am Set des Films kennengelernt hatte. Er verließ für Althea seine Ehefrau und wurde in ihrem gemeinsamen Apartment in Greenwich Village von einem Junkie umgebracht, als Althea mit Ella schwanger war. Ihren zweiten Ehemann – einen ausgewanderten Nachkommen der griechischen Königsfamilie – traf sie in Los Angeles und nahm ihn mit nach Hazel Wood.

Somit könnte man tatsächlich sagen, dass meine Mutter teilweise mit Märchen großgezogen wurde. Doch auch der Tod spielte eine Rolle. Und Geld. Das Geld toter Ehemänner und außerdem Märchengeld. Genug davon musste in den Taschen meiner Mutter gelandet sein, um uns über Wasser zu halten, obwohl sie nur gelegentlich eine Anstellung fand und trotz all der Mietverträge, vor deren Auslaufen wir schon längst wieder das Weite gesucht hatten. Die Rastlosigkeit war ebenso ein Teil von uns wie das schrille Lachen meiner Mutter und mein aufbrausender Charakter. Wie unsere Unglückstage, die nach jedem Umzug abklangen und sich dann wieder einschlichen, ähnlich dem roten Staub an unseren Schuhsohlen.

Doch so schlimm es auch wurde – Hazel Wood blieben wir immer fern. Es war immer der Ort, an den Ella nie zurückkehren wollte. Sie kümmerte sich um mich, und ich kümmerte mich um sie – eine Art symbiotische, schwesterliche Beziehung, wie sie im Fernsehen anrührend wirkte, die sich allerdings verdammt kräftezehrend anfühlte, wenn man zum dritten Mal in einem Jahr umzog und nicht einmal eine Schlafzimmertür hatte, die man hinter sich zuschlagen konnte.

Als ich mich jetzt zum x-ten Mal in den Artikel über Althea vertiefte, nahm ich ihn anders wahr als all die Male zuvor. Einst hatte ich mir Althea als unnahbare, aber gütige Künstlerin vorgestellt – eine gute Fee, die aus der Ferne über mich wachte. Mein eifriges Kinderhirn strickte die Märchen, meine fremde Großmutter und das Rätsel um den Mann, der mich entführt hatte, zu einem Aberglauben zusammen, den ich niemals laut aussprach. Wann immer ich in einen Spiegel blickte, glaubte ich insgeheim, Althea könne mich sehen. Wenn ein Mann mich zu lange durchs Autofenster oder im Supermarkt beobachtete, sah ich in ihm keinen Perversling oder den ersten Vorboten eines bevorstehenden Unglücks, sondern einen Botschafter Altheas. Sie wachte über mich, und sie liebte mich, und eines Tages würde sie sich mir zeigen.

Nun aber las ich ihre Geschichte mit neuem Blick. Sie war keine faszinierende Märchenkönigin; sie war eine arrogante Fantastin. Die nicht ein einziges Mal – von meiner Geburt bis zu ihrem Tod – versucht hatte, Kontakt zu Ella aufzunehmen. Zu Ella, die mich mit neunzehn zur Welt gebracht hatte und für die ich seither der einzige Halt gewesen war.

Darüber berichtete der Artikel nämlich nichts. Nur Monate, nachdem er veröffentlicht worden war, hatte sich Altheas zweiter Ehemann in Hazel Wood das Leben genommen. Nach seinem Tod hatte Althea das Anwesen abgeriegelt. Sie und Ella hatten sich dort verschanzt, von Märchen und weiß Gott was noch gelebt, allein in der Gesellschaft der jeweils anderen. Ella weigerte sich strikt, über diese Zeit zu reden: jene vierzehn Jahre, die sie damit zugebracht hatte, an einem Ort herumzugeistern, der von der Welt abgeschnitten war. Sie war nicht einmal zur Schule gegangen. Wer mein Vater ist, wie und wo sie ihn getroffen hat – das war ein Geheimnis, das sie so tief vergraben hatte, dass ich es aufgab, danach zu fragen.

Mir schwirrte der Kopf, als ich unser Apartment erreichte.

Moment. Apartment – das vermittelt einen falschen Eindruck. Die … Suite? Nicht ganz, aber schon eher.

Harolds Zuhause roch dezent nach Putzmitteln, dem Parfüm meiner Stiefschwester Audrey und dem jeweiligen Essen, das Ella zuletzt bestellt hatte. Ich glaube, Harold hatte sich ursprünglich vorgestellt, sie würde allabendlich für ihn kochen, vielleicht nach Rezepten aus der verbeulten Blechschatulle, die er von seiner Mutter geerbt und in der Küche platziert hatte. In dieser Hinsicht aber wurde er enttäuscht: Ella und ich konnten wochenlang von Cornflakes und Popcorn und Asia-Nudeln leben.

Ich hörte das hitzige Raunen erhobener Stimmen vom anderen Ende des Flurs und folgte ihnen zu Ellas und Harolds geschlossener Schlafzimmertür.

»Du hast heute Abend nicht mich blamiert, du hast dich selbst blamiert.«

Harolds Worte klangen in einem Zischen aus. Anhand der Geräusche hinter der Tür konnte ich mir ein Bild verschaffen: Harold musste zu meiner Linken stehen, Ella dem leisen Rascheln nach auf dem Bett liegen.

Ich drückte meinen Rücken gegen die Wand neben ihrer Schlafzimmertür. Wenn er ihr auch nur ein Stück näher kommt.

»In deiner Freizeit kannst du rumlaufen wie ein Flittchen, aber heute Abend wollte ich dich als meine Frau präsentieren.« Frau brannte noch schlimmer als Flittchen, doch ich blieb still stehen und schluckte den kalten, metallischen Geschmack der Wut hinunter. Ella hatte mich wieder und wieder gebeten, ihr zu vertrauen. Geschworen, dass sie Harold im Griff habe. Ihn liebe. Dass sie nicht nur um meinetwillen bei ihm Sicherheit und Stabilität zu finden versuche.

Ihre Stille tönte lauter als Harolds Worte. Darin liegt ihre größte Stärke, auch wenn sie sie mir gegenüber nie einsetzte. Sie starrt einen an, während man bemüht ist, seine Gedanken zu ordnen, etwas zu sagen, das sie zu erreichen vermag – doch sie wird nie ihrerseits auf einen zugehen. Ich habe gesehen, wie sie allein mit ihrem Schweigen anderen Menschen Dinge entlockt hat: Geheimnisse. Geständnisse. Versprechen, uns noch einen Monat länger bleiben zu lassen. Sie setzt es ein wie eine Waffe.

»Ella.« Harolds Stimme klang plötzlich verzweifelt. Wider Willen durchfuhr mich Mitleid. »Ella, sag was, verdammt noch mal!« Ich hörte das Rascheln seiner Kleidung, als er sich quer durch das Zimmer zu meiner Mutter hinüberbewegte.

Ich wartete noch einen Herzschlag und Atemzug lang. Dann versuchte ich, die Tür aufzureißen.

Abgeschlossen.

»Mom! Was ist los?«

»Himmelherrgott, ist das schon wieder deine Tochter?«

»Mom.« Ich hämmerte mit der Hand gegen die Tür. »Lass mich rein.«

Stille, ein Knarzen, darauf Ellas Stimme ganz nah. »Alles in Ordnung, Baby. Geh ins Bett.«

»Mach die Tür auf!«

»Alice. Mir geht’s gut. Wir unterhalten uns nur. Du kannst mir helfen, indem du ins Bett gehst.«

Wut rauschte durch meine Adern. »Er hat dich ein Flittchen genannt. Mach die Tür auf!«

Harold riss sie auf, und ich stolperte zurück. Er sah zerzaust aus, war halb ausgezogen. Er hatte dunkle Schatten auf dem rasierten Kopf und seine Augen waren blutunterlaufen. Sie erinnerten mich an die von Captain Hook – schwermütig und kornblumenblau, mit einem roten Schleier, wenn er wütend war.

Neben ihm wirkte Ella in ihrem dunklen trägerlosen Etuikleid und mit der wilden Frisur wie eine schwarze Mohnblume. Ihr Kleid setzte geschickt das Tattoo in Szene, das sich ihren Arm hinauf und beinahe bis zum Hals wand: eine psychedelische Blume an einem dornigen Stängel, die die botanische Illustration einer Blüte hätte sein können, wie man sie auf dem Mars vermuten mochte. Ich selbst trug ein Spiegelbild davon auf der Haut – ein misslungenes Muttertagsgeschenk, das Ella zu meiner Bestürzung hasste.

Im Dämmerlicht des Flurs sah sie aus wie ein Raubtier und Harold wirkte wie die Beute. Meine Wut verebbte.

»Ich habe sie nicht als Flittchen bezeichnet. Ich habe nur gesagt …« Er fuhr sich mit der Hand über den gesenkten Kopf. »Diese Einladungen zum Abendessen sind wichtig. Dort kommen lauter potenzielle Kunden zusammen, die mitentscheiden über den weiteren Kurs – oh, um Himmels willen, warum versuche ich überhaupt, mit dir zu reden?«

Ella lehnte sich gegen den Türrahmen und musterte ihn kühl. »Das hier habe ich an dem Abend getragen, an dem wir uns kennengelernt haben. Weißt du noch?«

»Ja, als du Cocktails serviert hast. Vergiss es, ich werde nicht hier rumstehen und mich vor euch beiden rechtfertigen.« Harold funkelte mich zornig an. »Ich bin kein Monster, Alice. Warum siehst du mich immerzu an, als wäre ich ein gottverdammtes Monster?« Er wandte sich auf dem Absatz um und marschierte ins angeschlossene Badezimmer davon.

»Mom.«

Ella quittierte meinen Tonfall mit schief gelegtem Kopf, und für einen Moment sah es aus, als wolle sie nachfragen. Doch stattdessen seufzte sie, lang und schwer. »Geh ins Bett, Alice. Wir reden morgen früh, okay?«

Sie legte sanft ihre Stirn an meine und schloss dann die Tür zwischen uns.

Eine dichte Stille legte sich über mich. So klang das Leben an einem Ort, der vom Rest der Stadt abgeschottet war, in einer Blase des Reichtums.

Ich ging in die Küche und kam mir vor wie eine Diebin, als ich im Dunkeln die Schränke durchstöberte.

»Hör ich da ein Eichhörnchen, das nach Nüssen wühlt?«

Ich warf einen Blick auf die Tüte mit Pekannüssen in meiner Hand und schob sie leise zurück ins Regal. Audrey kontrollierte und kommentierte in einem fort, was andere Leute aßen, und ihre Stimme wurde schneidend, wenn es weniger war als das, was sie selbst zu sich nahm. Sie saß im unbeleuchteten Wohnzimmer, die dicken dunklen Haare zu einem losen Knoten gebunden, der gerade eben über die Sofalehne ragte. Sie wandte sich nicht um, als ich näher kam, doch ihr Körper verspannte sich.

Meine Stiefschwester war eine sexy Quasselstrippe mit kurviger Figur, neben der ich mir wie ein linkisches Stangenbrot vorkam. In abgeschnittenen Jogginghosen und einem Tanktop hatte sie es sich auf der Couch bequem gemacht, wie immer selbst zu Hause ein wenig zu freizügig. Über ihre Schulter sah ich zu, wie sie sich auf ihrem Laptop rastlos durch einen langen Feed mit Frauen in teuren Klamotten klickte und Dinge bestellte, die sie kaum wiedererkennen würde, wenn sie ankamen. Sie erinnerte mich an jemanden, der am Spielautomaten zockte.

»Gibst du wieder die Superheldin?«, fragte sie mit aufgesetzt fröhlicher Stimme. »Hast du deine Mom vor meinem bösen Dad gerettet?«

Ich ließ mich ihr gegenüber in den Sessel fallen. »Harold ist nicht interessant genug, um böse zu sein. Er hat einfach nicht das Zeug dazu.«

Das ließ sie aufschauen, die Augen blicklos vom weißen Licht des Bildschirms. »Du meinst, dass mein Dad nicht gut genug ist für deine Mom?« Sie sprach die letzten beiden Wörter aus, als wären sie etwas Unanständiges. »Ohne meinen Dad würdet ihr immer noch in eurem Auto hausen. Und Jeans von Walmart tragen.«

Ich war beeindruckt, dass sie Walmart kannte, und wütend auf mich selbst, dass ich ihr etwas Wahres erzählt hatte. »Hey, manchmal haben wir auch in Schuppen gelebt«, sagte ich. »Oder Trailern. Einmal sogar in einer Garage.«