Mami – 1920 – Kleine Pusteblume

Mami
– 1920–

Kleine Pusteblume

Trixi verzaubert die Herzen auf Schloss Derndorf

Susanne Svanberg

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-802-5

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»Ich erhielt soeben einen sehr unangenehmen Telefonanruf aus Peking«, teilte Hubertus von Berndorf seiner Frau mit.

Henriette, die vor seinem Schreibtisch stehengeblieben war, sah ihn verwundert an.

»So wichtig, daß ich meine Morgengymnastik unterbrechen mußte?« Normalerweise sah sich das Ehepaar nur zu den Mahlzeiten, die gemeinsam eingenommen wurden. Dabei sprachen die beiden gewöhnlich über belanglose Dinge.

Hubertus, der 58-jährige Chef des Hauses Berndorf, war ernst. Doch das war er eigentlich immer. Er war der Typ des seriösen Geschäftsmannes, der mit Fleiß und Geschick das Vermögen der Familie ständig vermehrte. Ihm gehörten auf der deutschen und der schweizerischen Seite des Bodensees zahlreiche Ländereien, Weinberge, Weinkellereien, Hotels und Geschäftshäuser.

»Es betrifft auch dich«, antwortete Hubertus mit seltsam weich klingender Stimme.

Da dies nicht zu ihm paßte, musterte Henriette ihren Ehemann aufmerksam. Eigentlich sah er aus wie immer. Er trug einen dunkelgrauen Anzug, Hemd und Krawatte, alles sehr korrekt. Sein dichtes graues Haar war glatt zurückgekämmt, sein markantes, etwas müde wirkendes Gesicht verriet keine Regung.

»Wieso?« Henriette von Berndorf hatte sich schon vor vielen Jahren damit abgefunden, daß es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Nach außen wahrten sie zwar den Schein, eine glückliche Ehe zu führen, doch in Wirklichkeit lebten sie in verschiedenen Welten.

Henriette kümmerte sich überwiegend um ihr Aussehen und die gesellschaftlichen Verpflichtungen. Sie war in dieser Hinsicht recht erfolgreich.

Mit 55 Jahren war sie noch immer schlank, wirkte jugendlich und sehr gepflegt. Sie kleidete sich modisch und verwendete sehr viel Zeit dafür, ausgefallene und für sie doch vorteilhaft wirkende Garderobe zu finden. Im Moment trug sie einen weißen Sportdreß mit Verzierungen in modischem Pink. Die passenden Gymnastikschuhe und ein Stirnband in derselben Farbe ergänzten ihr teenagerhaftes Outfit.

Hubertus hatte für solche Dinge keinen Blick. In seinen Augen waren sie reine Zeitverschwendung.

»Johannes ist verunglückt«, erklärte Hubertus, der kein Freund langer Umschweife war.

»Dein Bruder?« Die Nachricht interessierte Henriette nicht besonders, denn sie mochte den Schwager, der genau das Gegenteil ihres Mannes war, noch nie.

»Er und seine Frau sind zwanzig Kilometer südlich von Peking mit einer Privatmaschine abgestürzt.«

»Tot?« In Henriettes Stimme war keinerlei Mitgefühl.

Hubertus nickte bekümmert. »Beide. Auch der Pilot.«

Henriette zuckte die Achseln. »Bei dem bewegten Lebenswandel deines jüngeren Bruders war das zu erwarten. Für uns ist das ganz gut, denn er war absolut kein Renommee für unsere Familie. Ich habe schon immer befürchtet, daß jemand herausfindet, wer sich hinter dem Namen ›Jo Jelly‹ verbirgt.«

»Johannes liebte die Musik«, versuchte Hubertus den Nachkömmling seiner Familie zu rechtfertigen. »Daß er eine Band gründete und mit ihr durch die Welt reiste, ist doch nichts Anrüchiges.«

»Die Art von Musik, die er bevorzugte, war es schon«, widersprach Henriette, die beim Erscheinen von Jo Jellys erster CD darauf bestanden hatte, daß der Kontakt zu ihm abgebrochen wurde.

»Immerhin hat er damit eine Menge Geld verdient, und seine Platten werden mit Sicherheit weiterhin verkauft. Beatrix ist schon jetzt ein reiches Mädchen.«

»Ach ja, da ist ja noch seine kleine Tochter. War sie auch im Flugzeug?« Henriette hatte die Nichte noch nie gesehen und fand das ganz in Ordnung. Mit jemand, der durch die Welt tingelte, wollte sie nichts zu tun haben.

»Beatrix blieb in der Obhut ihres Kindermädchens im Hotel. Über sie möchte ich mit dir reden.« Hubertus sah seine Frau so streng und prüfend an wie jemand, dem er einen verantwortungsvollen Job zu übertragen gedachte.

Auf Henriette machte das keinen Eindruck. Das Gespräch begann sie bereits zu langweilen, denn sie würde all diese Informationen an niemand weitergeben können. Nervös sah sie zur Uhr.

»Ich bin in einer halben Stunde mit Frau Dr. Sander zum Tennis verabredet. Zuvor muß ich mich noch umziehen. Könnten wir nicht später…«

»Du wirst Frau Sander absagen müssen, denn ich möchte, daß du mich zum Flughafen nach Zürich begleitest. Dort kommt Beatrix in zwei Stunden an.«

»Heute?« Henriette zog die sorgfältig gezupften Augenbrauen hoch.

»Natürlich heute.« Hubertus war verärgert über die Reaktion seiner Frau.

»Und was haben wir damit zu tun?« fragte sie ohne Gefühl für die Stimmung.

»Das Kind braucht unsere Hilfe. Beatrix ist Vollwaise. Sie hat nur noch uns.« Für Hubertus war sofort klargewesen, daß er die Nichte in seine Familie aufnehmen würde.

»Du willst doch damit nicht sagen, daß wir uns künftig um das Mädchen kümmern?« Henriette tänzelte unruhig hin und her, denn die Vorstellung paßte ihr überhaupt nicht.

»Es ist unsere Pflicht«, entgegnete ihr Mann in jener ruhigen, besonnenen Art, in der er Geschäfte abzuschließen pflegte. »Außerdem wird es uns nicht schwerfallen, Bea­trix eine neue Heimat zu geben. Wir haben Platz und die finanziellen Mittel, dem Kind eine gute Ausbildung zu sichern.«

»Hast du nicht vor wenigen Minuten erwähnt, daß deine Nichte schon jetzt sehr vermögend ist? Suchen wir ein gutes Internat für sie aus, und die Sache ist erledigt.«

Hubertus atmete tief durch, denn er fand die Einstellung seiner Frau empörend. Allerdings vermied er es, ihr das zu sagen. Er haßte jeden Streit. Deshalb wurde er auch nie laut, sondern regelte jede Meinungsverschiedenheit sachlich.

»Das können wir uns einfach nicht erlauben. Begreifst du das nicht? Meine Familie hat immer verantwortungsbewußt gehandelt. Daran soll sich nichts ändern. Seit Raphael an der Sorbonne in Paris studiert, ist es ohnehin sehr ruhig bei uns. Findest du nicht?«

Raphael war der einzige Nachkomme des Paares.

Ein Sohn, auf den sie stolz sein konnten. Obwohl er überwiegend von Kindermädchen und Hauslehrern erzogen worden war, hatte er sich zu einem fröhlichen, sympathischen jungen Mann entwickelt. Er studierte Betriebswirtschaft und würde später den elterlichen Besitz verwalten. Doch das hatte keine Eile, also ließ sich Raphael Zeit.

»Dir muß es ruhig vorkommen, weil du dein Büro kaum verläßt und mich auch nie zu den Partys begleitest, zu denen wir eingeladen sind. Ich habe in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme. Mein Terminkalender ist randvoll.«

»Vergnügungen dieser Art sind doch nicht zu vergleichen mit der verantwortungsvollen Aufgabe, ein Kind großzuziehen«, rügte Hubertus etwas schulmeisterlich.

»Sie machen aber wesentlich mehr Spaß. Das wirst selbst du einsehen.« Henriette lachte kokett. Dabei legte sie den Kopf mit den vielen kleinen Engelslöckchen zurück und drehte sich wie eine Ballerina um die eigene Achse.

Hubertus war eine sehr geachtete Persönlichkeit, der überall Respekt entgegengebracht wurde. Niemand widersetzte sich ihm. Er erwartete, daß sich seine Frau ebenso verhielt.

»Ich wünsche keine fruchtlose Diskussion. Der Anlaß ist zu ernst. Wenn dich der Tod meines Bruders und meiner Schwägerin auch nicht berührt, das Schicksal des Kindes kann dir nicht gleichgültig sein. Es gehört zu unserer Familie, und wir sind verpflichtet, uns um Beatrix zu kümmern, sonst wird jedes soziale Engagement unseres Hauses unglaubwürdig.«

Wenn Henriette etwas interessierte, dann war es die öffentliche Meinung. Was die Leute von ihr dachten, war ihr ungeheuer wichtig. Sie versuchte deshalb stets, sich im besten Licht zu zeigen. Der elternlosen Nichte eine neue Heimat zu geben, war sicher etwas, das Eindruck auf ihre zahlreichen Bekannten machte. Deshalb überwandt Henriette ihre Abneigung gegen den Vorschlag ihres Mannes.

»Wie alt ist Beatrix eigentlich?«

»Fünf Jahre. Mehr weiß ich leider nicht über sie, aber das spielt auch keine Rolle.«

»Beim Lebenswandel ihrer Eltern dürfen wir uns auf einige Überraschungen gefaßt machen.« Henriette verdrehte vielsagend die dunkelumrandeten grauen Augen.

»Mein Bruder war der Sonnenschein der Familie. Er war ein fröhlicher Mensch, den alle gern mochten. Wenn Beatrix ihm nachschlägt, gibt es keine Probleme. Übrigens werden er und Brigitte in China beigesetzt. Das war ihr Wunsch.«

»Wenigstens das war eine vernünftige Entscheidung«, brummte Henriette, der es peinlich gewesen wäre, wenn die Verwandten im Familiengrab ihre letzte Ruhe gefunden hätten.

*

Für Beatrix war der Flug kurzweilig. Die Stewardessen der Lufthansa-Maschine, die sie in die Heimat zurückbrachte, verwöhnten sie mit allerlei Leckerbissen, mit einem Kinderprogramm auf dem Monitor der ›First Class‹ mit verschiedenen Spielen und Geschenken.

Der deutsche Botschafter selbst hatte ihnen das Kind in Peking übergeben und sie kurz über das traurige Schicksal der Kleinen informiert.

Für Beatrix war der Tod ihrer Eltern weniger tragisch, als allgemein angenommen wurde. Sie sah die vielbeschäftigten Eltern viel zu wenig, um ein inniges Verhältnis zu ihnen aufzubauen. Schon als Baby wurde sie von ständig wechselnden Kindermädchen betreut, die oft nur für die Dauer eines Tournee-Aufenthaltes für sie sorgten. In Peking war es Xi-Wang gewesen, eine junge chinesische Studentin, die auf Beatrix achtete. Von ihr hatte die Kleine gelernt, mit Stäbchen zu essen und freundlich zu lächeln, auch wenn sie traurig war.

An Deutschland hatte Beatrix keine Erinnerung, denn sie war erst wenige Monate alt gewesen, als ihre Eltern mit ihr auf Weltreise gingen. Verschiedenartige Einflüsse hatten das kleine Mädchen geprägt, dominierend aber waren seine Natürlichkeit und die kindliche Unbesorgtheit.

In Zürich verließ Beatrix an der Hand einer Stewardeß das Flugzeug. Sie hielt einen großen Pandabären aus weichem Stoff im Arm. Der deutsche Botschafter in Peking hatte ihr das Spielzeug geschenkt. Mit der Betriebsamkeit auf Flughäfen bestens vertraut, empfand Beatrix keinerlei Scheu oder Befangenheit.

»Wo treffen wir meinen Onkel?« fragte sie ihre Begleiterin, während sie durch einen langen Flur gingen. Vorbei an beleuchteten Reklametafeln und Hinweisschildern.

»In der Ankunftshalle. Freust du dich auf ihn?« Die junge Frau im dunkelblauen Kostüm beugte sich im Gehen zu Beatrix hinab.

Die Kleine zog die schmalen Schultern hoch. »Ich weiß nicht. Der Botschafter hat gesagt, er ist reich und sehr vornehm. Was ist das eigentlich?« Beatrix zog die Stupsnase kraus.

Um den Begriff ›vornehm‹ zu umschreiben, war keine Zeit, denn sie kamen eben an die Paßkontrolle. »Das wirst du rasch selbst feststellen«, antwortete die junge Frau deshalb.

»Kennst du meinen Onkel?« wollte die Kleine wissen. Sie war ein bißchen neugierig, denn sie hatte keine Vorstellung von ihren Verwandten. Lächelten sie so sanft und freundlich wie Xi-Wang oder trugen sie so farbenfrohe Gewänder wie die Leute in Indien?

»Nein. Aber sie werden dich erkennen.«

»Meinst du?« Beatrix hatte Zweifel. Sicherheitshalber faßte sie die Hand der Stewardeß fester. Sie drückte auch den Pandabären inniger an sich, denn nun fühlte sie sich doch sehr allein. Sie war zwar daran gewöhnt, daß ständig etwas Neues auf sie zukam, doch diesmal sollte es für immer sein. Wenigstens hatte das der Botschafter gesagt.

Ein bißchen ängstlich sah sich Beatrix um, als sie in die Ankunftshalle kamen. Viele Menschen waren da. Sie schoben Gepäckwagen, beladen mit Koffern und Rucksäcken. Manche begrüßten sich fröhlich. Doch wo waren Onkel und Tante? Beatrix stellte sich auf die Zehenspitzen, doch ihr Überblick wurde dadurch nicht besser. Wenn sich Beatrix so weit wie möglich streckte, erreichte sie mit dem Näschen die Oberkante eines Gepäckwagens, und das war nicht gerade überwältigend.

Auch ihre Begleiterin schaute sich suchend um. Sie entdeckte ein Paar, das zielstrebig auf sie zukam. Er war mittelgroß und kräftig. Verblüffend souverän schob er sich durch die Menge. Dieser Mann wirkte kalt und unnahbar, doch der Blick seiner grauen Augen war freundlich. Ganz anders die Dame an seiner Seite. Sie trug ein Frühjahrskostüm in so auffallendem Farbton, daß selbst Leute, die es sehr eilig hatten, ihr nachschauten. Die dazu passenden Schuhe hatten Absätze, auf denen sie sich nur mit raschen, trippelnden Schritten vorwärts bewegen konnte.

Die modisch gestylte Dame fiel nicht nur der Stewardeß auf, sondern auch dem kleinen Mädchen, das Henriette mit großen Augen musterte.