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Über das Buch

Zwei Wochen leben wie im Mittelalter! Der zwölfjährige Simon hat ein Ferienpraktikum am Toten Winkel ergattert. Bei dem Burgbauprojekt geht es zu wie vor 800 Jahren – vom Bänkelsänger bis zur Hirsegrütze. Doch was führt der nächtliche Wanderer im Schilde? Und wieso machen alle plötzlich Jagd auf Biber? Simon beschließt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Was in Leinenschurz und Ledersandalen nicht immer einfach ist …

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Inhalt

1. KAPITEL DER MORDVERSUCH

2. KAPITEL DIE BURGHERRIN

3. KAPITEL DIE BRAUSEBRÜDER

4. KAPITEL DIE KALTBLÜTER

5. KAPITEL DAS THERMOMETER

6. KAPITEL DER SUPERBARDE

7. KAPITEL DIE BIBERBEAUFTRAGTE

8. KAPITEL DIE TRULLAMARIE

9. KAPITEL DIE TULARÄMIE

10. KAPITEL DER PRÄSENTKORB

11. KAPITEL DIE KLOPAUSE

12. KAPITEL DIE ERPRESSUNG

13. KAPITEL DER SCHLACHTRUF

14. KAPITEL FRAU STRACKE

15. KAPITEL DIE PFEILSPITZEN

16. KAPITEL DER TRICK

17. KAPITEL DAS GEHEIMNIS

18. KAPITEL DAS WALDMEISTERDEBAKEL #1

19. KAPITEL DIE ABSCHUSSPRÄMIE

20. KAPITEL DIE PIZZA

21. KAPITEL DER BLÜMCHENSOCKENDRUCKVERBAND

22. KAPITEL DER DISCO-HIT

23. KAPITEL DAS WALDMEISTERDEBAKEL #2

24. KAPITEL DER SCHLUCKAUF

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Zuerst sah ich den Mönch mit dem Messer.

Dann den Biber. Es war mein erster lebendiger. Ich kannte die Tiere bisher nur von Bildern. Ich wusste, dass unten am Fluss welche lebten, denn ich hatte dort abgenagte Baumstämme entdeckt. Doch hier war nicht der Fluss. Der Biber saß gefangen in einem Käfig aus Weidenruten, auf halber Strecke zwischen unserem Hühnerstall und der Burg. Beziehungsweise der Baustelle, die Burg war ja noch lange nicht fertig.

Das Tier blickte mich aus dunklen Augen neugierig an. Es hockte auf den Hinterfüßen, in den Vorderpfoten hielt es eine Karotte und knabberte daran. Mit Zähnen, wie ich sie noch nie gesehen hatte: lang wie mein kleiner Finger, die Farbe von Karamellbonbons. Die Hauer wirkten bedrohlich, nicht nur für Karotten. Das Fell aber schien weich und kuschelig. Und es war sehr hell, fast wie Gold. Bestimmt eine Seltenheit. Von den Zähnen mal abgesehen, war das Kerlchen eigentlich ziemlich süß.

Der Mönch dagegen? Weniger süß. Seine braune Kutte spannte am Bauch, als hätte er sie zwei Nummern zu klein gekauft. Und mit seinen dicken Fingern hielt er ein Messer umklammert. Ein stattliches Exemplar von Messer, ungefähr so lang wie mein Unterarm.

Der Mann stand direkt vor dem Käfig auf dem vom Regen aufgeweichten Weg. Jemand hatte die tiefsten Pfützen mit Holzbrettern abgedeckt, die nun wie ein wackeliger Steg über das Gelände führten. Offenbar zu wackelig für den Mönch, jedenfalls stand er einfach daneben, wo seine Lederschlappen tief in die schlammige Erde sanken.

»Der Herrgott schickt dich zur rechten Zeit«, raunte der Klops in Kutte in meine Richtung. »Tritt näher, Jüngling! Wie nennt man dich?«

»Ich heiße Simon«, sagte ich und machte einen Schritt auf ihn zu, wobei ich versuchte, nicht von der Holzbohle zu rutschen.

»Mich ruft man Bruder Gulo«, raunte er weiter. »Simon, du sollst mein Gehilfe sein!«

»Gern, Bruder Gulo. Gehilfe wobei?«

Der Mann nuschelte etwas, das klang wie »beim Schlachten«.

»Wie bitte?«, fragte ich sicherheitshalber.

»Beim Schlachten«, wiederholte er und sah mir direkt ins Gesicht. Ich sah zu dem Biber, der ungerührt an seiner Karotte knabberte. Dann blickte ich wieder zu Gulo, der sich mit der Zunge über die Lippen leckte. Ich muss ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut haben. Beziehungsweise aus meinem kratzigen Leinenhemd.

»Heilige Mutter Gottes«, zischte Gulo nun schon etwas ungehalten. »So mach einfach den Käfig auf, mein Sohn, hol den Biber raus und halt ihn fest für mich!«

»Äh«, sagte ich.

Besser wäre gewesen: »Stopp! Ich bin doch kein Metzger!« Oder: »Biber stehen unter Naturschutz. Messer weg, du Spinner!«

Aber das fiel mir so spontan nicht ein – und selbst wenn: Ich war zwölf Jahre alt und wog knapp 40 Kilo. Gulo dagegen: drei Mal so alt, drei Mal so schwer. Und dann noch die Klinge. So viel zum Kräfteverhältnis.

»Haltet ein, Bruder«, bekam ich schließlich noch heraus. Klang leider etwas weniger bestimmt, als ich gehofft hatte. Denn Gulo fummelte bereits an der Klappe des Verschlags herum, das Messer unter den Arm geklemmt.

»Auch egal, ich schaff das alleine, möge der Herr dir vergeben«, brummte er. »Heute ess ich jedenfalls gedämpften Biberschwanz in Salbeibutter. Ich kann keine Hirsegrütze mehr sehen.«

Der Mönch öffnete schnaufend den Käfig und beugte sich hinunter. »Komm, mein Braten, leckerleckerlecker!«

Ja klar, ich hätte einschreiten müssen. Aber ich stand nur da, fassungslos. Wie gelähmt sah ich zu, als Gulo nach dem Biber grapschte und ihn aus seinem Gefängnis zerrte.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Die Klinge blitzte auf. Doch bevor der Mönch den tödlichen Stoß setzen konnte, entfuhr ihm ein markerschütternder Schrei. Das Messer fiel zu Boden und versank glucksend im Modder. Der Biber sprang von Gulos Arm und verschwand erstaunlich flink im nächstgelegenen Unterholz. Der Mönch hielt sich die linke Hand und krümmte sich.

»Beim heiligen Rochus, das Biest hat mich gebissen!«, schrie er.

Ich drehte mich weg, um mein Grinsen zu verbergen.

Ende gut, alles gut, dachte ich. Aber das war ein Irrtum. Wir waren längst nicht am Ende angekommen. Es war gerade einmal der Anfang einer sehr langen, sehr verrückten Geschichte.

Und nicht alles wurde gut.

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»Hiiilfe!« Gulo hüpfte im Matsch herum wie ein Känguru auf der Herdplatte. »Junge, tu was, ich verblute! Rette mich!«, schrie er und hielt sich die Hand, von der ein paar dunkelrote Tropfen auf seine braune Kutte fielen.

Doch noch bevor ich mir überlegen konnte, ob er vielleicht wirklich Hilfe brauchte, wurde ich unsanft beiseitegestoßen. Ich verlor das Gleichgewicht, rutschte mit einem Fuß vom nassen Holz und schlitterte im nächsten Augenblick in eine Schlammpfütze. Hinterteil voraus. Ich spürte, wie kaltes Wasser sich in meinen Kittel sog. Während ich mich wieder aufrappelte, hörte ich eine Frauenstimme. Sie klang ungehalten.

»Berichtet! Was hat sich hier zugetragen, Bruder Gulo?«

Ich sah auf. Es war die Bauleiterin und künftige Burgherrin am Toten Winkel, Julia von Ebersau. Ebers-Au, nicht Eber-Sau. Sie stand breitbeinig vor dem Mönch, in einem weinroten knielangen Gewand mit schmalem Pelzkragen. An ihrem Gürtel, der aus Silberdraht geflochten zu sein schien, hing ein kurzes Schwert. Die langen roten Haare waren unter einem ballonartigen Etwas verborgen, von dem, etwas matt, eine lange Feder hing. Die Füße der Frau steckten in einer Kruste aus glänzendem Schlick.

Also eigentlich steckten sie in Lederstiefeln. Von denen war aber nichts zu sehen, außer der dicken Dreckschicht, die daran klebte. Der Burgherrin erging es nicht besser als uns allen: Der Dauerregen hinterließ seine Spuren.

»Was hat sich hier zugetragen?«, wiederholte sie.

»Der verdammte Biber. Er hat mich gebissen«, stieß Gulo zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Der …?«

»Der verda… oh weh, ich meine, verzeiht. Nicht verdammt. Gottes Zorn soll mich treffen. Ich wollte nicht fluchen.«

»Schon gut.« Julia von Ebersau winkte ungeduldig ab. »Welcher Biber?«

»Na, den hatte ich gefangen und, na ja, ich dachte … also ich wollte …«

»Er wollte ihn schlachten und braten!«, hörte ich mich sagen.

Julia von Ebersau fuhr herum, und starrte mich an, als würde sie mich jetzt erst bemerken.

»Und du bist …?«

»Simon. Simon Schnirkel, ich mache ein Ferienpraktikum. Sie haben mich vor drei Tagen – «

»Ihr!«

»Ihr?«

»Das heißt, Ihr habt mich vor drei Tagen … auf der Baustelle herumgeführt, ich erinnere mich. Und was soll das bitte heißen, ›schlachten und braten‹? Stimmt das, Bruder Gulo?«

»Na ja … ich fand nur, weil … also ich bin die ewige Grütze leid. Und als mir der Biber in die Falle ging, dachte ich: Hier kommt deine willkommene Abwechslung zum Speiseplan. Und mit Gottes Segen.«

Die Burgherrin sah den Mönch an wie eine strenge Lehrerin den unartigen Schüler: »Bruder! Heute ist Freitag – ein Fastentag für jeden Mönch. Fleisch ist Euch heute nicht erlaubt, das wisst Ihr wohl.«

»Fürwahr, edle Herrin! Heute ist Freitag, ein Fastentag, der Herr sei gepriesen. Fleisch darf ich nicht verzehren, aber Fisch sehr wohl. Und der Biber ist ein Fisch, denn er hat doch Schuppen am Schwanz, wie ein jeder weiß! Die Regeln meines Klosters erlauben darum ausdrücklich, dass wir zur Fastenzeit Biber ver– «

»Wir sind hier aber nicht im Kloster«, unterbrach die Burgherrin den Mönch, der sich noch immer die verletzte Hand hielt, auch wenn er seinen Kängurutanz beendet hatte. »Und auch nicht im Mittelalter. Biber gelten heutzutage landläufig als Säugetiere, und geschützt sind sie obendrein.«

»Aber ich …«

»Du weißt, was ich meine, Gulo!«

Ich wusste auch, was Julia von Ebersau meinte. Wir waren nicht im Mittelalter, nicht wirklich jedenfalls. Das Mittelalter, das war vor 800 Jahren. Wir waren alle hier, um Mittelalter zu spielen. Oder nein, spielen trifft es nicht richtig. Wir waren hier, um Mittelalter zu leben. Die Baustelle am Toten Winkel war ein wissenschaftliches Projekt. Hier wurde eine Burg gebaut, aber mit der Technik und den Werkzeugen vergangener Jahrhunderte. ›Experimentelle Archäologie‹ heißt das. Damit lernen die Forscher eine Menge darüber, wie früher gearbeitet wurde, und können längst vergessenes Wissen wiederentdecken.

Was manchmal eine Weile dauert. Für den Burgbau waren insgesamt 25 Jahre eingeplant. Denn das Wiederentdecken ist in Wahrheit eher eine Art Rumprobieren. Bis es passt. Oder eben nicht.

Zum Beispiel hatte die Burgherrin mich an meinem ersten Tag zum Höhepunkt des Rundgangs auf den Burgturm geführt. Der ragte immerhin schon zehn Meter in die Höhe. Nur die Stufen der Wendeltreppe waren leider so schief wie die Zähne eines Grüffelos. Ich war froh, dass dem Turm das Dach fehlte, sodass ich im Zwielicht wenigstens halbwegs sehen konnte, wo ich hintrat.

Trotzdem bin ich einmal gestolpert und hätte Frau von Ebersau beinahe mit in die Tiefe gerissen, hätte sie nicht beide Hände fest links und rechts an die Wände gepresst, sodass ich von ihrem Körper aufgefangen wurde, wie eine Nudel im Sieb. Wie man im Mittelalter Wendeltreppen baute, das musste auf unserer Baustelle jedenfalls noch besser erforscht werden.

Das alles klingt vielleicht ein bisschen verrückt. Aber für mich ging hier ein Traum in Erfüllung! Ritter, Burgen, die Kreuzzüge, das Leben in den Klöstern? Superspannend! Und als ich davon hörte, dass es bei uns in der Nähe eine echte Burgbaustelle gibt und dass man da im Sommer so etwas wie ein Praktikum machen kann, stand meine Urlaubsplanung fest. Zwei Wochen Ferien am Toten Winkel, alle paar Tage eine andere Station: beim Töpfer, beim Schmied, beim Steinmetz.

»Verzeiht, gute Herrin von Ebersau, ich kann das alles erklären, so wahr mir Gott helfe!« Der Mönch riss mich aus meinen Gedanken.

»Nein danke«, sagte die Bauleiterin unwirsch. »Für so eine Aktion sollte ich dich eigentlich ins Burgverlies stecken. Dein Glück, dass es keines gibt.«

Das stimmte, unsere Burg hatte keinen Kerker. Darüber war ich bei meinem Rundgang am ersten Tag ein bisschen enttäuscht gewesen. Aber ich dachte mir nichts weiter dabei, wahrscheinlich hatte auch im Mittelalter nicht jede Burg ein unterirdisches Verlies.

»Ich bin nur froh«, fuhr Julia von Ebersau fort, »dass das Tier dir noch einmal von der Klinge gesprungen ist. Und jetzt geh, kümmere dich um deine Wunde … ach, nicht mehr nötig, Hilfe naht!«

In dem Moment sah ich eine weitere Gestalt auf uns zueilen. Oder besser: tänzeln. Die Frau war deutlich jünger als die Burgherrin und trug die Haare zu einem komplizierten Kranz geflochten. Sie hatte um den Hals und an dem Gürtel, der ihr bodenlanges, blassblaues Kleid umschlang, allerlei Beutel und Säckchen hängen, die im Takt ihrer Schritte auf und ab hüpften. Ich hatte die Frau noch nie gesehen.

»Deopaste, gut dass Ihr kommt«, begrüßte die Burgherrin sie.

»Ich vernahm Wehklagen, Herrin?« Flöt, flöt. Die Stimme der Frau schien mit ihren Schritten um die Wette zu tänzeln.

»Bruder Gulo wurde gebissen. Von einem Biber. Seht, was ihr für ihn tun könnt in eurer Weisheit.«

»Sehr wohl«, sagte die Paste.

Erst später bekam ich mit, dass ich den Namen falsch verstanden hatte und sie sich »Theophraste« nannte. Und in Wirklichkeit hieß sie sogar nur Tina. Sie hatte sich einen Künstlernamen zugelegt, wie fast alle hier. Nur Julia von Ebersau war echt.

Die Frau in Blassblau war unsere Baderin. Das war früher so eine Art Arzt fürs einfache Volk, das sich keinen richtigen Doktor leisten konnte. Also ungefähr 99,9 Prozent der Menschheit. Genau wie die Bader damals hatte Theophraste keine Ausbildung in Medizin. Allerdings wusste sie sehr viel über mittelalterliche Heilmethoden. Sie griff energisch nach Gulos Handgelenk, senkte den Kopf und blickte prüfend auf die Verletzung.

»Ich werde die Wunde mit einem glühenden Eisen ausbrennen«, sagte sie ernst.

Gulo stieß einen heiseren Schrei aus und riss seine Hand von ihr weg. Theophraste blickte auf, und nun sah ich deutlich, dass sie verschmitzt grinste. »Eine Salbe aus Schafskot wird vielleicht auch genügen«, lächelte sie.

»Nicht nötig«, stieß Gulo hervor. »Geht schon. Ein bisschen desinfizieren, Pflaster drauf, fertig.«

Der Blick der Bauleiterin? Irgendwo zwischen Voldemort und Darth Vader. »Bruder! Solange du hier unser Mönch bist und mir mit irgendwelchen Klosterbräuchen kommst, um einen Biber abstechen zu dürfen, so lange gibst du dich bitte in die Obhut unserer geneigten Baderin. Die wird schon das richtige Mittel finden, deine Wunde zu versorgen. Pflaster? Ich glaube, ich spinne!«

»Edle Dame, Ihr seid zu gut zu mir.« Theophraste machte einen Knicks. Dann wandte sie sich an den blutenden Gottesmann, der entschieden weniger angetan wirkte. »Bruder Gulo, kommt mit mir, wir wollen sehen, wie ich Euer Leiden lindern kann.« Sie nahm den dicken Mönch an der Hand, der unverletzten. Ihre Finger sahen schmal und durchscheinend aus wie die Porzellantassen meiner Oma. Doch dafür zog sie den Mann mit bemerkenswerter Kraft davon, einmal quer über den Bauplatz.

Wir sahen ihnen kurz nach, dann drehte sich Julia von Ebersau zu mir, hob die Augenbrauen und holte Luft, als wolle sie so etwas sagen wie »gute Mitarbeiter sind heute so schwer zu finden«, vielleicht auch »ich mag eigentlich auch keine Grütze«. Aber bevor sie ihren Satz beginnen konnte, hörten wir beide plötzlich ein Geräusch, das so gar nicht an den Toten Winkel passte, wo Hühner gackerten und die Glocke mit dumpfem Schlag zum Essen rief. Ein hohes Surren. Wie unser Pürierstab zu Hause, wenn ich Bananenmilch mache.

Wir blickten beide in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Auf dem Waldweg, der nach vielen Kurven und Windungen auf die Straße in Richtung Stadt führte, kamen drei Gestalten zwischen den Bäumen hervor. Die drei schienen über den Boden zu schweben. Dann sah ich, dass jeder von ihnen eine Lenkstange in den Händen hielt, die zu einem fahrbaren Untersatz gehörte: Drei Segways holperten auf dicken Reifen und in flottem Tempo über den aufgeweichten Waldboden. Die Fahrer der Elektromobile: zwei Männer und ein Junge, vielleicht zwei, drei Jahre älter als ich. Er stand betont lässig auf seinem Gefährt und trug einen pechschwarzen Helm, der von Regenwasser glänzte.

Die Bauleiterin ließ die ganze Luft wieder raus. »Oh Mann, die Rottens. Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt.«

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»Was ist hier los?«, fragte einer der beiden Männer barsch. Sie ähnelten sich wie Klonkrieger in Regenjacken. »Wir sind zwei Wochen im Urlaub, und hier säuft die ganze Baustelle ab?« Er klang ungehalten.

»Absaufen, genau«, meldete sich der andere zu Wort, wobei die Nordic-Walking-Stöcke, die ihm mit Schlaufen an den Handgelenken hingen, metallisch klimperten. Wozu er beim Segway-Fahren Wanderstöcke brauchte, leuchtete mir nicht ganz ein. »Das trifft es genau, das hätte ich jetzt nicht besser sagen können. Und eines möchte ich hier auch gleich klarstellen, aber das ist jetzt vielleicht für Sie gar nicht so interessant, Frau von Ebersau, jedenfalls war das heute das letzte Mal, dass ich mit diesem Elektrodingsbums anreise. Der Waldweg ist ja so gut wie unpassierbar geworden. Wie sagt man so schön? Steter Tropfen höhlt die Forststraßen, nicht wahr? Aber ich bin kein Schlammcatcher und – «

»Meine Herren, machen Sie sich keine Sorgen um unser Vorhaben.« Julia von Ebersau unterbrach den Redefluss des Mannes. Sein Glück, sonst wäre der wahrscheinlich nie zum Luft holen gekommen. »Die Steinfundamente können einiges aushalten. Schwierigkeiten haben wir momentan nur in der Tongrube, die vollgelaufen ist. Und mit der Stimmung im Team, klar. Aber der Regen kann ja nicht ewig andauern. Außerdem hat unser Töpfer gerade gestern die erste Ladung Rohre gebrannt. Ab morgen fangen wir an, damit ein Abflusssystem zu bauen!«

Ich war der Burgherrin einfach hinterhergedackelt. Nachdem sie die Gestalten erkannt hatte, hatte sie sich das Wams glatt gestrichen, das Schwert gerichtet und war den dreien festen Schrittes entgegengelaufen.

Die Rottens. Natürlich kannte ich den Namen. Rotten – so hieß ja meine Lieblings-Limonade. Also, nicht einfach »Rotten«, sondern »Rotten-Limo«. Am besten fand ich den Raubritter-Trunk mit Johannisbeergeschmack. Die Werbeplakate dafür hingen an dem Wildzaun aus Weidengeflecht, der das Baugelände umgab: »Toter Winkel: Das Mittelalter – erweckt von Rotten-Limo!« Und jeden Tag, wenn die Glocke den Feierabend einläutete, wurde Limo satt herumgereicht. Dann durften wir uns sozusagen eine kleine Pause vom Mittelalter gönnen.

Die Bosse der Firma, die das ganze Projekt hier mit ihren Geldspenden am Laufen hielt, hatte ich bisher nur auf den Plakaten gesehen. Von denen grinsten sie als Scherenschnitte herunter, das Ganze war unterschrieben von: »Eure Durstlöscher Cay und Christian«.

Jetzt stand ich den Zwillingen zum ersten Mal gegenüber. Beide trugen das Haar fast schulterlang und waren stoppelig unrasiert. In ihren groben Jacken und derben Schuhen sahen sie beneidenswert wetterfest aus. So stellte ich mir Förster oder Jäger vor. Allerdings schienen mir die Klamotten nagelneu zu sein. Ich fragte mich, ob die Rottens sie extra für diesen Besuch gekauft hatten. Irgendwie kamen sie mir verkleidet vor. Was auch nicht recht passte: Ihre Fingernägel schimmerten, als seien sie gerade im Kosmetikstudio poliert worden. Überhaupt sahen ihre Hände aus, als würden sie hauptsächlich zum Verträgeunterschreiben und Geldzählen benutzt. Gewiss nicht fürs Holzhacken, Wildschweinehäuten oder gar Burgbauen.

Äußerlich ähnelten sich die Rottenbrüder, wie gesagt, sehr. Zwillinge eben. Doch wie ich bald feststellen sollte, konnte man sie gut auseinanderhalten – sobald sie den Mund aufmachten. Christian quatschte, Cay machte keine Umschweife. Der brachte alles sofort auf den Punkt. Christian mehr so: Komma, Komma, Komma.

Und dann war da der Dritte im Bunde. Der Junge, der von seinem Elektromobil noch immer nicht abgestiegen war. Wahrscheinlich, um sich seine blitzsauberen, knallbunten und wahrscheinlich auch ziemlich teuren Sneaker nicht einzusauen. Er spielte betont gelangweilt auf seinem Handy herum und sah nur ab und zu auf, um einen unmissverständlichen Blick über seine Umwelt und Mitmenschen schweifen zu lassen. Der Blick sagte: »Oh Gott, so etwas Peinliches habe ich noch nie gesehen!«

»Wir drücken Ihnen die Daumen«, unterbrach Cay Rotten meine Gedanken. »Und uns. Jede Verzögerung kostet schließlich Geld. Unser Geld.«

»Und wie Sie ja wissen«, meldete sich Christian, »soll in wenigen Wochen die Baustelle für das Publikum öffnen. Tolle Sache, aber wie soll das gehen? Sollen die Besucher etwa schwimmen? Tja, wie sagt man so schön? Das Wasser steht uns bis zum Halse! An den Burgturm kommt man bald nur noch per Boot, wenn ich das richtig beobachtet habe.«

Das war zwar etwas übertrieben, aber tatsächlich war die Baustelle regelrecht überflutet.

»Wie gesagt«, erwiderte die Bauleiterin unbeeindruckt. »Es gibt keinen Grund zur Sorge, wir haben das hier im Griff. Der Plan für die Rohre ist ausgearbeitet, das Wasser wird zum Fluss abgeleitet.«

Christian Rotten pfriemelte umständlich seine Hände aus den Schlaufen der Walking-Stöcke, die er nun etwas halbherzig in den Schlamm stieß. »Nun, liebe Frau von Ebersau, ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun, denn ich …«

Er brach mitten im Satz ab. »Bitte nicht!«, stöhnte er und starrte an Julia von Ebersau vorbei. Ich drehte mich um.

Aus der Ferne stakste langbeinig ein Mann in Leggings heran. Truschel von Nachtigall, unser Barde und Bänkelsänger. Außerdem mein Praktikumsbetreuer. Wie immer schleppte er einen Holzschemel mit. Seine Laute, eine Art mittelalterliche Gitarre, baumelte an einem Gurt um seinen Hals, und bei jedem Schritt schepperten die verstimmten Saiten. Er steuerte direkt auf uns zu.

»Frau von Ebersau«, räusperte sich Christian Rotten. »Das Instrument Ihres Sängers. Hat sich das eigentlich mal ein Fachmann angesehen? Ich erinnere mich, beim letzten Mal gab es große Probleme mit der Intonation. Die, äh … Musik klang außergewöhnlich schief.«

»Da kann man leider im Moment wenig machen, das ist wetterbedingt«, sagte die Bauleiterin. »Mit dem vielen Regen quillt das Holz auf, und die Saiten verziehen sich schneller als man ›Burgbaustelle‹ sagen kann.«

Rotten fummelte sich hektisch seine Stöcke wieder an die Handgelenke.

»Wir sind wirklich sehr in Eile. Frau von Ebersau, wir sollten bitte rasch unsere Besprechung beenden, bevor die Darbietung beginnt!«, sagte er.

Aber da hatte Truschel uns schon erreicht. Er stellte seinen Schemel ab und stieg hinauf, wobei das Teil mit einem Glucksen um einige Zentimeter in den Matsch einsank.

Christian Rotten versuchte noch einmal, ihn zu stoppen: »Ähem, entschuldigen Sie bitte, Herr Barde, wir haben hier eine wichtige dienstliche Besprechung. Wir müssen darum ihren Vortrag aus organisatorischen Gründen für einige Minuten zurückstellen.«

Aber Truschel ignorierte ihn. Mit einer geübten Handbewegung strich er sich die langen, welligen Haare aus dem Gesicht und schlug einen Akkord. Oder eher: einen blechernen Missklang. Der Sänger hüstelte theatralisch, dann holte er tief Luft. »Miiiiiiie!«, knödelte es fiepsig aus seiner Kehle. Er räusperte sich erneut, und sang, nun etwas lauter, »Mimimimimi!«.

Christian Rotten seufzte leise. »Also gut, beginnen Sie einfach. Bringen wir es hinter uns.«

Truschel nickte ihm zu und stimmte mit dünner Tenorstimme sein Abendlied an:

Hört ihr Leute, lasst euch sagen:

Die Uhr hat sechsmal nun geschlagen!

Akkordwechsel.

Der Hunger soll euch nicht mehr plagen,

Füllt Hirsegrütze erst den Magen.

Truschel blickte zu uns hinunter, als erwarte er Applaus für seine Darbietung.

»Sehr hübsch«, presste Christian Rotten hervor. »Immerhin ein recht kurzes Werk.«

Der Barde verneigte sich lächelnd, schnappte seinen Schemel und ging davon.

»Was ist jetzt mit dem Wasser?«, wollte Cay Rotten wissen.

Julia von Ebersau verzog das Gesicht zu einem gezwungenen Lächeln. »Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen gern die Pläne für unsere Entwässerung.«

»Nicht nötig«, sagte Christian Rotten. »Schicken Sie uns die Pläne doch bitte per Mail. Wir sollten zurückfahren, bevor die Strecke hier komplett unpassierbar wird. Ich hatte ja noch eine Runde Nordic Walking im Wald machen wollen, aber das muss heute wohl ausfallen. Bei dieser Witterung!«

»Per Mail geht nicht«, sagte die Bauleiterin trocken.