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Über das Buch

»Wir haben das nicht gewollt. Wir wollten nur so eine Art Gerechtigkeit und dann ist die ganze Geschichte völlig außer Kontrolle geraten.«

Wohin nur mit der Wut im Bauch? Als eine Nachbarin sie ungerechterweise und mit verheerenden Folgen anschwärzt, ist für Koko, Tomi, Betty, Scholle und Spargel klar: Das kann nicht ungestraft bleiben! Und so beschließen sie, den geistig behinderten Sohn der Nachbarin einen Nachmittag lang in einem Schacht am Bahndamm festzuhalten – in der Absicht, ihn vor Einbruch der Dunkelheit wieder nach Hause zu bringen. Was zunächst wie ein guter Plan erscheint, gerät jedoch sehr bald außer Kontrolle …

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Anhang

Über den Autor

Kapitel 1

Schon mal eine Leiche gesehen? Ist ziemlich fies. Vor allem, wenn sie nicht mehr vollständig ist. Na ja, wenn ich ehrlich bin, war die Leiche zugedeckt. Man hat gar nichts so richtig erkennen können. Nur die Umrisse des Körpers unter der Plane und einen Turnschuh, der ein Stück abseits lag, als würde er nicht dazugehören wollen, als würde er sich schämen.

Ich bildete mir ein, in dem Schuh würde noch ein Stück vom Fuß stecken, weil etwas Blut dran klebte, aber das war Quatsch. Es war einfach nur ein leerer Schuh, der gewaltsam vom Fuß gerissen worden war. Wirkte irgendwie traurig, dieser einsame Schuh.

Die Polizisten, Sanitäter und ein paar Erwachsene aus der Siedlung schickten uns weg. Schade. So oft bekamen wir eine Leiche ja nun auch nicht zu sehen.

»Wieder einer«, hörte ich einen der Polizisten sagen.

Koko und ich sahen uns wissend an. Ja, wieder einer. Der Bahndamm hinter unserer Siedlung war beliebt bei Selbstmördern. Die sprangen dann hinter den Brückenpfeilern hervor, direkt auf die Schienen, als würden sie den Zug erschrecken wollen.

Scholle versuchte mit seinem Handy ein Foto von der zugedeckten Leiche zu machen, aber einer der Sanitäter schrie uns an, wir sollten endlich verschwinden. Na gut, taten wir dann auch. Der nächste Selbstmörder würde sowieso nicht lange auf sich warten lassen.

Es war nicht so, dass wir auf den Tod lauerten wie die Geier. Das ergab sich einfach so. Und bei uns war eben zu wenig los, als dass wir so eine Gelegenheit nicht wahrgenommen hätten. In der letzten Zeit ertrugen scheinbar immer weniger Leute ihr Dasein. Voller Hoffnung waren sie gestartet, mit der Aussicht auf eine strahlende Zukunft. Mit Häusern, tollen Jobs, liebevollen Partnern, Autos, Kindern, Antiquitäten, teuren Küchenmaschinen und so weiter. Und dann wurde nichts daraus. Sie schafften es nicht, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Und das machte sie fertig. Warum muss man anfangen zu grübeln, wenn man älter wird. Ist das so eine Art Naturgesetz? Und macht das irgendetwas besser? Ich glaube, die meisten vergessen irgendwie, dass sie mal jung waren, so als wäre das nur eine peinliche Episode ihres Lebens. Ich war dreizehn und nahm mir vor, niemals so zu werden.

Wir kletterten den Bahndamm hoch, über die Garagendächer und sprangen runter auf den Asphalt.

»Schon traurig«, sagte Tomislav, den wir Tomi nannten, manchmal auch Balkanese, weil seine Eltern vom Balkan kamen. Tomi allerdings war hier geboren.

»Ach komm«, sagte Koko spitz. »Du hast den doch gar nicht gekannt. Du weißt gar nicht, was für ein Mensch das war. Jetzt tu doch nicht so.«

Tomi lächelte breit. »Es könnte ja auch mal jemand aus der Siedlung sein.«

»Ach, Quatsch«, meinte Koko. »Bei uns bringt man sich höchstens durch Suff um.«

»Und was ist mit Frau Berberiß?«, warf Scholle ein.

Frau Berberiß war das einzig namentlich bekannte Selbstmordopfer bei uns in der Siedlung. Sie war fast eine Berühmtheit. Allerdings hatte sie es nicht ganz geschafft, sich umzubringen, nur teilweise. Das lag daran, dass sie nicht wie die anderen hinter dem Brückenpfeiler hervorgesprungen, sondern direkt von der Brücke vor den herannahenden Zug gehüpft war. Schien ihr wohl sicherer. Hat leider nicht geklappt, die Stromleitungen waren im Weg, sodass sie wie von einem Trampolin abprallte und in hohem Bogen neben den Gleisen landete. Als sie Wochen später aus der Klinik kam, konnte man sie kaum mehr erkennen. Die Stromleitungen hatten ihr das Gesicht weggeschmolzen, weswegen sie von da an immer mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze durch die Siedlung schlich und mit sich selbst sprach, bis man sie eines Tages abholte, um sie in die Irrenanstalt zu sperren.

»Ja, okay«, sagte Tomi. »Aber die zählt nicht. Ich meine, jemand, den wir richtig kennen.«

»Einen von uns, meinst du?«, fragte Betty und strich sich ausgiebig eine rote Haarsträhne von der kräftigen Nase.

Scholle sah sie erschrocken an. »Du spinnst ja wohl.«

»An deiner Stelle hätte ich mich schon längst umgebracht, Qualle«, sagte Tomi zu ihm, worauf Betty hämisch lachte.

»Hört mal auf mit dem Quatsch«, sagte Koko. »Niemand von uns bringt sich um.«

»Es gibt Situationen, da willst du eben nicht mehr leben«, warf Tomi ein.

»Was soll denn das für eine Situation sein?«, fragte Scholle. »Der Mensch will immer leben, das ist seine Natur.«

»So wie die Schweine deines Vaters. Die wollen auch leben, aber das kümmert euch ja nicht«, erwiderte Tomi.

»Ach halt den Mund«, sagte Scholle nur. Sein Vater war Schlachter und Scholle musste sich dafür jede Menge Spott von Tomi anhören. Manchmal auch von uns anderen.

Tomi suchte sich ein neues Opfer. »Oder dein Freund lässt dich sitzen und du willst sterben«, sagte er zu Betty.

»Halt die Klappe!«, rief sie. Dabei hatte sie gar keinen Freund. Noch nie gehabt. Und sie würde sich garantiert auch nicht wegen eines Typen umbringen, eher würde sie ihn ermorden.

Scholle lachte, was Betty nun wiederum gegen Scholle aufbrachte.

»Du bist das Allerletzte – du bist die zarte Bestie – mit den groben Händen – in denen Schweine verenden«, rappte Betty in Scholles Richtung, worauf Tomi kicherte.

Das mit dem Rappen war so eine Macke von uns. Das hatten wir im Winter in Tomis Keller gemacht, weil wir dachten, das wäre unser Ding, aber eigentlich hatten wir uns nur gegenseitig gedisst. Und irgendwie konnten wir es nicht lassen, aber es war nicht böse gemeint. Ganz im Gegenteil. Ich war allerdings nicht so gut darin. Ich dachte immer zu lange nach, während die anderen einfach loslegten.

Ich sah zu Scholle, der ruhig dastand, während er in seiner Hosentasche kramte, um eines seiner übergroßen karierten Taschentücher herauszufummeln. Er war Allergiker, wobei es im Hochsommer gar keine Pollen gab, aber Scholle war eben auch ein großer Schauspieler.

»Du bist die rote Betty – mit der großen Klappe – doch ich bin einfach Scholle – mit der großen Kappe«, rappte Scholle zurück, bevor er sich lauthals schnäuzte.

Koko und ich lachten. Na ja, Scholle war auch nicht so begabt.

Jetzt fing Tomi an. Er war der beste Rapper von uns.

»Ihr seid solche Bitches – macht so kleine Stitches – niemand nimmt euch ernst – wenn ihr es nicht langsam lernt.«

»Was machen wir denn jetzt?«, fragte ich in die Runde, wobei sich meine Frage genau genommen an Koko richtete, die so was wie unsere heimliche Anführerin war.

»Zum Bahndamm können wir heute jedenfalls nicht«, sagte Scholle mit fester Stimme, als hätte er eine unangenehme Wahrheit verkündet, die nur er aussprechen könnte.

Der Bahndamm war unser zweites Zuhause, dabei war er nur ein verwildertes Stück Land neben den Gleisen. Da hingen wir für gewöhnlich nach der Schule rum und in den Ferien sogar den ganzen Tag. Das war unser Revier. Leider nicht mehr lange, weil ein Bahnhof entstehen sollte. Wir hatten schon ein paar Arbeiter dort umherschleichen sehen, die kleine Stangen in die Erde gesteckt hatten. Nachdem sie weg waren, hatten wir die Stangen umgesteckt, aber das schien sie nicht zu stören, denn am nächsten Tag waren sie wieder da gewesen und steckten ihre kleinen Stangen mit einer Begeisterung in die Erde, als hätten sie sich ihr Leben lang darauf vorbereitet.

Unsere halbe Kindheit hatten wir am Bahndamm verbracht. Wir waren genauso verwildert wie dieses Gelände. Manchmal legten wir uns direkt neben die Gleise und warteten darauf, dass ein Zug kam. Das war ein tolles Gefühl, wenn so ein Ungetüm zwei Meter von dir entfernt an dir vorbeidonnerte und du dich an einem Stein oder an einer Wurzel festhalten musstest, damit dich der Fahrtwind nicht mitriss.

Wie oft hatten wir dort Feuer gemacht und Kartoffeln geröstet. Und bald sollte das alles verschwinden und zu einem langweiligen Bahnhof umgebaut werden. Mal ehrlich, wer brauchte denn so was? Und wo sollten wir auch hin, gerade jetzt, da die Sommerferien begonnen hatten? Wegfahren tat eh keiner von uns, weil unsere Eltern kein Geld hatten. Zwar arbeiteten meine Eltern hart, aber sie verdienten nicht allzu viel. Es reichte gerade so, um über die Runden zu kommen. Bei den anderen war es ähnlich.

»Dann gehen wir eben zu Tomi in den Keller«, schlug Betty vor.

Da hingen wir eigentlich nur bei schlechtem Wetter rum. Hörten Musik und spielten Karten.

»Die Sonne scheint«, verkündete Scholle energisch, als wäre es uns anderen noch nicht aufgefallen.

Koko sah von einem zum anderen. »Wie wäre es, wenn wir mal etwas Sinnvolles tun?«, fragte sie schließlich.

»Machen wir doch immer«, konterte Tomi.

»Nee, ich meine was Richtiges«, fuhr Koko fort. »Was Echtes. Nicht nur rumhängen, Karten spielen, schlechte Witze erzählen, Leute ärgern. Ist doch alles Kinderkram. Ich meine was wirklich ECHTES. Den Bahndamm werden wir nicht mehr lange haben, Leute. Gewöhnt euch schon mal daran.«

Sie hatte ja recht. »Man muss die Dinge zu Ende denken«, sagte sie oft. Einer dieser seltsamen Koko-Sätze, die sie regelmäßig raushaute.

Zwei Jahre zuvor war sie mit ihrem Vater in die Siedlung gezogen. Aus Berlin, was uns sehr beeindruckt hatte. Wir kannten sonst niemanden aus dieser Stadt. Da wohnten nur seltsame Typen. Hieß es jedenfalls. Über ihre Mutter hatte sie nie etwas erzählt. Die gab es einfach nicht in Kokos Leben und wir fragten auch nicht weiter nach.

Wie aus dem Boden gewachsen hatte Koko vor zwei Jahren am ersten Tag der Sommerferien am Rand gestanden und uns beim Bolzen zugesehen. Anfangs hatten wir sie ignoriert, das machte man eben so bei Neuen.

Doch ich merkte, dass auch die anderen immer wieder heimlich zu ihr rübersahen. Koko erinnerte an eine dieser Schauspielerinnen aus einem alten Schwarz-Weiß-Krimi, die meine Eltern so liebten. Einer dieser Filme, in denen die hübsche und geheimnisvolle Schönheit den Helden am Ende austrickst, mit seinem Geld und seinem Stolz in den Zug steigt und ihn völlig gebrochen zurücklässt. Und genau wie diese Frauen war sie auch angezogen: Sie trug eine beigefarbene Kaninchenfelljacke und eine graue Stoffhose mit Schlag, wodurch sie wie die junge Marlene Dietrich wirkte, von der meine Mutter ein Foto an der Wand hängen hatte. Und wie die Dietrich trug auch Koko ihre halblangen Haare in leichter Wellenform. Fehlte nur die Zigarettenspitze im Mundwinkel.

»Hey, langer, dürrer Typ mit Brille und leicht unsicherem Gang«, hatte sie plötzlich gerufen und in meine Richtung gesehen.

Tomi war mitten beim Dribbeln stehen geblieben und hatte mit offenem Mund erst zu ihr, dann zu mir gesehen.

»Sie hat dich angesprochen«, hatte Scholle erschrocken gesagt. Er hatte seinen enormen Bauch rausgestreckt, während Betty gefährlich die Augen zusammengekniffen hatte.

»Meinst du mich?«, hatte ich verdattert gefragt, worauf Koko nickte.

»Du solltest mit deinen Augen nicht ankündigen, in welche Richtung du schießt.«

»Häh?«, hatte ich gemacht. Sie war näher gekommen und ich entdeckte auf ihrer Wange eine weiße sichelförmige Narbe, die wie ein Halbmond geformt war und ihrem hübschen Gesicht etwas Verwegenes gab.

»Also, meine Schöne, du hältst dich für eine Expertin, ja?«, hatte Tomi gesagt, doch Koko war gar nicht darauf eingegangen, was ihn ziemlich verstörte und mit offenem Mund zurückließ, denn er bildete sich auf seinen Charme ziemlich was ein.

»Wirklich, du guckst genau in die Richtung, in die du schießen willst. Dann braucht dein Gegner nur zu blocken und schon hat er den Ball.«

»Wir spielen hier nicht zum ersten Mal«, hatte Scholle gewichtig gegrunzt.

Koko wandte sich ihm zu. »Und du, kräftiger Junge mit zurückgekämmtem Haar und etwas hölzerner Mimik, du machst die Augen zu, wenn der Ball kommt, deshalb fängst du ihn auch nie.«

Scholle hatte daraufhin empört geschnieft.

Tomi stand noch immer mit offenem Mund da. Nur ich freute mich, dass die Neue unsere gewohnte Ordnung gehörig durcheinanderwirbelte. Manchmal braucht man eben einen kleinen Schubs von außen.

»Kannst du überhaupt Fußball spielen oder nur große Töne spucken«, hatte Tomi gefährlich leise gefragt.

Statt einer Antwort schnappte sich Koko den Ball und donnerte ihn auf Scholles Tor. Genau auf die Zwölf! Dummerweise waren bei Scholle wieder die Augen zu und so landete der Ball zielsicher in seinem Bauch.

»Uff!«, machte er nur und ging zu Boden, wobei er den Ball umklammerte wie etwas Kostbares.

»Hey, alles klar?«, fragte Tomi besorgt und beugte sich zu ihm runter.

»Uff!«, machte Scholle noch einmal.

»Spinnst du?«, fragte ich empört und drehte mich zu Koko um.

»Ich hab doch gesagt, dass er die Augen zumacht, wenn der Ball kommt. Was ist das hier? Fußball oder Softball?«

»Na ja, aber das war ja wohl nicht nötig«, sagte Tomi.

Betty sah aus, als würde sie Koko jeden Moment an die Gurgel gehen. Hätte mich auch nicht gewundert, sie prügelte sich gern mal.

Koko ging zu Scholle rüber, hockte sich neben ihn und redete leise auf ihn ein. Scholle nickte ein paarmal, dann stand er wieder auf, kreiselte seinen Kopf, klopfte sich den Dreck von den Beinen und dann spielten wir weiter, als wäre nichts geschehen. Zwar hielt Scholle auch danach keinen Ball, aber wenigstens ließ er die Augen offen. Als es dämmerte, hockten wir uns schweißgebadet und außer Atem auf die Bank neben dem verrotteten Klettergerüst. Jeder Block hatte so ein Klettergerüst für die kleinen Kinder. Unseres sah aus wie ein riesiger eiserner Pilz. Völlig verrostet und schief geworden über die Jahre erinnerte das Gerüst eher an ein mittelalterliches Folterinstrument. Kinder hatte ich dort niemals herumturnen sehen.

»Das hat Spaß gemacht«, hatte Koko gesagt. »Das sollten wir öfter tun.«

Wir anderen hatten genickt und irgendwie war klar, dass Koko ab sofort zu uns gehören würde. Und wirklich, es war, als würde sie schon ewig in der Siedlung wohnen, sie war wie eine alte Freundin, die man eben eine Weile nicht gesehen hatte und die jetzt wiedergekehrt war.

Und von diesem Tag an war Koko unsere heimliche Anführerin. Nicht weil sie älter war als wir Übrigen, sondern weil sie Koko war.

»Was Neues, was Echtes«, nahm Tomi den Faden auf und spann ihn weiter. »Wir könnten Leben erschaffen, so wie Frankenstein.«

»So ein Schwachsinn«, murrte Scholle.

»Ja, dass du das Leben verachtest, liegt ja wohl in der Familie, Schweinemörder.«

Scholle winkte ab.

»Leben erschaffen, finde ich gar nicht schlecht«, warf ich ein. »Ich habe von Weihnachten noch so einen Experimentierkasten, damit kann man Krebse züchten.«

»Bleib mir bloß weg mit dem Gewürm«, schimpfte Betty.

»Einen Baum pflanzen«, sagte Scholle nachdenklich.

»Ja«, sagte ich. »Ein Garten wäre toll.« Meine Oma hatte einen und wir haben sie an den Wochenenden hin und wieder dort besucht. Ich erinnerte mich an den Geruch von feuchter Erde nach dem Regen, an frisch gemähte Rasenhaufen, in denen ich herumtollte. Ich dachte an die Stiegen voller Kirschen, Erdbeeren und Bohnen. An die Nachmittage bei Kaffee und Kuchen mit Sahne unter dem großen, ausladenden Pflaumenbaum. Das waren schöne Zeiten gewesen, doch war Oma seit drei Jahren tot und genauso lange gab es den Garten nicht mehr.

»Was meinst du damit?«, fragte Betty und rieb mit der Spitze ihres groben Stiefels im Dreck herum. Ich hatte Betty noch nie in anderen Schuhen als diesen Arbeitsstiefeln gesehen. Und dazu immer diese Armeehosen mit großen Taschen, in denen sie Messer, Steine, Bindfäden und Thunfischdosen aufbewahrte. Auf mich wirkte sie immer wie ein Mensch, der gerade in die Wildnis aufbrach.

Bevor ich Betty antworten konnte, sagte Koko: »Das ist eine super Idee. Wir legen einen Garten an. Einen richtigen Garten mit Blumen und Gemüse. Wie in der Sendung.«

Ja, diese Fernsehsendung! Da waren ein paar coole Leute dabei. Denen hatten die Fernsehleute ein Stück Land gegeben, Spaten, Samen und was man so brauchte. Und jetzt konnte man jeden Tag eine Dreiviertelstunde lang verfolgen, wie sie sich da abmühten, schwitzten, buddelten, gossen, ernteten. Und das Erstaunliche war: Sie schienen wirklich Spaß zu haben. Eigentlich waren das so Großstadttypen, die nie selbst für ihr Essen gesorgt hatten, aber jetzt mussten sie. Genial!

»Ist doch Scheiße!«, brach Tomi als Erster das Schweigen.

»Hast Angst, dich dreckig zu machen, oder?«, fragte Scholle listig und fügte rappend hinzu: »He, Digga, das nennt man Arbeit – doch dazu hast du keinen Schneid – kannst nur …«

Da fiel Scholle nichts mehr ein, weshalb Betty ihm zu Hilfe kam. »… du kannst nur labern, statt anzupacken – kannst nur gut aussehen – also geh kacken.«

»Kleiner Schlachterboy, du bist doch nur Bettys Toy – ich bin hier der Macker und ihr seid nur die Fucker«, rappte Tomi zurück.

»Nee echt mal«, sagte Betty jetzt und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Ich bin kein Maulwurf.«

»Ich glaube, Koko ist nicht ganz dicht«, verkündete Tomi.

Ja, Koko war nicht normal. Sie war schräg, entgleist, bekloppt. Aber sie war auch wunderbar, überwältigend, liebenswert und voller aufregender Ideen. Normalerweise hätten wir anderen jetzt weitergesponnen und wären vom Garten auf irgendeinen Quatsch gekommen, aber Koko meinte es wohl ernst.

»Lasst es uns versuchen. Kann doch nichts schaden.« Sie warf Tomi einen herausfordernden Blick zu und meinte: »Gartenarbeit ist nichts für Weicheier.«

»Moment mal«, protestierte er, doch Koko redete bereits weiter.

»Gartenarbeit ist richtig heftig, fordert Konzentration und Kraft. Man muss ziemlich schnell sein und auf Veränderungen reagieren. Und man muss wissen, wann man was anzupflanzen hat, wie man düngt, wie man richtig umgräbt, wässert, Schädlinge bekämpft und so weiter. Da muss man dranbleiben. Ich meine, wenn man einfach alles so wachsen lassen würde, dann würde nichts funktionieren. Chaos! Das ganze Leben ist Chaos, aber man muss versuchen, es in den Griff zu kriegen, und so ist das mit dem Garten auch. Das fordert einen und macht einen stärker.«

»Da ist was dran«, sagte Betty und strich sich ihre roten Haare, die wie ein Vorhang vor ihren Augen hingen, weg.

»Ich sehe ihn richtig vor mir«, orakelte Scholle, den Blick in die Ferne gerichtet.

»Wir lassen unsere eigenen Kartoffeln wachsen«, sagte Koko. »Die rösten wir dann am Bahndamm, so brauchen wir wenigstens keine mehr von unseren Eltern zu klauen.«

»Wir könnten auch Gras anpflanzen«, schlug Tomi vor, wurde aber sofort von Betty unterbrochen.

»So ein Scheiß, du bist ein Idiot, du blöder Balkanese!« Dazu musste man wissen, dass Bettys Schwester im Gefängnis gewesen war, da sie sich dummerweise beim Dealen hatte erwischen lassen.

»Aber Tulpen wären doch okay, oder?«, warf ich ein. Eigentlich stand ich gar nicht auf Tulpen, ich wollte mich nur mal etwas einbringen. Ja, natürlich Tulpen, du Idiot, beschimpfte ich mich in Gedanken. Warum nicht gleich Rosen. Die kannst du dann Koko schenken, damit auch ja jeder Bescheid weiß.

»Tulpen sind prima«, bestätigte Koko.

»Wenn wir das richtig machen, könnten wir nicht nur ein paar Kartoffeln ziehen zum Eigenbedarf, sondern richtig viele, die wir dann verkaufen«, meldete Scholle sich zu Wort.

»Du bist auch ein Idiot«, sagte Betty schroff.

»Wie willst du das denn anstellen, Koko?«, fragte Tomi. »Wir haben doch keine Ahnung von so was.«

»Hmmhmm«, räusperte sich Scholle demonstrativ und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich. »Meine Eltern«, begann er, doch Tomi winkte ab und sagte:

»Dein Vater tötet Tiere und stößt mit seinen Mörderfreunden hinterher darauf an.« Tomi wäre gern Vegetarier gewesen, schaffte es aber nie. Er aß zu gern Fleisch, weshalb er ständig seinen Spott über Scholles Vater auskübelte.

Aber Scholle ließ sich selten aus der Reserve locken, das war unter seinem Niveau. »Meine Eltern haben einen Garten«, fuhr er ungerührt fort. »Und dort …«

»… scheißt dein Vater auf die Erdbeeren, damit sie angeblich besser wachsen«, führte Tomi den Satz zu Ende.

»Lass ihn doch mal ausreden«, kreischte Betty jetzt mit ihrer seltsam hohen Stimme, die sie immer bekam, wenn sie sich aufregte. »Seine Eltern haben doch einen Garten.«

»Du hast unsere Erdbeeren auch schon gegessen«, sagte Scholle mit hochrotem Gesicht zu Tomi.

»Ja, und ich hatte drei Tage die Kotzerei«, erwiderte dieser.

»Stimmt, mir war auch nicht gut«, sagte Betty nun, worauf sich alle, außer Koko und mir, abwechselnd anschrien.

Ich sah zu ihr rüber. Koko hielt sich bei den Streitereien immer raus. Sie betrachtete uns dann wie eine Königin ihr Volk, mit einem milden Lächeln auf den Lippen. Ich dagegen war so eine Art Friedensstifter. Regelmäßig versuchte ich, die anderen abzulenken, ihnen klarzumachen, wie sinnlos doch so ein Streit unter Freunden wäre. Manchmal brachte es was, manchmal schrien sie dann gemeinsam mich an. Einige Leute behaupteten, ich sei konfliktscheu und harmoniebedürftig. Quatsch! Ich mochte eben einfach keinen Streit. Na gut, ein bisschen stimmte es wohl. Aber wenn schon, das Leben war zu kurz für Krieg, oder? Da gab es diese holländische Anthropologin Katje van Ripwinkel, die ich sehr verehrte und die ungeheuer klug war. So hatte sie zum Beispiel einmal gesagt, dass wir Menschen in einer Gruppe immer eine bestimmte Rolle einnehmen würden. Egal ob in der Familie, im Freundeskreis, in der Regierung oder bei der Mafia. Jeder würde das machen, was er am besten konnte. Ich konnte eben gut vermitteln und war als Anführer eher ungeeignet. Man musste seinen Platz in der Gemeinschaft nun mal kennen, was nicht hieß, dass man sich nicht auch verändern konnte. Aber wozu?

»Wie wäre es, wenn wir uns eine Stelle aussuchen, wo man einen Garten anpflanzen kann«, schlug Koko vor.

Alle verstummten, sahen sie an und nickten. Wir waren uns einig und wir würden uns eine Stelle suchen, wo man einen Garten anlegen könnte.

»Aber nicht am Bahndamm«, sagte ich. »Die verjagen uns da wieder.«

»Wir gehen zur anderen Brücke, da sind sie nicht«, schlug Betty vor.

»Da wächst überall Unkraut«, bemerkte Scholle. »Da müssten wir erst die Erde roden.«

Tomi lachte meckernd. »Brandrodung, was, Scholle? So wie dein Alter. Alles weghauen ohne Rücksicht auf Verluste. Echt, Mann, du bist so edgy.«

»Ich dachte eher daran, dass wir den Garten direkt in der Siedlung anlegen«, sagte Koko, woraufhin wir anderen verstummten. »Wenn wir bei uns Blumen pflanzen oder auch Gemüse, dann hätten doch alle hier was davon«, sagte sie.

Koko gelang es immer wieder, mich in Erstaunen zu versetzen. Manchmal meinte ich, hinter ihre Persönlichkeit blicken zu können, sie verstanden zu haben, aber sie war wie ein Chamäleon, das ständig seine Farben änderte, und überraschte mich immer wieder. Niemand außer ihr wäre auf so eine dämlich-geniale Idee gekommen.

Blieb nur die Frage, wo in der Siedlung wir den Garten anlegen sollten. Auf der Wiese zwischen unseren Häusern? Auf dem mageren Grünstreifen, der parallel zu unserer Straße verlief?

Also ich hatte da so meine Zweifel.

»Neben den drei Garagen«, sagte Koko. »Da ist doch dieses kleine Stück Erde. Dort legen wir den Garten an.«

Wir schauten in Richtung der drei Garagen. Es stimmte, an der Stirnseite war ein Fleck, den die Siedlungsverwaltung nicht betoniert oder bepflastert hatte. Als hätten sie es schlichtweg vergessen. Das Stück war etwa drei Meter mal drei Meter groß und lag neben der Teppichklopfstange. Dort war der Boden mit grauen Gittersteinen belegt, zwischen denen der Rasen eingesperrt war. Dieser steinerne Boden umfloss das Stück Erde an drei Seiten wie ein trübes Meer. An der vierten Seite türmte sich die Garagenmauer hoch. Hier kam so gut wie niemals jemand vorbei. An der Teppichstange hatte ich auch noch nie jemanden seinen Teppich verprügeln gesehen. Beste Lage also für unseren Zweck.

»Wir lockern die Erde auf, tun Samen rein und dann sehen wir, was passiert«, sagte Koko, als wir fünf am Rand des Feldes standen.

Ich fragte mich, wie Koko das wieder hinbekommen hatte. Sie begeisterte uns tatsächlich für diese alberne Idee. Für mich war sie eine Künstlerin, eine Art Malerin, nur dass sie nicht mit Farben malte, sondern mit Ideen. Das war ihre Kunst.

»Nee, so einfach geht das nicht«, gab Scholle zu bedenken. »Man muss schließlich wissen, was man pflanzt und wann. Und einfach umgraben ist nicht, das will richtig gemacht sein.«

Tomi schlug Scholle kräftig auf die Schulter. »Gut gebrüllt, Fleischhauer.«

»Meinst du, hier wächst überhaupt was, Koko?«, fragte Betty

»Das ist Superboden hier«, kam Scholle Koko zuvor. Er setzte sein Expertengesicht auf. »Fett und nährreich. Ihr werdet sehen, da wächst was in Nullkommanix.«

»Wir legen ein paar Beete für Gemüse an und ein, zwei für Blumen«, schlug Koko vor.

»Gute Idee«, sagte Betty anerkennend.

»Hier vorn können wir Zwiebeln anbauen«, sagte Scholle, worauf Tomi und Betty lachten.

»Du brauchst doch gar keine, du kannst doch auch von alleine prima heulen«, meinte Tomi.

»Ach, halt die Klappe!«, sagte Scholle beleidigt. Dabei konnte er wirklich prima heulen. Hatte ich schon ein paarmal erlebt. Es war kein richtiges Weinen bei Scholle, eher ein taktisches. Er heulte im Voraus, wenn er Schiss hatte, Ärger zu kriegen.

»Die Samen könnte vielleicht Scholle aus dem Garten seiner Eltern besorgen«, schlug Betty vor.

»Ja, für Bratwürste«, rief Tomi und lachte über seinen eigenen dämlichen Witz.

»Ich dachte eher an Gurken, Kartoffeln, Möhren, Kohlrabi und so was«, sagte Koko.

»Wir könnten auch Erdbeeren anpflanzen«, schlug ich vor.

Selbst Tomi war jetzt mit Eifer dabei. »Paprika!«, rief er.

»Quatsch, die wächst hier doch gar nicht«, sagte Scholle tadelnd.

»Zucchini!«, rief Tomi.

»Bleib mal nüchtern«, sagte Scholle.

»Bin ich«, sagte Tomi. »Kannst einen Bluttest machen.«

»Man muss da genau vorgehen, nichts dem Zufall überlassen«, sagte Scholle oberlehrerhaft.

Wir überlegten noch eine Weile, schlugen uns gegenseitig Gemüse- und Obstsorten vor und steigerten uns regelrecht in die Idee hinein.

Allerdings gab ich unserem Projekt insgeheim maximal zwei Tage, dann wäre es ohnehin zerstört worden. Von kleinen Kindern, betrunkenen Erwachsenen oder Jugendlichen.

Ich drehte mich zum Schlafzimmerfenster von Bobbo und seiner Mutter um, weil ich meinte, eine Bewegung aus den Augenwinkeln gesehen zu haben, und tatsächlich bauschte sich die Gardine leicht, als hätte gerade eben noch jemand dahinter gestanden und uns belauscht. Aber vielleicht hatte auch nur der Wind sie bewegt. Ach egal, man sollte keinen Gespenstern hinterherjagen, bläute Koko uns immer wieder ein.

Kapitel 2

Unsere Siedlung lag am Rand der Stadt H und bestand aus einer Reihe Viergeschosser, die sich wie ein Haufen müder und zerlumpter Soldaten aneinanderlehnten. Jeweils vier Häuser waren zu einem Block zusammengetackert. Insgesamt gab es vier Blöcke, die hintereinanderstanden. Dazwischen jeweils eine magerbrüstige Wiese, die man nicht betreten durfte und auf der wir aber immer Fußball spielten.

Alte Mühle hieß unsere Siedlung. Alt war schon richtig, eine Mühle gab es allerdings schon lange nicht mehr. Es sei denn, man hatte den verrückten Edelmann Don Quijote vor Augen, der gegen Windmühlen kämpfte, weil er sie für feindliche Ritter gehalten hatte. Auch bei uns kämpften die Leute mit eingebildeten Gegnern. Die hießen dann der Staat, Arbeitsamt, »die da oben« oder einfach das Leben, das sie generell überforderte. Manche kämpften auch gegen ihre Kinder, weil sie meinten, diese würden sie vom richtigen Leben abhalten.

Die Siedlung war in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erbaut worden für Leute mit wenig Geld und wenig Geschmack. Mittlerweile war sie etwas heruntergekommen. Auch ihre Bewohner. Na ja, bei uns im Block ging es noch, in den anderen dagegen wohnten nur Kretins. Leute, die nur ein Auge hatten oder einen Kropf oder irgendwie verrückt waren. Mit deren Kindern war man für gewöhnlich auch nicht befreundet. Man blieb in seinem Block. Da gab es ja auch genug Leute, mit denen man sich anfreunden konnte. Scholle, Betty und Tomi wohnten im vierten Block, Koko und ich im dritten, allerdings nicht in denselben Hausaufgängen.

Der erste Block, vorn an der Straße gelegen, war der Schlimmste. Da wohnten die Roten Khmer. Üble Menschen! Das hing wohl mit der Reifenfabrik zusammen, die ganz in der Nähe war und ihre Abgase je nach Windrichtung in unsere Siedlung pustete. Die vom ersten Block bekamen immer am meisten ab. Sie waren so eine Art Filter für uns andere. Ich hatte die Schläger die »Roten Khmer« getauft, weil ihr Anführer Freddy immer so die Augen zusammenkniff und dadurch wie ein Albino-Asiate wirkte. Er hatte lichtempfindliche Augen, hieß es. Und obwohl er selbst eine Brille – getönte Pilotenbrille – trug, verprügelten er und seine Leute bevorzugt Brillenträger.

»Das haben die echten Roten Khmer auch gemacht«, hatte ich Koko einmal erklärt, nachdem die Schläger mich wieder einmal erwischt und geohrfeigt hatten. »Das war in Kambodscha in den Siebzigerjahren gewesen.« Ich hatte ein Buch darüber gelesen. »Die haben einfach alle Brillenträger umgebracht, weil sie dachten, Brillenträger wären schlaue Leute und ihnen haushoch überlegen.«

Dabei fühlte ich mich nicht mal schlauer als die Brillenlosen. Ganz im Gegenteil und was sollten schlechte Augen denn auch mit Gehirnschmalz zu tun haben? Aber selbst wenn es so gewesen wäre, es hätte ja nichts genutzt. Wann immer Freddy oder einer seiner Schergen mit einem aufgemotzten Moped neben einem hielt und knurrte: »Ey, nimm mal dein Nasenfahrrad ab«, kam man dieser Aufforderung eben nach, ohne sich zu beschweren. Dann bekam man ein paar geschmiert, Ohrfeigenschauer nannten sie das, und durfte weitergehen. Bis zum nächsten Mal, was sie einem auch noch hinterherriefen: »Bis zum nächsten Mal, Spargel.« Mit einem fiesen Lachen. Sie nannten mich übrigens Spargel, weil ich ziemlich groß für meine fast vierzehn Jahre war und dazu noch ziemlich dünn. Koko hatte vorgeschlagen, ich solle mich eher als Fahnenmast sehen, um den sich die anderen in der Not sammelten. »Das ist was Spezielles, weißt du. In der Schlacht wird die Fahne allen vorangetragen. So als Ermunterung«, hatte sie hinzugefügt, als sie meinen skeptischen Blick bemerkte.

»Der Fahnenträger wird aber immer als Erster niedergemetzelt«, gab ich zu bedenken.

»Nein, du nicht«, hatte Koko zu mir gesagt. »Du wirst was Besonderes machen, wenn du älter bist.«

»Schriftsteller«, warf ich ein. Das wollte ich tatsächlich werden.

»Was auch immer«, fuhr Koko fort. »Du bist was Besonderes. Und das spüren diese Schlägertypen. Die riechen, dass du keiner von ihnen bist. Das sind im Grunde genommen Loser. Die haben jetzt ihre große Zeit, aber lass die mal älter werden, dann werden sie merken, dass sie nichts auf die Reihe kriegen, außer ein paar Bastarde zu zeugen und sich den Kopf wegzusaufen. Dann kommt deine Zeit. Dann lachst du sie aus.«

Na ja, das war eben typisch Koko, es nutzte zwar nichts, denn im Augenblick war ich nun mal der Loser, aber man fühlte sich trotzdem besser.

Ich hatte mir angewöhnt, die Schläge nicht persönlich zu nehmen. Sie waren auch gar nicht so gemeint. Es lag in der Natur dieser Typen. Sie mussten einen schlagen, das war ein Impuls. Es war wie bei Haien, die schnappten einfach nach allem, was zappelte, ob sie Hunger hatten oder nicht. Ihre DNA war darauf programmiert, die kleineren Fische zu tyrannisieren. Und in unserer Siedlung standen die Roten Khmer nun mal leider an der Spitze der Nahrungskette, weshalb man sich nicht beschweren durfte. Das nahm man eben hin, das war ein Teil unserer Welt. Klar, man hätte es auch den Erwachsenen erzählen können, aber was hätte das genutzt?

Eltern und alle anderen über zwanzig lebten in einer Parallelwelt, die mit der unseren nicht allzu viel zu tun hatte. Wir bewegten uns wie Schatten unter ihnen, und sie sahen nur das, was sie sehen wollten, beziehungsweise das, was wir ihnen zeigten. Dabei waren meine Eltern ganz in Ordnung. Sie machten wenig Stress, kümmerten sich darum, dass es allen gut ging, machten ihr eigenes Ding und ließen mich meines machen. Ein gutes Arrangement für alle Beteiligten.

»Was machst du heute?«, fragte meine Mutter, die gerade ihre Schuhe anzog, um zur Arbeit zu gehen. In den Ferien fing sie meinetwegen extra später an, damit wir noch zusammen frühstücken konnten. Mein Vater ging immer sehr früh zur Arbeit.

»Ach, das Übliche«, antwortete ich.

»Also mit den anderen rumhängen.«

Ich nickte, sie gab mir noch einen Kuss auf die Stirn, und nachdem sie weg war, ging ich in mein Zimmer, um Musik zu hören. Vor Kurzem hatte ich die aussortierte Anlage meines Vaters übernommen. Ein paar Monate zuvor war ich noch mit »Old Shatterhand« auf der Suche nach dem Schatz im Silbersee unterwegs gewesen, mit den »Drei Fragezeichen« auf Verbrechersuche oder hatte über »Die Känguru-Chroniken« gelacht. Aber dann, von heute auf morgen, hatte ich all das in den Schrank gepackt und meinen Eltern mitgeteilt, dass meine Kindheit jetzt vorbei wäre und ich von nun an Musik hören wolle. Sie hatten erst gelacht, mich dann aber, als ich nicht lockergelassen hatte, unterstützt. Jetzt hörte ich die alten Sachen meines Vaters, die ungehört im Schrank rumgegammelt hatten: David Bowie, Madonna, Eminem, Mando Diao. Er sei sowieso zu alt für Musik, hatte mein Vater gesagt. Stimmte ja auch. Der Mann war vierzig und da wurde es peinlich, wenn die Alten einen auf jung machten. Er wusste ohnehin nicht mehr, was gerade angesagt war.

Allerdings war es ein bisschen so, als würde ich die alten Klamotten meines großen Bruders auftragen. Die anderen machten sich über mich lustig, weil ich diesen antiken Kram aus dem letzten Jahrtausend hörte. Kein Kanye West, keine Rihanna, keine Nicki Minaj, kein Skrillex. Egal, ich war eben aus der Zeit gefallen.

Ich hörte die ganze erste Platte von Franz Ferdinand, trank noch einen Tee und am Ende war ich wie immer spät dran. Aber nicht, dass hier der Eindruck aufkommt, ich wäre immer zu spät gekommen, so war das nicht. Gut, ich trödelte meist etwas, aber das hatte damit zu tun, dass immer so viele Gedanken durch meinen Kopf gingen und ich die aufschreiben musste, und darüber musste ich dann auch nachdenken und das dauerte eben ein bisschen. Ich hatte auch schon öfter Ärger in der Schule deswegen. Das war auch keine böse Absicht von mir, wie manche Lehrer behaupteten, das war einfach so.

Die anderen waren bereits versammelt, als ich unseren künftigen Garten erreichte.

»Was …«, begann ich, verschluckte den Rest meiner Frage aber, als Tomi mich warnend ansah. Sie sahen alle so ernst aus und standen stocksteif da. Scholle hatte einen hochroten Kopf, Betty kniff die Augen zusammen, als würde sie den Blick scharf stellen, während Koko traurig die Erde anstarrte.

»Ihr seht ja aus, als wärt ihr auf einer Beerdigung«, sagte ich leise.

»Pst!«, machte Tomi und sah mich böse an.

»Was ist denn?«, formte ich lautlos mit den Lippen.