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MÖRDERSPIEL

1. Auflage

Veröffentlicht durch den
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK
Frankfurt am Main 2018

www.mantikore-verlag.de

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe
MANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYK

Text Copyright © Daniela Beck

Lektorat & Korrektorat: Nora-Marie Borrusch

Satz: Karl-Heinz Zapf

Covergestaltung: Rossitsa Atanassova & Matthias Lück

VP: 202-136-01-04-0918

eISBN: 978-3-96188-055-3

MÖRDERSPIEL

Daniela Beck

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»Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Frau’n und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen.«

William Shakespeare

INHALTSVERZEICHNIS

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

SONNTAG

MONTAG

EIN PAAR ROLLENSPIELBEGRIFFE

DONNERSTAG

1.

Lilli

»Also ich kann mir diese ganze Rollenspielgeschichte immer noch nicht so richtig vorstellen. Das ist doch total …«

»Verrückt?«

Markus strahlt mich schon wieder mit diesem entwaffnenden Lächeln an. Gerade macht es mir Angst, aber nur deshalb, weil er in seiner Begeisterung den Blick viel zu lang von der Landstraße abwendet. »Pass auf!«

Um uns herum ist zwar weit und breit kein anderes Fahrzeug zu sehen, aber ich möchte wenigstens kurzzeitig in der Lage sein, ihm rational zu widersprechen, ohne von seinen freudig funkelnden dunklen Augen abgelenkt zu werden.

»Albern? Was für Kleinkinder? Oder für komische arbeitslose, hässliche Freaks ohne Freundin?«, schlägt er mir weitere Fortsetzungsvarianten für meinen Satz vor und grinst. »Mach mich ruhig fertig, ich hab das alles schon mal gehört.« Er zwinkert mir auffordernd zu.

Ja, ich habe Vorurteile, zugegeben. Aber ich habe mich eben auf diesen Feiertag gefreut und darauf, zum ersten Mal mit Markus wegfahren zu können. Allein. Dann kam diese verdammte Einladung – und natürlich konnte ich einfach nicht nein sagen, als er gefragt hat, ob ich mitkomme.

Und jetzt? Jetzt werden wir die kommenden drei Tage damit verbringen, uns als irgendwelche Leute in den Sechzigerjahren auszugeben, um, und jetzt kommt das Merkwürdigste, etwas zu tun, von dem keiner von uns im Vorhinein genau wissen darf, was es ist. Klingt völlig absurd? Ja, das habe ich mir auch gedacht.

Resigniert schaue ich aus dem Fenster und sehne mich zum ersten Mal in meinem Leben schon am Donnerstag nach Montag. Draußen ziehen Bäume vorbei. Ihr gelb und rot gefärbtes Laub leuchtet in der Nachmittagssonne. Es ist ein wunderschöner Herbsttag. In der Arbeit habe ich erzählt, dass Markus und ich übers Wochenende zusammen wandern gehen. Schön wär’s. »Du weißt deine Rolle noch, ja?«

Diese Frage stellt er mir heute schon zum zwanzigsten Mal. »Ja.« Ich verdrehe übertrieben gekränkt die Augen, bis mir einfällt, dass er das aus seinem Blickwinkel ja sowieso nicht sehen kann.

»Mein Name ist Victoria Chester, ich bin 1938 geboren, arbeite als Privatdetektivin in Chicago, meine Eltern sind–«

»Stopp! Du sollst mir doch nicht alles verraten. Sonst sprengst du noch den Plot.« Nach allem, was mir Markus in den letzten zwei Wochen über sein seltsames Hobby erklärt hat, weiß ich, dass es für uns in den nächsten Tagen von enormer Bedeutung sein wird, »nicht den Plot zu sprengen.« Also wechsele ich rücksichtsvoll das Thema.

»Und ich muss wirklich die ganze Zeit so tun, als würde ich dich nicht kennen, nur weil unsere Spielfiguren nicht zusammen sind?«

»Charaktere.«

»Was?«

»Es heißt ›Charaktere‹, nicht Spielfiguren.«

»Meine ich ja.«

»Und ich glaube, es wäre vom Plot her echt komisch geworden, wenn Anna auch noch irgendwelche Liebesgeschichten eingebaut hätte.« Markus sieht entschuldigend zu mir hinüber. Schon wieder dieser geheimnisvolle Plot. Ich denke an den verklärten Gesichtsausdruck, mit dem Markus in den letzten Tagen überdreht wie ein kleines Kind vor Weihnachten durch seine Wohnung gerannt ist, an undefinierbarem Zeug herumgebastelt und seine Koffer gepackt hat – und dabei gegrinst hat wie ein Honigkuchenpferd. Langsam macht mich der Grund dafür doch ein bisschen neugierig.

»Ich sehe schon, gegen ›den Plot‹ habe ich bei euch einfach keine Chance.« Ich seufze theatralisch und fahre mit überzogen schmollendem Unterton fort. »Warum kannst du nicht einfach was Normales machen? So was wie Fußball spielen oder wandern zum Beispiel?«

»Vielleicht, weil du dich mit mir dann sicher bald ganz furchtbar langweilen würdest?« Markus grinst. Guter Punkt. Ich betrachte sein unglaublich gut gelaunt aussehendes Profil von der Seite, während ich versuche, die erschreckend naheliegende Tatsache zu verdrängen, dass er möglicherweise recht hat.

Eine gefühlte Ewigkeit später und ziemlich genau eine halbe Stunde, nachdem wir auch den letzten Rest Zivilisation hinter uns zurückgelassen haben, deutet Markus endlich auf einen breiten Schotterweg zwischen dem undurchdringlichen Dickicht um uns herum und stößt ein freudiges »Da muss es sein« aus. Woher er diese Gewissheit nimmt, ist mir nicht klar, da unser Navi sich bereits seit geraumer Zeit weigert, die baumfreien Abschnitte, auf denen wir uns über die letzten Kilometer hinweg bewegt haben, als Straßen anzuerkennen.

Erleichtert, dass wir sein Auto genommen haben und ich meinen brandneuen Kleinwagen nicht durch diese Vorhölle für Felgen manövrieren muss, vergesse ich für einen Moment meine prinzipielle Abneigung gegen unseren Ausflug und betrachte die imposante Auffahrt, als die sich der Weg nach einigen Metern herausstellt. Links und rechts ragen windschiefe alte Bäume in die Höhe und allein der Gedanke, was für ein Anwesen sich wohl am Ende einer Zufahrt verbergen könnte, die länger ist als die gesamte Straße, in der ich wohne, weckt in mir annähernd so etwas wie Ehrfurcht.

»Ich glaube, diese Location ist absolut perfekt.«

»Perfekt? Wieso perfekt? Hier ist doch bisher überhaupt nichts. Nicht mal ein Handynetz.« Frustriert sehe ich auf mein Display.

»Ganz genau.« Markus strahlt immer noch. »Einfach nichts.«

»Nichts« stellt sich zu meiner Enttäuschung als ein noch kleinerer Seitenweg heraus, in den wir kurz darauf abbiegen. Und aus dem gigantischen Prachtbau in meiner Fantasie wird schon nach einer einzigen weiteren Kurve ein heruntergekommenes, uraltes Fachwerkhäuschen.

»Das ist es? Das ist das fantastische, riesige Herrenhaus von Annas Urgroßmutter, von dem du mir in den letzten Tagen stundenlang vorgeschwärmt hast?«

»Nee.« Markus schüttelt heftig den Kopf. »Das Hauptgebäude, in dem Annas Urgroßmutter Luise früher gewohnt hat, ist noch ein Stück weiter hinten. Das hier ist das alte Bedienstetenhaus, von dem uns Anna nachher abholt, wenn wir IT sind.«

Ich schiele verstohlen auf meinen Unterarm. Unter meinem hochgezogenen Pulloverärmel habe ich mir einige von Markus’ komischen Abkürzungen und die dazugehörigen Erklärungen als Spickzettel notiert. »IT«, entziffere ich die verschmierten Filzstiftbuchstaben auf meiner Haut. » = ›In-Time‹, d.h. Teil der Handlung bzw. während der Handlung stattfindend.« Ich verstehe es immer noch nicht.

»Warum holt sie uns ab? Hier ist doch eine riesige Auffahrt, die wir wunderbar hochkommen.« Ich ignoriere die Kiesel, die noch immer von außen gegen den Lack spritzen.

»Weil die Anreise dann schon IT ist. Das ist von der Atmosphäre her viel besser. Du wirst sehen.«

Ein paar Minuten später betreten wir das altertümliche Häuschen durch eine quietschende Holztür mit – zumindest für Markus – bedrohlich niedrigem Türrahmen und bewegen uns über ebenso laut knarzende Dielenbretter in Richtung Treppe.

»Die anderen sind oben.« Markus deutet mit dem Daumen zur Decke und versucht, unsere beiden Koffer vor mir die ausgetretenen Stufen hinaufzuzerren. Ich genieße kurz den rührenden Anblick und freue mich darüber, wie sehr er sich für mich ins Zeug legt, komme mir aber letztendlich fies vor und helfe ihm mit den sperrigen Gepäckstücken.

Im ersten Stock ist es deutlich wärmer, offensichtlich hat jemand für unsere Ankunft eingeheizt. Oder das Haus steht in Flammen. Nur wenige Schritte nach dem oberen Ende der engen Treppe geht eine ebenfalls hölzerne Tür ab, unter deren Spalt eindeutig Rauch hervordringt.

Panisch greife ich nach meinem Handy, um die Feuerwehr zu rufen. Dann fällt mir das verdammte Funkloch wieder ein. Hilfesuchend schaue ich nach Markus. Der ist allerdings entweder auch noch heimlich bei der freiwilligen Feuerwehr oder ein ganzes Stück verrückter, als ich bisher dachte. Mit einem fröhlichen Lächeln und ohne das geringste Anzeichen von Überraschung öffnet er die qualmumwobene Tür.

»Alter, schön dich zu sehen!« Eine zierliche Gestalt springt vor uns vom Boden auf. Um sie herum liegen Zahnräder, Drähte und ein ziemlicher Haufen sonstigen Elektroschrotts – und einige in bunten Farben rauchende Kugeln in kleinen Messingschalen.

»Du bist Lilli, oder? Freut mich, dass wir uns endlich mal treffen. Ich bin Christina.«

»Hi.« Etwas schüchtern greife ich nach ihren rußverschmierten Fingern.

Christina trägt einen weißen Kittel über einem bunt gemusterten Sixties-Kleid mit blickdichten Strümpfen und weißen Stiefeln. Ihre rotbraunen Haare hat sie mit viel Aufwand und noch mehr Haarspray zu einem eindrucksvollen Beehive hochtoupiert, aus dem jedoch vereinzelte Strähnen in alle Richtungen abstehen, was ihrer Erscheinung einen etwas wirren Ausdruck verleiht. Dass hinter ihr immer noch Rauch aufsteigt, passt, wie ich finde, irgendwie ins Gesamtbild.

Wäre Albert Einstein in den Sechzigerjahren als Frau wiedergeboren worden und hätte dabei seine Begeisterung für LSD entdeckt, hätte ich ihn mir genauso vorgestellt.

»Du siehst anders aus. Wie immer.« Markus umarmt Christina und klopft ihr dabei auf die Schulter, wie er es sonst nur bei seinen ältesten Kumpels macht. Ich bin ein klein wenig eifersüchtig.

»Sag, stimmt das, dass wir und Lukas die einzigen Spieler sind?« Schwungvoll wuchtet Markus unsere abgenutzten Lederkoffer – von seinen Eltern, meine schicke rote Nylonsporttasche hat er mir strikt verboten – in eine Ecke und lässt sich auf eine lange Holzbank an der Wand daneben fallen.

»Genau. Der zieht sich gerade um.« Christina zeigt über ihre Schulter auf eine Tür weiter hinten im Raum. Zu meiner Erleichterung kriecht darunter weder Rauch noch sonst etwas Besorgniserregendes hervor. Beruhigt schalte ich das ohnehin nutzlose Handy aus und schiebe es in die Seitentasche meines Koffers.

»Sie veranstaltet diesen ganzen Aufwand also tatsächlich nur für vier Leute.« Markus schüttelt den Kopf. » Anna ist wirklich unglaublich.«

»Tja, wir sind halt die Elite.« Christina lächelt mich aufmunternd an und hockt sich dann Markus gegenüber auf den Fußboden. Hinter ihr explodiert etwas mit einem lauten Knall. Markus und ich zucken zusammen.

»Toller Effekt, oder?« Christina wirft einen beinahe liebevollen Blick auf die verrußten Messingschalen.

»Ja, klasse.« Wir nicken synchron. Bei Markus wirkt es aufrichtig.

»Und dann natürlich noch das Personal.«

»Personal?«

»Ja. Anna hat ihre halbe Verwandtschaft angeheuert. Ihr Cousin, er heißt Dominik, ist der Butler und sein Vater, glaube ich, der Stallbursche. Außerdem gibt es noch eine Hauswirtin. Die ist sogar echt.«

»Echt?«

»Hm. Macht ihren Job einfach im Spiel weiter. Anna hat ihren Verwandten IT übrigens ihre echten Namen gelassen.« Christina wischt etwas Ruß von ihren ansonsten makellosen Stiefelkappen. »Sie meinte, dass sie sich als Nicht-Rollenspieler dann leichter tun und nicht immer erst mal irritiert gucken, wenn sie jemand anspricht.«

»Nichts hier ist echt. Wir leben alle in einer Illusion.« Der mit unnatürlich tiefer Stimme gesprochene Satz donnert durch den sich immer weiter im Raum ausbreitenden Rauch in unsere Richtung. Hinter Christina hat sich die zweite Tür geöffnet und über den knarzenden Dielenboden nähert sich betont gemessenen Schrittes eine weitere Person.

Lukas ist mindestens eins neunzig groß und trägt einen altmodischen braun melierten Anzug aus Wollstoff. In seiner rechten Hand hält er eine Pfeife, in seiner linken einen abgewetzten Lederkoffer.

»Gestatten? Lohme. Mycroft S. Lohme.« Er lässt die, wie ich jetzt sehe, völlig leere Pfeife in seiner Jackettasche verschwinden und begrüßt mich mit einem galanten Handkuss.

Dann schält er sich aus seinem vornehmen Fischgrät-Sakko, schmeißt es achtlos auf die Bank neben Markus, lässt die Hände in den Hosentaschen verschwinden und wendet sich mit einer schwungvollen Halbdrehung auf dem Absatz seiner blankpolierten Schuhe an Christina. »Mann, ich liebe angemessene Auftritte für meine Charaktere. Danke für die, äh, Räucherdinger.«

Synchron mit seiner steifen Haltung ist auch sein versucht vornehmer Tonfall verschwunden. Jetzt, wo Lukas direkt vor uns steht und kein schmeichelhafter Nebel mehr zwischen ihm und unserer Bank liegt, sieht man auch, dass sein Anzug ein gutes Stück zu locker an seinem schlaksigen Körper herabhängt und dass sein vielleicht dreißigjähriges Gesicht nicht wirklich zu seinem Altherren-Outfit passt.

»Alter, deine Anagramme werden auch immer schlechter.« Markus zieht gespielt vorwurfsvoll die Augenbrauen hoch. Dann verwandelt sich sein Gesichtsausdruck in ein breites Grinsen und er begrüßt Lukas auf die gleiche vertraute Weise wie zuvor Christina.

»Also, ich mag Anagramme.« Lukas lässt sich neben uns auf die Bank sinken und legt seine Arme wie ein beleidigtes kleines Kind um seine angewinkelten Beine.

»Hä?« Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon die beiden reden. Ein Zustand, an den ich mich im Laufe dieses Wochenendes wohl früher oder später gewöhnen muss.

»Holmes«, antworten Christina und Markus wie aus einem Mund. Ich sehe sie weiter verständnislos an.

»Lukas war wie immer zu faul, sich einen Namen auszudenken, hat sich deshalb unoriginellerweise nach Sherlock Holmes’ Bruder benannt und dabei einfach die Buchstaben von dessen Nachnamen verdreht«, klärt mich Christina auf.

»Sherlock Holmes hatte einen Bruder?« Meine Frage muss ein Fehler gewesen sein. Jedenfalls starren mich Lukas und Christina plötzlich völlig entgeistert an. Dann fängt Lukas an zu lachen und schüttelt mir ein zweites Mal die Hand.

»Schön, dich kennenzulernen, Lilli. Endlich mal jemand wirklich Neues. Ich bin Lukas … oh, und bevor wir anfangen …« Er greift in eine abgewetzte Ledertasche, die neben der Bank an der Wand steht, und zieht eine Flasche Likör heraus.

»Genau denselben haben meine Eltern immer in den Sechzigerjahren getrunken. Okay, das Etikett sieht mittlerweile etwas anders aus, aber meine Mama schwört, dass er immer noch genauso schmeckt. Wer will was?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, kramt er ein paar Becher hervor, schüttet in jeden schwungvoll etwas von der klebrigen Flüssigkeit und drückt uns allen einen in die Hand. »Mehr gibt’s nicht, wir müssen ja nachher noch hellwach sein. Cheers.«

»Apropos nachher, wie viel Zeit haben wir noch?« Christina greift nach Lukas’ Handgelenk, offenbar auf der Suche nach einer Armbanduhr. Lukas beugt sich zu ihr herunter und fördert mit einer saloppen Bewegung eine altmodische Golduhr an einem abgewetzten Lederarmband unter seinem Ärmel zu Tage. Dabei stößt er gegen sein unverändert zerknüllt daliegendes Jackett und die Pfeife, die er vorhin dort verstaut hat, fällt mit lautem Klappern zu Boden.

»Mist.« Er verzieht das Gesicht und versucht, möglichst würdevoll nach dem abgestürzten Rauchutensil zu greifen. »Etwa anderthalb Stunden. Ach ja, eines noch …« Lukas dreht sich wieder zu uns herum und seine Stimme klingt mit einem Mal sehr viel ernster als vorher.

»Ich hab mich vorhin mit Anna unterhalten und sie hat mir noch was erzählt, das ich euch weitersagen soll.« Lukas’ Gesicht ist anzusehen, dass er sich gerade alles andere als wohl fühlt. »Es gab bei ihr wohl mal ein ziemliches Familiendrama. Anna meinte, sie weiß auch nicht so genau, was passiert ist, aber …«, Lukas zögert, »… irgendein entfernter Verwandter … ich glaube, es war der Großneffe ihrer Uroma oder so, der hier als Kind gewohnt hat, hat sich vor ein paar Jahren umgebracht.« Christina, Markus und ich schweigen betroffen. »Also Anna kannte ihn wohl nicht persönlich und im Grunde hat das natürlich auch alles nichts mit uns zu tun. Außer, dass es wohl einen riesigen Erbstreit gab und sie ganz schön gezittert hat, ob wir das Haus noch nutzen können. Aber diese Frage hat sich ja offensichtlich geklärt.« Lukas fährt in beschwichtigendem Tonfall fort. Unsere betretenen Mienen haben ihn eindeutig verunsichert.

»Es ist nur … Dominik und dieser Verwandte, er hieß Albert, standen sich wohl recht nahe und Dominik macht das alles immer noch total fertig. Deswegen sollen wir ihn auf gar keinen Fall darauf ansprechen. Also bitte denkt daran:«, er hebt mahnend den Zeigefinger, aber seine offenbar scherzhaft gemeinte Oberlehrergeste wirkt eher unbeholfen als aufmunternd, »Falls ihr auf irgendetwas stoßen solltet, das mit diesem Albert zu tun hat, erwähnt es unter keinen Umständen, weder IT noch OT, gegenüber Dominik, und am besten auch nicht gegenüber der Haushälterin oder Dominiks Vater, okay?« Wir nicken wortlos.

Nach einigen weiteren Minuten voller unbehaglichem Schweigen, einem unruhigen Blick auf die Uhr und einem auffordernden Nicken von Markus gehen wir beide schließlich ebenfalls zum Umziehen ins Nebenzimmer und ich schlüpfe in die Flohmarktklamotten, die ich mir Markus zuliebe für diesen Anlass zugelegt habe.

Schließlich stehen wir alle wieder mit unserem Gepäck unten vor dem Ausgang und warten auf Dominik, der uns, wie ich mittlerweile erfahren habe, in Kürze abholen soll.

Die Nachmittagssonne hat sich inzwischen verzogen und einem ungemütlichen trüben Herbstabend Platz gemacht. Wortlos betrachte ich die anderen in ihren Kostümen und muss zugeben, dass wir alle verdammt echt aussehen. Unruhig zupfe ich an meinem Mantelärmel. Es ist zwar albern, aber ich werde langsam nervös. Immerhin habe ich noch immer nicht die geringste Vorstellung von dem, was uns an diesem Wochenende erwartet.

2.

Victoria

»Kann ich Ihnen mit dem Koffer helfen?« Der äußerst gutaussehende und in einen schmal geschnittenen, dunklen Anzug gekleidete Mann neben mir begutachtet besorgt das sperrige Lederutensil, das noch etwas schief auf der Böschung hängt, über die ich es eben gewuchtet habe.

Meine Mitreisenden und ich stehen etwas verloren an dem verlassenen Waldweg, der als Treffpunkt verabredet war. Die letzten Sonnenstrahlen versickern kraftlos im Dickicht und das heraufziehende Dämmerlicht skizziert filigrane Geisterwesen in den Ästen der Bäume, die sich dunkel vor dem rot gefärbten Himmel abzeichnen.

»Danke, es geht schon, aber der Fußmarsch vom Bahnhof war doch ein gutes Stück weiter, als ich angenommen hatte.« Verlegen streiche ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Es wäre klüger gewesen, ein Taxi zu nehmen. In dieser Hinsicht waren Sie mir wohl voraus.«

»Wenn wir von Ihrer Anwesenheit gewusst hätten, hätten wir Sie natürlich mitgenommen.« Er lächelt mich schüchtern an. Leider bezieht sich das »wir« auf eine unmittelbar neben ihm stehende Frau, die damit beschäftigt ist, diverse Herbstblätter von ihrem Kleid zu entfernen, obwohl deren gewundene Formen einen ansprechenden Kontrast zu den geradlinigen Mustern auf dem Stoff bilden.

Ich zögere einen Moment, während ich versuche, aus der Körpersprache der beiden Rückschlüsse auf ihre Beziehung zueinander zu ziehen, und er interpretiert meine Zurückhaltung offenbar falsch.

»Verzeihung, wir haben uns noch nicht vorgestellt.« Mit einer unsicheren Geste zieht er seinen Fedora-Hut und deutet damit auf seine Begleitung. »Das ist Frau Tauber. Wir sind uns eben am Bahnhof begegnet und haben prompt festgestellt, dass wir beide das gleiche Ziel haben.«

Ich nicke der Dame, die ich genau wie ihn auf etwa dreißig schätze, höflich zu, die förmliche Anrede Frau Tauber sowie die zufällige Begegnung wohlwollend zur Kenntnis nehmend.

»… und mein Name ist Thomas Brückner.«

»Chester. Victoria Chester.« Ich strecke ihm meine behandschuhte Hand entgegen. »Sehr erfreut.«

»Verzeihung.« Ein Herr mit distinguiertem Tweedanzug und ebensolchem Mienenspiel, der fast unmittelbar nach mir den Fußweg heraufgekommen ist und unser kurzes Gespräch für die intensive Beschäftigung mit einer altmodischen Pfeife genutzt hat, unterbricht uns in einem etwas aufgesetzt wirkenden britischen Akzent.

»Gestatten, Lohme, Mycroft S. Lohme.« Er deutet eine Verbeugung in unsere Richtung an. »Da ich aufgrund der Abgelegenheit diese Ortes nicht umhin komme, anzunehmen, dass wir alle aus demselben Grund hier sind, würden Sie mir die Frage erlauben, was Sie alle mit unserer Gastgeberin verbindet?«

»Tatsächlich haben wir uns im Taxi eben erst über dasselbe Thema unterhalten.« Frau Tauber rückt ihre übergroße Brille zurecht. »Ich persönlich kenne die Dame nur flüchtig von einer Wohltätigkeitsveranstaltung an unserer Universität, wo ich das Vergnügen hatte, ihr einige Forschungsergebnisse zu präsentieren. Herr Brückners Arbeiten zur Ahnenforschung hingegen wurden vor kurzem in der Lokalpresse erwähnt. Wir gehen deshalb von aus, dass sie so auf ihn aufmerksam geworden ist.«

»Ahnenforschung? Ein spannendes Fachgebiet.« Herr Lohme legt anerkennend den Kopf zu Seite.

»Und Ihr Metier war?« Dieses Mal gilt die Frage Frau Tauber.

»Chemie.«

»Was für eine ungewöhnliche Kombination, finden Sie nicht auch?« Lohmes Pfeife malt amorphe Muster in die Luft, während er über einen Zusammenhang nachsinnt. »Umso mehr, wenn man bedenkt, dass der Grund für unsere Anwesenheit im Einladungsschreiben nur sehr unbefriedigend erläutert wurde. Ich zumindest halte die Formulierung ›Hilfe in einer Familienangelegenheit‹ für recht unpräzise, oder wie sehen Sie das?«

Noch ehe wir etwas erwidern können, wird unser Gespräch unterbrochen. Aus dem langsam verschwindenden Zwielicht nähert sich eine protzige Limousine.

Sie kommt vor uns zum Stehen und ein livrierter Butler verlässt wortlos das Fahrzeug. Schweigend greift er nach unseren Gepäckstücken und wuchtet sie in den riesigen Kofferraum, bevor er uns mit einem Kopfnicken andeutet, durch die Tür, die er für uns aufhält, ins Wageninnere zu steigen.

Er ist jung und seine einstudierten Gesten wirken ungeübt, doch in seinen Zügen liegt eine distanzierte Kälte, die nicht so recht zu seinem ansonsten makellos höflichen Verhalten passen will.

Während der Butler das Auto in Bewegung setzt, lassen wir uns in die erstaunlich bequemen Ledersitze sinken, die das unangenehme Ruckeln des Wagens auf dem kiesbedeckten Auffahrtsweg zuvorkommend dämpfen.

Im Haupthaus angekommen, wartet bereits die Hauswirtin, um uns in Empfang zu nehmen. »Wenn die Herrschaften möchten, werde ich Sie durch die Räumlichkeiten führen. Frau von Steinhagen erwartet Sie um acht im großen Speisesaal zum Dinner. Mein Name ist Eva und das«, sie deutet auf den mittlerweile zurückgekehrten Butler, »ist Dominik. Sollten Sie etwas brauchen, wenden Sie sich bitte jederzeit an ihn oder mich.« Die Hauswirtin beendet ihre routinierte Rede mit einem ebenso routinierten Knicks und ich fühle mich ein wenig unwohl. Ich bin es nicht gewohnt, von Personal umgeben zu sein. Zumindest nicht außerhalb von Hotels. »Ja, äh, gern«, antworte ich unbeholfen.

Auch die anderen haben keine Einwände. Der Butler verschwindet unterdessen mit den Koffern und ich sehe mich im Raum um. Das Haus ist … ein steingewordenes Klischee. Man kann es nicht anders sagen. Es ist einfach alles da, was man sich in einem europäischen Herrenhaus vorstellt: Eine riesige Eingangshalle mit Marmorboden, von der zwei Treppen auf eine Galerie führen. Eine mannshohe Mahagoni-Standuhr neben dem Eingang. Ein Kamin von den Ausmaßen eines Kleiderschrankes zwischen den Treppen. Mit eisernen Schürhaken. Ich komme mir vor wie in einer Filmkulisse Hollywoods.

Dann starten wir unsere Besichtigungstour durch das Anwesen. »Die Porträts über dem Kamin zeigen einige Familienangehörige der Hausherrin.« Eva deutet auf mehrere Gemälde, die an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt sind. »Links sehen Sie Friedrich von Steinhagen nebst seiner Gattin Charlotte, daneben seine Tante Luise.«

Friedrich und Luise blicken mit aristokratischer Strenge auf uns herab, und obwohl ich weiß, dass es albern ist, fühle ich mich von ihnen beobachtet. Erhobenen Hauptes trete ich näher heran und strafe ihre arrogante Haltung mit Missachtung, indem ich mich demonstrativ dem dritten Bild zuwende.

Charlottes Porträt ist anders. Aus ihrem blassen, hübschen Gesicht sehen mich zwei große braune Augen beinahe ängstlich an. Und während sich der Maler bei den anderen beiden offenbar große Mühe gegeben hat, ihre herrische Eleganz mit möglichst klaren Linien zu betonen, verschwindet Charlottes zierliche Gestalt nahezu in den weichen, fließenden Pinselstrichen ihres blütenweißen Kleides. Ihre Hände hat sie schüchtern um ein dunkelrotes Büchlein gefaltet, das sie eng an ihren Oberkörper drückt. Sie lächelt unsicher, als sei es ihr unangenehm, für immer auf einer so großen Leinwand festgehalten und damit unzähligen neugierigen Blicken ausgesetzt zu werden. Ich glaube nicht, dass dieses Bild vom selben Künstler stammt wie die beiden anderen.

»Sie starb sehr jung.«

Evas Stimme taucht unvermittelt neben meinem Ohr auf und ich mache vor Schreck einen Satz. Ich frage mich, wie es diese untersetzte, ältere Dame geschafft hat, so schnell und lautlos hinter mir aufzutauchen. »Wie tragisch.« Ich verleihe meiner Stimme einen Hauch von würdevoller Dramatik. Man muss sich dieser Umgebung einfach anpassen.

Auch Herr Lohme hat sich mittlerweile mit zu den Bildern gesellt und sieht amüsiert zu mir herüber. »Ist es nicht großartig?«

Ich bin mir nicht sicher, ob er das Porträt oder die inszeniert anmutende Gesamtsituation meint. Zumindest hoffe ich jedoch, dass er sich nicht auf den Tod der jungen Dame beruft. Während ich noch überlege, welche Schlussfolgerungen sich in letzterem Fall auf seine Persönlichkeit ziehen lassen, fährt er bereits fort.

»Ich nehme an, Sie sind auch schon äußerst gespannt auf das Abendessen?«

»Gespannt?« Erneut kann ich seiner Andeutung nicht ganz folgen. Besonders aufregend finde ich ein Abendessen nicht gerade.

»Nun ja«, mein Gegenüber flüstert verschwörerisch, »schließlich wird uns unsere Gastgeberin dann sicher endlich genauer offenbaren, warum sie uns hierherbestellt hat. Nicht wahr?«

»Nun, um ehrlich zu sein, habe ich diesbezüglich keine allzu großen Erwartungen.« Ich senke meine Stimme ebenfalls zu einem Flüstern, allerdings aus einem völlig anderen Grund – ich möchte Eva und ihrer Arbeitgeberin gegenüber nicht unhöflich sein. »Wenn ich Post von Klienten mit eindrucksvollen Anwesen und ebensolchen Stammbäumen erhalte, geht es für gewöhnlich darum, unsäglich langweilige Verwandte in Bezug auf ebenso langweilige Erbstreitigkeiten auszuspionieren. Reine Routine.« Ich unterdrücke ein Gähnen.

»Ach wirklich? Dann nehme ich an, Sie arbeiten im Bereich …« Aha! Lohmes Neugier ist alles andere als auf das Dinner beschränkt.

»Private Ermittlungen.«

»Ach.« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Also haben wir offensichtlich dasselbe Metier. Interessant.«

»Wenn Sie mir jetzt bitte in die Bibliothek folgen wollen.« Eva weist uns höflich den Weg in einen der Seitengänge.

Auch die Bibliothek ist … nun ja, wie man es eben erwartet. Endlose Reihen von Büchern bedecken die etwa anderthalb Stockwerke hohen Wände des langgezogenen Raumes bis zur Decke. Dazwischen stehen Sofas, Lesetische und, wie sollte es anders sein, noch mehr Bücher. Eva setzt unterdessen zu einem langatmigen Vortrag über die Büsten verschiedener historischer Personen an, die vor den Regalen mit ihren entsprechenden Werken aufgestellt sind. Beiläufig fahre ich mit den Fingern über eine kleine Namensplakette aus Messing, die unter einem der Marmorköpfe angebracht ist.

»Miss Chester, sehen Sie!« Lohme winkt mich eilig zu sich heran.

»… weiß, dass ich nichts weiß. Sokrates’ berühmtes Zitat … « Eva lässt sich durch unsere Unaufmerksamkeit nicht beirren und erläutert weiter die versammelte und im wahrsten Sinne des Wortes in Stein gemeißelte literarische Elite. Von der Antike bis zur Gegenwart. Der Privatdetektiv beäugt eingehend einen gerade mal handtellergroßen Kupferstich, der gegenüber in eine der Regalwände eingelassen ist.

»Was ist das?«

»Ich würde sagen, das Familienwappen.«

»Ein Helm und ein paar schräge Streifen. Nicht gerade sehr aussagekräftig.« Ich zucke mit den Schultern.

»Aus heraldischer Sicht würde ich sogar sagen erstaunlich einfallslos.« Brückner hat sein bis dato andächtiges Lauschen ebenfalls unterbrochen, was uns ein vorwurfsvolles Funkeln von Seiten Evas einbringt. »… beeindruckende Sammlung lokaler Chroniken. Wenn ich die Herrschaften nun in den Salon bitten dürfte …« Die Haushälterin macht eine ungewohnt herrische Bewegung und wir schlurfen ihr fügsam wie eine wohlerzogene Schulklasse hinterher.

»Genau Ihre Welt, was?« Lohme stößt Brückner kumpelhaft in die Seite. »Ich wette, in all diesen historischen Schriften ließe sich so Einiges über die Familiengeschichte herausfinden. Unglücklicherweise gibt es dabei einen gravierenden Haken.« Er grinst verschmitzt. »Ohne einen genaueren Anhaltspunkt werden wir angesichts der Fülle des Materials vermutlich Jahre brauchen, bis wir irgendetwas Relevantes zu Tage fördern.«

Nach der Bibliothek führt uns Eva noch durch besagten Salon, dessen ebenso unbequem wie teuer aussehende damastbezogene Polstermöbel unmissverständlich klar machen, dass die Errungenschaften von Pop-Art, Bauhaus und selbst der Moderne an sich völlig spurlos an diesem entlegenen Winkel vorübergezogen sind. Anschließend vorbei am Speisesaal, der dem Salon in Punkto Mobiliar-Anachronismen in nichts nachsteht, und an den ungemein weitläufigen Gartenanlagen, durch deren gewundene Kieswege und langsam kahl werdende Hecken zarte Nebelschleier ziehen. Obwohl nichts davon weniger eindrucksvoll ist als die ersten beiden Räume, bin ich froh, als wir nach Evas zahlreichen Informationen zu historischen Bauweisen, diversen Antikmöbeln und der, wie es mir vorkommt, bis ins Mittelalter zurückreichenden endlosen Familienchronik schließlich die Richtung zu unseren Zimmern einschlagen.

Als wir auf dem Weg dorthin nochmals die schier nicht enden wollenden Gänge des Hauses durchqueren und ich die Stillleben und Landschaftsmalereien betrachte, die in an Geschmacklosigkeit grenzenden Goldrahmen die Wände überfrachten, macht sich in mir eine ungewohnte Unruhe breit. Ich habe das Gefühl, irgendetwas schrecklich Wichtiges vergessen zu haben, das mir jedes Mal sofort entschlüpft, wenn ich versuche, es in Gedanken zu fassen zu kriegen. Geistesabwesend öffne ich meine Zimmertür.

Und stehe unverhofft Herrn Brückner gegenüber.

»Was zum … « Eigentlich würde mich meine gute Erziehung an dieser Stelle zu einer Tirade aus Vorwürfen bezüglich seines unangemeldeten Erscheinens in fremden Damenschlafzimmern verpflichten, aber ich bin viel zu – und vor allem viel zu angenehm – überrascht, um die richtigen Worte zu finden. Andererseits: Was weiß ich schon über ihn? Ich sollte vorsichtiger sein.

»Was wollen Sie hier?« Skeptisch mache ich einen Schritt rückwärts in Richtung Türe – nur um festzustellen, dass er mir ebenso schnell folgt.

3.

Lilli

»He, du bist ja schon richtig in deiner Rolle!« Markus umarmt mich stürmisch.

»Herr Brückner, ich bitte Sie, wir kennen uns doch gar nicht.« Lachend schiebe ich ihn von mir und schaffe es dabei wenigstens noch, der Tür einen dezenten Schubs in Richtung Rahmen zu geben, um neugierige Blicke auszuschließen.

»Und, wie gefällt’s dir?« Er versucht, die Frage beiläufig klingen zu lassen, aber ich merke an dem erwartungsvollen Ausdruck in seinen Augen, dass er kurz davor ist, vor Neugier zu platzen. Okay, das ist der Moment, an dem ich aufpassen sollte, was ich sage.

»Na gut, es … hat was.«

Markus strahlt.

»Aber findest du nicht, dass Anna ziemlich dick aufträgt? Ich meine, ein Butler, der uns mit einem riesigen Oldtimer abholt? Bilder von mysteriösen toten Verwandten mit schrägen Adelstiteln? Und schau dir mal die ganze Deko an! So viele kitschige Porzellanfiguren und barock gemusterte Sofakissen besitzt doch kein Mensch. Ich frage mich echt, wie sie all den Krempel hierhergeschleppt hat. Allein diese monströse Standuhr …«

»Ich glaube, die stand da schon.« Markus legt seine Jacke über einen der Stühle, die neben dem Eingang um einen kleinen Holztisch gruppiert sind. Selbstverständlich ist es ein Nierentisch. Ein Nierentisch, auf dem eine Tageszeitung mit dem Datum des heutigen Kalendertages im Jahr 1966 ausgelegt ist. Anna hat wirklich jeden Winkel bedacht.

Nach einem prüfenden Blick auf die Zeitung und die wenig komfortabel aussehende Sitzgruppe lässt sich Markus aufs Bett sinken. Sehr zu meiner Enttäuschung ist es kein Doppelbett. Natürlich nicht, unsere Fig… Charaktere sind ja kein Paar. Schade. Ob ich das ändern kann?

»Und die Ölgemälde sehen auch relativ echt aus. Wahrscheinlich hat sie sie einfach hängen lassen und in ihren Plot eingebaut.«

»Die Bilder an sich sind ja okay. Aber die Namen dazu … wer heißt denn in Wirklichkeit bitte ›von Steinhagen‹?«

»Das ist halt Anna. Ich bin echt gespannt, was als Nächstes passiert.« Er schaut völlig verklärt an mir vorbei Richtung Zimmerdecke. Warum kann er mich nicht mal mit einem solchen Gesichtsausdruck betrachten?

»Was meinst du mit ›das ist halt Anna‹?« Hoffentlich will er damit nicht sagen, dass wir mit einem Schlossgespenst in klappernder Rüstung rechnen müssen. Ich bin mir nicht sicher, mit wie vielen Übertreibungen ich in seiner gefälschten Realität umgehen kann, ohne früher oder später lachend vom Stuhl und damit aus meiner Rolle zu fallen, was dann bestimmt »den Plot sprengen« würde. Oder sowas Ähnliches. Jedenfalls würde ich mich dadurch bestimmt nicht gerade beliebt machen. Dieses Wochenende könnte sogar noch anstrengender werden, als ich befürchtet habe. Andererseits muss ich widerwillig zugeben … die Limousine hat mich beeindruckt. Und ja, es ist schon cool, einen richtigen Butler zu haben.

»Sie … übertreibt manchmal ein bisschen. Man kriegt sie auf ihren Cons zwar normalerweise nicht oft zu Gesicht, aber das liegt nur daran, dass sie im Hintergrund alles Mögliche organisiert.« Markus’ Antwort klingt verdächtig ausweichend.

»Was meinst du mit ›ein bisschen‹?« In Ermangelung eines Sofas und mit der festen Absicht, die daraus entstehende körperliche Nähe bestmöglich auszunutzen, mache ich es mir neben ihm auf dem Bett bequem.

»Schaust du gern Horrorfilme?«

»Was?«

Anstatt mir zu antworten, schlüpft Markus betont langsam aus seinen Schuhen, lehnt sich gemütlich auf meinem Kopfkissen zurück und sieht sich eingehend im Raum um. »Wie gefällt dir eigentlich dein Zimmer?«

Versucht er, mich vom Thema abzulenken, damit ich keine Detailfragen stellen kann? Horrorfilme?

Wahrscheinlich will er mir Angst machen, damit er mich später ritterlich beschützen kann. Vor dem Rüstungsgespenst zum Beispiel. Gut, ich will ihm nicht den Spaß verderben. Also besser kein Vortrag über billige Spezialeffekte. »Es, äh, passt ins Gesamtkonzept.«