Dieses Buch widme ich meiner Familie, ganz besonders aber meinem geliebten Ehemann, der es immer wieder schafft, mich in dunklen Zeiten aufzubauen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Nacht ist unser-Schatten der Vergangenheit

©Copyright 2017 by Maria Spotlight/Alle Rechte vorbehalten

Impressum: Vertrieb durch feiyr.com /ISBN:9783961113552

 

 

 

Die Nacht ist unser

Band 1

Schatten der Vergangenheit

Von Maria Spotlight

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Von den Anfängen

Habt ihr auch schon von ihnen gehört? Den schaurigen Geschichten über die lautlosen Killer in der Nacht, welche sich auf unhörbaren Schritten ihren Opfern nähern, um von deren Blut zu kosten? Oder die Bestien, welche bei Vollmond zu riesigen Wölfen werden und in ihrer Gier ganze Schafherden reißen? Das Wissen über sie passt auf eine Münze und so gut wie niemand weiß, woher sie stammten und weshalb sie die Zeiten bis heute überdauern konnten. Um eine Geschichte zu verstehen, muss man ihren Ursprung kennen. Achthundert vor Christus wandelten zwei riesige Tiergestalten durch die Wälder des Abnoba mons. Der eine trug die Gestalt eines monströsen, furchterregenden Wolfes, der andere hatte das Aussehen einer gigantischen, unheilvollen Fledermaus. Zunächst noch an ihr animalisches Aussehen gebunden, waren sie dazu fähig, menschliche Gestalt anzunehmen. Die Urväter der Vampire und Werwölfe waren geboren. Als Menschen getarnt, konnten sie nun unauffällig unter ihnen gehen. Das machte sie noch gefährlicher, denn die Sterblichen hatten keine Ahnung von ihnen. Doch diese Sicherheit währte nicht allzu lange. Aufgrund ihrer zerstörerischen Art zu jagen, kamen die Menschen den Kreaturen auf die Spur. Eine Hetzjagd begann auf sie, man wollte diese Wesen tot sehen. In einem dunklen Waldstück hatte man den Bestien eine Falle gestellt, in welche die Kreaturen ahnungslos hinein getappt waren. Die tapfersten Männer waren ausgeritten, um diese Scheusale zu vernichten. Und als Yorick, der Hüne, gerade zum Schwerthieb ausholte, um den Wolf zu enthaupten, warf sich die Fledermaus dazwischen. Der Hüne schnitt ihr dabei die Flügel ab, die mit einem donnernden Geräusch zur Erde fielen. Der Wolf aber nutzte die Gelegenheit, tötete Yorick und die anderen sechs Männer. Schwer verletzt flüchteten sie sich in eine nahe gelegene Höhle. Die Fledermaus war dem Tode nahe, der Wolf fürchtete um das Leben seines Freundes. Da trat eine Kapuzengestalt in die Höhle; es war eine Frau. Schön anzusehen, mit langem brünettem Haar und jadegrünen Augen.

„Töte mich nicht“, bat die Frau, „ich bin in guten Absichten gekommen. Dein Freund, er ist schwer verwundet. Ich kann ihm helfen, wenn du willst.“

Der Wolf betrachtete die Frau zunächst misstrauisch, doch welche Wahl blieb ihm? Sie war nun mal da, alleine würde er es nicht schaffen.

„Was verlangst du dafür?“

„Darüber sprechen wir, wenn es soweit ist. Willigst du nun ein?“

Er gab ihr sein Einverständnis.

Sie nahm Kräuter aus ihrer Tasche und reichte sie dem Wolf; er hatte so etwas noch nie gesehen.

„Sei so gut und zerkau diese Blätter hier.“

Noch etwas zaghaft tat er schließlich, wie ihm geheißen wurde.

„Das machst du gut. Nimm sie aus deinem Mund und verteile sie auf den Wunden deines Freundes.“

Die Frau breitete ihre Hände über den Verletzungen der Fledermaus aus und begann in einer seltsamen Sprache zu sprechen. Die Kräuter auf den offenen Stellen fingen an zu dampfen. Dampf verwandelte sich in Rauch, der zur Decke der Höhle emporstieg. Wo bis gerade eben noch zwei klaffende, blutige Wunden waren, konnte man nicht mal mehr ein Fleck sehen. Die Verwundungen hatten sich geschlossen, nicht einmal eine Narbe blieb zurück. Die Fledermaus erholte sich rasch, fiel dann in einen sanften Schlaf.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte der Wolf.

„Ich bin eine Hexe und Hexen verstehen sich auf solchen Dingen.“

„Wie ist dein Name?“

„Ich heiße Emily und ich bin einen weiten Weg gegangen, um euch zu sehen. Ihr seid einzigartig, geschaffen von Mutter Natur selbst und es obliegt mir, euch vor weiteren Gefahren zu beschützen. Du und dein Freund seid unvorsichtig, ihr kennt die Menschen nicht wie ich sie kenne. Mit meiner Hilfe könntet ihr es besser haben.“

„Dann bleib bei uns, Emily. Wir werden dich beschützen. Als Dank, dass du meinen Freund vor dem Tode bewahrt hast.“

„Dieses Angebot nehme ich gerne an. Doch gestatte mir eine weitere Bitte auszuschlagen, für die Errettung deines Freundes. Erlaube mir, wenn die Zeit gekommen ist, eure Nachfahren, die ihr noch Zeugen werdet, mit der Gabe der Unsterblichkeit zu segnen.“

„Ich will dir diesen Wunsch gewähren, auch im Namen der Fledermaus. Wann wird diese Zeit kommen?“

„Noch lange nicht, mein Freund. Nach dem, was geschehen ist, könnt ihr vorerst nicht mehr unter die Menschen treten.“

Dreihundert Jahre hielten sie sich im Verborgenen. Die Zeitalter wechselten wie Tag und Nacht, aber es schien für die drei nur ein kurzer Augenblick in ihrem Leben zu sein. Die Fledermaus verlor ihre Flugfähigkeit, doch blieb sie auch am Boden eine Koryphäe im Töten. Durch das Wissen der Hexe wurden die Kreaturen nun wachsamer und gingen lautlos unter den Menschen. Ihre Fähigkeiten verbesserten sich enorm, die Beschaffung von Nahrung war ein Leichtes geworden. Niemals fand man einen Leichnam, dafür sorgte die Hexe. Als sie spürte, die Zeit war gekommen, da nahmen sich der Wolf und die Fledermaus zwei Frauen und erfüllten deren Leiber mit ihrer Frucht. Dies geschah im Jahr eins vor Christus. Mit dem Jahr Null brachten die Frauen zur selben Zeit zwei kräftige Knaben zur Welt, welche die Hexe, dank ihrer unermesslichen Macht, unsterblich machte. Auf ihren Befehl hin, töteten der Wolf und die Fledermaus die Frauen und mit den ersten Sonnenstrahlen des Morgens erstarrten die Urväter zu Stein und zerfielen im Wind zu Staub. Ihre Zeit war vorüber, denn anders als ihre Nachfahren besaßen sie keine Unsterblichkeit. Die Kinder nahm Emily mit sich. Tief verborgen im Marcynischen Wald zog die Hexe die Knaben groß. Sie gab ihnen Namen, der Werwolf hieß Kunolf, was der Sippenwolf bedeutet, und der Vampir sollte Farold heißen, der weithin Herrschende. In der Obhut der Hexe wuchsen sie schnell heran und wurden zu den ersten unsterblichen Kindern der Nacht.

Den mittlerweile stattlichen, jungen Männern lag die Welt zu Füßen. Niemand sonst besaß ihr Können. Das Talent unglaublich schnell zu rennen, über große Distanzen klar und deutlich zu hören, ferne Gerüche wahrzunehmen und die Gedanken anderer zu lesen, zu kontrollieren und zuletzt sogar zu manipulieren. Weitere Jahrhunderte vergingen, die ihnen nur wie Momente erschienen. Zwar lebten sie fern von jeglicher Zivilisation, doch dies sollte sich bald ändern, denn die Hexe hatte Pläne. Im Jahre 600 nach Christus nahmen sich Kunolf und Farold jeder eine Frau zur Braut und verwandelten diese durch ihren Biss. Fünfzig Jahre später brachte Leila, Kunolfs Frau, einen Jungen zur Welt und Gwendolin, Farolds Weib, gebar eine Tochter und drei Jahre später einen Jungen. Dies waren die Reingeborenen. Aus ihrer Blutlinie sollte sich das Imperium der Vampire und Werwölfe erheben. Farold blieb nicht untätig, ihm gefiel der Gedanke, ebenso wie Kunolf, eine ganze Stadt zu erbauen, die sich bald mit Ihresgleichen füllen sollte. Begierig auf schnellen Erfolg zogen sie umherwandernde Menschen in ihren Bann, ehe sie diese verwandelten. Mit Hilfe der neu geschaffenen Vampire und Werwölfe errichtete Farold ein großes Schloss, wohingegen Kunolf nur eine kleinere Behausung sein Eigen nannte; er war eben bodenständiger. Mittlerweile war Lucia, Farolds und Gwendolins Tochter, zu einer wunderschönen Maid erblüht. Mit Porzellan ähnlicher Haut, dem langen Haar der Farbe des Ebenholzes und ihren adelsblauen Augen, raubte sie den Männern den Verstand. Doch sie verlor ihr Herz an einen Edelmann namens Ephraim, ein Mannsbild von großem Wuchs, dunklem Haar und dunklem Bart, und er verlor seines an sie. Durch Leben und Tod getrennt, machte Lucia dem schließlich ein Ende und schenkte ihrem Geliebten die Unsterblichkeit. Lucia sollte dem Recht nach eines Tages die Führung der Vampire, anstelle ihrer Eltern, übernehmen. Weil es aber nie ihr Wunsch gewesen war, eine Horde von Vampiren zu leiten und zu führen und ihr jüngerer Bruder kein Anrecht darauf hatte, übergab sie die Verantwortung an ihren Gemahl. Ephraim entpuppte sich als wahrer Meister darin. Unterdessen erklärte Stefan, Kunolfs erstgeborener Sohn, er habe sich in eine Gemeine namens Esther verliebt und werde sie zur Gemahlin nehmen. Michael, Lucias Bruder, schenkte sein Herz einer Adeligen, die man Margot nannte. Jene Population dieser düsteren Wesen wuchs schnell, aber nicht alle blieben im Dienste ihrer Schöpfer. Sie entsagten sich ihrer Herren, verließen das Land, ohne zu wissen, was jenseits der Grenzen auf sie wartete. Emily beschloss weitere Hexen und Hexer zu suchen, damit der Klan an Größe gewann. Dazu durchkämmte sie weitläufig die umliegenden Regionen, scharrte alle Hexen und Hexenmeister, die sie finden konnte, um sich.

„Meine Brüder und Schwestern, kommt mit mir zu den Vampiren und Werwölfen. Eine neue Ära hat begonnen. Wir brauchen uns nicht mehr länger zu verstecken. Der junge Vampir Herr Ephraim wird dieses Land an die Spitze führen, das spüre ich. Ich kenne diese Wesen nun schon lange genug, wir haben vor ihnen nichts zu befürchten. Kommt und folgt mir.“

Sodann machte sich der neu formierte Hexenzirkel auf in den Schwarzwald. Die Geburtsstunde der drei Klans wurde eingeläutet, die noch am Anfang ihres bevorstehenden Aufstieges standen. Emily fühlte, ihr Geheimnis konnte nicht länger ruhen, die Zeit war gekommen, es frei zulassen. Und so stieß ein weiterer, äußerst mächtiger Hexenmeister namens Klaus zum Zirkel, welchen Emily als ihren Bruder vorstellte. Klaus war gerissen und manipulativ. Schnell erkämpfte er sich einen hohen Rang unter den Hexen, kam aber nie an den seiner Schwester heran und spielte ewig nur die zweite Geige.

 

 

 

Die Werwölfe

Die Wolfmenschen waren eine ganz besondere Art von Kreaturen. Bis vor dreihundert Jahren noch an den Vollmond gebunden, konnten sie sich endlich von seiner Macht über sie loseisen und waren fortan in der Lage, sich zu jeder Tageszeit und jeder Stunde zu verwandeln. Gejagt wurde stets im Rudel und die Beute fair aufgeteilt. Ebenso wie die Vampire tranken auch sie Blut, um bei Kräften zu bleiben. Rohes Fleisch bevorzugten sie dennoch. Die Speisen der Menschen verschlangen sie mit größtem Genuss, ganz besonders schätzten sie Fleisch, welches über dem Feuer briet. Eigentlich müsste man annehmen, diese Wesen wären grob, wild und ungezügelt. Diese Charakteristika schlummerten immer noch in ihnen und kamen auch oft zum Vorschein. Waren sie aber in Gesellschaft der Vampire, so benahmen sie sich sehr vornehm. An ihrem Aussehen nach der Verwandlung hatte sich seit den Tagen der Urväter nichts geändert. Sie waren monströs, ihr Fell glänzte in den unterschiedlichsten Farbtönen, ihre Mäuler waren gespickt mit messerscharfen Zähnen. So wie auch die Vampire konnten die Wölfe große Entfernungen in Windeseile zurücklegen. Ihre scharfen Krallen benutzen sie, um der Beute die Kehle aufzuschlitzen; sie waren aber auch bestens dafür geeignet, um an Bäumen hoch zu klettern oder sich festzuhalten. Ihr Liebesleben war, ähnlich wie das der Vampire, wild und hemmungslos, aber von weniger Romantik bestimmt. Im Gegensatz zu den Vampiren waren die Werwölfe in der Lage, sich auch mit den Menschen zu paaren. Solche Verbindungen kamen zuweilen zustande, wurden aber schnell untersagt. Nicht immer konnte ein solches Mischwesen lange überleben, dann erledigte sich die Angelegenheit von selbst. Wuchs es dennoch heran, waren die Erzeuger gezwungen, den Frauen die Erinnerungen an ihre Kinder zu nehmen und die Mischlingswesen worden getötet.

Stefan, der Älteste und Mächtigste unter ihnen, wurde zum Leitwolf. Zusammen mit seiner Frau Esther führte er sein stetig wachsendes Rudel an. Esther war eine kleine, zierliche Frau mit hellbraunen Locken, in der man niemals einen Werwolf vermutete. Sie war sanftmütig und bedacht, das liebte Stefan so an ihr. Der zweite Mann nach Stefan war Targhan, ein Riese von einem Mann, welcher stets mit nacktem Oberkörper umherlief. Seine Treue galt Stefan und nur ihm. Targhan hielt nicht viel von den Vampiren, akzeptierte sie dennoch. Der Leitwolf war sehr beliebt, nicht nur unter Seinesgleichen. Gerechtigkeit stand für ihn an oberster Stelle. Jeder, der etwas zu sagen hatte, fand bei ihm Gehör.

 

 

 

Die Entstehung des Rates

Nachdem Emily ihre Brüder und Schwestern mit den Wölfen und den Vampiren zusammengebracht hatte, herrschte unter ihnen zunächst Skepsis. Denn als sie erkannten, was diese waren und vor allem, wie sie sich ihre Beute beschafften, entstand ein allgemeines Abstoßen. Diese Kreaturen seien wider die Natur und eine Gefahr für alle. Nur Emily konnte sie beruhigen.

„Meine Lieben, wir selbst sind doch auch ein Verstoß gegen die Natur. Wir können Dinge tun, die jenseits aller Vorstellungskraft sind. Wir sind in der Lage, uns der Macht der vier Elemente zu bedienen, welch anderes Wesen kann das schon? Ob etwas normal oder unnormal ist, liegt allein im Auge des Betrachters. Die Vampire und die Werwölfe haben gelernt, unauffällig unter den Menschen zu gehen und sie töten nie mehr als sie zum Überleben brauchen. Ephraim, der Anführer der Vampire, wird dieses Land zu Ruhm führen. Er versteht es mit den Menschen und hat bereits mit einigen von ihnen Kontakt aufgenommen. Zunächst wäre es sinnvoll eine Art Handelsabkommen mit den Menschen zu vereinbaren. Sie geben uns von ihren kostbaren Ressourcen, Getreide, Gemüse, Obst, Fleisch ja aber auch Stoffe, Gold und andere Edelsteine. Dafür beschützen wir sie vor dem Bösen. Ihr alle wisst, welche Kreaturen da draußen ihr Unwesen treiben. Da sind die Blutsauger und die Wölfe noch harmlos dagegen. Gemeinsam können wir hier für Frieden und Ordnung sorgen und die Menschen werden nie etwas erfahren.“

Emilys Ansprache fand rasch Zuspruch. Gleich neben dem Lager der Vampire fand sich der Hexenzirkel ein. Nicht alle vertrauten diesen seltsamen Wesen und manch einer ging wortlos an ihnen vorüber. Der Großteil jedoch lernte die Blutsauger und die Wölfe zu verstehen und bald schon herrschte Einigkeit. Ephraims nächster Gedanke war es, einen Rat zu gründen, indem fortan alle wichtigen Dinge gemeinsam besprochen worden. Dieser Rat wachte über alle Geschehnisse in deren Ländereien; er hatte so zu sagen die oberste Regierung. Der hohe Rat sollte aus insgesamt zwölf Männern und Frauen bestehen. Die Oberhäupter der drei Stämme sollten daher noch drei weitere ihrer Sippschaft bestimmen, die Einzug in den Rat nehmen sollten. Es war nicht ganz einfach, unter der mittlerweile stark angewachsenen Menge die Passenden zu finden. Viele hatten kein Interesse an Politik oder Wirtschaft. Nach mühseligem Suchen fanden sich die Richtigen und der Rat feierte seine Entstehung.

 

 

 

Die Hexen

Bei der Zusammenführung der Klans war die Anzahl der Hexen noch recht klein gewesen. Gerade mal elf Hexen und Hexer konnte Emily finden. Zwar wusste sie, es gab noch mehr von ihnen, doch hatten die sich gut versteckt. Die Hexen hatten sich einst in alle Winde verstreut und viele von ihnen, die Emily einst kannte, gab es schon nicht mehr. Sie hatte überall nach ihnen gesucht und musste mit Entsetzen feststellen, dass man sie entweder bei lebendigem Leibe verbrannt, sie erhängt oder gar ertränkt hatte. Immer wieder war es zu solchen Vorfällen gekommen, weil die Menschen diese Frauen und Männer fürchteten. Daher suchten die Hexen oft Schutz im Verborgenen. Emily kannte keine Furcht, sie hatte sich immer unter die Menschen gewagt, denn sie hatte diese ebenfalls gefährliche Spezies lange genug studiert. Wurde es an einem Ort zu gefährlich für sie, verließ sie ihn und suchte sich eine neue Heimat.

Allgemein sagte man die Hexen wären Satans Kinder, weil sie der Zauberkunst mächtig waren und Dinge vollbringen konnten, zu denen sonst nur der Teufel befähigt war. Aus weiteren Geschichten wusste man, dass die Hexen dem Teufel sogar Kinder schenkten, um sich von ihm loszulösen. Diese meist aus Inzest entstandenen Kreaturen, sind der Stoff für Alpträume. Von Bosheit erfüllt streiften sie hauptsächlich des Nachts umher und verbreiteten Angst und Schrecken. Jene Hexen, welche sich zu solch einer Verbindung entschlossen hatten, waren zwar von ihrem Herrn und Schöpfer verschont worden, mussten aber ein Leben lang mit der Qual leben, ein Monster geschaffen zu haben. Einige Hexen des neuen Zirkels trugen einst solch einen abartigen Sprössling in ihrem Schoß. Obwohl sie sich sehr gut in Kräuterkunde auskannten und wussten, wie man eine ungewollte Schwangerschaft beendete, half es ihnen nichts. Die Saat war zu stark. Emily spendete jenen Trost, die die Schande über ihr Vergehen in ihren Herzen trugen. Sie versprach ihnen, es würde sich alles zum Guten wenden und wer es wagte, könnte von Neuem beginnen, wenn sie bereit wären, gemeinsam mit den Vampiren und den Werwölfen in die Zukunft zu blicken. So ließen denn viele von ihnen ihren Kummer ruhen und gingen mit Emily, als ihrer Anführerin, in eine bessere Welt.

Ungeachtet dieser früheren Zeit war es der Hexen liebstes Werk, Bücher zu studieren und zu schreiben. Inmitten ihres Dorfes befand sich eine große Bibliothek, errichtet aus Eschenholz und die Fenster waren mit buntem Glas verziert. Dort archivierten die Hexen unter anderem die Aufschriften aus dem hohen Rat, denn in jeder Sitzung wurde eine Art Protokoll erfasst, um die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft festzuhalten. Emily selbst besaß dutzende von Büchern, nicht zuletzt solche, deren Inhalt sie zu verbergen versuchte. Sie fürchtete, ihr Bruder könnte sonst zu viel in Erfahrung bringen.

 

 

 

 

Die Vampire

Aus der Blutlinie Farolds und Gwendolins entstanden, stellten die Vampire die Elite der drei Stämme dar. Sie waren von majestätischer Gestalt, hatten eine Haut wie feinstes Porzellan und die schönsten Augen, die man jemals gesehen hatte. Sie strahlten in den verschiedenartigsten Tönen, von achatblau und eismeerblau, giftgrün und olivgrün, bronzefarben und maulbeerviolett, bis zu blaugrau. Der Inbegriff von Perfektion. Obwohl sie viele Fähigkeiten mit den Werwölfen gemeinsam hatten, konnten sie weitere Talente vorweisen, welche die Wölfe nicht besaßen. Gleichwohl waren sie überheblich und arrogant, sodass die Hexen und auch die Werwölfe sie oft mieden. So auch Lucia. Nachdem ihre Eltern, zusammen mit Kunolf und Leila, ins Exil gegangen waren, sah Lucia sich vor einer Herausforderung, der sie nicht gewachsen war, dem Weitererhalt der Gemeinschaft. Also nahm sie sich Ephraim zum Mann und setzte ihn an die Spitze. Ihr Gemahl tat alles für sie und Lucia krümmte nicht einen Finger. Sie hauste in ihrem großen Schloss, umringt von einem riesigen, paradiesischen Garten und wurde den ganzen Tag umsorgt. Die anderen Vampire sammelten sich ringsum das Schloss, wo sie in ihren verträumten Häusern wohnten; betrachtete man es von der Ferne, so hatte der Bereich der Vampire die Struktur einer kleinen Stadt angenommen, ganz wie es Farolds Wunsch gewesen war. Lucia genoss es, ihren Hofstaat so nahe bei sich zu wissen; so konnte sie alles gut im Blick behalten. Sie war wegen ihrer Schönheit oft beneidet worden, denn sie musste, im Gegensatz zu den Werwolf Frauen, nicht jagen. Und während die sich gelegentlich bei der Jagd verletzten, blieb Lucia hübsch in ihrem Garten sitzen und verlor immer mehr ihren natürlichen Jagdinstinkt. Ihr Wohlstand hatte ihr den Kopf verdreht.

Ephraim hingegen war der geborene Anführer. Er und Stefan verstanden sich prächtig und Stefan beneidete ihn auch nicht um seinen Rang. Ihm reichte schon, dass er ein so großes Rudel zu versorgen hatte. Der Vampir Fürst war wortgewandt, schlau wie ein Fuchs und dennoch sanftmütig. Er suchte den Kontakt zu den Menschen, gewann ihr Vertrauen und überredete sie, ihre Ressourcen mit ihnen zu teilen. Dafür würde er sie mehr als angemessen entlohnen und zudem das Land für alle sicherer machen. Wenn ein Mensch eine Bitte oder sogar eine Klage vorzubringen hatte, so sollte er diese dem Rat vortragen. Ein Jeder würde Gehör finden. So schaffte es Ephraim, sich beim Volk sehr beliebt zu machen und sie schauten zu ihm auf. Ohne zu wissen, welche Wesen zu ihren Landesgrenzen hausten und was sie hinter ihrer Maskerade verbargen.

 

 

Ein florierendes Land

Dreihundert Jahre nach der ersten Besiedlung durch Kunolf und Farold, hatten die Hexen, Vampire und Werwölfe es geschafft, sich zu formieren. Ihre Anzahl war um ein vielfaches gestiegen und so zählte man im Jahre 900 nach Christus fünfzig Hexen, einhundert und zwanzig Vampire und einhundert Werwölfe in ihrer Heimat, dem Schwarzwald. Räumlich waren sie dennoch voneinander getrennt. Während die Hexen ihre Bauten mehr im Wald ansiedelten, lebten die Vampire auf offenem Land. Sie hatten sich eine richtige kleine Stadt erbaut und in der Mitte stand das große Schloss, indem Lucia mit Ephraim, ihrem Bruder Michael und seiner Frau Margot lebte. Die Werwölfe hatten sich nahe der Vampire angesiedelt, um immer mit ihnen in Kontakt zu bleiben; die Vampire bildeten so gesehen das Zentrum. Die Menschen mieden jene Gegenden und siedelten sich weit außerhalb der Grenzen an; das verschaffte den Blutsaugern und den Wölfen die Gelegenheit, auf großem Terrain zu jagen. Ihre Jagdgebiete wurden aufgeteilt und niemand durfte im Territorium des anderen nach Futter suchen. Nach kurzer Zeit entstanden die Handelsrouten, auf welchen die Menschen ihre Waren zu den Vampiren brachten. Diese Routen waren im Rat gemeinsam erschlossen worden, und die Menschen wurden dazu angehalten, ausdrücklich nur diese zu benutzen. Die Hexen bildeten um die Routen eine Art Schutzzauber, den kein sterbliches Wesen durchdringen konnte. So gerieten die Menschen nie fern ab der Wege. Die Klans besaßen große Reichtümer, nicht zuletzt, weil die Stammesväter einst einen herrenlosen Drachenschatz geborgen hatten. Zudem gehörte ihnen ein Silberbergwerk, indem Menschen für sie arbeiteten. Durch ihr Gold und Silber gedieh die Wirtschaft der Menschen stark. Die Felder konnten jedes Jahr bestellt werden, Vieh konnte heran gezüchtet werden und die Gärten explodierten geradezu. Um nicht zu hohe Ausgaben zu haben, schlug Emily vor, man könne auch im eigenen Land Vieh züchten und Gärten bepflanzen. Ihr Vorschlag fand sogleich großen Zuspruch, was den Neid ihres Bruders nur noch mehr anfachte.

Kurzum, das ganze Land erwachte, blühte und wuchs heran. Und zu jenen Tagen ging die freudige Nachricht um, Lucia und auch Esther trugen ein Kind unter ihrem Herzen. Im Jahre 996 nach Christus erblickten die beiden Erben der großen Dynastien das Licht der Welt. Lucia trug einen Sohn aus, mit dem Namen Tim, Esther gebar ebenfalls einen Knaben, der fortan Sven genannt wurde. Die Geburt wurde gebührend gefeiert. Alle Bewohner wurden eingeladen. So fand Ephraim sein Gefallen am Zelebrieren. Die beiden Burschen wuchsen zusammen auf; sie fanden großen Gefallen daran, in den Gärten umherzutollen, die Hexen zu ärgern und die Tauben in ihrem Verschlag zu erschrecken.

„Da fliegen dann immer die Federn kreuz und quer“, lachten sie.

Tim und Sven hatten beide an Emily einen Narren gefressen, da sie es mit den beiden sehr verstand. Emily versuchte in jedem der Kinder verborgene Talente zu entdecken, denn sie hatte einst eine Vision gehabt von einem Kind, welches im Zeichen des Drachen geboren würde und die Blutlinien der drei Klans vereinen sollte. Dieses Kind würde ungeheure Kräfte besitzen und die Welt vor der totalen Finsternis bewahren können. Weder Tim noch Sven zeigten diese Merkmale auf und auch keines der anderen Kinder. Die Hexe spürte jedoch, dass sich innerhalb der Gemeinschaft etwas regte. Eine Verbindung kam zustande, aus der dieses erhoffte Kind hervorgehen würde. Jetzt brauchte sie nur noch zu warten.

 

 

Zuwachs

… ab hier erzählt Emily die Geschichte weiter

Es war die Nacht des elften Septembers. Wir schrieben das Jahr eintausend. Draußen tobte ein Sturm und rüttelte mit seiner bleichen Hand an den Ästen der Bäume, sowie an den Fensterläden der Häuser. Eine große Geburt stand bevor, das hörte ich im Wind. Dann wurde ich gerufen. Die Herrin Lucia, so zu sagen die Königin unter den Vampiren, erwartete ihr zweites Kind. Sie lag nun schon fast dreißig Stunden in den Wehen. Freilich, die Geburt ihres Sohnes war schneller verlaufen und war nicht so schmerzhaft gewesen. Dass sie sich derart quälen musste, hatte Lucia nicht erwartet. Dabei müsste gerade sie wissen, dass das Kind in ihrem Bauch nicht normal ist. Ich betrat das Entbindungszimmer. Drei Hebammen und ein paar Dienerinnen waren dort. Hektik lag in der Luft. Lucia überkam eine Wehe und sie schrie. Eine der Hebammen kam auf mich zu.

„Es dauert nun schon viel zu lange. Ich weiß nicht, ob sie die Nacht überstehen wird.“

„Das wird sie, vertraut mir.“

Ich habe noch nie verstanden, weshalb die Vampire und die Werwölfe die hiesigen Hebammen zu den Geburten dazu riefen, wenn wir Hexen uns doch viel besser auf Entbindungen verstanden. Vermutlich, um die Bindung zu den Menschen zu festigen, damit niemand auf falsche Gedanken käme. Lucia schrie erneut heftig auf. Ich spürte, wie sich das Kind in ihr heftig regte. Es wollte unbedingt aus ihr heraus. Ich legte ihr ein kaltes Tuch auf die Stirn und flüsterte ihr ins Ohr.

„Lucia, hör mir gut zu. Das Kind in deinem Leib ist sehr stark. Nur ich kann dir jetzt noch helfen.“

Sie sah mich mit glasigen Augen an. „Was hast du vor?“

„Das, wozu ich geschaffen wurde, eine Hexe sein.“

Ich drehte mich zu den Hebammen um.

„Meine Damen, ich danke Euch für Eure Dienste. Ab hier übernehme ich.“

Eine runzlige alte Frau trat hervor und legte Beschwerde ein.

„Das könnte Euch so passen. Diese Frau steht kurz vor der Entbindung. Wir können jetzt nicht gehen.“

„Doch das könnt ihr. Verzeiht, wenn ich so offen spreche, aber ihr verfügt weder über das Wissen noch über die Mittel, das Kind aus ihr raus zu holen. Ich jedoch schon. Packt euren Kram und verschwindet von hier, sofort. Oder muss ich noch deutlicher werden?“

Es missfiel ihnen sehr, sie raunzten, schüttelten ihre Köpfe und verließen schließlich doch das Zimmer. Lucia war schweißgebadet. Ich legte meine Hände auf ihren Bauch und konzentrierte mich.

„Meine Herrin, ich möchte, dass du dich sammelst. Atme tief durch. Und nun sieh in die Flammen des Kamins. Was erkennst du?“

Nur mit viel Kraft schaffte sie es, ihren Kopf zu drehen, sie war schon bald am Ende ihrer Kräfte, ich musste mich beeilen.

„Da ist etwas Großes, etwas Geflügeltes. Es kommt auf mich zu.“

„Gut, konzentriere dich.“

Sie schrie heftig auf, ihr Kopf hielt nicht mehr still, drehte sich von einer Seite zur anderen, als hätte sie einen Anfall.

„Lucia, wenn dir dein Leben lieb ist, dann fokussiere dich weiter auf die Flammen.“

Sie brüllte heftig auf, wie nie zuvor. Das Kind bohrte seine Hände gegen die Bauchdecke. Ich hatte Mühe dagegen zu halten. Das Fenster wurde durch einen heftigen Windstoß aufgerissen, die Flammen der Kerzen im Raum loderten heller und größer auf als zuvor, der hereinkommende Wind nährte sie. Das Feuer im Kamin explodierte, stieg bis an die Decke; ich hörte den Ruf des Drachen. Noch immer presste ich gegen den Bauch.

„Lucia presse jetzt, presse.“

Sie nahm all ihre Kraft zusammen, schrie, schrie lauter. Der Kopf des Kindes kam zum Vorschein, dann der Rumpf. Ich sah die Arme, die Beine und zog das Kind schließlich aus dem Mutterleib heraus. Ihre Lungenflügel entfalteten sich und sie gab einen gesunden Schrei von sich. Sogleich durchtrennte ich die Nabelschnur. Lucia bekam von alledem nichts mit. Sie war vor Überanstrengung in eine Art Koma gefallen. So hatte ich Zeit mich um den Säugling zu kümmern. Ich tauchte sie in die Waschschüssel, um sie von ihrer Schmiere zu befreien, wickelte sie dann in ein Tuch. Sie hatte ihre Augen geöffnet; so ein sattes Blau hatte ich noch nie gesehen, selbst bei einem Vampir nicht; es musste wohl saphirblau sein. Das Mädchen war bildschön, sie strahlte mich mit ihrem engelsgleichen Lächeln an. Vorsichtig tupfte ich ihre Haut von der Feuchtigkeit ab. Dabei fand ich das, wonach ich gesucht hatte. Neben der Nabelschnur hatte sich ein rotes Muttermal, in Form eines kleinen Drachen, in die Haut gebrannt. Ich umwickelte das Kind mit frischen, vorgewärmten Leintüchern und bettete es in seiner Wiege. Derweil entfernte ich aus Lucias Unterleib die Nachgeburt und warf sie ins Feuer. Lucia kam nur langsam wieder zu sich. Sie war erschöpft, dennoch legte ich das Kind in ihre Arme. Tränen liefen über Lucias Gesicht. Die Geburt hätte sie fast umgebracht. Wäre ich nicht dazu gekommen, hätte das Kind seine Mutter von innen heraus zerrissen.

„Ist das die Wirklichkeit oder habe ich es nur geträumt? Sieh sie dir an, Emily. Ist sie nicht wunderschön?“

„In der Tat.“

„Ich erinnere mich. Da waren Flammen gewesen, überall Flammen. Was hat das zu bedeuten?“

„Dein Kind wurde im Zeichen des Drachen geboren. Siehst du das Muttermal neben ihrem Bauchnabel? Ein unverwechselbares Zeichen.“

„Wieso ich, Emily? Wieso meine Tochter?“

„Du solltest dich geehrt fühlen, dies geschieht schließlich nur einmal alle tausend Jahre.“

„Aber, ich wurde auch nicht in diesem Zeichen geboren, warum also …“

„Dein Vater wurde es aber.“

„Ach, tatsächlich? Das wusste ich gar nicht.“

„Er war dies bezüglich immer sehr diskret. Von ihm habe ich auch vieles über die großen Feuerschlangen gelernt, schließlich hatte er sie ja studiert und hatte mir sein Wissen weitergegeben.“

Sie musste schlucken, der Gedanke an ihren Vater war ihr wohl im Halse stecken geblieben. Das Mädchen schlief seelenruhig, fasste ab und an nach den Händen seiner Mutter.

„Verzeih mir die kleine Abschweifung in alte Zeiten. Ich mochte deinen Vater einfach und ebenfalls deine Mutter. Ich bedauere es sehr, dass sie ins Exil gingen.“

„Ich nicht.“

Da war sie wieder. Die eiskalte, herzlose Persönlichkeit in ihr. Manchmal hasste ich dieses Weib für ihre Arroganz. Die Gelegenheit kam passend, ich hatte sowieso noch ein offenes Wort mit ihr zu bereden.

„Vor zehn Monden kamst du zu mir und wolltest von mir Rainfarnsaft haben. Weshalb?“

Ihre plötzlich auftretende Nervosität verriet sie. Lucia rückte in ihrem Bett hin und her, vermied den Augenkontakt mit mir.

„Na ja, du weißt ja, Weibergeschwätz. Eine alte Frau sagte mir mal, davon würde ich noch schöner werden und dann wollte ich es eben ausprobieren.“

Ich musterte sie, dass sie log konnte ein Blinder erkennen.

„Vampire altern nicht. Sie werden daher auch nicht runzlig und hässlich. Du wolltest den Saft nur aus einem Grund haben, um das Kind, welches du heute ausgetragen hast, im Keim zu ersticken, noch bevor es gedeihen konnte.“

„Das kannst du gar nicht wissen. Ich habe damals niemandem von meiner Schwangerschaft erzählt.“

„Ich bin eine Hexe, ich weiß viele Dinge. Ich habe die Frucht in deinem Leib schon gesehen, als sie dir gerade erst eingepflanzt wurde.“

„Doch was zählt ist, dass ich es nicht tat. Mir war klar, du hattest mir keinen Rainfarnsaft gegeben, vermutlich, weil du das Gute in mir erkanntest und wusstest, ich wäre zu so etwas nicht fähig.“

„Natürlich war mir klar, dass du zu so etwas nicht den Mumm hast. Dir wurde aber in jenem Moment bewusst, dass du sie alle täuschen könntest. Du wolltest auch mich täuschen.“

„Ich weiß nicht, was du meinst“, verlegen blickte sie zur Seite.

Es war an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen. Früher oder später hätte ich sie ohnehin damit konfrontiert, warum dann nicht sofort?

„Ich weiß von deinem Vergehen, von deinem Verrat an Ephraim, weshalb sonst sollte eine Mutter so eine Gräueltat begehen wollen? Nur wenn sie sich der Herkunft ihres Kindes schämt.“

Schlagartig wurde ihr bewusst, was ich meinte. Panik stieg in ihr hoch.

„Bitte, du darfst Ephraim nichts davon erzählen, niemandem. Sonst wird das schlimme Folgen haben.“

„Das ist mir wohl bewusst, Lucia. Das Letzte, was auch ich will, ist dein Untergang. Möglicherweise könnten wir uns einigen und uns sogar gegenseitig helfen. Ich werde dich nicht verraten, wenn du mir etwas versprichst.“

„Was willst du?“

Mein Blick wanderte zu dem Mädchen in ihren Armen. Lucia befürchtete schon das Schlimmste.

„Nein, nein, du kannst sie mir nicht wegnehmen, bitte.“

„Ich dachte, du wolltest sie nicht haben.“

„Es tut mir leid, ich habe einen Fehler gemacht, aber ich liebe sie. Du darfst mir das nicht antun, bitte, Emily.“

„Beruhige dich, ich will sie dir doch gar nicht wegnehmen. Alles, was ich möchte ist deine Zustimmung, dass ich sie unterrichten darf.“

„In was willst du sie unterrichten?“, völlig aufgelöst hielt Lucia unter Tränen an ihrer Tochter fest. Jetzt saß sie in der Zwickmühle, sie musste mir einfach geben, worauf ich bestand.

„In allem, vorrangig dennoch in der großen Hexenkunst. Ja, du hast richtig gehört. In deiner Tochter schlummern nicht nur zwei Wesen, sondern drei. Sie vereint die drei Blutlinien der drei Stämme. Ich kann sie zu einer Hexe ausbilden. Alles Weitere wird von selbst kommen, es ist ihr ja in die Wiege gelegt worden. Und mit mir als Mentorin an ihrer Seite, wird sie überaus mächtig werden.“

Sie dachte angespannt nach, obwohl sie wusste, sie hatte keine andere Wahl. Ihr Gesicht entspannte sich allmählich, ihre Entscheidung war gefallen.

„So viel Schmerz musste ich erdulden, um sie auf die Welt zu bringen. Damit ich jetzt erkenne, ich kann nichts mehr an ihrem Schicksal ändern. Nimm sie in deine Obhut, Emily. Lehre sie, was immer du sie lehren willst und mach, dass ich stolz auf sie sein kann.“

„Dann ist es beschlossen. Ruhe dich jetzt aus. Dein Mann wird bald von der Jagd heimkehren und eure Tochter sehen wollen.“

Ich stand auf und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als Lucias Stimme von hinten nochmal an mich herandrang.

„Emily, du besitzt die Gabe in die Zukunft zu blicken. Was kannst du mir über meine Tochter sagen?“

Ich hatte das Schicksal des Mädchens einst in den Flammen gelesen, alles konnte ich der Mutter nicht erzählen, ohnedies war die Zukunft in ständiger Bewegung. Eines konnte ich ihr dennoch ruhigen Gewissens sagen.

„Sie wird zu einem mächtigen Wesen heran wachsen. Stark, unbezwingbar. Und sie wird großes vollbringen.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Enthüllungen

Ich hatte Lucia nicht wirklich erpresst, sondern ihr nur zum Denken gegeben und schlussendlich hatte es mich einen Schritt weiter gebracht; die Ausbildung des Mädchens war mir bewilligt worden. Ephraim gefiel dieser Gedanke sehr gut. Nur in meinem eigenen Zirkel stieß ich auf Gegenspruch. Es wäre nicht möglich, einem Vampir die große Kunst des Hexens zu lehren. Bald würde ich sie eines Besseren belehren. Bis es allerdings soweit war, beobachtete ich meinen zukünftigen Schützling einfach nur. Fast jeden Tag besuchte ich sie und ihre Mutter und obwohl ich anfänglich meine Schwierigkeiten mit Lucia hatte, merkte ich doch schnell, ihre Tochter veränderte Lucias Wesensart. Sie war bei weitem nicht mehr so überheblich, wie einst. Die Entwicklung des Mädchens verlief in einem rasanten Tempo. Nach nur einem Monat konnte sie ihren Kopf selbstständig halten, mit vier Monaten fing sie zu krabbeln an, ging nahtlos ins Sitzen über und konnte nach weiteren acht Wochen laufen. Vampir Kinder sind doch erstaunlich. Sie blieben ein ganzes Jahr im Mutterleib, entwickelten sich hinterher aber bedeutend schneller als Menschenkinder, weshalb man sie niemals untereinander bringen sollte. Und ehe man sich versah, waren sie erwachsen.

Als das Mädchen, man taufte sie übrigens auf den Namen Larissa, was die Unbesiegbare bedeutet, ein Jahr alt war, kam ich erneut zu ihr. Sie war zu einem süßen Ding herangewachsen, mit Haaren so dunkel wie Ebenholz, ein blasser Teint, ein strahlendes, unschuldiges Lächeln und diesen unverwechselbaren, blauen Augen. Lucia war gerade mit ihren Kindern im Garten; Tim und seine Schwester fingen fleißig Schmetterlinge ein. Es war wieder Herbst geworden, trotzdem tummelten sich die Schmetterlinge noch immer im Hofgarten und erstrahlten in den sattesten Farben. Den beiden Kindern dabei zuzusehen, wie sie sich leichtfüßig vom Boden abstießen, in die Höhe sprangen, um an die Schmetterlinge weiter oben heran zu kommen, war wie Magie selbst.

Ich ging zu Lucia, die auf einer Bank nahe ihrer Kinder saß. Sie hatte mich nicht bemerkt. Umso größer war ihre Freude, als sie mich erblickte.

„Emily, schön dich zu sehen. Bitte setz dich. Ich habe dich schon vermisst, du warst eine ganze Weile nicht mehr da, was war los?“

„Ich hatte einige Angelegenheiten zu klären“, während ich aussprach setzte ich mich neben sie.

„Ich denke in letzter Zeit oft an die Stammesväter. Dass du jetzt schon zwei Kinder hast, hätte sie bestimmt gefreut.“

„Ja, ich muss auch oft an sie denken, vor allem an den Tag, an dem sie fort gingen. Einfach so, ohne eine Erklärung. Wenn ich einsam bin, gehe ich oft runter in die großen Hallen, wo man ihnen zu Ehren ein Denkmal errichtet hat, knie mich nieder, spreche zu ihnen und frage sie, wo sie sind. Und dann bitte ich sie um Vergebung für das, was ich getan habe.“

„Es gibt nichts zu vergeben, Lucia. Deine Tochter ist nun mal wie sie ist. Wenn du nicht du ihre Mutter gewesen wärst, dann jemand anderes. Nur war dein Wille in jenem Moment eben zu schwach.“

Sie schluckte, starrte in die Ferne. Der Fehler, den sie einst beging, war zum Leben erwacht und tollte gerade vor ihrer Nase herum. Dennoch liebte sie ihre Tochter abgöttisch und würde ihr niemals Leid wünschen.

„Ich habe dich das nie gefragt, aber weshalb konntest du nicht Nein sagen? Weshalb fielst du in seine Arme? Du hattest doch alles, was du wolltest. Reichtum, Macht, einen liebenden Ehemann, reichte das nicht?“

„Denkst du wirklich, das war das Leben, welches ich mir gewünscht hatte?“, sie schaute mich mit kalten Augen an, doch hinter dieser Kälte lag ein gewisser gezügelter Zorn, „einen liebenden Mann, ja. Der mich spät in der Nacht weckte, wenn er von seinen Geschäften zurückkam, nur um seine sexuellen Triebe auszuleben. Der mich nur nahm, um des Nehmens Willen. Du hast Recht, ich hatte alles, bis auf Liebe und Zuneigung. Und das braucht ein Vampir nun auch einmal.“

Von diesem Geständnis war ich gänzlich überrascht. Dieser Gedanke war mir nie gekommen. Der Gedanke, Lucia wäre mit Ephraim längst nicht mehr glücklich. Für mich stellten sie immer ein perfektes Vorzeigepaar dar. Lucias Schauspielkunst war demnach sehr gut.

„Das tut mir leid, Lucia. Ich wusste nicht, dass es zwischen dir und Ephraim so schlecht steht.“

„Nein, das tut es auch nicht. Versteh mich nicht falsch, ich liebe Ephraim, ich werde ihn immer lieben. Aber er hat seine Leidenschaft verloren, dieses Glühen von damals, als ich ihn kennen lernte.“

Die herankommenden Kinder unterbrachen unsere Unterredung.

„Emily, Emily, zeigst du uns einen Zaubertrick?“, fragte Tim mich aufgeregt.

„Natürlich. Sei so gut und gib mir den Stein dort drüben.“

Er hob ihn auf und ließ ihn in meine Hand fallen.

„Und jetzt schaut genau her.“

Ich schloss meine Hand um den Stein und als ich sie wieder öffnete, saß an Stelle des Steins ein kleiner bräunlicher Frosch, der wild quakte.

„Toll, wie machst du das?“

„Ich bin eine Hexe, ich kann solche Dinge.“

Ich setzte den Frosch in Tims Hand. „Ihr könnt ihn behalten, wenn ihr wollt.“

„Geht jetzt ins Haus, Kinder. Ich komme gleich nach. Ich muss noch ein paar Dinge mit Emily besprechen.“

Tim nahm seine Schwester auf seinen Rücken und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. Das Mädchen hatte sichtlich Spaß daran, mit ihrem großen Bruder herumzualbern. Die innige Verbindung zwischen den beiden erwärmte jedem das Herz. Dann wandte ich mich wieder der Mutter zu.

„Deine Tochter ist wirklich erstaunlich, gerade mal ein knappes Jahr alt und schon ist sie in der Lage, in die Lüfte zu springen wie eine Katze.“

„Ja, sie ist etwas ganz Besonderes. Wann wirst du sie unterrichten?“

„Hab Geduld, das hat noch Zeit. Jetzt lasse ich sie erst einmal Kind sein.“

Lucias Verhalten gefiel mir nicht, so distanziert und dennoch dieser fragende, nach Hilfe suchende Blick; irgendetwas brannte ihr auf der Seele und sie brach ihr Schweigen.

„Eines Tages wird sich meine Tochter verwandeln, in einen Werwolf. Was soll ich dann tun? Wie soll ich mich verhalten? Was, wenn jemand es heraus bekommt?“

„Es wird niemand erfahren, solange du dafür Sorge trägst, dass sie es auch niemandem erzählt.“

„Weiß sie es denn?“      

„Nein, das Mädchen ahnt nicht, welche Kräfte in ihr schlummern und das ist auch gut so.“

„Soll ich es ihr vielleicht sagen?“

„Nein, auf gar keinen Fall. Das Mädchen wird sich verwandeln, so oder so. Sie wird nicht wissen, wie ihr geschieht, also wird sie damit zu dir kommen und nur zu dir. Denn du bist ihre Mutter, du hast Einfluss auf sie.“

„Und was mache ich dann?“

„Na, was schon? Ihr eintrichtern, dass sie es niemandem sonst verraten darf, allen voran ihrem Vater nicht. Denn eines ist sicher, sollte dein Geheimnis je gelüftet werden, dann ist dein Status am Hofe ruiniert und ihrer ebenso. Ich wüsste nicht, ob ich die Meinen davon überzeugen könnte, über diese Sache hinwegzusehen und das Kind so zu akzeptieren.“

Sie nickte schwach. „Wann wird sie sich verwandeln?“

Diese Unwissenheit ging mir auf die Nerven. Wusste diese Frau denn nichts, außer sich hübsch zu machen und in den Tag hineinzuleben? Unglaublich.

„Herrgott, Lucia. Weißt du denn gar nichts über Werwölfe? Du bist doch mit einem groß geworden.“

„Ich habe leider nicht viel mit ihnen zu tun. Naja, bis auf diese paar Male.“

„Die jungen Werwölfe verwandeln sich das erste Mal im Alter von sechzehn, dann sind sie auch geschlechtsreif.“

„Ich mag gar nicht daran denken. Allein bei dem Gedanken, jemand könnte mein Mädchen anfassen, vergeht es mir.“

Lucias Zukunftsängste waren unbegründet, ich versuchte ihr das klar zu machen.

„Hör mir zu, du brauchst keine Angst davor haben, das ist völlig normal. Deine Tochter mag in deinen Augen zwar noch das süße Püppchen sein, aber eines Tages ist sie das nicht mehr. Dann ist sie eine junge, reife, todbringende Vampirfrau. In jedem Fall musst du für sie da sein, selbst dann, wenn es um Themen geht, die dir vielleicht nicht gefallen.“

Sie atmete tief durch. Es würde hart für Lucia werden, ihr kleines Mädchen einmal ziehen zu lassen.

„Wie dem auch sei, bis dahin haben wir noch etwas Zeit. Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich habe noch was zu erledigen.“

„Guten Tag, Emily.“

Ich machte eine kleine, schwungvolle Verbeugung, der Höflichkeit Willen, und zog davon.

Dreimal kam der Frühling und dreimal ging er wieder. Und als Larissa vier Jahre alt war, beschloss ich, mit ihrer Ausbildung anzufangen.

 

Erste Unterrichtsstunde

Jeden Tag kam Larissa in mein Hexenhaus, immer von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Da ich abseits der anderen Hexen mitten im Wald wohnte, wurden wir nicht gestört. Dass ich nur sie unterrichtete, verstand ihr Bruder überhaupt nicht und ich fürchtete schon, es könnte einen Keil zwischen sie treiben. Also ließ ich Tim auch zu mir kommen. Als er eine Weile bei uns war und merkte, wie anstrengend der Unterricht war, verließ er uns schnell und kam nicht wieder. Am heutigen Morgen begann ich mit etwas Leichtem und befragte sie nach der Geschichte der Vampire.

„Was kannst du mir über deine Vorfahren erzählen? Weißt du vielleicht schon etwas?“

Ihre süße und dennoch wohlklingende Stimme erfüllte den Raum und sie begann zu erzählen.

„Die Vampire stammen von Farold und Gwendolin ab, welche die Eltern meiner Mutter sind und somit meine Großeltern. Sie gingen jedoch ins Exil, warum weiß keiner.“

„Das ist gut, für den Anfang. Aber weißt du auch, was vor Farold und Gwendolin war?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Nun, es gab einmal eine riesengroße Fledermaus, die hier im Schwarzwald ihr Unwesen trieb. Sie war der Urvater der Vampire. In einem Kampf verlor sie ihre Flügel, weshalb die Vampire heute nicht mehr in der Lage sind zu fliegen. Sie zeugte schlussendlich einen Sohn, bevor ihre Zeit abgelaufen war. Dieser Sohn ist Farold, dein Großvater.“

„Was meinst du mit abgelaufen? War er denn nicht unsterblich?“

„Nein, im Gegensatz zu den Reingeborenen, war er es nicht.“

„Und warum sind sie es dann?“

„Weil eine mächtige Hexe ihnen diese Gabe schenkte.“

„Und wer war sie?“

Ein Kloß bildete sich in meiner Kehle, ich stutze einen Augenblick und mir wurde es schwer ums Herz. So viel hatte ich auf mich genommen, um diesen Teil aus der Vergangenheit zu löschen. Niemand wusste mehr davon. Ich log nicht gerne, dennoch tischte ich dem Mädchen nur die halbe Wahrheit auf.

„Das weiß keiner, in den Geschichtsbüchern ist nichts darüber zu lesen.“

Die kleine hatte ein enormes Wissen. Aus dem Stehgreif heraus konnte sie mir alles Nennenswerte über Vampire sagen.

„Wir Vampire sind kalte Wesen. Wir trinken Blut, um uns zu stärken. Bei Nacht können wir einwandfrei sehen. Unsere Augen und Ohren sind in der Lage, über mehre Meilen klar und deutlich zu hören und zu sehen, außerdem können wir sehr schnell rennen, sodass unsere Bewegungen nur von anderen unsterblichen Wesen wahrgenommen werden können. Unsere Eckzähne sind scharf, damit reißen wir unsere Beute. Sind wir nicht auf Jagd eingestellt, so sind die Zähne normal wie die von den Menschen. Wir scheuen das Tageslicht nicht, sondern lieben es. Die Nacht ist dennoch unser Verbündeter.“

„Gut, sehr gut. Und was kannst du mir über die Wölfe sagen und deren Herkunft?“

„Leider weiß ich nicht viel über sie. Mutter hat mich bislang nicht oft mit ihnen in Kontakt gebracht. Was ich allerdings weiß, Stefan ist ihr Anführer. Er ist groß und schlaksig, mit Haaren so dunkel wie Ebenholz wie das Meine, und kantigen Gesichtszügen.“

„Nun, ich sehe daran müssen wir noch arbeiten. Nimm bitte deine Schreibfeder und dein Buch und notiere, was ich dir sage.“

Dann klärte ich das Mädchen über die Wölfe auf. Woher sie stammen, wie sie zu den Vampiren stehen, dass es ein Rudel gibt, indem Hierarchie herrscht, wie sie jagen und beschrieb obendrein ihr Aussehen.

„Du musst wissen, die Werwölfe sind den Vampiren und auch den Hexen körperlich überlegen, doch die Vampire haben besondere Talente. Sie können beispielsweise die Gedanken anderer lesen und kontrollieren. Die Werwölfe sind zwar auch imstande Gedanken zu lesen, aber nur von ihresgleichen und nur, wenn sie sich verwandelt haben. Das bringt ihnen einen großen Vorteil bei der Jagd.“

Die Kleine schrieb alles fleißig auf, unterbrach mich nie und stellte nur dann eine Frage, wenn ich zu reden aufhörte.

„Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam zum Dorf der Werwölfe gehen, damit du sie kennen lernst? Hexen und Vampire sind dort willkommen.“

„Ja, bitte.“