GoDessia-Möhrchenmassaker-ebook

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Go!Dessia –

Das Möhrchen-Massaker

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Go!Dessia – Das Möhrchen-Massaker

Marina Heidrich

 

ISBN 978-3-945230-33-6

1. Auflage, Allmersbach im Tal 2018

 

 

 

 

 

Cover & Zeichnungen: Christine Schlicht

Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher

Lektorat: Tanja und Marc Hamacher

 

 

 

 

© 2018, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal

 

www. leserattenverlag.de

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine drei da oben.

Ich kann euer Lachen fühlen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort und Danksagung der Autorin

 

Wow, mein erster fertiger Roman! Meine erste abgeschlossene Kopfgeburt! Seit vielen Jahren liegen mehrere seiner Geschwister in meiner Schreibtischschublade, irgendwie sind sie aber immer noch in der Embryonalphase. Aber Go!Dessia ist ein frühreifes Kerlchen, das einfach ans Licht wollte. Über die Jahre habe ich etliche Kurzgeschichten veröffentlicht, in denen auch immer ein Körnchen Marina steckt. In Go!Dessia steckt ein ganzer Felsbrocken.

Als ich meine Idee im Freundeskreis vortrug, kamen die ersten kritischen Kommentare. Alle fanden den Grundgedanken zwar gut, aber die Gegner der Go!Dessianer führten zu kontroversen Diskussionen. Warum können es denn nicht ganz normale Außerirdische sein? Oder ein einfacher, durchgeknallter Serienkiller? Wieso ausgerechnet der IS? Es fiel immer wieder die Frage: Darf man über Anschläge und den IS Witze machen? Darf man mit dem Thema Terrorismus humorvoll umgehen?

Nach reiflicher Überlegung stand für mich die Antwort fest: Nein, man darf nicht – man muss!

Es geht nicht darum, die Opfer dieser feigen Anschläge nicht ernst zu nehmen, sondern die Sinnlosigkeit der extremistischen Handlungen einiger verblendeter Idioten als das dazustellen, was sie letztendlich sind. Der wunderbare Charlie Chaplin hat es in seinem grandiosen Film von 1942 vorgemacht. In Der große Diktator schafft er eine sensationelle Balance. Das Grauen und das Leiden der Opfer voller Respekt darzustellen und bei aller Gefährlichkeit Hitler trotzdem als die erbärmliche Witzfigur zu charakterisieren, die er nun einmal tatsächlich war. Ok, ich bin nicht Chaplin. Aber es nützt nichts, Selbstmordattentäter wochenlang auf allen Titelseiten zu bringen, genau das wollen sie ja. Sie sehen sich als Helden. Ich sage: Ja, bringt ein Titelfoto von ihnen – aber darauf sollten sie Hasenzähnchen, Clownsnasen und ein Schweinerüsselchen tragen. Wenn die stolzen Krieger Gottes, aufrechte Patrioten und all das ganze andere hirnlose Geschmeiß (egal ob von rechts oder links oder religiös motiviert) wissen, dass sie nach ihrem Tod alle gleich im Gedächtnis bleiben, nämlich als lächerliche Pappnasenträger, dann nimmt das dem Ganzen vielleicht die heroische Komponente. Lacht sie in Grund und Boden! Das ertragen sie nicht.

Ein Satz, der mich wirklich beeindruckt hat, ist die Aussage von Antoine Leiris. Der französische Journalist hat beim Anschlag am 13.11.2015 im Pariser Bataclan mit 89 Toten seine Ehefrau, die Mutter seines 2-jährigen Sohnes verloren. Seine entschlossene Aussage an die Täter hat mich unendlich berührt: »Meinen Hass bekommt ihr nicht.« Bäng! Der Satz ist mir mitten ins Herz geknallt.

Aber abgesehen von der Weltrettungsstory ist Go!Dessia – Das Möhrchen-Massaker vor allem eins: eine Liebeserklärung an die Musik und die Freundschaft. Das ist es, was wirklich zählt.

Meine Güte, jetzt müsste eigentlich eine endlose Liste all derer folgen, bei denen ich mich bedanke. Aber so viel Platz habe ich hier gar nicht und garan- tiert vergesse ich die Hälfte.

Daher mache ich es kurz: Meine komplette Familie, auch wenn es prosaisch wirkt – euch brauch ich nicht extra zu danken, ihr kennt mich sowieso und ich liebe euch.

Danke, Regina Ziegler für’s Mut machen, Zupacken, Kopfzurechtrücken und vieles vieles mehr seit 35 Jahren.

Merci, Annegret Eppler, dass du dich in mein Leben gesungen und mein Herz geschlichen hast.

Ralf Kühnert, mein Allerbester – ohne deine Tastatur, auf der tatsächlich alle Buchstaben erkennbar sind, hätte die Arbeit am Möhrchenmassaker dreimal so lange gedauert. Lange Fingernägel und Computertastaturen – das geht einfach nicht lange gut.

Danke, Dieter Meyer, dass ich deinen PC nutzen durfte, als die Zeit davonlief.

Und natürlich danke an meine Band Geddess: Rio Grau, Wolfgang Baues, Marcus Burkhardt und Steff Niebel. Meine selbstgewählten Brüder, meine schattigen Sonnenstrahlen, die ich abwechselnd umarmen und verprügeln könnte.

Ohne Geddess kein Go!Dessia. Als ich meinen Männern erzählt habe, dass ich einen Roman schreibe, in dem es um eine Band in reiferen Jahren geht, haben sie zunächst wohlwollend genickt. Dann beschrieb ich ihnen die Story und die einzelnen Charaktere. Was soll ich sagen? Die Kommentare gingen von »Du hast dermaßen einen an der Klatsche«, über »Stöööööhn!«, bis hin zu »Ich verklag’ dich«, und zu guter Letzt: »Oh Gott! Raus aus meinem Kopf!« Übersetzt heißt das: Wir sind stolz auf dich.

Und ihr glaubt ja gar nicht, wie viel von uns in den chaotischen Göttercharakteren steckt. Und wie viele Ereignisse tatsächlich der Realität entsprechen. Nicht nur die Freitagsproben, der Sekt und ein Marder …

Ausdrücklich bedanke ich mich bei meinen beiden Verlegern Marc Hamacher und Tanja Kummer vom Leseratten Verlag, die mir ihr Vertrauen und ihre Freundschaft geschenkt haben. Von Anfang an haben sie an mein Baby geglaubt – und sind somit die Paten. Die arme Tanja ist als meine Lektorin tief in Mias bzw. Marinas wirres Köpfchen eingetaucht und damit ohne Vorwarnung sozusagen auf eine knallbunte Magical Mystery Tour gegangen. Ein mentaler Trip durch die Jahrhunderte und die Welt der Musik. Für irgendwelche bewusstseinsverändernde Auswirkungen und sonstige geistige Folgeschäden lehne ich hiermit ausdrücklich jede Verantwortung ab. Tanja, du hast es freiwillig getan!

Ein allerletzter Dank geht von Herzen an die Illustratorin Chris Schlicht. Die Frau hat das wahre Wesen meiner Götterbande erfasst und wundervoll im Bild festgehalten. Ich bin beeindruckt.

Tja, das war’s auch schon mit dem Danke sagen.

Leute, öffnet ein Bierchen oder eine Flasche Sekt, schnappt euch eine Packung seelentröstende Chips oder ein Bund hinterhältige Möhrchen – und macht euch an dieses Buch.

Mein Baby wartet auf euch! Gebt ihm eine Chance.

 

Marina

 

 

Die Band – in ihrer heutigen Reinkarnation

 

 

 

 

Mia

Sängerin

 

 

 

 

 

Das Herz der Truppe.

Sie bezeichnet ihr Übergewicht als King- size-Format.

Mia ist kurzsichtig und vollkommen unsportlich. Arbeitet auf einer Behörde. Hat mal in einer Punkband gesungen und daher steckt in ihr immer noch eine ordentlich Portion Anarchie. Und eine Portion ganz eigener Ansichten.

Sie leidet an postletaler Amnesie. Sie weiß zwar, dass sie eine Göttin sein muss, allerdings nicht, welche.

Mia ist liebevoll, emotional, chaotisch, in ihrem Kopf herrscht das absolute Durcheinander, sie liebt Sekt und Kartoffelchips. Ob das Ende der Welt oder ein abgebrochener Fingernagel, Mias Kommentar lautet: »Mist!«

 

 

 

 

 

 

 

 

Ansgar

Gitarrist

 

 

 

 

 

Von der restlichen Band liebevoll auch Oller, Alter Herr, Nordgott oder Klugscheißer genannt. Einst ein weiser, allwissender nordischer Gott, lange vor Odin. Er hätte furchtbar gerne ein Menschenopfer »… so wie früher«, kriegt aber keins. Oder doch?

In diesem Leben spielt er herausragend gut Gitarre und trägt schwarz. Aus der Vergangenheit hat er sich die Fähigkeit bewahrt, ein wenig in die Zukunft zu sehen. Allerdings funktioniert dies nicht, wenn naturblonde Frauen anwesend sind. Blondinen und ein 1969er Ford Mustang, das bringt sein Blut in Wallung.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bimmel

Gitarrist

 

 

 

 

 

Eigentlich heißt er Oliver und kam als letzter vor 2000 Jahren zur Truppe. Er war ein Heil- und Schutzgott. Wenn er einen Menschen berührt, kann er ihm die Schmerzen nehmen. Doch jedes Mal, wenn er das tut, leidet er selbst höllische Qualen.

Ach ja, und bei den Mitgliedern der Band wirken seine Kräfte nicht. Leider. Bimmel ist hyperaktiv, sensibel, gutmütig und sehr fürsorglich. Er hat nie verwunden, dass er als Schutzgott von Pompeji dessen Untergang nicht verhindern konnte. Weil er damals betrunken war.

 

 

 

 

 

 

 

 

Sal

Schlagzeuger

 

 

 

 

 

Eigentlich heißt er Salvatore (aber den vollen Namen mag er nicht), und war mal eine Wettergottheit. Er grummelt, schimpft, ist aber die Gutmütigkeit in Person. Was er sehr gut tarnt. Sal hat eine besondere Gabe. Er sieht das wahre Wesen der Menschen, er kann es allerdings nur aussprechen, wenn er reichlich Alkohol getrunken hat. Sonst ist seine Zunge blockiert, magisch verriegelt.

Seine Kollegen treiben ihn manchmal fast in den Wahnsinn, was bei ihm meist heftiges Headbangen auf eine Tischplatte zur Folge hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Didi

Bassist

 

 

 

 

 

Er ist kein Gott. Sondern ein Dämon, ein Sukkubus, der über eine unwiderstehlich animalische Anziehungskraft auf potentielle Sexpartner verfügt, egal ob Männlein oder Weiblein. Wobei Didi Weiblein bevorzugt. Eindeutig.

Die anderen Bandmitglieder nutzen seine Fähigkeit oft schamlos aus, um an Informationen zu kommen. Denn Didis erotischer Ausstrahlung kann keine(r) widerstehen. Außer natürlich die Bandmitglieder.

Tief in seinem Inneren sehnt er sich nach Geborgenheit und einer festen Partnerin.

 

 

 

 

 

Prolog

 

Karma karma karma chameleon,

you come and go, you come and go …

(Culture Club: Karma chameleon)

 

Deutschland 1982.

Süddeutschland.

Es ist Frühsommer, Juni, ein angenehm warmer Abend. Ein unterernährter, schlaksiger Junge mit Vokuhila-Haarschnitt, neuen weißen, knöchelhohen Basketballstiefeln und schwarz-weiß gestreiften Spandex-Hosen betritt eine schummrige, verrauchte Musikkneipe. Auf der winzigen Bühne steht eine Amateur-Rockband und spielt Songs von Deep Purple, Def Leppard und Black Sabbath. Der geschätzt achtzehnjährige Hungerhaken stellt sich an die Theke, bestellt ein Bier und hört der Musik eine Weile zu. Wie von selbst bewegen sich seine Finger, trommeln auf den Aschenbechern; die Füße klopfen den Rhythmus von Paranoid. Der knochige Junge schüttelt seinen Kopf im Takt, tänzelt leicht und rempelt dabei versehentlich ein innig züngelndes Pärchen an, das direkt neben ihm steht.

»Sorry«, murmelt der Hungerhaken.

Der männliche Part des knutschenden Duos dreht sich um und baut sich bedrohlich vor dem Trommler auf.

Er ist sehnig, unter seinem schwarzen Netz-Shirt zeichnet sich eine fast perfekte Muskulatur ab. Sein schulterlanges, tiefschwarzes Haar glänzt. Und die Ausbeulung im Schritt der schwarz-rot gestreiften Spandex-Hose lässt sämtliche anderen anwesenden männlichen Wesen schlucken. Die beiden Jungs stehen sich Auge in Auge gegenüber. Der Hungerhaken klappt ungläubig den Mund auf. Auch das animalisch-maskuline Gegenüber starrt fassungslos.

»Didi?« Der Hungerhaken kann kaum sprechen. »Bist du das? Steckst du da drin?«

Die mandelförmigen Augen des Schwarzhaarigen leuchten auf.

»Sal! Es geht also wieder los. Wir sind wieder da!«

Beide Jungs grinsen, dann fallen sie sich laut lachend um den Hals.

Das Mädchen zieht den Schwarzhaarigen am Hemd.

»Hey, Didi, kennt ihr euch? Ist das ein Freund von dir?«

Didi feixt. »Oh ja. Ein alter Freund. Ein sehr alter Freund, den ich schon ein Leben lang nicht mehr gesehen habe.«

Die beiden klopfen sich strahlend auf die Schultern. Auf der Bühne setzt der Gitarrist mittlerweile zu einem Solo an. Seine flammend rote Gitarre winselt um Gnade, kreischt und jault, die dünne E-Saite schreit geradezu einen herzzerreißend hohen Ton unter seinen schlanken Händen heraus. Der Gitarrist trägt hautenge schwarze Kleidung und wirft ekstatisch die wilde, weißblonde Lockenmähne zurück. Dann ist der Song vorbei und die Band macht Pause. Langsam steigt der Blonde von der Bühne. Seine schwarzen Cowboystiefel schimmern matt.

Sal und Didi stellen sich ihm in den Weg.

»Sieh an, der Olle ist auch wieder da«, grinst Sal.

Die kühlen, graugrünen Augen des Blonden mustern die beiden von oben bis unten, zunächst arrogant, dann nachdenklich. Schließlich lächelt er leicht. »Lange nicht mehr gesehen, Jungs.«

Didi lacht. »Fast vierzig Jahre.« Er klopft dem Blonden auf die Schulter. »Hey Ansgar, mein Alter, wir sind wieder da! Was sagst du nun?«

Der Schwarzgekleidete antwortet: »Ich muss schiffen«, und verschwindet Richtung Toilette.

»Eins muss man dem Ollen lassen«, meint Sal versonnen, während er ihm nachblickt. »Er findet immer die richtigen Worte. Was sagte er noch mal als letztes, bevor die Gestapo ihn 1944 in Paris abgeknallt hat? Du warst doch dabei.«

Didi überlegt kurz. »Ich glaube, er sagte: Ich komme wieder, ihr Sackgesichter.«

 

1.

 

What if God was one of us? Just a slob like one of us?

(Joan Osborne: One of us)

 

Deutschland 2017.

Süddeutschland.

Ein kleines Städtchen in der Nähe von Stuttgart. Die Kamera zoomt raus aus der Stadt, umrundet fröhlich ein robustes Mischwäldchen, verschreckt einen Taubenschwarm und stürzt sich kopfüber in ein Industriegebiet. Eine alleinstehende Fabrikhalle kommt ins Bild und wird rasant größer.

Kameraschwenk auf das Fenster.

Man kann einen hohen Büroraum erkennen, in einer Ecke steht eine große Theke. In der Innenraumwand ist eine dicke Glasscheibe angebracht. Im Raum dahinter stehen Musikinstrumente, ein Schlagzeug, Verstärker, Lautsprecher. Auf einem Barhocker an der Theke sitzt eine Frau Mitte fünfzig. Ihr Haar ist dunkel gefärbt und sie hat circa dreißig Kilo Übergewicht. Sie blättert gelangweilt in einer Zeitschrift, nippt an einem Glas Sekt und greift in eine Tüte Kartoffelchips, während sie über den Rand ihrer Brille hinweg immer wieder auf die Uhr an der Wand blickt.

Es ist Freitagabend.

Die Frau bin ich.

Mein Name ist Mia und dies ist mein Proberaum. Seit über dreißig Jahren singe ich in einer Rockband namens Go!Dessia und jeden Freitag treffe ich mich hier mit meinen vier Männern zum Üben.

Ach ja, und ich bin eine Göttin.

Nicht so eine, wie sie in diversen esoterischen Frauenzeitschriften stehen, so nach dem Motto: Entdecke die Göttin in dir. Ich bin echt. Genauso wie meine Jungs.

Wir sind uralte Gottheiten, die aus irgendeinem Grund seit Jahrtausenden regelmäßig in Menschenkörpern wiedergeboren werden. Wir leben meistens die normale Zeitspanne, die so ein gewöhnlicher Sterblicher halt hat. Dann geben wir den Löffel ab; wie jeder.

Und jetzt kommt das, was uns hauptsächlich von den sterblichen Normalos unterscheidet: Wir werden in neuen Körpern und neuen Epochen wiedergeboren. Wir reinkarnieren. Warum? Das wissen wir selbst nicht. Diese Frage gehört zu den großen Mysterien, die uns jedes Mal begleiten.

Es gibt da noch mehr Punkte. Zum Beispiel treffen wir in jeder, aber auch wirklich jeder einzelnen Reinkarnation wieder aufeinander und ziehen dann als, wie man früher sagte Fahrende Musikanten oder in neuerer Zeit Band gemeinsam durch die Gegend. Und meistens retten wir die Welt oder zumindest einen Teil davon. Gelegentlich sterben wir dabei. Dann geht es im nächsten Leben wieder von vorne los. Wir werden geboren, wachsen heran, landen irgendwie bei der Musik und treffen meistens im Alter zwischen sechzehn bis sechsundzwanzig aufeinander; das Schema läuft stets gleich ab. Sal und Didi begegnen sich und entdecken am selben Tag irgendwo Ansgar. Ein paar Tage später laufe ich den dreien über den Weg. Und als letzter stößt nach wenigen Monaten Oliver zu uns. Aber wir nennen ihn alle nur Bimmel.

Es rumpelt an der Tür und Didi betritt als erster den Proberaum.

Ich schlürfe an meinem Sekt und mustere lächelnd meine Männer, die einer nach dem anderen an diesem Freitagabend eintrudeln.

Wieso muss ich ausgerechnet heute an unsere erste Begegnung in diesem Leben denken?

Da war diese kleine Musikkneipe in den Achtzigern. Ziemlich verratzt, höllisch verraucht, aber irgendwie auch Kult. Dort wurde Live-Musik gespielt, Bands traten auf, es gab jede Menge Cross-over-Sessions und man lernte tolle Leute kennen. Ich spielte dort an einem lauen Abend im Frühsommer mit meiner damaligen Punkband. Drei Songs. Mehr Repertoire hatten wir nicht, aber gemäß dem Motto No future machten wir uns keinerlei Gedanken, wie wir einen ganzen Abend füllen sollten. Wir spielten halt alles noch mal. Und noch mal. Nach einer Stunde hatten wir jeden Song fünfmal durch – und keiner im Publikum merkte es. Mein Gitarrist war so zugedröhnt, dass er ohnehin jedes Mal einen vollkommen anderen Song bretterte, als der Rest der Band. Und da ich permanent meinen Text vergaß, brüllte ich irgendwann nur noch auf Englisch Beleidigungen ins Mikrofon und grölte dazu düster die Worte »Anar- chy!«, »Destroy!«, und »Faschist! Establishment!«

Wir waren Rebellen und wollten bewusst schockieren, uns abgrenzen. Ich hüpfte auf meinen hohen Bundeswehrstiefeln auf der Bühne herum, meine verchromte Rasierklinge am rechten Ohr blitzte, die schwarzen Ponyfransen fielen mir auf der linken Gesichtshälfte bis über den Mund und mein grün gefärbter Undercut rechts stand ab wie kleine Igelstacheln. Zerfetzte schwarze Jeans, ein Netz-Shirt, eine mit Stachelnieten besetzte Lederjacke, schwarzer Lippenstift, schwarzer Nagellack, zwei Zentimeter dicker Kajalstrich bis zu den Schläfen und ein Hundehalsband bildeten mein Bühnenoutfit.

Hach, es war toll!

Irgendwann fielen mir dann diese drei seltsamen Typen vor der Bühne auf, die dastanden und mich doof anglotzten. Ein dürrer Hungerhaken und ein Muskelmacho, die beide wie Haarsprayrocker wirkten. Und ein auf Mister Cool machender, weiß- blond gelockter Gothicfreak, ganz in Schwarz.

Ok, auch ich trug Schwarz, aber sein Schwarz war definitiv das Falsche!

Meins: Anarchoschwarz, eine klare Aussage gegen die Regierung. Rebellion pur.

Seins: Angeberschwarz.

Nach Konzertende stapfte ich zur Bar und bestellte ein Bier. Ich hätte zwar lieber einen Cocktail gehabt, am liebsten einen richtig bunten mit Schirmchen, aber das war ein absolutes No Go. Als Punk trinkst du Bier. Und zwar aus der Flasche. Basta. Auch wenn es dir überhaupt nicht schmeckt. So war das damals eben. Und wenn ich es recht bedenke – es hat sich bis heute nicht geändert. Mir ist zumindest von 1977 bis 2017, also innerhalb der letzten vierzig Jahre noch kein Punker aufgefallen, der genüsslich einen Mai Tai durch einen Strohhalm schlürft. Oder einen Sex on the beach.

Ich nuckelte also leicht angewidert an meiner Pulle, was aber auch ok war, denn dadurch hatte ich den perfekten Die-ganze-Welt-kotzt-mich-an-Gesichtsausdruck. Irgendwann fühlte ich ein seltsames Kribbeln an meinem Hinterkopf.

»Hallo, Mia!« Ich drehte mich um. Die drei Musketiere standen hinter mir.

»Nettes Outfit«, grinste der Hungerhaken.

»Verpiss dich! Und nimm deine Wichserfreunde gleich mit.« Ich zeigte dem Kerl den Mittelfinger.

»Sie erkennt dich nicht«, meinte der Muckityp.

»Wie immer«, antwortete Vokuhila.

Der blasse Weißblonde sah mir tief in die Augen.

»Mia, wir sind’s. Wir kennen uns. Von früher.«

Ich war verwirrt. Irgendwie wurde das komische Trio mir von Sekunde zu Sekunde vertrauter. In meiner Herzgegend breitete sich ein eigentümliches, warmes Gefühl aus. Mist, ich hätte doch kein Bier trinken sollen.

Der Gothicfreak lächelte amüsiert. »Ich bin Ansgar. Und du – bist eine Göttin.«

Das Seltsame war, dass ich keine Sekunde lang an dem zweifelte, was der Typ mir gerade gesagt hatte. Mir war schlagartig bewusst: Das ist keine blöde Anmache. Dann erzählten sie mir die ganze Geschichte. Und nach zwei Stunden wusste ich, dass alles real war.

»Aber was für eine Göttin bin ich denn?«, fragte ich neugierig. »Und warum kann ich mich nicht erinnern?«

Sal seufzte. »Das ist eins der Probleme. Du leidest an postletaler Amnesie. Heißt übersetzt: Du kannst dich nach deinem Tod an nichts erinnern. Du weißt nicht, wer du bist, beziehungsweise warst. Und daher kennst du auch deine Fähigkeiten nicht. Und wir haben in all den zahllosen Jahrhunderten noch nicht rausgekriegt, wer du mal warst.«

»Aber ihr könnt euch an eure frühere Funktion erinnern?«

Sal nickte. »Ja. Wir beherrschen nur nicht mehr alle unsere Fähigkeiten; aber ein paar sind noch vorhanden und funktionieren ganz gut. Mit leichten Handicaps.«

Seit jenem Abend sind wir wieder vereint. Und machen zusammen Musik. Meistens Hardrock.

Wir sind Go!Dessia.

Miteinander sind wir reifer, grauer und übergewichtiger geworden, haben in über drei Jahrzehnten vieles gemeinsam durchgestanden und so ganz nebenbei in den letzten fünfzehn Jahren dreimal die Welt gerettet.

Natürlich führen wir auch bürgerliche Leben, mit sterblichen Partnern und langweiligen Jobs. Aber an den magischen Freitagen, den Freu-tagen, wenn wir uns wöchentlich zum Proben treffen, da sind wir ganz Gottheit. Die Jungs schwelgen in uralten Erinnerungen – und ich werde sauer bei meinen vergeblichen Erinnerungsversuchen. Den Göttern sei Dank, dass ich nun wenigstens Sekt trinken kann und nicht mehr Biervorliebe heucheln muss.

Ich mustere meine Männer, die sich an die Theke zu mir setzen. Ja, in den letzten dreißig Jahren haben sie sich schon ein klein wenig verändert. Ansgar trägt immer noch schwarz, wenn auch weniger körperbetont. Mein Gitarrist ist allerdings nicht mehr weißblond und vor allen Dingen kann er seine Mähne nicht mehr schütteln. Die rudimentäre Haarpracht hat sich in den Ruhestand zurückgezogen, der Rest schimmert friedhofsblond und kopfhautfarben. Über den perfekt gebügelten tiefschwarzen Hemden trägt er nun immer öfter eine mitternachtsfarbene Strickjacke, weil er friert. Was für einen Gott aus dem hohen Norden recht ungewöhnlich ist.

Lange vor Odin herrschte Ansgar als weises, allwissendes Oberhaupt einer chaotischen Götterfamilie. Das hat er mir erzählt. Die Menschen verehrten und fürchteten ihn, opferten ihm das Blut und die Herzen besiegter Feinde. Wenn er manchmal zu viel getrunken hat, sehnt er sich nach diesen Zeiten zurück. So ein, zwei frisch geopferte Jungfrauen im Jahr, das fehlt ihm einfach. Die guten alten Zeiten!

Ansgar trägt mittlerweile eine Gleitsichtbrille. Doch wer sich die Mühe macht längere Zeit in die Augen hinter den Bifokalgläsern zu blicken, der taucht in ein graugrünes, wildes Eismeer ein. Götter erkennt man meist an den Augen; und es laufen mehr von uns da draußen rum, als die Sterblichen wissen oder auch nur ahnen. Wir haben allerdings bisher selten andere Kollegen kennengelernt.

Ansgars göttliche Eigenschaften in diesem Leben sind ein enormes Wissen – Sal nennt es Klugscheißerei – eine grandiose Art Gitarre zu spielen und ab und zu die Fähigkeit, ein paar Stunden in die Zukunft zu sehen. Allerdings ist diese Hellsichtigkeit sofort weg, wenn er auf seine Achillesferse trifft: naturblonde Frauen. Dann sieht er nichts mehr. Außer blond.

Ich werfe einen nachdenklichen Blick auf Sal und fange an zu lächeln.

Mein kleiner Hungerhaken mit der Vokuhila-Matte. Die Haare sind ab und seit vielen Jahren zu einem akkuraten Igel-Look hochgegelt. Würde mein Schlagzeuger heute noch Spandex-Hosen tragen, wäre das äußerst kontraproduktiv. Für sein Liebesleben, seinen seriösen Büroalltag und vor allem für jeden Ästhetikliebhaber. Der Ex-Hungerhaken hat sich zu einem Prachtexemplar entwickelt. Vielleicht sogar zu einem mehr als prächtigen. Zu fast zwei.

Sal heißt eigentlich Salvatore aber er mag den Namen nicht. Obwohl das übersetzt Retter bedeutet. Der frühere Wettergott tarnt seine Gutmütigkeit mit viel Direktheit, Geschimpfe und Grummeln. Er ist mein bester Freund in diesem Leben und sagt mir immer wieder, dass er sich Sorgen um mich macht, dass ich jederzeit mit meinen Problemen zu ihm kommen kann und er mir bei der Lösung helfen wird. Gut, er drückt das alles etwas kürzer aus, in drei knappen Worten: »Du doofe Nuss!«

Vielleicht nicht unbedingt die berühmtem drei Worte, die eine Frau hören will, aber der gute Wille zählt.

Sal hat sich aus seiner göttlichen Vergangenheit die Gabe bewahrt, dass wahre Wesen eines Menschen auf Anhieb zu erkennen. Er kann es nur nicht erzählen, solange er nicht mindestens drei Flaschen Bier oder das aktuelle zeitgemäße Gegenstück zu einer Amphore Rotwein getrunken hat. Ouzo geht auch. Ohne Alkohol sind seine Lippen versiegelt, wenn es um die Tiefe oder Untiefe der menschlichen Seele geht. Wenn ich zu meinem Anlageberater gehe, nehme ich Sal jedes Mal mit und fülle ihn vorher gut ab. Dann erkennt er sofort, ob der Kerl mich betrügen will.

Didi hat sich vor vier Jahren von seiner schimmernden schwarzen Mähne getrennt. Er rasiert sich seitdem den Kopf vollkommen kahl. In Verbindung mit einem kleinen goldenen Ohrring gibt ihm das ein draufgängerisches, piratenhaftes Aussehen und passt ganz gut zu seiner leicht diabolischen Ausstrahlung. Auch wenn er mittlerweile einen kaum übersehbaren Bauchansatz hat, kommt Didi immer noch wahnsinnig gut vor allem bei Frauen an. Er ist nämlich kein Gott. Sondern ein Dämon.

Und da kommt auch unser Küken zur Tür rein. Oliver, genannt Bimmel. Wie immer zu spät. Damit ist die Band komplett. Die Probe kann beginnen.

Go!Dessia sind gut. Bescheidenheit hin oder her, man kann auch sagen: Richtig gut. Wir schreiben eigene Songs und arrangieren bekannte Rockklassiker so, dass sie meist erst im Refrain erkennbar sind. Eigentlich schrecken wir vor keinem Schwierigkeitsgrad zurück. Und doch gibt es ein Lied, diesen ultimativen Song, den wir seit fünfzehn Jahren bearbeiten und der einfach nicht zur allgemeinen Zufriedenheit klingen will. Unsere Nemesis in Notenform, unser klangliches Waterloo, unsere musi- kalische Odyssee: Bohemian Rhapsody von Queen.

In jeder Probe schlägt irgendjemand ein neues Arrangement oder eine kleine Änderung vor, die das Werk endgültig zu einem Go!Dessia-Stück machen würde. Was meistens in einem allgemeinen Seufzen und Wehklagen bei den Musikern der Band endet, untermalt von einem düster gegrummelten Versagensmonolog aus Richtung Schlagzeuger.

Ab und zu gibt es einen Lichtblick: Die Chöre kriegen wir schon echt gut hin.

»Mamma mia, Mamma mia, Mamma mia, let me go«, klingt vierstimmig bombastisch. Und Didi röhrt die Passage »Beelzebub has the devil put aside«, mit so viel rauem, brünstigen Testosteron in der Stimme wie ein Elefantenbulle, der nach zehn Jahren Zirkusknast auf eine frei lebende Herde knackiger junger Rüsseltiere in Paarungslaune trifft. Dabei wirft er den Kopf zurück und verkündet mit jeder Faser seines Körpers: Meine Saiten sind dicker als deine.

Ansgar, der im Proberaum seinen Platz neben Didi hat, zieht dann meist nur leicht amüsiert die linke Augenbraue hoch, wirft einen gelangweilten Blick auf die zwei Zentimeter langen, sorgfältig manikürten und gegelten Nägel seiner rechten Hand und fiedelt dann ganz lässig eine Meile Töne in zehn Sekunden seines Gitarrensolos runter. Die Botschaft ist eindeutig: Deine Saiten mögen dicker sein – aber es sind nur vier. Ich habe sechs und bin schneller. Und geschickter mit den Fingern. Ganz zu schweigen von flexibler. Wenn alle Stricke reißen habe ich noch mein Banjo, meine Mandoline und meine Ukulele. Dicke Saiten? Pfffft!

 

Die Michael-Jackson-Nummer klingt schon ganz gut. Noch zwei, drei kleine Änderungen und wieder haben wir ein absolutes Highlight in unserem Programm.

Ich singe die letzten Töne, Sal macht zum Abschluss einen Wirbel auf der Hi-Hat.

»Puh, volle zwei Stunden am Stück geprobt«, meint er und legt die Drumsticks beiseite. »Ich brauch’ jetzt eine Hopfenkaltschale. Und eine kleine Pause.«

Alle Go!Dessianer nicken eifrig, wir ziehen uns in die Pausenecke zurück. Auf die leicht ramponierten Barhocker, von denen nicht mal zwei die gleiche Farbe haben. Aber wenigstens haben sie nichts gekostet. Sperrmüll, den man wunderbar wieder verwerten kann. Unsere Rückzugsgelegenheit für Stärkungsmaßnahmen nach anstrengenden Proben. Die Kronkorken ploppen, Bimmels Mineralwasser und mein Piccolo blubbern im Glas. Zeit für sachliches Analysieren, kluge Manöverkritik und intellektuelle Problemlösung.

»Also der Sound ist so was von Scheiße«, eröffnet Ansgar die Diskussion.

Er sieht mich an. »Hörst du dich nicht richtig? Das klang tonal etwas subversiv.«

»Das Schlagzeug ist heute dermaßen laut«, wage ich einzuwerfen.

»Laut? He, das Ding heißt Schlagzeug, nicht Streichelzeug, klar?« Sal verschränkt verärgert die Arme.

»Vielleicht singst du einfach mal ein wenig lauter.«

Meine Laune kippt in Windeseile. »Eine Stimme ist ein sensibles Instrument und wenn sie kaputt geht kann man nicht eben mal eine neue Saite oder ein neues Fell aufziehen! Hast du eine Ahnung, wie vielschichtig so ein Kehlkopf aufgebaut ist? Wie empfindlich Stimmbänder sind?«

»Vor allem deine«, nuschelt Sal.

»Und könntest du damit aufhören, mir deinen blöden Zigarettenrauch ins Gesicht zu pusten?«, fauche ich Didi an, der eifrig an seiner miefenden, filterlosen Fluppe nuckelt. Mein Lieblingsdämon wirft mir einen langen, ernsten Blick zu.

»Ich rauche nicht, ich bete.«

»Oh, bitte!« Ich verdrehe die Augen.

Didi ist gekränkt. »Nein, wirklich. Das ist noch eine rudimentäre Verhaltensweise aus meiner Zeit 700 vor Christus.«

Sal seufzt. »Muss denn für jede schlechte Angewohnheit deine schwere Kindheit in Persien herhalten?«

Didi schnappt empört nach Luft. »Ihr habt ja keine Ahnung!« Vorwurfsvoll blickt er in die Runde. »Ansgar durfte sich über Menschenopfer freuen, Bimmel brachte man tonnenweise Früchte und Blumen dar, Sal wurde bei Dürre mit frischem Blut von Ziegen beschworen, das man in die ausgetrockneten Furchen der mesopotamischen Äcker goss. Literweise. Und ich?« Didis Unterlippe zittert leicht.

»Rauch und Feuer in dunklen Tempeln«, flüstert Sal mir zu.

»Ich wurde in einen dunklen Tempel gesperrt. Den ganzen Tag nur Rauch und Feuer um mich. Die heilige Flamme durfte nie ausgehen und ich war als kleiner Menschenjunge mit der Überwachung total überfordert.« Didis Augen glänzen. »Immer dieser grauenhafte Husten beim Verbrennen des heiligen Harzes im Feuertempel. Die entzündeten Augen, die allzeit gereizten Schleimhäute. Ich war total überfordert und übermüdet. Deshalb habe ich die Flamme verlöschen lassen. Ich war sieben Jahre alt. Das ist Kinderarbeit!«

Sal seufzt. »Alter! Du hast sie gelöscht. Aktiv, nicht passiv. Und zwar indem du sie ausgepinkelt hast.«

Didi schiebt trotzig die Unterlippe vor. »Na und? Ist das ein Grund, einen hinreißend süßen, lockenköpfigen kleinen Jungen hinzurichten? Und seine Seele für immer in das unterirdische Reich Ahrimans zu verbannen, auf dass er dort als Dämon reinkarniert?«

Ansgar räuspert sich und setzt zu einer seiner gefürchteten Erläuterungen an. »Nun, im Zoroastrismus, auch bekannt als Parsismus ist das halt so. Der ewige Kampf Gut gegen Böse. Ahura Mazda gegen Ahriman.«

»Klugscheißer«, murmelt Sal und wendet sich dann an Didi. »Im Übrigen kannst du froh sein, dass du in der persischen Hölle gelandet bist. Dort hast du wenigstens eine gute Ausbildung und damit eine neue Chance bekommen. Irgendwie bist du ja auch von diesem rauchigen Ort ausgebüxt, obwohl du uns noch nie erzählt hast, wie dir das gelungen ist. Aber du hast es geschafft und hier stehst du nun. Gesund, munter, zigfach reinkarniert. Und dazu noch mit all deinen dämonischen Fähigkeiten. Deinem Sukkubus-Charme.«

Didi sieht plötzlich traurig aus. »Aber manchmal wäre ich auch gerne ein Gott.«

Bimmel klopft ihm tröstend auf die Schulter. »Die wenigsten Götter haben Sex.«

»Und wenn doch, dann in blöden, vollkommen unlogischen Aggregatzuständen oder in einem Tierkörper. Zum Beispiel als goldener Regenschauer oder als Schwan.« Auch Ansgar will trösten.

Wir schweigen kollektiv.

Allgemeines Nachdenken.

Dann kommt mir ein Gedanke. »Ich frage mich ja, wie der Schwan das hingekriegt hat. Mit Leda. Er besitzt ja keinen … ihr wisst schon was.«

Wieder nachdenkliches Schweigen.

Didi grinst. »Immerhin hat er einen extrem langen Hals.«

»Ohhh …« Sal klatscht sich die Hand gegen die linke Schläfe. »Raus aus meinem Kopf! Ich will mir manche Dinge einfach nicht vorstellen. Raus aus meinem Kopf!«

»Und der goldene Regen?«, hake ich nach. »Hat bestimmt ganz schön geklimpert.«

Sal schnippt mit den Fingern. »Da kommt mir eine Idee. Wenn wir bei der schnellen Passage So you think you can stone me die Crash-Becken versetzt zu den Ride-Becken einsetzen? So ungefähr: Disch disch däng, disch disch däng datdatdat?«

Tja, Musiker. Alle gleich, ob Mensch, Gott oder Dämon – die Inspiration für ein gelungenes Cover holt man sich von überall her. Und sehr oft führt der Weg zur Musik über irgendeine Form von Sex. Immer öfter leider nur verbal.

 

 

 

2.

Red red wine, goes to my head, makes me forget

(UB40: Red red wine)

 

Ein weiterer Freu-Freitag. Da ich nicht sonderlich gern selber Auto fahre, holt Sal mich heute ab. Wir steuern gemeinsam Richtung Proberaum, der in den gigantischen Lagerräumen einer Fertigbaufirma außerhalb der Stadt untergebracht ist. Jo Fährmann, Beleuchtungs- und Veranstaltungstechniker, Inhaber und alleiniger Mitarbeiter eines ganz ordentlich funktionierenden Unternehmens, hat die Hälfte des Gebäudes angemietet und darin einen gut schallgedämmten Proberaum errichtet, den er an uns vermietet hat. Neben einer sauberen und vor allem funktionierenden Toilette ist der größte Vorteil unseres Proberaums, dass wir unabhängig von jeder Tages- und Nachtzeit, egal ob Feiertag oder Werktag, stets in voller Lautstärke proben können. Es stört absolut niemand.

Wir alle kennen Jo schon viele Jahre. Wobei es etwas seltsam ist, keiner von uns kann sich so recht daran erinnern, wann und wo wir ihn das erste Mal getroffen haben. Doppelt seltsam angesichts der Tatsache, dass Jo nicht unbedingt eine unauffällige Erscheinung ist. Zwei Meter groß, trägt er ausschließlich schwarze Kleidung. Ein vollkommen anderes Schwarz als das von Ansgars akkurat gebügelten Hemden. Älter. Schwärzer. Ein Schwarz wie das Universum vor dem Urknall. Das staubigste Schwarz, das man sich überhaupt vorstellen kann. Sein langer, weißblonder Kinnbart ist gegabelt und endet in zwei höllisch scharfen Spitzen. Ab und zu sitzt er an seinem Schreibtisch, wenn wir den vom Proberaum durch eine Glasscheibe abgetrennten Aufenthaltsraum betreten. Wir wissen immer genau, wann er da ist, auch ohne, dass wir ihn sehen, denn dann scheint es überall irgendwie merklich kühler zu sein.

Als wir diesen Proberaum vor über zehn Jahren bezogen, weil unser bisheriger abgerissen wurde, saß Didi am ersten Abend nachdenklich vor seinem Bier und beobachtete Jo aufmerksam. Mein allerliebster Dämon kniff die Augen zusammen. Als hätte er in einer Menschenmenge ein bekanntes Gesicht gesehen und würde fieberhaft versuchen, sich an den Namen der Person zu erinnern.

Unser Vermieter war schon immer eher wortkarg. Jo wartete, bis wir alle anwesend waren, schraubte sich dann aus seinem Bürostuhl zeitlupenhaft in die Höhe, machte ein paar Schritte auf Ansgar zu, streckte diesem eine knochenblasse, langfingrige Pianistenhand entgegen und sagte nur ein einziges Wort: »Miete«.

Ich bemerkte, dass Didi seinen Kopf erst zur linken, dann zur rechten Seite legte, die Augenbrauen hochzog und kurz nickte. Dann summte er leise vor sich hin. Einen Song von Chris de Burgh. Dont pay the ferryman.

Ich hatte es gehört und sang in Gedanken die zweite Zeile vor mich hin.

»… dont even fix a price

»Wie viel soll es denn kosten?«, fragte Ansgar in dem Augenblick und zückte seine Brieftasche.

»Aaaahhhhaaaahhh!«

Meine Männer fuhren zusammen.

»Äh, äh«, stotterte ich verlegen. »Mir ist eben der Chor zu einem Song eingefallen, ich musste das gerade laut singen.«

»Das nennst du singen?« Sal runzelte die Stirn.

Ich tätschelte verzweifelt grinsend Ansgars Hand mit der Brieftasche und meinte: »Lass stecken, mein Guter. Jo schreibt uns doch bestimmt eine Rechnung.«

Unser Vermieter fixierte mich durchdringend.

»Rückwirkend. Damit wir sie im Folgemonat auch überweisen können. Gesund und munter, wie wir dann eben so sind. Hoffe ich«.

Ich lächelte unschuldig und bohrte meinen kurzsichtigen, göttlich rehbraunen Hundeblick in seine unergründlich dunklen Augen. Wahrhaft sehr sehr dunkle Augen. Wie ein tiefer Abgrund. Zum Beispiel der Marianengraben.

Das Blickduell dauerte mehrere Sekunden, wenn ich will, kann ich zäh sein; dann nickte Jo knapp, fast anerkennend und zog die Mundwinkel zwei Millimeter nach oben.

»Wir seh’n uns«, sagte er mit tiefer Stimme und ging nach Hause. Oder sonst wohin.

Irgendwie kam mir der Gedanke, dass ein kleines Friedensangebot wohl angebracht sei. Fieberhaft wühlte ich in meiner Handtasche bis ich in ihrer Untiefe zwei gut abgelagerte Schokoriegel fand. Die deponierte ich auf Jos Schreibtisch und legte einen Zettel mit einem gemalten Herzchen und einem fetten Smiley dazu, während mir der uralte Song von Blue Oyster Cult durch den Kopf ging: Don’t fear the Reaper. Seit jenem Abend bekommt Jo jeden Monat eine Tafel Schokolade von mir. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

Sal und ich betreten den Proberaum, Jo sitzt an seinem Schreibtisch. »Hey, Jo!«

Wir grüßen und warten auf das obligatorische stumme Kopfnicken. Stattdessen ertönt ein vollständiger Satz: »Habt ihr heute schon Nachrichten gehört?«

Wir sind reichlich perplex.

»Nö. Haben wir was verpasst?« Sal reagiert schneller als ich.

»Noch nicht«, tönt es hinter dem Schreibtisch vor.

Jo steht auf und geht auf mich zu. Er zeigt in eine Ecke hinter der Bartheke.

»Radio. Nachrichten.« Und weg ist er.

Kann der Kerl denn nicht öfter in vollständigen Sätzen sprechen? Oder zumindest mal das eine oder andere Verb benutzen?

Nach und nach trudeln die anderen ein. Erst Ansgar, dann Didi und Bimmel gemeinsam. Bimmel kann sich kaum auf den Beinen halten, er ist kreidebleich, humpelt und quält sich stöhnend auf den Barhocker rechts von mir.

»Du liebe Güte, was ist denn mit dir passiert?« Ich bin besorgt.

Mein kleiner Gitarrist wimmert leise.

»Ich hab’ ihm einen neuen Job verschafft«, erklärt Didi.

Mir schwant Schlimmes. »Wo?«, frage ich scharf.

Didi grinst breit. »Na, bei mir.«

Ich explodiere. »Hast du sie noch alle? Du arbeitest auf der Intensivstation des Krankenhauses. Bimmel wird sterben, wenn er all die Schwerverletzten berührt!«

Mein Basser winkt lässig ab. »Alles halb so wild. Ich lass ihn nur die schwersten Fälle anfassen. Und auch nicht lang. Das härtet ab. Seit drei Tagen ist er nun schon mein Kollege und ich muss sagen – wir brauchen deutlich weniger Schmerzmittel bei den Patienten.«

Bimmel lächelt tapfer und gequält. »Ich bin gerne Krankenpfleger«, presst er hervor.

»Du bist gerne Masochist! Alter, das gibt’s doch nicht.« Sal schüttelt fassungslos den Kopf. »Bimmel, du nimmst anderen die Schmerzen, aber die gehen dann doch volle Kanne auf dich über! Warum zur Hölle muss es denn die Intensivstation sein?«

Bimmel schnieft. »Weil ich das aushalten kann.« Er schluckt. »Am ersten Tag war’s schlimmer. Da war ich im Kreißsaal.«

Didi verbirgt sein Lächeln, als ich ihn wütend anstarre.

»Oliver.« Ich merke selber, dass meine Stimme ganz weich wird. »Wie lange willst du dich eigentlich noch bestrafen?«

Bimmel sieht mich betreten an. Wenn ich seinen richtigen Vornamen benutze, ist es mir verdammt ernst.

»Du kannst doch nicht bis in alle Ewigkeit ein schlechtes Gewissen haben. Dadurch wird die Sache auch nicht ungeschehen.«

»Die Sache? Die Sache?? Mia, wir reden hier vom Untergang einer kompletten Kultur. Von einem Desaster. Die letzten Tage von Pompeji.«

Bimmel ist jetzt total aufgelöst. Ich habe seinen wunden Punkt berührt.

»Siebenhundert Jahre, Mia! Siebenhundert Jahre lang war ich der Genius loci, der Schutzgeist dieser wunderschönen, hinreißenden Stadt. Es war meine allererste Aufgabe, meine Premiere als Beschützer. Da gab es so viele Nationalitäten: Griechen, Etrusker, Römer, lauter Leute, die viel Spaß hatten und Freude am Leben und der Musik. Wundervolle Lebewesen, die mir blind vertrauten. Und ich versage kläglich. Tausende Menschen. Alle tot! Wegen mir und dieser dämlichen Amphore.« Er rauft sich die Haare und legt die Hände vors Gesicht.

Wir anderen werfen uns heimlich verlegene Blicke zu.

Genau genommen war es nicht allein Bimmels Schuld, dass am 24. August des Jahres 79 nach Christus niemand in Pompeji den Ausbruch des Vesuvs überlebte. Tausende Menschen und Tiere starben. Aber auch drei reinkarnierte Götter, ein Dämon und natürlich auch der Schutzgeist des Ortes. Seit jenem Ereignis gehört Bimmel zu unserer Truppe.

Sal, Ansgar, Didi und ich waren einige Jahre zuvor in unserer x-ten Reinkarnation als fahrende Musikanten und Gaukler von Gallien aus immer weiter nach Süden gezogen. Vom Alter her dürften wir so um die Fünfundzwanzig bis Dreißig gewesen sein, als wir an der Küste des Römischen Reiches entlang Richtung Neapel wanderten. Sonne, Meer und gutes Essen, dazu ein wundervoller Rotwein – ja, dieses Land war für Götter gemacht, auch wenn Ansgar sein Met vermisste. Wir machten in Tavernen Musik und hatten eine wirklich gute Zeit. An der etrurischen Küste wimmelte es von Wildschweinen und Feldhasen, in den kleinen Dörfern gaben uns die Menschen Brot und Wein im Tausch gegen Musik. Doch irgendetwas zog uns nach Pompeji.

Ansgar war der einzige, der eventuell durch seine gelegentliche Hellsichtigkeit die Einwohner hätte warnen können. Doch kaum hatten wir unser Zimmer in einer wunderhübschen, mit Weinlaub behangenen Taverne bezogen, entdeckte Ansgar das genau gegenüberliegende Lupanar. Heute nennt man das schlicht Bordell. Ansgar und Didi schlenderten rüber, um sich einen schönen Nachmittag zu machen. Theoretisch wäre die ganze Angelegenheit ohne Probleme verlaufen. Leider war die Hauptattraktion des antiken Puffs eine germanische Sklavin namens Sabina. Groß, üppig und mit langen naturblonden Zöpfen. Und damit war es auch vorbei mit Ansgars Visionen.

Sabina und er klebten förmlich aneinander, am Abend brachte er sie mit in die Taverne. Wir sangen und spielten Harfe. Ein lebhafter, gut gebauter junger Mann setzte sich zu uns und zog ebenfalls eine Harfe hervor. Er und Ansgar lieferten sich heiße Saitenduelle, Sal klopfte den Rhythmus auf zwei Tonkrügen und mehreren Zimbeln und Didi brummte leise, tiefe Töne. So lernten wir Oliver bzw. Bimmel kennen. Beim ersten Blick in seine Augen hatten wir sofort sein göttliches Wesen erkannt.

Er war das Produkt einer Liebesnacht zwischen Asklepios, dem römischen Heilgott und einer sterblichen Kräutersammlerin und Hebamme und sein Vater hatte ihm voller Vertrauen die Aufgabe als Schutz- und Heilgott des kleinen Ortes Pompeji über- tragen. Der Junior sollte sich mit dieser scheinbar leichten Aufgabe nach einer Bewährungszeit von ein paar hundert Jahren seine Göttersporen verdienen.

Wir genehmigten uns eine Amphore Wein, dann noch eine. Nach der neunten hörten wir auf mitzuzählen und nötigten den jungen Harfenist dazu, fleißig mitzutrinken. In den frühen Morgenstunden schwankte Ansgar mit seiner blonden Sklavin in unser Zimmer; wir restlichen Zecher blieben anstandshalber im Gastraum und sanken einer nach dem anderen unter den Tisch.

Dass die Erde bebte, bemerkten wir nach all dem köstlichen Rebensaft überhaupt nicht; die ganze Welt war ohnehin am Schwanken.

Gewaltige Schläge weckten uns gegen Mittag. Große Bimssteine regneten vom Himmel und durchbrachen das Dach der Taverne. Die Erde wackelte jetzt richtig heftig, dichte Aschewolken nahmen den Atem und die Sicht. Keiner von uns war in der Lage, etwas zu unternehmen. Bimmel war dermaßen verkatert, dass sein halbmenschlicher Körper kollabierte und er in ein Restalkoholkoma fiel. Nach Stunden kamen dann die Feuerströme. Und das war’s. Mit Pompeji und mit uns.

Bimmel hat das bis heute nicht vergessen, seit jener Zeit trinkt er nur Wasser. Er erlebte seine erste Reinkarnation und traf uns im nächsten Leben wieder. Seitdem hat Oliver alias Bimmel die Fähigkeit, Menschen den Schmerz zu nehmen. Ein Relikt aus seiner Zeit als Schutz- und Heilgott. Wenn er jemand die Hand auflegt und sich kurz konzentriert, dann wandert der Schmerz aus dem einen Körper raus und in den nächsten rein. Leider ist das der Körper von Bimmel.

Solange wir ihn kennen, sucht er ständig die Nähe von Kranken und Verletzten und nichts kann ihn davon abhalten. Angeblich will er nur helfen, wie es eben die Bestimmung eines Schutzgottes ist. Aber wir wissen alle wie ein personifiziertes schlechtes Gewissen auch nach fast zweitausend Jahren aussieht. Ein aus treuherzigen Augen in die Welt schauendes, Gitarre spielendes und hyperaktives schlechtes Gewissen.

Für die Pharmaindustrie wäre Bimmel das perfekte Versuchskaninchen. Er schluckt alles, was es an Medikamenten gibt, damit er seine Schmerzen wenigsten ein bisschen unter Kontrolle bekommt. Zwar hat er einerseits bislang jede Dosierung überlebt, was positiv ist. Doch andererseits wirkt absolut nichts bei ihm. Sein Schmerz ist auf einer anderen Ebene angesiedelt. Zweitausend Jahre in der Vergangenheit. So weit reicht keine Tablette. Fiele er der Pharma-Mafia in die Hände, könnte man aus seinem Blut oder einem pulverisierten Bimmel-Konzentrat mit Sicherheit das ultimative Heilmittel gegen sämtliche Krankheiten fabrizieren.

Sal dreht das Radio an, wir reden über dies und das und knabbern dabei knusprige Kartoffelchips. Unser Grundnahrungsmittel. Zur Abwechslung gibt es dazwischen den einen oder anderen bunten Fruchtgummibären. Die Unterhaltung plätschert vor sich hin. Wie ein Kaleidoskop wechseln die Themen, greifen ineinander, überlagern sich, driften immer wieder ab.

Bimmel erwähnt die neueste Scheibe irgendeiner Band, Sal und Ansgar politisieren mit Didi, während sie zeitgleich Bimmels Musikgeschmack kommentieren und ich lausche dem parallel dazu laufenden Radiosender. Ein lulliger Popsong, drei Werbejingles. Dann die Nachrichten.

Die Weltpolitik ist wie immer. Hier ein Bombenanschlag, da ein kleiner Krieg, Präsidentschaftswahlen in irgendeinem südamerikanischen Staat. Eine Promischeidung, ein Unwetter in Indien. Die Lokalnachrichten folgen.

Auf einmal ist alles weiß.

Als hätte jemand unvermittelt einen Bühnenspot angeknipst und auf mich gerichtet. Ich höre nichts mehr, mir wird wortwörtlich weiß vor Augen. Ich bin mitten in einer Lawine aus Licht begraben. Meine Umgebung ist komplett verschwunden, ich kann mich nicht bewegen, ich bin blind – nur, dass ich statt Schwarz ein grelles Weiß sehe. Es leuchtet – weißer, immer weißer – und es tut weh! Meine Haare und meine Fingernägel schmerzen.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand anhält, auf einmal zuckt ein roter Blitz durch meinen Kopf und ich blinzle schaudernd. Mein Magen macht noch einen kurzen Salto, dann bin ich wieder da. Im Hier und Jetzt und hoffentlich auch im Heute.

Es herrscht eine betretene Stille, nur das Radio dudelt leise im Hintergrund. White wedding von Billy Idol.

Die Jungs starren mich an.

Ansgar zieht missbilligend die Augenbraue hoch. »Du hast es schon wieder getan.«

Sal stöhnt. »Das Gänsehautorakel.«

Didi guckt mich böse an. »Soll das jetzt alle vier, fünf Jahre so weiter gehen? Wir können nicht permanent die Welt retten, irgendwann sind wir zu alt für den Scheiß!«

»Ich hab’ doch gar nichts gemacht!«, protestiere ich.

»Du hattest eine Gänsehaut. Schon wieder«, tönt Sal mit Grabesstimme. »Und diesen total weggetretenen Ausdruck im Gesicht. Du weißt genau, was vor vier Jahren passiert ist. Und fünf Jahre davor.«

Alle werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu, als hätten sie mich dabei erwischt, wie ich einem blinden Straßenmusiker die Münzen aus dem Hut klaue.

»Ich kann doch überhaupt nichts dafür, ich habe rein gar nichts gemacht. Nichts. Nada. Niente

Meine Männer glotzen immer noch grimmig und wortlos. Sie meinen es also ernst. Langsam schwant mir Schlimmes. Ich stöhne leise. Oh je, nicht tatsächlich schon wieder das Gänsehautorakel!

Ich überlege. »Wann ist es passiert? Was kam gerade im Radio? Also, die Weltpolitik habe ich noch am Rande mitbekommen. Dann war irgendwas mit Wasserrohrbruch in der Innenstadt. Und ein kleiner Skandal bei einer Bürgermeisterwahl. Danach habe ich den Schluss vom Wetterbericht gehört. Und Billy Idol. Was dazwischen war, ist komplett weg.«

Die vier fangen an aufzuzählen, was ihnen noch in Erinnerung ist. Natürlich mit persönlichen Kommentaren garniert. Neueröffnung eines Fastfoodtempels, Unfall auf der Baustelle eines Mehrfamilienhauses, Blutspendetermin in der Stadthalle … ich schüttle den Kopf, da klingelt nichts bei mir.

»Da war noch ein Bericht über die Sonderaus- stellung im Museum, dass die Leute verbotenerweise alles angrabschen und immer wieder was geklaut wird«, meint Sal.