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FÜR BRIGITTE

 

 

 

Vorwort

01 Einleitung

02 Welten entdecken

03 Expedition als Projektmanagement

04 Der Weg

05 Aus Misserfolgen lernen

06 Alleingang

07 Gutes Team – schlechtes Team

08 Eitelkeiten und Individualismus

09 Führungsqualitäten

10 Die Qualität der Entscheidung und ihre Folgen

11 Blockade und Kreativität

12 Vertrauen schaffen – Vertrauen leben

13 Enttäuschungen

14 Von der Bereitschaft umzudenken und sich auf veränderte Situationen einzustellen

15 Wenn es scheinbar keinen Ausweg mehr gibt

16 Motive – Sorgen – Erwartungen

17 Erfolg ist eine Reise – kein Ziel!

Anstelle eines Nachwortes

Epilog

Literatur

 

 

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Unlängst haben Wissenschaftler in der DNA einiger Menschen ein Gen entdeckt, das sie als »Entdecker-« oder »Forscher-Gen« bezeichnen. Menschen, die solchermaßen von der Natur ausgestattet worden sind, geben sich in der Regel nicht damit zufrieden, das Leben vom heimischen Sofa aus vor dem Fernseher zu verbringen. Sie wollen ihr Leben aktiv gestalten. Das macht sich bei der Berufswahl ebenso bemerkbar wie bei der Freizeitgestaltung. Während der eine glücklich und zufrieden ist, wenn er am Strand in der Sonne liegen kann, ist dem anderen diese Art von Müßiggang ein Graus. Er will etwas erleben, schnappt sich lieber ein Surfboard und nimmt den Kampf mit den Wellen auf. Die Ruhe, die der eine sucht, bereitet dem anderen Unbehagen und Nervosität. Umgekehrt gilt es genauso.

Ob Segeln, Kajakfahren, Bergsteigen, Gleitschirmfliegen, Skilaufen oder Tauchen – immer spielt das Risiko mit. Warum tut man sich das an? Wer in seiner Freizeit lieber Stiefmütterchen in seinem Schrebergarten pflanzt oder eine Partie Schach spielt, wird den Drang nach Abenteuer und Risiko kaum nachvollziehen können. Sie oder er verfügt dann offenbar nicht über das »Abenteuer-Gen«. Das ist von der Natur sicherlich bewusst so eingerichtet. Das eine ist ja auch so gut wie das andere, nur eben grundverschieden. Diejenigen, die am Rande ihrer Leistungs- und Leidensfähigkeit einen Gipfel erklimmen oder bei Sturm mit einem kleinen Segelboot über die Ozeane brettern, werden für Außenstehende – und besonders für die allgegenwärtigen Bedenkenträger – kaum eine schlüssige Erklärung abgeben können, warum sie sich das antun. Müssen sie auch nicht. Jetzt aber kennen wir die Antwort: Die Natur ist dafür verantwortlich, namentlich das besagte »Abenteuer-Gen«.

Fernando Magellan, James Cook, Roald Amundsen – sie alle trugen dieses Gen offenbar in sich. Die Welt wäre eine andere, hätte die Natur darauf verzichtet, einige Menschen damit auszustatten. Fortschritt muss man sich erarbeiten. Dazu gehört eine gewisse Form der Risikobereitschaft. Zum Risikonulltarif gibt es jedenfalls keine neuen Entdeckungen, keinen Fortschritt. Menschen, die dieses Gen in sich tragen, betreiben nicht nur häufig Risikosportarten, sie wählen häufig auch den Schritt in die Selbstständigkeit. Sie werden Führungskräfte, übernehmen Verantwortung, sind Entscheidungsträger. Ein Manager und ein Extremsportler oder Abenteurer verfügen über ähnliche Schnittmengen – und vermutlich über dasselbe angesprochene Gen. Bei mir ist dieses »Abenteuer-Gen« offenbar besonders stark ausgeprägt. Jedenfalls könnte ich mir ein Leben ohne permanente Herausforderungen nicht vorstellen. Auch war für mich von Anfang an klar, dass ich den Weg in die berufliche Selbstständigkeit suchen würde. Herausforderungen sind für mich das Salz in der Suppe des Lebens. Frei nach Alexis Sorbas: »Leben heißt den Gürtel enger schnallen und nach Schwierigkeiten Ausschau halten.« Sie bereichern mein Leben. Es ist offenbar dieses »Entdecker-Gen«, das uns hilft, die Grenzen, die in uns liegen, zu überwinden oder zu sprengen und das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Die Aussage der Skeptiker »das geht nicht« zu hinterfragen und zu widerlegen. Warum soll es man es nicht versuchen? Niemals zu früh zufrieden sein, die innere Aufruhr bündeln und zielorientiert einsetzen. Das ist es, was ich in diesem Buch versuche darzulegen.

Als im Jahre 2004 die erste Ausgabe dieses Buches erschien, war mein Erwartungshorizont eher verhalten. Ratgeber für Manager, Motivationsanleitungen, Teambuildingmaßnahmen oder ähnliches gab es zu Hauf – oft verbunden mit Seminaren und Workshops. Mein Eindruck war, dass das Thema bereits überladen war und auch viel Scharlatanerie mit im Spiel war. Wozu da ein weiteres Buch?

Es kam ganz anders. Die Reaktionen zu diesem Thema waren überwältigend und haben mich mehr als überrascht. Das Buch ist ein sogenannter »Longseller« geworden, und längst habe ich begriffen, dass es den Lesern nicht um irgendwelche profanen theoretischen Strategiespielchen geht, sondern um einen realen Erfahrungsschatz, den ich mir in vier Jahrzehnten teilweise unter extremen Lebensumständen erworben habe. Ein Erfahrungstransfer gewissermaßen – nicht mehr und nicht weniger. Keine Anleitung, keine Rezepturen, sondern real gelebte Beispiele, die deshalb so aussagekräftig und plastisch wirken, weil sie unter Expeditionsbedingungen, also unter durchaus extremen Lebensumständen, entstanden sind. Keine moderierten Planspielchen in irgendwelchen Seminarräumen, sondern ein Blick hinter die Kulissen eines real gelebten Expeditionsalltags. Die Rückschlüsse aus meinen Erlebnissen muss jeder für sich selbst ziehen. Sie können und werden unterschiedlich ausfallen. Das macht den Unterschied zu den sogenannten Ratgebern aus. Zum Thema »Grenzen sprengen« habe ich unzählige Vorträge gehalten – meistens mit anschließender Diskussion – und dabei gemerkt, dass das Thema heute noch genauso aktuell ist wie beim ersten Erscheinungsdatum des Buches.

Dennoch war es an der Zeit, das Buch einmal gründlich zu überarbeiten und zu aktualisieren. In den zwölf Jahren, die seit dem ersten Erscheinen des Buches vergangen sind, bin ich nicht untätig gewesen. Jahr für Jahr erlebte und organisierte ich weitere, zum Teil sehr komplexe Expeditionen. Neue Inhalte und Aufgaben kamen hinzu. Die damit einhergehenden neuen Erfahrungen und Erlebnisse sind nun in die Neuauflage eingeflossen. Es gab aber auch Enttäuschungen im zwischenmenschlichen Bereich. Bei Teammitgliedern, bei denen ich es niemals erwartet hätte. Wie gehe ich damit um? Darüber musste ich mir erst mal selbst klar werden. Auch ein Erfahrungstransfer anderen Inhalts soll angesprochen werden. Wie kann man junge Menschen für den Schutz der Natur sensibilisieren? Seit Jahren betreiben wir das Projekt ICE-CLIMATE-EDUCATION, bei dem junge Menschen an die Natur herangeführt werden. Wir brauchen den »Concerned Citizan«, der sich einmischt, kreativ ist und die Bereitschaft und den Willen mitbringt, auch schwieriges Terrain zu meistern. Ganz sicher schlummert in dem einen oder anderem auch das Abenteuergen. Es muss vielleicht nur geweckt werden. ×

 

HERAUSFORDERUNG

Immer wieder stecken wir uns neue Ziele, begeistern uns
an noch nie Dagewesenem – wie zum Beispiel bei
dieser Besteigung des Gunnbjörn Fjeld in Grönland 2014.

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WILLENSKRAFT

Bei schönem Wetter geht jeder gern segeln –
doch in den Gebieten, in denen wir
unterwegs sind, herrscht vermehrt Sturmgefahr.

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SEHNSUCHT

So schön die Eisberge auch sind, sie sind tückisch –
jede Minute können sie auseinanderbrechen,
sich drehen und damit zur Gefahr für uns werden.

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01

EINLEITUNG

 

 

 

 

 

Die Mechanismen, die zum Erfolg
oder Misserfolg führen,
sind letztlich immer die gleichen.
Immer steht der Mensch
im Mittelpunkt des Geschehens.
Er trifft die Entscheidungen! ×

ARVED FUCHS

Vor einigen Jahren erhielt ich von einer Agentur die Anfrage, ob ich bereit wäre anlässlich einer Tagung von Führungskräften aus der Wirtschaft einen Vortrag zum Thema »Grenzen sprengen« zu halten. Mir war am Anfang nicht ganz klar, was gemeint war. Die Erläuterung, die daraufhin folgte, brachte etwas Licht ins Dunkel:

»Sie haben Ihr Leben seit mehr als zwanzig Jahren erfolgreich als ein permanentes Abenteuer organisiert und praktiziert. Sie haben vor und während Ihrer Expeditionen lebenswichtige Entscheidungen treffen müssen und in ungewohnter Umgebung Herausforderungen annehmen und bewältigen müssen. Das wird einem schließlich nicht in die Wiege gelegt. Sie mussten und müssen immer wieder Entscheidungen treffen, die maßgeblich ihre Sicherheit und die ihres Teams betreffen. Wie gehen Sie um mit Ängsten, nach welchen Kriterien entscheiden Sie, wie motivieren Sie sich und Ihr Team? Sie sind gewiss immer wieder an Grenzen gestoßen, die Sie überwinden mussten, ansonsten wären Sie nicht dort wo sie heute stehen. Kurzum, es geht uns um einen Erfahrungstransfer.«

Ich bat mir etwas Bedenkzeit aus und fing an zu grübeln. Ich hege ein starkes Misstrauen gegen all jene, die mit missionarischem Eifer und dem Glorienschein der vermeintlichen Allwissenheit alle Welt glauben machen wollen, dass sie allein wüssten, wie der Weg zum Erfolg, zum glücklichen Leben und zur Lösung aller Probleme aussieht. Wenn das so einfach wäre!

×
Es gibt durchaus Parallelen zwischen meinem Alltag und denen von Managern, Angestellten, sonst wie Berufstätigen oder beispielsweise Freizeitseglern, da wir im Endeffekt stets vor ähnlichen Problemen stehen.

Im Hinblick auf eine verlockende Gage auf diesen fahrenden Zug aufzuspringen und mit salbungsvollen Worten Erfolg und Glückseligkeit zu predigen, wäre mir zu öde und zu verfänglich gewesen. Ich bin kein Messias! Das konnte es also nicht sein.

Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich nach hiesigen Maßstäben durchaus einen ungewöhnlichen Werdegang durchlaufen habe und dabei natürlich immer wieder Grenzen überwinden musste. Der Begriff »Aussteiger« wurde wie eine verbale Keule gegen mich geschwungen. Dabei bin ich zu keinem Zeitpunkt ausgestiegen, sondern habe mir nur die Freiheit genommen, mein Leben nach eigenen Maßgaben zu gestalten. Was nicht immer komplikationslos war. Denn wenn jemand etwas Außergewöhnliches macht, sind Einschüchterungsversuche die unvermeidliche Folge davon. Diese Erfahrung musste ich immer wieder machen. Dennoch bin ich allen Widrigkeiten zum Trotz meinen Weg gegangen und gehe ihn auch weiter. Mittlerweile mit einer Selbstverständlichkeit, als hätte es für mich nie eine andere Möglichkeit gegeben. Das war nicht immer so. Auch bei mir gab und gibt es Phasen des Selbstzweifels, der Ängste und der Unsicherheit. Das ist gut, und das ist wichtig so!

Die Frage ist nur, wie gehe ich damit um? Lasse ich mich davon blockieren oder nutze ich sie, um einen Schritt weiter nach vorn zu gehen? Darauf will ich versuchen, Antworten zu geben.

Mein Werdegang gilt manchem kritischen Betrachter häufig als Provokation. Es kann und darf eigentlich nicht sein, dass jemand in einem Bereich erfolgreich ist, der vielen als unmöglich erscheint. »Wem nützt das denn eigentlich, was du da machst?«, ist eine viel gestellte und gehörte Frage. Oft mit dem Wunsch formuliert, mich zu provozieren. Doch die Antwort ist denkbar einfach: Zunächst nutzt es mir. Und das, was Skeptiker gemeinhin als einen Mangel an Ernsthaftigkeit ablehnen, offenbart im Grunde genommen nur die klamme Sorge, sein eigenes Tun und Handeln hinterfragen zu müssen. Ich stelle Fragen und stelle auch vieles in Frage. Ich will nicht Werte zertrümmern, sondern eigene Vorstellungen einbringen. Ich stehe zu meinen Träumen, die für mich das Salz des Lebens und der Treibsatz für meine Projekte sind.

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Seit mehr als 40 Jahren bin ich auf Expeditionen unterwegs. Die Auseinandersetzung mit der Natur ist ein wichtiger Kontrast zu meinem Leben in der Zivilisation.

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Wasser an Deck! Bei aufziehendem Schlechtwetter werden vorsorglich Strecktaue zum Sichern der Mannschaft gespannt.

Mit diesem Buch unternehme ich den Versuch, Antworten auf die Fragen zu geben, die mir immer wieder begegnen. Ich kann einem Banker oder einem Broker nicht sagen, wie er seine Geschäfte zu führen hat. Ich verstehe nichts davon. Aber das was ich mache, hat im weitesten Sinne etwas mit Management unter extremen Bedingungen zu tun und unterscheidet sich insofern vielleicht doch gar nicht so sehr von ihrem Tun, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

×
Patentrezepte habe ich nicht anzubieten.

Begriffe wie »am Abgrund stehen«, oder »an einem Strang ziehen«, »orientierungslos sein« oder »wir sitzen alle in einem Boot«, auch das oft gehörte »uns steht das Wasser bis zum Hals« stammen ursächlich aus der Expeditionssprache und finden ihre Anwendung dennoch ebenso im Unternehmensalltag. Auf Expeditionen beschreiben sie eine reale Situation – im Unternehmensbereich kommt ihnen eine symbolische Bedeutung zu. In beiden Fällen bedeuten sie »Gefahr« (am Abgrund stehen) oder aber die Aufforderung zur Teamarbeit (gemeinsam an einem Strang ziehen).

Hierin liegen die Gemeinsamkeiten. Beide wollen wir erfolgreich sein – der Banker oder der Manager wie auch ich. Bei meinen Expeditionen haben Erfolg oder Misserfolg zudem eine besondere Qualität: Erfolg bedeutet zugleich Sicherheit, Misserfolg hingegen möglicherweise auch Gefahr für Leib und Leben – und das nicht nur für mich allein, sondern oft genug auch für meine Mitstreiter. In beiden Fällen jedoch gilt: Erfolg haben bringt Spaß, und die Mechanismen, die zum Erfolg oder Misserfolg führen, sind hier wie da meist die gleichen. Auch ich bin erfolgreich gewesen, aber auch ich bin gescheitert. Ich kann berichten und vermitteln wie ich jene Grenzen sprenge, die in mir stecken oder die sich mir im Alltag oder auf Expeditionen in den Weg stellen. Was ich jedoch nicht kann, ist meine Erfahrungen eins zu eins auf andere zu übertragen. Eine Art Anleitung hingegen, was jemand wann tun könnte, um ein bestimmtes Problem zu lösen, ist dieses Buch durchaus. Es soll zum Nachdenken anregen.

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Die Rückschlüsse, das Denken, kann und will ich niemandem abnehmen. Das muss schon jeder selbst leisten.

Damit komme ich auch schon zum ersten wesentlichen Punkt, den ich vermitteln möchte: Die Rückschlüsse, das Denken, kann und will ich niemandem abnehmen. Das muss schon jeder selbst leisten. ×

 

 

02

WELTEN
ENTDECKEN

 

 

 

 

 

Der moderne Mensch wird in
einem Tätigkeitstaumel gehalten,
um nicht über den Sinn seines
Handelns nachzudenken. ×

ALBERT SCHWEITZER

Abenteuer – man muss sich diesen Begriff auf der Zunge zergehen lassen: Es klingt fast ein wenig anrüchig, schmeckt nach Gefahren, nach Risikobereitschaft, nach Draufgängertum, nach Verantwortungslosigkeit, nach Aussteigertum.

Von alledem trifft nichts auf mich zu.

Wahrscheinlich bin ich deshalb im klassischen Verständnis auch gar kein Abenteurer. Abenteurer – das ist keine Berufsbezeichnung, sondern eher eine Lebensform. Das merkt man übrigens auch an alltäglichen Dingen. Das Finanzamt zum Beispiel führt mich deshalb auch als Publizist, was nur einen kleinen Teil meiner Tätigkeiten umfasst. Denn eigentlich bin ich Journalist, Fotograf, Filmemacher, Schriftsteller, Vortragsredner, Organisator und Leiter der unterschiedlichsten Expeditionen – und das schon seit 40 Jahren. In meiner Eigenschaft als Expeditionsleiter – die für mich stimmigste Berufsbezeichnung – führe ich internationale Teams, bestehend aus Frauen und Männern der unterschiedlichsten Altersgruppen, oft unter extremsten Umständen. Das gilt sowohl für die klimatischen Rahmenbedingungen wie auch besonders für die Lebensumstände. Auf einer Expedition endet der Arbeitstag nicht um 17 Uhr. Der »Mitarbeiter« kann nicht die Tür seines Büros oder seiner Werkstatt hinter sich schließen und in eine andere, private Welt eintreten. Den Begriff »Feierabend« gibt es nicht auf einer Expedition, dort ist man ununterbrochen an seinem Arbeitsplatz. Das völlige Fehlen von Privatsphäre, die bisweilen qualvolle Enge, das Ausgesetztsein in der Gruppe stellt höchste Anforderungen an den einzelnen. Müdigkeit, Verzweiflung, Ängste, Sympathien und Antipathien, körperliche wie seelische Erschöpfung sind seine ständigen Begleiter. Es gibt sprachliche Barrieren und kulturelle Unterschiede im Team. Es besteht aus ausgewiesenen Individualisten, denen es im Grunde ihres Herzens schwer fällt, sich in eine Gruppe zu integrieren. Wenn sie es dennoch tun, dann müssen nicht nur die Rahmenbedingungen stimmen, sondern ich muss als Expeditionsleiter jeden Tag aufs Neue das in mich gesetzte Vertrauen verdienen. Das Team gewährt mir einen großen Vertrauensvorschuss. Erfülle ich die Erwartungen nicht, zerfällt das Team, das Projekt und die Expedition sind gescheitert, bevor sie richtig begonnen haben.

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Den Begriff »Feierabend« gibt es nicht auf einer Expedition, dort ist man ununterbrochen an seinem Arbeitsplatz. Das völlige Fehlen von Privatsphäre, die bisweilen qualvolle Enge, das Ausgesetztsein in der Gruppe stellt höchste Anforderungen an den einzelnen.

Das ist die eine Seite des Expeditionsleiters wie ich sie verstehe.

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Mit Aussteigertum hat mein Leben nichts zu tun.

Die andere Seite ist weniger spektakulär. Sie spielt sich auf einer Managementebene ab, wie sie in vielen Betrieben anzutreffen ist: Ich habe ein Büro mit Mitarbeitern, in dem Projekte geplant und entwickelt werden, von wo aus Verhandlungen mit Werbepartnern, Redaktionen, Verlagen und Behörden geführt werden. Mein Tagesablauf dort ist vom Terminkalender bestimmt, von Telefonaten, Meetings, von konzentrierter Schreibtischarbeit und nach Feierabend zum Ausgleich Sport, einem guten Restaurant, Musik, Bücher, Bilder, Freunde und »last and certainly not least« meiner Frau. Das Ganze unterbrochen von bisweilen wochenlangen Vortragsreisen; jeden Tag in einer anderen Stadt, in einem anderen Hotel, mit anderen Menschen. Aber auch das mag ich. Mit Aussteigertum hat mein Leben nichts zu tun.

Für mich hat der Begriff Abenteuer – wenn wir vorerst bei diesem Bergriff bleiben wollen – daher auch nichts mit dem bewussten ultimativen Kick gemein. Abenteuer bedeutet für mich keine Gefahrmaximierung etwa nach dem Motto: je gefährlicher desto besser. Ich bin kein Hasardeur!

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Für uns an Bord ist sie groß, doch von außen betrachtet wirkt sie im weiten Meer klein – die DAGMAR AAEN. Unser sicherer Hafen, wo immer wir auch sind.

Viele Menschen nennen mich dennoch einen Abenteurer, und der eine oder andere Leser wird sich vielleicht jetzt auch fragen, worin denn möglicherweise die Gemeinsamkeiten zwischen seinem beruflichen Alltag und dem eines Abenteurers liegen. Manch einer wird sich vermutlich sogar streng dagegen verwahren, dass seine Tätigkeit als »abenteuerlich« bezeichnet wird. Aber lassen Sie es mich vorausschicken: Es gibt eine ganze Reihe von Gemeinsamkeiten. Ich werde im Verlauf des Buches immer wieder darauf zurückkommen.

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Die Qualität eines Abenteuers liegt für mich in der Umsichtigkeit, mit der eine Expedition geplant ist und durchgeführt wird.

Die Qualität eines Abenteuers liegt für mich in der Umsichtigkeit, mit der eine Expedition geplant ist und durchgeführt wird. Bevor ich ein neues Projekt plane, muss ich zunächst eine Standortbestimmung treffen: Wo stehe ich mit meinem Know-how? Wozu bin ich physisch und psychisch in der Lage? Und schließlich die Frage: Kann und will ich mich überhaupt auf ein solches Abenteuer einlassen? Der ehrliche Umgang mit sich selbst ist eine Grundvoraussetzung für Erfolg, in diesem Fall für ein überlebbares und erfolgreiches Abenteuer.

Ich bin Pragmatiker. Auf der anderen Seite bin ich unkonventionell und bereit, alles über den Haufen zu werfen, wenn ich merke, dass der vorgezeichnete Weg nicht gut ist. Zwar lasse ich mich von Erfahrungen wie auch Instinkten leiten, nicht aber von fragwürdigen Dogmen.

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Der ehrliche Umgang mit sich selbst ist eine Grundvoraussetzung für Erfolg, in diesem Fall für ein überlebbares und erfolgreiches Abenteuer.

Das Abenteuer wie ich es verstehe ist im weitesten Sinne eine Erlebnisreise. Ich entdecke ständig neue Welten und meine damit keineswegs die sogenannten »weißen Flecken« auf der Landkarte. Die bisweilen auch, wenngleich sie selten geworden sind. Es sind die Erlebniswelten, die sich mir erschließen. Es sind die fremden, neuen Situationen, die zusammen mit einem Team gemeistert werden müssen. Abenteuer sind für mich etwas Gestalterisches, Kreatives. So wie ein Maler schöne Bilder malen oder ein Musiker Konzerte geben kann, so vermag ich interessante und wie ich finde aussagekräftige Reisen zu unternehmen. Sie bedeuten aktives Leben, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Natur und den darin lebenden Menschen. Wichtig ist nicht die Reise an sich – es muss um Themen und um Inhalte, um Ziele gehen.

Worin liegt der Sinn solcher Projekte? Interessanterweise eine Frage, die überwiegend in Deutschland gestellt wird. Worin liegt der tiefere Sinn der Tätigkeit eines Radio- oder Fernsehmoderators? Wem nützt der Autorennfahrer, der Profiboxer, der Skilangläufer? Wem der Börsenmakler, der Autoverkäufer oder der Programmierer? Wem der Manager? Sie alle folgen ihren Talenten und ihren eigenen Bedürfnissen, verdienen damit ihren Lebensunterhalt und leisten ihren Beitrag zum Bruttosozialprodukt. Jeder ist sich dabei selbst der Nächste und dient nicht unbedingt einem höheren Zweck. Auch der Seelsorger, der Priester oder der Arzt folgen ihrer inneren Stimme. Letztere mögen im Dienste der guten Sache stehen – trotzdem sind sie erfolgsorientiert und leben von ihrer Tätigkeit. Wie sollte es auch anders funktionieren?

Die Expedition oder Tätigkeit, das Tun an sich ist sinnstiftend. Die Abenteuer nutzen daher zu allererst mir selbst! Ich lebe meine Ideen und Träume und bestreite zudem meinen Lebensunterhalt davon. Das bedeutet für mich auch keinen Gewissenskonflikt. Da ich eben nicht ausgestiegen bin, muss ich ergo den Spielregeln dieser Gesellschaft folgen. Ich zahle Steuern wie alle anderen, schaffe Arbeitsplätze, lasse keine Wahl aus und nehme aktiv am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teil. Das ist allemal Nutzen genug. Weil es nur wenige Menschen gibt, die ein vergleichbares Leben führen, falle ich aus der Norm und werde dadurch zum Exoten. Für mich ist dieses Leben hingegen Normalität. Ich sehe nicht ein, warum ich mich für etwas rechtfertigen soll, dass sich im Grunde genommen gar nicht so sehr von dem Leben anderer unterscheidet. Die Expeditionen bedeuten für mich aktives Leben. Sie geben meinem Leben einen Sinn und vermitteln mir trotz aller Härten und Entbehrungen Lebensfreude.

Und sie bringen mich immer wieder auf das wirklich Wesentliche zurück. Ich habe gefroren, unvorstellbare Erschöpfung erfahren und mir vor Angst fast in die Hosen gemacht. Ich habe körperlich mehr gelitten als ich es mir je vorgestellt habe. Daraus habe ich gelernt. Aber ich habe auch Momente unbeschreiblichen Glücks erlebt und mich eins gefühlt mit mir selbst und der Schöpfung. In solchen Situationen, in denen es ums Überleben geht, klärt sich der Blick für die wirklich wichtigen Dinge.

Wenn ich das sogenannte bürgerliche Leben hier bei uns in Europa analysiere, dann fällt mir als erstes der Faktor Zeit auf. Wir hecheln und hetzen von einem Termin zum anderen. Wir lassen uns überwältigen von der angeblichen Wichtigkeit einzelner Termine und bauen Kulissen aus Konsumgütern um uns auf, die uns Lebensqualität und Geborgenheit suggerieren sollen, uns aber gleichzeitig in neue Abhängigkeiten führen. Wenn ich hier lebe, bin ich genauso wenig frei davon, wie alle meine Mitmenschen. Aber unterwegs lebe ich nach anderen Gesetzmäßigkeiten.

Dort macht die übermächtige Natur die Vorgaben und ich folge ihnen. Entweder ich akzeptiere sie und ordne mich unter oder gehe zu Grunde. So einfach ist das. Für dekorative Versatzstücke ist da kein Platz. Ich lebe dort draußen ganz ruhig und gelassen und weiß dabei ganz genau, dass der Notarzt oder das nächste Krankenhaus unerreichbar weit weg ist. Das ist mir dann egal. Ich lebe dort in einer anderen Welt, die mir anfangs wohl fremd war, aber mir im Lauf der Jahre immer vertrauter geworden ist. Ich bewege mich dort so selbstverständlich, wie ich hier zu Lande über einen Zebrastreifen gehe. Für mich ist es die reale Welt, weil sie keinen Raum für Kulissen lässt. Der moderne Industriemensch hat sich von der Natur gefährlich weit entfernt. Seine Welt ist von synthetischen Gefügen, von Mikrochips und Entertainment geprägt. Er versteht die Natur nicht mehr, und daraus resultieren meiner Meinung nach auch die mannigfaltigsten ökologischen Probleme. Für viele ist die Natur nichts anderes als ein großer Erlebnispark, den man nach Belieben ausnutzen darf. Er hat zu funktionieren und wenn etwas kaputt geht dann wird es repariert. Irgendwie. Das kostet Geld – wenn es denn möglich ist – und hat daher auch eine ökonomische Qualität. Der Mensch vergisst dabei, dass er Teil des Ganzen ist. Das Konsumdenken macht vor der Natur nicht halt und nimmt dabei grotesk tragische Formen an:

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Respekt ist eines der Schlüsselwörter auf all unseren Reisen. Die Natur ist weder bestechlich noch ein x-beliebiges Konsumgut. Genau das macht das Erleben so wertvoll.

»Jeder Mensch hat seinen Preis, nennen Sie mir den ihren!« Eine Aussage, die ich sinngemäß immer wieder zu hören bekomme. Vermögende und erlebnishungrige Menschen meinen über den Preis alles regeln und mich zum Beispiel für eine Expedition zum Nordpol engagieren zu können, damit ich sie »sicher« dorthin führe. Allein könnten sie es nicht, also kaufen sie sich das Know-how, zusammen mit der vermeintlichen Fitness und der gewünschten Sicherheit. Was kostet das Paket? So etwas ist »cool« – für den Nordpol gilt das ganz sicher. Wozu so etwas führt, konnte man vor einigen Jahren auf dem Mount Everest sehen, an dem gleich neun Menschen in einer geführten Gruppe den Tod fanden. Der Nachfrage an derart skurrilen Unternehmungen hat das hingegen keinen Abbruch getan. Der Respekt ist abhanden gekommen, die Instinkte sind verloren gegangen.

Ich bin zu einem Wanderer zwischen den Welten geworden. In beiden Welten bewege ich mich ganz selbstverständlich. Ich möchte weder die eine noch die andere missen. Beide haben ihre Qualitäten.

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Ich lasse die Träume zu und gebe ihnen einen realistischen Rahmen. Dann laufe ich los.

»Mit Träumen beginnt die Realität« hat Daniel Goeudevert ein Buch überschrieben. Ich lasse die Träume zu und gebe ihnen einen realistischen Rahmen. Dann laufe ich los. Das verstehe ich unter dem Abenteuer Leben. ×

 

03

EXPEDITION
ALS
PROJEKTMANAGEMENT

 

 

 

 

Es ist unmöglich, was
der moralische Wille vermag.
Er durchdringt gleichsam
den Körper und setzt ihn in
einen aktiven Zustand,
der alle schädlichen Einflüsse
zurück schlägt. ×

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Ein Expeditionsleiter ist ein Projektmanager. Die Vorstellung, dass eine Expedition an einem flackernden Kaminfeuer bei einem Glas Rotwein in romantischer Atmosphäre entwickelt wird, mag auf die Geschichten Jules Verne zutreffen, mit der Realität hat es nicht das Geringste zu tun. Nicht dass ich etwas gegen Kaminfeuer oder Rotwein hätte, ab und zu kommen einem dabei ja auch gute Ideen. Aber mit der Umsetzung solcher Gedankenblitze hat es nichts zu tun. Der Begriff Abenteuer ist im Grunde genommen eine niedliche Umschreibung für Zielstrebigkeit, harte Arbeit und nüchternes Kalkül.

Der markige Ausspruch »No risk, no fun« führt fatal in die Irre. Sich in Gefahr zu begeben und darin umkommen kann jeder Dummkopf. Die Qualität einer Expedition liegt gerade darin, dass man das Risiko schon in der Planungsphase erkennt und so gering wie möglich hält. Abenteuer müssen überlebbar sein!

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Im Grunde genommen gibt es keinen Unterschied zwischen einem Projektleiter in einem Unternehmen und einem Expeditionsleiter.

Risiko-Management ist eine der Grundlagen, auf der eine Expedition aufbauen muss. Das kalkulierbare Risiko muss so gering wie möglich gehalten werden, um mit dem Restrisiko umgehen zu können. Das gelingt mir in aller Regel auch. Wenn ich aber permanent am Anschlag meiner Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit