TANITH LEE

 

 

Herr der Illusionen

Dritter Roman von der Flachen Erde

 

 

Tanith Lee-Werkausgabe, Band 9

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin 

Das Buch 

 

HERR DER ILLUSIONEN 

 

PROLOG: Der Turm von Baybhelu 

 

ERSTER TEIL: Die Frucht wird sauer 

1. Geschichtenerzähler 

2. In Bhelsheved 

3. Die Werke der Nacht 

 

ZWEITER TEIL: Die Seele des Mondes 

1. Ein Opfer 

2. Die magische Maschine 

3. Sonnenfeuer 

4. Mondflamme 

5. Ein Bild aus Licht und Schatten 

 

DRITTER TEIL: Bittere Freude 

1. Siebzehn Mörderinnen 

2. Mutter und Tochter 

3. Die Aloe 

4. Würfel 

5. Liebe und Tod und Zeit 

 

Die Autorin

Tanith Lee.

(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

 

Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

 

Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

Das Buch

 

 

 

In jenen Zeiten, da die Erde noch eine Scheibe war und die Götter das Universum noch nicht umgestaltet hatten, war das Menschengeschlecht ein Spielball der unsterblichen Herren...

Chuz, Herr des Wahnsinns und der Illusionen, wütet am grausamsten unter ihnen. Die Welt dient ihm als Tummelplatz seiner abartigen Gelüste; Akteure aus Fleisch und Blut stehen ihm zur Verfügung. Das verwerfliche Spiel, das er mit einer schönen Frau, einem eitlen König und einer ruhmreichen Stadt treibt, ruft schließlich Azrharn auf den Plan, den Herrn der Nacht.

Ein Äonen dauernder Kampf entbrennt zwischen den Göttern, und Männer wie Frauen werden zu gepeinigten Werkzeugen...

 

Der fünfbändige Zyklus von der Flachen Erde gilt als Tanith Lees populärste Fantasy-Serie und überdies als Klassiker der Fantasy-Literatur.

 

»Tanith Lee ist eine der stärksten und intelligentesten Erzählerinnen auf dem Gebiet der Heroic Fantasy.«

(Publisher's Weekly)

HERR DER ILLUSIONEN

 

 

 

  

  

  PROLOG: Der Turm von Baybhelu

 

 

 

Eine Meile vor den schützenden Stadtmauern, dort, wo die Wüste wie goldenes Gras glänzend lag, saß eine wunderschöne Frau in einem steinernen Turm und spielte mit einem Knochen.

»Wird er heute zu mir kommen?«, fragte sie den Knochen, den sie wie ein Kind in den Armen wiegte. »Wird er mich heute Nacht aufsuchen? Alle Sterne werden leuchten, doch er wird heller glänzen als sie. Bestimmt wagt er es nicht, bei Tag zu kommen, denn er würde die Sonne überstrahlen. Die Sonne würde vor Scham sterben, und die ganze Welt würde sich verdunkeln. Aber, oh, er wird kommen. Nemdur«, sagte die wunderschöne Frau, »Nemdur, mein Gebieter!«

Ihr Name war Jasrin; Nemdur war der König, dessen Stadt eine Meile weiter im Osten lag. Einst war er ihr Gemahl gewesen. Er war es nun nicht mehr.

Als der Tag sich dem Ende zuzuneigen begann, als er seine Gewänder um sich hüllte und leise aus der Wüste glitt, rief Jasrin nach ihren Frauen. Es gab jetzt nur noch zwei Dienerinnen, die eine sehr alt, die andere ein junges Mädchen. Beide bedauerten sie, doch Jasrin beachtete sie kaum. Und ebenso wenig bemerkte sie die Abscheu hinter dem Bedauern. Unten an der Tür hielten kräftige Männer mit Schwertern und Äxten bewaffnet Wache; ihr Befehl war, die Gefahr draußen zu halten - oder drinnen. Palmen mit metallisch grünen Wedeln umringten den Turm, und dazwischen lag ein kleiner Teich wie ein Stück herabgefallener Himmel. Bei Sonnenuntergang lief das Mädchen zum Teich hinunter und schöpfte Wasser für das Bad ihrer Herrin. Bald darauf badete Jasrin, wurde parfümiert und gesalbt. Die alte Frau kämmte Jasrins Haar, das die Farbe der Wüste hatte, und flocht Juwelen hinein, wie Jasrin es ihr aufgetragen hatte. Ein Seidengewand wurde um Jasrins Leib gelegt, und goldene Pantoffeln um ihre Füße. Jasrin hielt den Knochen die ganze Zeit über fest. Sie hatte einen Grund dafür: Es war der Knochen ihres Kindes.

»Bereitet die Festlichkeiten vor«, sagte Jasrin zu ihren Dienerinnen. »Nemdur, mein Gebieter, wird bald eintreffen.«

Die Dienerinnen gehorchten ihr so gut sie konnten. Siedeckten den Tisch mit gestickten Mundtüchern und silbernen Tellern und legten gekochtes Fleisch darauf, Brot, Früchte und Süßigkeiten. Sie stellten Wein in geeisten silbernen Karaffen bereit.

»Spielt auf«, sagte Jasrin.

Das Mädchen nahm ein Saiteninstrument und zupfte, und die Töne klangen wie scharfe, kristallene Seufzer.

Jasrin lehnte sich ans Fenster. Sie sah zur Stadt hinüber, die sich eine Meile entfernt längs der dunkelnden Wüstenhänge erstreckte.

Hoch oben leuchteten ruhig die Sterne. Jasrin suchte nach Sternenlicht, das sich bewegte; Lampen und Fackeln, die aus der Stadt Sheve herüberzögen, der Zug, der ihren Gebieter zu ihr bringen würde.

»Bald«, sagte sie zu dem Knochen ihres toten Kindes, »bald wird er zu mir zurückkehren. Sein Haar gleicht Bronze, seine Stärke gleicht jener der Sonne, und seine Augen sind wie Sterne. Er wird bei mir liegen, und sein Mund wird sein wie Wein, seine Lenden wie Feuer. Oh, er wird die Musik spielen, und ich werde nur das Instrument sein für diese Musik. Und in dieser Musik werde ich empfangen. Ich werde mit dir wachsen, mein Kind, und du wirst noch einmal geboren werden.«

Sollte der Knochen ihre Worte gehört haben, so regte er sich nicht, und wenn die Nacht sie auch gehört hatte, sie rührte sich nicht. Und wenn Nemdur, der König, der mit seiner neuen Königin in seinem Palast saß, sie gehört hatte, dann hatte er sich die Ohren verstopft.

Um Mitternacht schrie Jasrin auf. Sie warf den Knochen in eine Ecke. Sie begann an ihrer Haut und ihrem Haar zu reißen, und. ihre beiden Dienerinnen eilten zu ihr und hielten sie zurück Jasrin war so schwach geworden, dass sogar eine alte Frau und ein schmächtiges Mädchen sie halten konnten - und außerdem waren sie gut darin geübt. So geschah es jede Nacht.

Und wie in jeder Nacht weinte Jasrin viele Stunden lang. Jede Nacht durchweinte sie mit ihren Tränen, bis sie in den pastellenen Momenten vor der Dämmerung ein wenig schlief, um wieder aufzuwachen und nach ihrem Kind zu rufen. Und dann brachte ihr das Mädchen den Knochen, und Jasrin wiegte den Knochen und hielt ihn an die Brust.

Als die Sonne aufging, fragte Jasrin den Knochen abermals: »Wird er heute zu mir kommen? Oder wird er mich heute Nacht aufsuchen?«

Doch Nemdur kam nicht zu ihr.

Sie war sechzehn Jahre alt gewesen, als sie mit ihm verheiratet wurde. Sie hatte zuvor in einem Königreich mit vielen Gewässern gelebt, mit Flüssen, Seen, Wasserfällen und Quellen. Grüne Hügel türmten sich über grünen Tälern, der Himmel war mit einem Mosaik aus grünem Blattwerk bedeckt. Als man ihr gesagt hatte, dass sie aus diesem grünen, samtigen Land in ein Land aus grobem Bernstein gehen musste, hatte Jasrin wie ein Mensch geweint, der sich zwischen den Wassern wohlfühlt, der mit ihnen vertraut ist. Gehorsam, elend und verängstigt war sie zu dem Mann gegangen, der ihr Gatte werden sollte, und sie hatte ihre Augen auf den grünen Boden gerichtet, den sie verlassen musste. Als er ihr mit seinen sanften, starken Fingern den Schleier vom Gesicht hob, schien es ihr, als werde sie von der Sonne angestrahlt. Sie hob langsam die Augen und sah Nemdur, der die Sonne war, und die Sonne trocknete lächelnd ihre Tränen.

Nemdur war so schön wie ein junger Löwe. Sein Haar glänzte wie helle Metallspäne, seine Augen waren blasser, brennender Schiefer in der Wüstenluft. Als er seine Braut sah, lächelte er, weil ihn ihr Liebreiz erfreute. Er hatte sich diese Freude erhofft; nun spürte auch sie den Wunsch, ihn stets zu erfreuen.

In einer Kutsche, an der silberne Plättchen klingelten, fuhr sie nach Sheve. Ihr Haar flatterte hinter ihr, ihre Augen wurden feucht; nicht vor Tränen, sondern vor Liebe. Sie war die Prinzessin aller Wasserfälle. Im Palast, hinter den Türen des Schlafgemachs, zeigte ihr Nemdur ein anderes Land, in dem sich Feuer und Flüssigkeit mischten.

Bald schon trug sie sein Kind unter dem Herzen. Nemdur überhäufte sie1 auch mit anderen Gaben: mit goldenen Halsreifen, silbernen Spiegeln, Saphirarmbändern und Perlenketten. Er legte für sie einen Garten an, in dessen flachen Teichen Lotosblumen wie Schwäne lagen, einen Wassergarten inmitten der Wüste. Er sandte ihr das Fell eines Löwen, den er selbst erlegt hatte, als Decke, in die sein Sohn nach der Geburt gehüllt werden sollte. So vieles schickte er ihr, doch er selbst kam nie wieder zu ihr. Das Kind machte sie dick, schwerfällig und hässlich. Nemdur, frei wie Sand oder Sonnenlicht, wandte sich anderen Frauen zu. Sein Verlangen war groß, und sein Geschmack sehr unterschiedlich. Das Kind hatte in ihm nur den unausweichlichen Drang nach Veränderung beschleunigt. Sicherlich war in seinem Herzen genug Raum für Jasrin, aber es gab auch Raum für andere, dort und in seinem Bett, Raum für eine Welt voller Frauen.

Sie sah, wie sich seine Augen auf safranhaarige Mädchen mit blasser Haut wie Schnee richteten, und auf Mädchen so dunkel wie Melasse, mit Haaren wie rauchige Wolle. Sie roch diese Häute, diese Haare an ihm, roch ihre Parfüms und ihre Wollust. Ihre Seele verkroch sich nach innen und wurde klein. Schließlich wurde ihre Seele so klein, dass sie in einen Koriandersamen passte.

Dann betrachtete sie sich selbst in den Lotosteichen und in den Silberspiegeln. Und sie begann zu ahnen, dass Nemdurs Kind sie hässlich machte, und sie begann das Kind zu hassen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie kaum einmal über ihr Leben nachgedacht, oder besser, sie hatte nicht daran gedacht, dass sie über irgendetwas in ihrem Leben bestimmen könnte. Doch nun erfüllte sie ein großer Schrecken. Gewaltige Dinge waren ihr geschehen, und keins von ihnen auf ihr Geheiß. Exil, Liebe, Schwangerschaft und Im-Stich-gelassen-werden. Als nächstes kamen ihre Wehen. Andere hatten mehr gelitten, doch wer könnte Jasrin Vorhalten, dass ihr die Schmerzen und die Angst als die schlimmsten erschienen, die je eine Frau heimgesucht hatten? Ihr Körper schien gespalten, ihr Gehirn entzwei. Sie wurde von einem Sohn entbunden, den man auf das Löwenfell legte; Jasrin aber wurde auf flüssige Lava gebettet. Doch sie dachte: Ich bin davon befreit, und nun wird er mich wieder lieben.

Nemdur sandte Geschenke: Ohrringe und Halsreifen aus Lapislazuli für seine Frau und einen Apfel aus Jade für seinen Sohn. Als Nemdur die Kammer betrat, hob er das Baby in seinen Armen hoch, wie er einst den Schleier seiner Braut gehoben hatte, und Nemdur lachte voller Freude über seinen Sohn. Jasrin hatte er nur angelächelt. Diesmal schenkte er ihr kaum einen Blick.

Nach einer Weile verließ eine Frau Jasrins Gemächer. Ihre Seele war so klein, dass sie in einen Koriandersamen passte, und ihr Geist war in zwei Teile gespalten. Ein Teil sagte zu Ihr: Sieh nur, wie mein Gatte mit seinem Sohn spielt. Der zweite Teil sagte zu ihr: Sieh nur, wie mein Gatte nur Augen für das Kind hat, und nicht für mich.

Nemdur gab dem Kind Gewänder aus Seide, Spielzeug aus Elfenbein, eine Fußspange aus Gold. Nemdur kam an Jasrins Bett.

»Bin ich schön?«, fragte Jasrin ihn.

»Schön wie ein Lotos, und du gebierst wunderschöne Kinder. Lass uns beide noch eines zeugen.«

»Mein Gebieter«, sagte Jasrin, »heute Nacht fühle ich mich nicht wohl. Frage nicht mich. Geh lieber zu einer deiner Frauen wie Schnee, oder zu einer deiner Frauen wie Tinte.«

»Komm«, sagte Nemdur, »du bist die, die ich will.«

Da legte ihr gespaltener Geist Worte in ihren Mund, Worte wie Honig:

»Ich habe mich nach dir gesehnt...«

Wie Aloe: »...aber ich bin die letzte, der du dich zuwendest.«

Nemdur sah ihren Schmerz, und er sagte: »Ich war gedankenlos, und ich will es wieder gutmachen. Aber ich habe dich immer in Ehren gehalten.«

»Ich bin doch wie irgendeine von deinen Dirnen«, sagte sie.

»Du bist mein Weib, und du bist die Mutter meines Erben.«

Darauf wollte Jasrin nichts mehr sagen. Sie streckte sich und lag wie ein Stein. Als er sah, dass er sie nicht bewegen konnte, verließ Nemdur sie. Sein Garten war voller Blumen, er hatte es nicht nötig, auf eine bestimmte zu warten. Wenn man zu dieser Stunde den Koriandersamen geöffnet hätte, dann hätte man Jasrins Seele nicht mehr finden können, denn sie war zu einem Pünktchen zusammengeschrumpft, das nicht größer war als eine Nadelspitze.

Im gleichen Moment noch verdarb das Wasser im Wassergarten, und die Lotosblüten starben. Dies, sagte der zweite Teil von Jasrins Geist, dies ist es, was sie dir angetan haben, Nemdur und Nemdurs Sohn.

Und der erste Teil ihres Geistes flüsterte: Hättest du kein Kind geboren, würde Nemdur dich noch immer lieben.

Das Kind schlief im Schatten auf seiner Löwenhaut, und nahe bei ihm schlief auch seine Amme, und überall waren die winzigen Elfenbeintiere verstreut, die der König dem Kind geschickt hatte, und an seinem Fuß war die goldene Spange.

Jasrin hob lautlos das Oberkleid der Amme auf, das die Frau wegen der Tageshitze abgestreift hatte. Jasrin hüllte sich in das Gewand und zog die Kapuze über den Kopf, und als nächstes hob sie das Kind in seinem Fell auf. Sie begann zu weinen, denn das Kind war unschuldig und schön; aber dennoch, es war ihr Feind.

Jasrin schritt durch die Höfe des Palastes, und niemand rief sie an, denn man hielt sie für die Amme, der man vertraute. Als sie hinaustrat und durch die Stadt wanderte, war sie nur eine Frau unter vielen, die ihr Kind eng bei sich trug. Und manchmal sah Jasrin auch wirklich andere Frauen mit ihren Kindern, und sie bedauerte sie, denn sie glaubte, jede Frau, die ein Kind geboren hatte, habe damit die Liebe ihres Gatten verloren.

Durch weite und enge Straßen ging es hinab und über den großen Marktplatz, wo die braunen Kamele herrisch starrten, wo die blauschwarzen Feigen schwitzten, wo rotes Fleisch baumelte, wo Knaben zu einer Flöte tanzten, während sich eine Schlange aus einer kupfernen Urne reckte und ihre herzförmige Haube spreizte. So gelangte Jasrin zu den hohen, lasierten Mauern von Sheve. Sie sah nicht die Bilder auf den Mauern, die Tiere und Blumen zeigten. Sie rannte durch das breite Tor, dessen Schatten wie der schwarze Tod war, in die Wüste hinaus.

Ungefähr einhundert Schritte vor den Mauern drängte sich das bunte Treiben eines Lagers von fahrenden Leuten um einen Brunnen. Jasrin trat kühn zwischen die Zelte, und niemand stellte sich ihr in den Weg, denn sie war eine Frau, und in jener Gegend fürchtete man Frauen nicht sehr; wenigstens glaubte man sich ohne Furcht.

Schließlich erreichte Jasrin eine Gruppe von mehreren Kleinkindern und Babys, die im Schatten eines Zeltes schliefen oder schläfrig miteinander spielten. In der Nähe ruhten zwei große Jagdhunde. Sie hatten ihre lohfarbenen Gesichter auf die Pfoten gelegt.

Jasrin hatte inzwischen beinahe den Verstand verloren, doch keineswegs völlig. Es schien ihr, als könnte sie das Kind hier, unter so vielen anderen, unbemerkt zurücklassen. Und wenn die Mütter kämen und ein fremdes Kind fänden, würden sie es zweifellos mit sich nehmen und sich durch den goldenen Ring um seinen Fuß als entlohnt betrachten. Nach der Mittagszeit würde das Lager abgebrochen, denn diese Nomaden blieben nur selten lange am gleichen Ort, und in den Städten des Wüstenlandes, die sie für teuflisch und dekadent hielten, schon gar nicht. Bei Einbruch der Nacht, wenn nicht schon früher, wäre Jasrin von dem Ding befreit, das sie, ohne um seine Schuld zu wissen, allen Glücks beraubt hatte.

Während sie dastand und fieberhaft über diese Dinge nachdachte, hob einer der Hunde den Kopf und witterte in ihre Richtung und knurrte sie leise an. Man hatte die Hunde offensichtlich auf die Bewachung der Kinder angesetzt, und sie würden das ihre ebenso bewachen, nachdem sie gegangen wäre. Doch die erbarmungslosen Augen des Hundes ließen Jasrin plötzlich erschrecken. Sie löste hastig das Bündel, ihr Kind, von ihrer Brust und ließ es neben den anderen Kindern sanft auf den Sand fallen. Es hatte nicht geschrien; vielleicht hatte es sie instinktiv als seine Mutter erkannt, wenn ihm auch seine Instinkte nicht verrieten, was die Mutter im Sinn hatte.

Der Hund erhob sich abrupt auf seine vier schlanken Läufe, und jetzt waren seine Augen wie hartes, glühendes Glas, das von der unbarmherzigen Wüstensonne zum Lodern gebracht wurde. Jasrin wandte sich um und floh, denn sie erwartete, jeden Augenblick die Fänge des Hundes in ihren Kleidern oder in ihrem Fleisch zu spüren, doch das Knurren erstarb hinter ihr. Es wurde allerdings von den Kindern übertönt, die aus ihrem Schlaf erwachten und zu jammern und zu kreischen begannen, als wollten sie sie anklagen. So rannte sie schneller, aus dem Lager und zurück durch das Stadttor. Die Straßen hinauf, weite und schmale, rannte sie, bis sie in der Nähe des Palastes innehielt, um die Kleider der Amme auf den Boden zu schleudern. Die Wachen, die sie eintreten sahen, starren sie an, denn sie war die Königin von Sheve, und sie war ohne Diener aus den Straßen zurückgekehrt, doch sie stellten keine Fragen.

Sie ging zu ihrer Suite und setzte sich. Ihr Kopf tat weh, ja, selbst ihr Geist schmerzte.

Nemdur würde zu ihr kommen und sagen: »Unser Sohn ist verschwunden, und niemand kann ihn finden. Glaubst du, dass die Frau, die seine Amme war, ihn getötet hat?«

Und Jasrin würde antworten: »Verschone sie, mein Gebieter. Ihr Geist ist verwirrt. Sie ist neidisch, weil sie kein eigenes Kind hat, denn ihr Kind ist gestorben...«

Der Mittag war gekommen, dann der Nachmittag, dann die Zeit der Abendröte. Das blutige Rot ergoss sich über die Mauern, der scharlachfarbene Nachklang der Sonne verwandelte sich rasch in Magenta und Indigo, und die Sterne gingen auf, die Laternen der himmlischen Städte. Jasrin hatte im Palast kein Aufschreien und keine Geräusche einer Suche gehört. Nemdur war nicht zu ihr gekommen.

Und dann... kam er.

Er trat schnell in die unbeleuchtete Kammer, und dieses eine Mal erleuchtete er den Raum nicht mit seiner Gegenwart, und er sprach auch nicht so, wie sie es sich ausgemalt hatte.

»Jasrin, meine Frau«, sagte Nemdur. »Ich habe drei Geschichten gehört. Die erste handelt davon, dass jemand die Kleider einer Frau stahl, die im Garten schlief. Die zweite davon, dass dieselbe Frau, wegen der Hitze eng in ihr Gewand gehüllt, sich in die Stadt hinausstahl, ohne zurückzukehren. Die dritte Geschichte handelt davon, dass Jasrin, die Königin von Sheve, ohne Eskorte aus der Stadt zurückkehrte, obwohl sie niemand gehen gesehen hatte.«

Das war zu viel für Jasrins gespaltenen Geist. »All das sind Lügen!«, schrie sie. »Du solltest diese Lügner auspeitschen lassen.«

Doch Nemdur sagte ruhig zu ihr: »Es gibt noch eine vierte Geschichte. Hör zu, ich will sie dir erzählen. Nomaden haben vor den Mauern von Sheve ihre Zelte aufgeschlagen, um Wasser aus dem Brunnen vor dem Tor zu holen, und um ihre Erzeugnisse auf dem Markt zu verkaufen. Doch eine Frau kam und hinterließ ein Kind zwischen den Kindern der Zelte.«

»Das war die Amme«, platzte Jasrin heraus.

»Nein«, sagte Nemdur, »denn sie hat zur gleichen Zeit nach deinem und meinem Kind gesucht, und sie hat Zeugen für ihre Suche.«

»Sie alle sind Lügner!«, schrie Jasrin noch einmal.

»Es gibt nur eine Lügnerin.«

Und sofort versiegte Jasrins Kraft wie Blut, das aus einer tödlichen Wunde sprudelt.

»Ich gestehe es«, sagte sie. »Das Kind hat deine Aufmerksamkeit von mir abgehalten. Ich wollte deshalb das Kind fortschicken. Sei mir nicht böse. Ich konnte nicht anders.«

»Ich bin dir nicht böse«, sagte Nemdur. Seine. Stimme blieb ruhig, und sie konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen.

»Und wurde dir das Kind zurückgebracht?«, murmelte Jasrin.

»Zurückgebracht!«, sagte Nemdur, und dann rief er durchs Zimmer: »Bringt meinen Sohn herein.« Die Türen öffneten sich wieder, und zwei besonders ergebene Diener traten ein. Einer trug eine brennende Fackel, der zweite ein Bündel. »Leg es hier hin«, sagte der König, »und lass diese arme, verrückte Frau die Früchte ihrer Taten sehen.«

Sie legten das Bündel vor die Königin von Sheve und wickelten es im Fackelschein auseinander.

Eine Weile starrte sie nur stumm, dann schrie sie auf, und beide Teile ihres Gehirns zersprangen in hundert kleine Stücke.

Die fahrenden Leute hatten das Kind an seiner goldenen Fußspange erkannt, und aus Achtung für Nemdur und aus Angst hatten sie ihm, obwohl sie seine Rache fürchteten,- das heimgebracht, was von seinem Sohn geblieben war. Denn die Hunde hatten das Kind in Stücke gerissen. Normalerweise hätten die Hunde niemals einem Kind etwas angetan, doch es waren Jagdhunde, und sie hatten den Löwen sofort gewittert, als die Frau näher kam. Als sie das Kind, ins Löwenfell gewickelt, niedergelegt hatte, hatten sich die Hunde darauf gestürzt. Als Jasrin floh, waren die Hunde darüber hergefallen, und damit auch über das Kind in dem Fell. Wahrlich, Jasrin hatte sich ihres Sohnes entledigt, wahrlich, sie hatte über ihren Feind gesiegt.

Nemdur zeigte weder seinen Kummer oder seine Abscheu, noch verurteilte er seine Frau zu einer Strafe. Er verstieß sie nur und ließ sie in einem großzügigen Pavillon, der sich an seinen Palast anschloss, einsperren. Er schickte ihr weiterhin Geschenke, kostbare Wandteppiche, saftiges Fleisch und reife Früchte, Juwelen. Er war gut zu ihr, und seine Nachsicht wurde bestaunt. In Wahrheit wäre es jedoch weniger grausam gewesen, wenn er sie sofort dem Scharfrichter überstellt hätte. So aber schloss er sie als lebende Tote ein, und das war schlimmer, viel schlimmer als die Peitsche, das Feuer oder ein sauberer Schwerthieb.

Im dritten Monat ihrer Gefangenschaft - in jenem Monat, in dem der König erneut heiraten wollte - gelang es Jasrin irgendwie auszubrechen. Sie war inzwischen so verrückt, dass sie glaubte, eine Braut zu sein, dass dies das Wasserland sei, und dass Nemdur, der Bräutigam, sie sogleich begrüßen und ihr zum ersten Mal den Schleier abnehmen würde. Doch hatte die Vorstellung von ihr Besitz ergriffen, dass sie unfruchtbar bliebe, bis sie ein bestimmtes magisches Unterpfand gefunden hätte, ein Versprechen der Götter, dass sie einen Sohn gebären sollte. Dieses Unterpfand war nichts anderes als die Leiche ihres Kindes. So gelangte sie zum Friedhof, wanderte dort herum und traf schließlich auf einen Gärtner. Dieser, der sie kannte und niemanden in der Nähe sah, erbarmte sich ihrer, führte sie zum Grab ihres Sohnes und ließ sie eintreten. Endlich erschienen ihre Verfolger und fanden sie im zwielichtigen Grabgewölbe sitzend, mit dem geschundenen Körper, der zu Knochen zerfallen war, in den Armen. In ihrem zerstörten Geist glaubte sie, den Schlüssel und das Symbol ihrer Sicherheit und ihrer zukünftigen Freuden gefunden zu haben. Aber irgendwo tief in ihrem Innern wusste sie zweifellos, dass es ihre schreckliche Schuld war, die sie wiegte, und nichts würde sie von ihrer Schuld befreien. Ihre Verfolger versuchten mehrmals, die Leiche aus ihrem Griff zu zerren. Nach einer Weile hatte sie alles außer einem Knochen losgelassen, doch diesen konnten sie nicht freibekommen, so sehr sie es auch versuchten.

So wurden Jasrin und ihr Knochen zusammen fortgeführt, zu einem steinernen Turm, der eine Meile westlich der Stadt in der Wüste stand. Und dort lebte sie weiter ihren lebendigen Tod, und der Bannkreis ihres Irrsinns veränderte sich nie mehr. Ihr Forschen nach Nemdur, ihre Gespräche mit dem Knochen, ihr Leiden, ihr Wüten, ihr Weinen - wieder und wieder. Bis schließlich ihre ganze Umgebung ein wenig verrückt wurde und ihre Krankheit übernahm. Selbst der Turm war getränkt von den Leiden ihres Wahnsinns, selbst die Bäume, der Sand, die Sterne, der Himmel.

 

Zu jener Zeit gab es fünf Herren der Finsternis. Uhlum, Herr des Todes, war einer von ihnen. Seine Zitadelle stand im Kern der Erde, doch betrat er nach Belieben die Welt und verließ sie wieder. Ein anderer war das Böse in der Person des Prinzen der Dämonen, Asrharn des Schönen, dessen Stadt Druhim Vanaschta ebenfalls in der Unterwelt lag; er kam und ging nur in der Nacht, denn Dämonen scheuen die Sonne (und sie tun gut daran, denn die Sonne kann sie zu Rauch und Asche verbrennen). Die Erde war flach und wunderschön, und es gab noch Raum für solche Wesen. Doch es ist nicht überliefert, wo ein gewisser dritter Herr der Finsternis seine Heimstatt hatte; diesem blieb aber vielleicht auch nicht viel Raum für ein Privatleben, denn er musste zu jeder Zeit überall gegenwärtig sein.

Sein Name war Chuz, Prinz Chuz, und er war unterwegs. Näherte man sich ihm von rechts, so sah man einen schönen Mann im Glanz seiner Jugend. Sein Haar war eine blonde Mähne, sorgfältig, seidig gekämmt. Wenn er die Augen schloss, sah man lange, goldene Wimpern. Seine Lippen waren fein gezeichnet, seine braune Haut glänzte. Seine Hand steckte in einem Handschuh aus feinem weißem Leder, und sein Fuß in einem Schuh derselben Machart. Das Gewand, das er um seinen großen, schlanken Leib gegürtet hatte, war prächtig und purpurdunkel. »Ein schöner junger Mann«, sagten die, die ihm von rechts entgegenkamen. Doch die, die sich ihm von links näherten, zogen die Köpfe ein und zögerten, überhaupt zu sprechen. Von links gesehen war Chuz ein Mannweib, dem das Alter seine schärfsten Zeichen aufgesetzt hatte; zwar immer noch seltsam ansehnlich, aber hager und schrecklich, mit grimmig verzerrter Lippe und ausgehöhlter Wange, was angesichts seiner schönen Seite noch garstiger aussah. Die Haut dieses Mannes war leichengrau, und das struppige Haar hatte die Farbe von trockenem Blut. Wenn er sein schuppiges Augenlid senkte, sah man Wimpern von derselben Farbe. Die linke Hand lag nackt auf dem dunkelvioletten Gewand, das auf dieser Seite zerlumpt und fleckig war. Der rechte Fuß darunter war nackt. Wenn Chuz einen Schritt machte, sah man, dass die Sohle dieses grauweißen Fußes schwarz war, und wenn er seine grauweiße Hand hob, war ihre Fläche schwarz und die Nägel lang und gekrümmt und rot, als hätte er sie wie eine Frau mit Nagellack bemalt. Und wenn Chuz ein Auge hob, egal auf welcher Seite, sah man außerdem, dass die Augäpfel schwarz waren, die Iris rot, die Pupillen fleckig wie altes Messing. Und wenn Chuz lachte, was er von Zeit zu Zeit tat, zeigte er Zähne aus Bronze.

Am schlimmsten war es, sich Chuz von vorn zu nähern und seine beiden Facetten zugleich zu sehen, und sogar noch schlimmer, wenn er die Augen hob und den Mund öffnete. (Wahrscheinlich hat jeder Mann irgendwann einmal Chuz von hinten gesehen.) Und wer war Chuz? Sein zweiter Name war Wahnsinn. Wie der Herr des Todes war auch Prinz Chuz vielleicht eine Verkörperung, die einmal entstanden war; ein an sich fließender Begriff, der sich zu einer Gestalt verhärtet hatte. Sicher war, dass seine Gerätschaften so unheimlich waren, wie man es erwartet hätte. Manchmal trug er die Kieferknochen eines Esels bei sich, und wenn er sie zuschnappen ließ, dann gaben sie das Geschrei des lebenden Tiers von sich. Manchmal hatte er auch eine Messingrassel, und wenn er sie wie ein Sistrum schüttelte, klapperte sie, als würde ein Kopf in kleine Stücke zerschlagen. Und manchmal trug er einen purpurschwarzen Umhang, der mit Glassplittern bestickt war, die in Form unheilverkündender Sternbilder angeordnet waren...

 

Jasrins sechs Wächter hatten ihre Äxte beiseitegelegt. Mit ihren sechs Schwertern in den Gürteln kauerten sie in der kühlen Abendluft am Fuß des Steinturms und spielten mit Würfeln.

Der Mond war aufgegangen, eine einsame weiße Frucht im schwarzblättrigen Baum der Nacht. Bei seinem Licht und unter dem Flackern einer in den Sand gesteckten Fackel spielten die Wächter ihr Spiel.

Der erste Mann würfelte, dann der zweite. Dann der dritte, der vierte und der fünfte. Dann der sechste. Und dann der siebte.

Der siebte?

Die Würfel des siebten Mannes fielen; sie waren gelb und trugen keine Zeichen.

»Wer ist dieser Fremde?«, fragte der Hauptmann der sechs Männer. Er klopfte dem Fremden auf die Schulter, dann zog er die Hand mit einem Fluch zurück. Ober den Umhang des siebten Mannes war strahlendes Gefunkel verstreut, das Wunden riss. »Wie bist du hergekommen, und was ist dein Begehr?«, bellte der Hauptmann.

Die sechs Männer beäugten den Fremden, und im Fackelschein sahen sie ein halbes Gesicht. Die zweite Hälfte war unter der Kapuze des Mantels verborgen. Ein bildschöner junger Mann saß bei ihnen, dessen Augen - oder besser, das einzige sichtbare Auge - anmutig geschlossen war, so dass lange, blonde Wimpern auf seiner Wange ruhten. Er lächelte, ohne den Mund zu öffnen. Dann erschien plötzlich eine weiß behandschuhte Hand, in der ein Eselskiefer lag. Die Kiefer schnappten zu, und das Geschrei eines Esels ertönte. Das Auge öffnete sich einen Moment und schoss einen irren, unerträglichen Pfeil ab, bevor es sich wieder senkte.

Der Fremde sprach nicht selbst, doch plötzlich kamen Worte aus den Kieferknochen zwischen seinen Fingern. Sie sagten: »Der Mond beherrscht die Gezeiten des Meeres, die Gezeiten in Frauenkörpern und die Gezeitenströmungen des Geistes.«

Die sechs Männer sprangen auf die Füße. Sie zogen ihre Schwerter, doch gleichzeitig wichen sie zurück. Sprechende Kieferknochen hatten sie noch nicht gesehen, wohl aber davon gehört.

Immer noch lächelnd, das Augenlid sorgsam gesenkt, erhob sich der Fremde. Er sammelte seine glatten gelben Würfel ein, schritt geradewegs durch die Mauer des Turms und verschwand. Ein Geräusch hing in der Luft; es hätte ein irres Gelächter oder der Schrei eines Nachtvogels über der Wüste sein können.

Der Hauptmann stieß die Tür des Turms auf und führte seine Männer auf der Suche im Treppenhaus und in den unteren Räumen an. Kurz darauf kamen Jasrins Dienerinnen, die alte Frau und das junge Mädchen, aufgeschreckt die Treppe heruntergelaufen.

»Ist hier jemand vorbeigekommen?«, fragte der Hauptmann.

»Niemand«, sagte die alte Frau. Sie begann vier der Wächter zu beschimpfen, weil sie ängstlich und wie kleine dumme Jungen die Köpfe einzogen.

»Deine Hand blutet«, sagte das junge Mädchen schüchtern zu dem Hauptmann. Diese sechs waren seit einem Jahr die einzigen Männer, die sie von nahem gesehen hatte, und in diesem Jahr war sie zur Frau gereift. Als sie die Hand des Mannes nahm, sah sie, dass sie stark und fest war, und als sie die Wunden badete, die der Mantel des Fremden gerissen hatte, sah er, wie zart das Mädchen war. Der Mond schien durch die dünnen Kleider auf ihre zarten Brüste, und das Mondlicht hatte ihr Haar in eine silberne Wolke verwandelt.

Draußen hockten die sechs Wächter dann staunend auf dem Sand und betrachteten die Fackel, die in den Teich gefallen war. Da drüben, unter dem Wasser, brannte die Flamme weiter, hell wie der lichte Tag.

Oben in ihrem Zimmer lehnte Jasrin gerade wieder am Fenster und sah nach Sheve hinüber. Als sie verschwommen die Bewegung da unten sah, sagte sie zu dem Knochen: »Dies sind die Boten, die Nachricht bringen, dass mein Gebieter aufbricht. In weniger als einer Stunde wird er bei mir sein.«

So drehte sie sich um und sah einen jungen Mann mit gekreuzten Beinen auf dem Teppich sitzen. Die Hälfte seines Gesichts war in seinem Mantel verborgen, und er saß ihr halb abgewandt.

Jasrin keuchte und hielt den Knochen wie zum Schutz fest. Stolz und wütend zugleich sagte sie zu dem Fremden: »Mein königlicher Gemahl wird bald bei mir sein, und er wird dich erschlagen, weil du dich in meine Gemächer gewagt hast.«

Chuz antwortete nicht, sondern warf noch einmal seine Würfel. Dieses Mal waren sie schwarz wie zwei Kohlenstücke, und wo sie fielen, rauchte der Teppich.

Jasrin hielt den Knochen noch fester. »Du wirst mich nicht vor meinem Kind entehren«, sagte sie.

Plötzlich begann sich der Knochen gegen ihren Griff zu wehren. Er warf sich hin und her, er zuckte und wand sich aus ihren Fingern. Er fiel zu Boden und hüpfte mit entsetzlichen Bewegungen von ihr fort.

»Hunde haben mich gefressen«, schrie der Knochen mit einer dünnen, hohen Stimme. »Du hast mich den Hunden ausgeliefert, damit ich gefressen würde.« Dann warf er sich in die Falten von Chuz Gewand, als suchte er dort Schutz vor ihr.

Jasrin bedeckte ihre Ohren mit den Händen. Aus ihren Augen brachen Tränen, obwohl es noch nicht Mitternacht, noch nicht die rechte Zeit für ihre Tränen war.

Doch eine sanfte, wohlklingende Stimme begann zu ihr zu sprechen. Es war die Stimme von Chuz, eine seiner Stimmen, denn er hatte viele.

»Jasrin von Sheve ist meine Untertanin, darum soll sie näher treten, auf dass ihr Trost zuteilwerde.«

Und Jasrin bemerkte, dass sie auf den Fremden zu kroch, und als sie ihm nahe war, warf er den Mantel mit den darauf gestreuten Glassplittern ab. So sah sie beide Facetten seines Gesichts; eine Hälfte jugendliche Bronze, die andere ein graues Mannweib; das rostfarbene Haar und das blonde. Ihr jedoch schien dies das natürlichste Gesicht, das sie je angeblickt hatte. Chuz zog sie schützend in seine Arme und wiegte sie sanft und küsste mit seinem fremden, fremden Mund ihre Stirn. Und zuerst schien es ihr, als werde sie, wie er gesagt hatte, wirklich getröstet.

Schließlich sagte Chuz, der Prinz des Wahnsinns, zu ihr: »Die, die wirklich mein sind, dürfen mich um etwas bitten.«

Jasrin seufzte schläfrig. »Dann heile mich.«

»Das kann ich nicht tun, und selbst wenn ich es könnte, so würde ich mich weigern. Und wenn ich es täte, dann könntest du in gesundem Zustand nicht ertragen, was du getan hast und was aus dir geworden ist.«

»Wahr«, sagte Jasrin. »Es ist wahr.«

Dann holte Chuz die Messingrassel hervor und schüttelte sie, während er entsetzlich lachte, heiser und gemein, und Jasrin stimmte wild in sein Lachen ein, und sie langte nach der Rassel, doch in ihren Händen verwandelte sie sich in die Eselskiefer. Sie ließ sie knacken und klappern, bis ein Schrei aus ihnen brach: »Wenn ich, Jasrin, wahnsinnig sein muss, dann mach auch meinen Gatten Nemdur verrückt. Verrückter als mich. Lass ihn an seinem Wahnsinn zugrunde gehen.«

Jasrin fuhr gepeinigt auf.

»Ich habe das nicht gesagt«, beteuerte sie.

Chuz antwortete mit einer anderen seiner Stimmen. Sie war schrill und grob.

»Dies waren die Worte, die dein Geist sprechen würde.«

»Aber tief in meinem Herzen liebe ich Nemdur noch.«

»Und in deinem Geist... hasst du ihn.«

»Wiederum«, sagte sie, »ist es wahr. Und du wirst ihn wahnsinnig machen?«

»Sein Wahnsinn wird eine Legende werden«, sagte Chuz. Er sprach, wie ein Mörder im Dunkeln gesprochen hätte.

Und diesmal lachten sie zusammen, zart und leise, wie Liebende.

Und dann verschwand Chuz.

 

Es gab mehrere Türen, durch die der Wahnsinn jedes Haus betreten konnte. Eine war die Tobsucht, eine die Eifersucht, eine die Angst; es gab noch weitere. Doch Chuz, der, wenn er es wollte, durch eine Steinwand gehen konnte, musste bei seinem Eintritt in die menschliche Seele vorsichtiger zu Werke gehen. Jasrins Wahnsinn hatte ihn herbeigerufen oder verführt, oder ihn sogar wahrhaftig aus den Schatten erweckt. Die Kraft ihres Wahnsinns war wie ein psychischer Brennstoff, ein Energiestrom in seinen eigentlich körperlosen Nervenbahnen. Wenn er auch als eine Art Mensch betrachtet wurde, so dachte er doch nicht wie einer. Man muss auch nicht unbedingt annehmen, dass er, der Herr des Wahnsinns, selbst wirklich verrückt war. Deshalb verstand er - wenn auch verstehen nicht das richtige Wort ist -, dass es bei Nemdur nicht ausreichen würde, wenn er ihn von hinten anschielte. Nemdur musste Chuz von Angesicht zu Angesicht begegnen, um völlig vernichtet zu werden. Für Chuz war dies keineswegs ein Spiel. Es war eine Art Pflicht, eine Berufung, der er sich mit Hingabe widmete.

Welches also waren die Spalten, die Ritzen in Nemdur, die er ausspähte, um den Irrsinn eintreten zu lassen? Es war leicht. Nemdur war auf der Höhe seines Lebens. Er war mächtig, reich, von guten Aussehen und sicher. Er war stolz und wollüstig, und sein Verlangen war groß. Nemdur, der Geliebte vieler Frauen, Erzeugervon Söhnen, der König von Sheve. Es brauchte nicht viel Klugheit oder Phantasie, um an eine Schlange zu denken, die ihn unter dem Blühen anzischte: Heute bist du erfüllt von Lebenskraft, heute bist du mächtig. Aber morgen, morgen... Nemdur hatte noch nicht wirklich darüber nachgedacht, dass er heute ein Löwe war, und morgen, wie sein armer erster Sohn, ein Haufen Knochen.

Chuz nahm nicht direkt andere Gestalten an. Seine Kunst bestand eher in der Art, wie er mit der außergewöhnlichen Erscheinung spielte, die er schon besaß, gleich Variationen einer vertrauten Melodie.

Als Nemdur ihm zum ersten Mal begegnete, lehnte Chuz in einem großen Portal des Palastes. Er hatte den Purpurumhang eng um sich gezogen. Doch in diesem Augenblick sah Chuz nicht wie irgendeine bestimmte Gestalt aus, sondern eher wie ein Schatten der anbrechenden Nacht.

»Wer bist du?«, fragte Nemdur wütend.

»Einer, der dich überleben wird«, erwiderte Chuz und verschwand. Später rannte ein Bettler neben dem Steigbügel des Königs, der zur Jagd ausritt. Der Bettler streckte eine Hand mit einem weißen Handschuh aus, und auf seinem Rücken glitzerten Glassplitter wie die Stacheln eines Stachelschweins. »Gib mir eine Münze«, kreischte der Bettler. »Denn was nützen dir deine Schätze, wenn du erst im Grab liegst?«

Als Nemdur dasaß und unruhig ein Buch betrachtete, dessen Seiten er ungeduldig umblätterte, um zu sehen, ob es seiner zweiten Frau gefallen würde, die ihm immer noch neu und interessant erschien, fuhr ein Wind oder eine Hand durch die Seiten. Und da, vor Nemdur, öffnete sich die Geschichte des Helden Simmu, der den Tod gefürchtet und sich zu seinem Feind erklärt hatte. Er stahl den Göttern einen Unsterblichkeitstrank, um sich und die Menschheit vor der Tyrannei des Verfalls und der Vergänglichkeit zu retten.

»Es heißt«, murmelte eine Stimme in Nemdurs Ohr, »dass Lord Uhlum, der Herr der Toten, zu jener Zeit nicht mehr den Titel Meister des Todes trug, sondern dass Simmu den Titel Meister des Todes erhielt, weil er den Tod gemeistert hatte...«

Als Nemdurs dunkle Frau kam, die weiße Schleier auf ihrer wohlriechenden dunklen Haut trug, sagte Nemdur zu ihr: »Hier ist ein Buch, in dem die Geschichte des Helden Simmu steht. Eine Kleinigkeit, die dich als Frau erfreuen wird. Du wirst ohne Zweifel glauben, dass es einen Brunnen im Himmel gibt, der den Trank der Unsterblichkeit birgt.«

»Zweifellos glaube ich das«, stimmte die Frau mit einem dunklen Lachen zu.

Aber als Nemdur mit ihr im Bett lag, verwandelte die schwach glühende Lampe ihr hübsches Gesicht in einen Elfenbeinschädel.

Bald fegten die rauen, gelben Winde der Winterzeit über die Wüste. Der Sand peitschte Sheve, und der kalte Frost legte sich nachts über die Mauern und Minarette. Da erschien einer in Nemdurs Schlaf.

»In hundert Jahren wird Sheve unter dem Wüstensand begraben sein. Wer wird sich in hundert Jahren noch an Nemdurs Namen erinnern?«

Als der Morgen wieder über den Rand der Welt schaute, stand Nemdur an seinem hohen Fenster und starrte über die Stadt. Er hatte seine Farbe verloren, und seine Fäuste waren wütend geballt. Er rief sich den Traum ins Gedächtnis - wie Sheve unter dem wandernden Sand begraben wurde, als ertrinke die Stadt im Meer. Er war als sein eigener Geist über die Welt gewandert und hatte gehört, wie man über viele sprach; niemand aber erwähnte Nemdur.

Dann kam ein scharfes Geräusch von der Terrasse unter ihm; es klang wie zwei Würfel, die über das Pflaster klapperten. Nemdur starrte hinab. Da war niemand. Doch später, als Nemdur gebratenes Huhn aß, saß er brütend über den Knochen.

Ungefähr zur gleichen Zeit geschahen seltsame Dinge in Sheve. Lampen entzündeten sich von selbst und brannten ohne Öl. Metzger erzählten von abgetrennten Tierköpfen, die gesprochen und sie für das Schlachten getadelt hätten. Manchmal puderte sich eine Frau das Gesicht mit kostbarem Puder, und ihr Gesicht wurde schwarz wie von Ruß. Kinder mit fünf Beinen wurden geboren, und Hennen legten hölzerne Eier. Türen, die sich immer nach innen geöffnet hatten, gingen plötzlich nach außen auf, und das Wasser, das aus einer Quelle strömte, schoss plötzlich hoch in die Luft. Für diese Vorfälle war natürlich die Gegenwart Chuz verantwortlich. Außerdem verhielten sich die Einwohner von Sheve ganz allgemein auf eine Weise, die nicht ihrer sonstigen Art entsprach. Sie wurden übermäßig geschäftig, wo sie früher faul gewesen waren, gleichgültig, wo sie früher emsig waren, sie wurden bissig und giftig und gaben sich dummen Vergnügungen, Streitereien und Tränenausbrüchen hin.

Auch Nemdur war nicht mehr ganz er selbst. Seine zweite Frau wurde nicht schwanger. Sie lachte ihn nur aus mit ihrem düsteren Gelächter. Seine anderen Frauen wurden schrullig und begannen von Erscheinungen, Geistern und Dämonen zu sprechen. Wenn er Knochen sah, fühlte er sich nicht wohl. Er dachte an den steinernen Turm, der eine Meile entfernt im Westen stand, an das Grab seines Sohnes und an sein eigenes. Er dachte an Simmu, den Burschen mit dem lohfarbenen Haar, von dem man manchmal auch sagte, er wäre ein Mädchen gewesen. Der Brunnen in der Ober-Erde (dem Land der Götter) besaß eine gläserne Zisterne, die durch die Zauberei, die Simmu an ihm vollbracht hatte, gesprungen war. Einige Tropfen des Unsterblichkeitstrankes waren zur Erde herabgeregnet und zu Simmus Eigentum geworden. Das Ende der Geschichte - das Scheitern von Simmus Unternehmen -, Nemdur hatte es vergessen. Uhlum, Herr der Toten, Simmu, Meister des Todes, und Sheve, namenlos unter einem Meer aus Sand vergraben - solcherart waren Nemdurs Gedanken.

In der Dunkelheit vor der Dämmerung saß er allein in seiner Kammer und rief nach Wein. Die Diener kamen, zu dritt sogar, nur um dem König Wein einzuschenken. Einer legte ein silbernes Mundtuch auf, der zweite stellte einen Kelch aus geschliffenem Kristall mit einem goldenen Stiel darauf, der dritte entkorkte einen Flakon aus schwarzem Steingut. Der Wein wurde ins Glas geschenkt, und Nemdur hob es an die Lippen. Doch als er trinken wollte, rann kein Wein aus dem Kelch. in seinen Mund.

Wie versteinert standen die drei Diener da. Nemdur selbst drehte das Glas auf den Kopf, um zu sehen, ob der Wein so herausflösse, doch obwohl der Trank im Kelch wogte, wollte er nicht heraus. Dann sprach der Kelch zu Nemdur.

»Sei so gut und stell mich wieder auf meinen Fuß«, sagte der Kelch.

Nemdur war ebenso gelähmt wie seine Diener.

»Du bist unhöflich«, sprach der Kelch vernehmlich. »Würdest du den Wein, der in dich geschenkt wurde, für den ersten Lump, der seine Lippen an dich legt, wieder ausspeien? Nein, ich will den Trunk festhalten und selbst betrunken werden.« Darauf rülpste der Kelch, und Nemdur ließ ihn fluchend fallen. Das Kristall zersprang auf dem gepflasterten Boden in unzählige Stücke, und jedes einzelne schrie furchtbar, und der Wein verspritzte wie Blut.

In diesem Augenblick machte der vierte Diener (der vierte?) eine wirbelnde Bewegung mit seinem Umhang. Die Kristallstücke vereinten sich sofort mit den anderen Glassplittern auf seinem Mantel, und das Schreien erstarb.

Die drei Diener achteten nicht mehr auf Nemdur, sondern flohen klagend. Der vierte Diener, der Chuz war, hob eine weiß behandschuhte Hand. Sein Gesicht blieb im Verborgenen. Die Hand deutete auf Nemdur.

»Was denn?«, fragte Nemdur zitternd.

Chuz sagte kein Wort. Er schwenkte die Hand mit dem Handschuh zum großen Fenster. Hinter den Vorhängen, die sich plötzlich wie von selbst auf den Ringen beiseiteschoben, hatte die Nacht begonnen, ihre Dunkelheit zu verlieren. Die Sterne waren wachsbleich, und am Saum des Himmels erschien ein roter Rand.

Nemdur stand unwillkürlich auf, und als die merkwürdig verhüllte Gestalt nickte, trat Nemdur ans Fenster. Ohne sich bewegt zu haben, stand die Gestalt neben Nemdur.

Seltsamerweise wurde die Gestalt im zunehmenden Licht massiver und undurchdringlich dunkel. Und seltsam, in Nemdur keimte die Idee, dass es ein Priester sei, in Kapuze und faltigem Stoff von tiefstem Purpur; einer, der ihn leiten könnte.

»Diese Sache«, sagte der Priester, »die dir Sorgen bereitet, dieses Problem von Tod und einem vergessenen Namen. Die Antwort liegt auf der Hand.«

Die Sonne füllte den Himmel, und der Morgenwind löste sein Haar. Große Mengen Sand erhoben sich in die Luft, und Nemdur sah ein Bild.

»Was ist das für ein Turm?«, sagte Nemdur.

Wie riesig er war. Er stand Meilen entfernt im Osten, und doch hatte er die Sonne ausgeblendet. Sein Fuß schien breit wie die Stadt, und von diesem Fuß erhob er sich in vielen Stufen, jede ein wenig schmaler, doch immer weiter hinauf, eine über der anderen, bis sie aus dem Gesichtsfeld verschwanden, hinauf bis in die höchsten Ätherregionen - bis er nicht mehr zu sehen war.

»Siehst du einen Turm?«, fragte Chuz, der Priester.

»Einen Turm mit vielen Stufen, so hoch, dass er den Himmel durchbohrt.«