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Die Texte für dieses Buch sind Transkripte aus einer Diskurs-Serie, die Osho über die Fragmente des Heraklit vor einer internationalen Zuhörerschaft gehalten hat. Alle Osho Diskurse sind als Originale publiziert worden und als Original-Audios erhältlich. Audios und das vollständige Text-Archiv finden sie unter der Online Bibliothek „Osho Library“ bei www.osho.com

Titel der Englischen Originalausgabe:

Ebook-Auflage © 2017

eISBN 978-3-942502-86-3

OSHO

DIE VERBORGENE
HARMONIE

ALLES FLIESST – VORTRÄGE ÜBER
DIE FRAGMENTE DES HERAKLIT

MIT EINEM VORWORT VON JOACHIM ERNST BERENDT

INHALT

Vorwort

Die verborgene Harmonie

Wir schlafen mit offenen Augen

Es gibt nur eine Weisheit

Gott ist Tag und Nacht

So tief ist der Sinn der Seele

Auch hier sind die Götter zu Hause

Eine trockene Seele ist die weiseste

Der Mensch ist kein Vernunftwesen

Die Sonne ist jeden Tag neu

Die Natur versteckt sich gern

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

Über Osho

LICHT UND DUNKEL. LIEBE UND HASS.

Versuch eines Vorworts von Joachim Ernst Berendt

1.

Der Weise beobachtet einfach, wohin sich der Fluss der Natur wendet; dann folgt er diesem Fluss. Er hat kein Ego, das den Fluss vorantreiben will … Er versucht nicht, die Natur zu besiegen; er sieht ein, dass das eine Dummheit wäre … Er wird wie eine weiße Wolke, die am Himmel zieht – ohne zu wissen, wohin … Das Ziel ist überall. Du musst die Natur nur gewähren lassen. Jeder Augenblick ist Erfüllung. Du musst es nur zulassen. Nur zulassen …“

Das sind die Worte, mit denen dieses Buch endet. Ich setze sie an den Anfang, damit der Kreis geschlossen ist. Der Kreis als Zeichen des Zen. Der Einheit und des Eins-Seins. Des Rades. Der ewigen Wiederkehr. Alles wichtige Symbole für dieses Buch, zu dessen Kernsätzen die folgenden gehören: „Alles fließt. Nichts ruht. Alles vergeht, nichts dauert … Veränderung ist das einzig Ewige. Nur der Wandel bleibt. Sonst nichts… In einem Kreis sind Anfang und Ende eins.“

Osho hat die hier vorgelegten Diskurse über die Fragmente des Heraklit im Dezember 1974 gehalten – schon damals sprach er in jener souveränen Art, die so viele, die ihn hören, in den Bann schlägt. Von der kurzen Periode des Schweigens in Oregon unterbrochen, sprach er seit fünfzehn Jahren in dieser Weise: täglich mehrere Stunden frei redend – meist ein Diskurs morgens, einer abends – ohne schriftliche Unterlagen –, nie versiegend an Einfällen, Ideen, Stories, Informationen – an Weisheit. Um die 500 Bücher sind auf diese Weise entstanden, direkt und ohne weitere Korrekturen von den Tonbandaufnahmen in das druckfertige Manuskript übertragen – ein Phänomen ohne Vergleich. Man hat gesagt: „Osho spricht wie gedruckt.“ Aber man kann den Satz auch umkehren: Der gedruckte Osho liest sich und klingt für den mit seinem inneren Ohr Mitlesenden, als ob Osho selbst spräche. Dies ist gesprochene Sprache. Der Leser ist dabei, erlebt mit, wenn ein Gedanke entsteht: wie er sich nähert, zum ersten Mal eingefangen, wieder fallen gelassen, erneut aufgegriffen, gewendet, hinterfragt, präzisiert wird und wie er schließlich jene geschliffene Form erhält, die einem Osho-Gedanken ansteht. Dies ist epische Sprache. Selbst wenn Osho abstrakte Gedanken abhandelt, klingt es, als erzähle er Geschichten.

Ich stelle mir vor, Heraklit hat ähnlich gesprochen. Geschrieben hat er nichts. Es gibt nur Fragmente. Seine Schüler und Anhänger haben sie aufgezeichnet. Da es Aufnahmegeräte nicht gab – auch keine Stenografie –, konnten sie nur Bruchstücke festhalten.

Heraklit hat im 6. Jahrhundert vor Christus in Ephesus in der heutigen Türkei gelebt, einer der prachtvollsten Städte der damaligen Welt. Denken im Abendland beginnt mit Heraklit. Es gibt nur noch einen anderen Denker, von dem man das in ähnlicher Weise sagen kann – von seinem großen Zeitgenossen Pythagoras auf der Insel Samos – nicht weit von Ephesus entfernt. Ob sich die beiden gekannt, gelegentlich besucht, miteinander Diskurse geführt und gestritten haben? Pythagoras hat als Erster die harmonikale Grundstruktur des Universums „offensichtlich“ zu machen versucht.

Heraklit liebte die „Verborgene Harmonie“. Die Alten haben ihn „den Dunklen“ genannt – ihn, dessen Gedanken von leuchtender Klarheit und Helle sind. Manche mochten ihn nicht. Er war ihnen ein Stein des Anstoßes. Über die Jahrhunderte hinweg haben sich Philologen und Philosophen über ihn geärgert. Genau so wie sich heute die Leute über Osho ärgern. Osho spricht über Heraklit, weil er die Gemeinsamkeit zwischen seinem Denken und dem des großen, „dunklen“ Griechen spürt. Nur deshalb kann er so tief in die Fragmente des Heraklit eindringen.

Vor Jahren, als ich mein Buch „Das Dritte Ohr“ schrieb, brauchte ich Informationen über Heraklits „Verborgene Harmonie“. Ich fragte einen Philosophie- und Politikdozenten von der Technischen Universität Berlin – Hans-Peter Hempel, Autor des Buches „Heidegger und Zen“. Der sprach von dem engen Zusammenhang des Denkens Heideggers und dem Oshos am Beispiel des Heraklit. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich schwöre, Hempel hatte nichts mit Sannyasins am Hut. Er kannte selbstverständlich die Literatur und Oshos Werk, er wusste, wo man sich am besten kundig macht.

2.

Heraklit und Osho: Die beiden sind wie die Quellflüsse eines gemeinsamen Stromes – der eine fließt über die Jahrtausende hinweg, der andere in unserem Jahrhundert entsprungen und doch bereits ähnlich mächtig und reißend. Der Leser steht am Ufer und sieht und verfolgt staunend, bewegt, verunsichert, manchmal auch lachend die Gedanken – sich wandelnd, sich verzweigend, wieder zusammenfließend, in Strudeln und Katarakten – in unerschöpflicher Fülle vorbeiströmend. Es ist schön, am Ufer zu stehen und den Fluss anzuschauen. Ganz viele Osho-Leser tun das. Aber es ist auch notwendig, in den Fluss zu springen und selbst zu schwimmen. Deshalb hat Osho so oft gesagt: „Bücher müssen überschritten werden.“

Wer das Ufer überschreitet, fällt in den Fluss. Dann muss er schwimmen können. Um ein Ufer überschreiten zu können, braucht man das Ufer. Um Bücher überschreiten zu können, braucht man Bücher. Wer aus Oshos Forderung, Bücher müssen überschritten werden, folgert, er brauche keine Bücher zu lesen, hat nichts verstanden.

Ich habe in den USA einen Freund, dessen Haus direkt am Mississippi steht. Da sitzt er stundenlang am Fenster und schaut auf den sich in jeder Welle wandelnden Strom.

„Ich wohne hier schon 25 Jahre lang“, sagt er, „aber der Fluss ist jede Minute anders. Du wirst süchtig, wenn du ihn anschaust. Es ist, als siehst du das Leben selbst.“

Als junger Mann war ich süchtig nach der Sprache Nietzsches. Man kann süchtig nach Oshos Sprache werden. Ich kann diejenigen verstehen, die es werden. Man steht am Ufer und schaut den Worten, Sätzen und Gedanken zu, als seien sie Wellen. Osho schwimmt in ihnen – wie jene großen chinesischen Denker, die einmal in ihrem Leben den Gelben Fluss durchschwammen. Osho schwimmt sein Leben lang durch Ströme, die so breit sind wie der Gelbe Fluss: Den Strom Laotse. Den Strom Buddha. Den Strom Jesus. Den Strom Pythagoras. Die Ströme der großen Zen-Weisen. Den Strom Heraklit.

Wer jemals durch einen Strom geschwommen ist, hat hinterher das Gefühl: jetzt ist er mein eigener. Aber er hat auch erfahren: „Man schwimmt niemals durch den gleichen Fluss.“ Das ist einer der großen Sätze Heraklits. Über die Jahrtausende hinweg wurde er immer wieder aufgegriffen – bis hin zu Hermann Hesse.

Osho: „Irgendwie müsst ihr es verstehen lernen, dieses ewige Fließen… nichts als ein Fließen, das immer weitergeht.“

Wenn der Fluss in jeder Sekunde ein anderer ist, dann ist der Mensch noch viel mehr von Sekunde zu Sekunde ein anderer. Osho zitiert Buddha: „Es gibt nichts in dir, das Dauer hat, nichts, das Wesen hat. Du bist etwas Fließendes, ein Strom.“

Man könnte an dieser Stelle auf die moderne theoretische Physik verweisen. Der Einstein-Schüler David Bohm hat das neue physikalische Weltbild des „Holomovement“ geschaffen – von holos – ganz, und movere (lateinisch) – sich bewegen. Alles ist eins und dennoch in steter Bewegung. Das genau sagt Heraklit, das sagt Osho, das sagen heute auch die Physiker. Nachdem sie jahrhundertelang das Gegenteil dessen gesagt haben, was die spirituellen Weisen meinten, sagen sie heute genau das Gleiche.

3.

Oshos Heraklit-Buch beginnt mit dem berühmtesten Heraklit-Fragment:

„Die verborgene Harmonie

ist mächtiger

als die offensichtliche…

Die Menschen sehen nicht,

dass alles, was sich widerspricht,

dadurch mit sich in Einklang kommt.“

Diese Worte sind auch Schlüsselsätze meines eigenen Denkens. Der erste, vorstehend wiedergegebene Heraklit-Satz ist eingespannt in den Kontrast zwischen den Adjektiva „verborgen“ und „offensichtlich“. Wir kennen alle die offensichtliche Harmonie: den fröhlichen Zusammenklang zwischen Menschen – das harmlose, „harmonische“ Zusammenklingen der Töne in Tagesschlagern oder Meditationsmusik – die Übereinstimmung zwischen dir und mir, die schon morgen durch Hass ersetzt werden kann. Heraklit meint, diese „offensichtliche“ Harmonie ist zwar gut und mächtig, aber es gibt eine andere Harmonie, die noch viel besser und mächtiger ist, das ist die „verborgene“.

Was könnte mit „verborgene Harmonie“ gemeint sein? Ich glaube, es ist gut, sich Heraklit im griechischen Original anzuschauen. Der vollständige Spruch umfasst nur vier Worte – halb so viel wie die deutsche Übersetzung:

Armonia aphanes phaneres kreisson.

Wahrhaftig ein Satz, an dessen gedanklicher und schriftstellerischer Prägnanz sich Generationen von Philologen die Zähne ausgebissen haben. Man spürt, dass der Satz auf das Wort kreisson zuläuft. Ich schlage in meinem Schul-Lexikon nach, das schon meinem Vater in seiner Kindheit gedient hat, und finde dort, dass es eine ganze Skala von Bedeutungen besitzt: stärker, mächtiger, gewaltiger, vorzüglicher, kräftiger, nützlicher, besser, glücklicher, überlegen, obsiegen, Sieger, Herrscher. All das schwingt mit, wenn Heraklit die öffentliche, für jedermann sichtbare, leuchtende, wohlklingende Harmonie für weniger mächtig hält als die unsichtbare, verborgene, nicht auf Anhieb erkennbare. Man könnte völlig richtig übersetzen: „Die verborgene Harmonie ist Sieger über die sichtbare“ – und hätte damit einen Spruch vom Zuschnitt Laotses.

Die beiden Worte, die im griechischen Original aufeinanderprallen wie Rammböcke, sind – das wird im Griechischen noch deutlicher als im Deutschen – Sehworte: aphanes und phaneres. Ihre gemeinsame Wurzel steckt in dem Wort phanos – die Fackel, die Leuchte. Unser Wort Fantasie ist damit verwandt; im Griechischen bedeutet es Erscheinung, Vorzeichen, Wunder, Traumbild, Gespenst. Also: Harmonie kann leuchtend sein. Wie eine Fackel. Aber dann ist sie lediglich eine Erscheinung, ein Traumbild, ein Gespenst. Mächtiger und besser als diese Art von Harmonie ist diejenige, die nicht leuchtet und die niemand sehen kann, weil sie verborgen ist. Sie ist – das macht der Komparativ kreisson deutlich – noch gewaltiger, mächtiger, trefflicher, nützlicher als die sichtbar vor aller Augen liegende „öffentliche“ Harmonie.

Das Wort armonia war auch bei den Griechen schon ein musikalisches Wort. Harmonie erklingt, wird gehört. Die mächtigere Harmonie – diejenige, die wir nicht sehen können, als sei sie eine Fackel – können wir allein durch unsere Ohren wahrnehmen. Auf diese Weise steckt gleich auch noch drin in dem Heraklit-Wort: Was wir hören können, geht tiefer, ist mächtiger, vorzüglicher, nützlicher, besser, glücklicher als das, was wir sehen können.

Dass hier nichts hineininterpretiert wird, macht der zweite Heraklit-Spruch vollends deutlich: „Die Menschen sehen nicht, dass alles, was sich widerspricht, dadurch mit sich in Einklang kommt.“ Das zu betonende Wort ist „dadurch“.

Heraklit will sagen: Die Dinge kommen eben dadurch in Einklang – in Harmonie! –, dass sie einander widersprechen. Sie sind also nicht in wahrer Harmonie, wenn ihr Einklang offensichtlich ist, wenn er nur dem Auge einsehbar und lediglich erscheinend ist. Osho – und übrigens auch Heidegger – betonen, dass diese Aussage des Heraklit das moderne Wissenschaftsdenken zutiefst angeht – und aus den Angeln hebt. Osho schreibt: „A ist A und kann niemals B sein. Dieses Prinzip des Aristoteles wurde zum Grundstein des gesamten westlichen Denkens… Liebe ist Liebe, Hass ist Hass; und Liebe kann niemals Hass sein. Das ist töricht, denn alle Liebe schließt Hass ein

– sie muss ihn einschließen; das ist naturgegeben.“

Deshalb ist die eindimensionale, logische Aussage von vornherein verkehrt. Sie ist nicht eine Aussage des Lebens. Und eine lebendige Aussage ist von vornherein unlogisch, weil sich das Leben in Paradoxien äußert. Paradoxien widersprechen sich. Was sich widerspricht, so sagen Heraklit und Osho, kommt eben dadurch – also durch die Paradoxie, nicht durch die Logik! – mit sich selbst in Harmonie. Genau diese Tatsache hat das so erfolgreiche und dennoch– oder eben deshalb – so flache abendländische Wissenschaftsdenken über-„sehen“. Indem es immer nur vorwiegend sah – die Fackel, das Leuchtende – übersah es. Und zwar übersah es den verborgenen Einklang, die nicht offensichtliche Harmonie. Deshalb auch von Osho – genau wie von Heraklit – die Höranweisung: „Höre! Aber indem du hörst, vergiss den Hörer. Werde ganz und gar hörend. Nur Ohren und Ohren und Ohren. Als verwandelte sich dein ganzer Körper in Ohren. Du wirst zwei riesengroße Ohren – und sonst nichts. Deine Augen hören, deine Hände hören. Deine Füße hören. Jede Zelle deines Wesens soll hören.“

Osho macht das sehr schön am Beispiel des Lichtes deutlich. In allen Religionen heißt es „Gott ist Licht!“ Im Koran, in den Upanishaden, in der Bibel – überall. Wer ist dann aber das Dunkle? Die Nacht? In diesem Punkt, sagt Osho, ist Heraklit tiefer als Jesus, Mohammed, Zarathustra und so viele andere: „Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Mangel.“ Der Akzent liegt nicht auf den großen Worten – Tag, Nacht etc., nicht einmal auf dem allergrößten – Gott, sondern auf dem kleinsten – auf „und“. Osho: „Nie zuvor und nie danach sind so schöne Worte ausgesprochen worden.“ Man kann richtig spüren, wie sehr Osho diesen Heraklit-Satz liebt. Überhaupt, ständig spürt man Liebe auf diesen Seiten! Nicht wahr: Zur offensichtlichen Harmonie gehört die Vorstellung, dass Gott Licht ist. Der leuchtende, strahlende Gott! Dunkel und Licht, Tag und Nacht widersprechen einander. Ebenfalls Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluss und Mangel, Liebe und Hass, Glück und Leid.

Aber: Erst durch diesen Widerspruch kommen die Dinge zur Harmonie. Erst wenn Gott beides ist, haben wir das Ganze. Wenn er das nicht ist, entsteht sofort die Frage: Wer ist dunkel? Wer ist Nacht, Krieg, Schmerz, Leid, Unglück? Die meisten Religionen brauchen deshalb den Teufel. Die Mönche des Mittelalters waren besessen von ihm. Je mehr sie über Gott nachdachten, desto größer wurde der Raum, der – so erschien es ihrem Verstand – unmöglich Gottes sein konnte. Dieser Raum wurde dem Teufel zugewiesen. Jesus wurde von ihm versucht. Augustinus beschwörte ihn. Die Hexenverfolger projizierten ihn auf die Frauen und verbrannten sie. Luther warf sein Tintenfass nach ihm. Noch heute kann man den Tintenfleck an der Wand sehen; generationenlang wurde er pflichtschuldigst erneuert, wenn er verblichen war. Etablierte Religionen brauchen den Teufel. Man sieht das heute an den Sektenfachleuten der Kirchen. Sie leben vom Teufel. Der verschafft ihnen ihren Unterhalt. Nicht Jesus Christus.

Heraklit – aber auch Osho – und natürlich Buddha und Laotse – wollen die Fülle des Seins. Nichts wird irgendwohin abgedrängt und dem Teufel überlassen. Alles ist Gottes: Liebe und Hass, Dunkel und Licht. Teufel ist nur ein anderes Wort für Gott. Die Sprache weiß das. Das Wort „Teufel“ geht auf die gleiche Wurzel wie Sanskrit deva, lateinisch deus und französisch dieu zurück. Die Helle des Lichtes also kommt aus der gleichen Quelle wie die Hölle der Dunkelheit. Das Ganze, das Eine ist die verborgene Harmonie, die allein unseren Ohren wahrnehmbare. Deshalb meinen die Upanishaden und so viele große spirituelle Weise und Bücher: „Das Ohr ist der Weg!“ Der Weg, um die verborgene Harmonie zu hören. Um Gott zu hören. Denn die verborgene Harmonie – das ist Gott.

Bei den Sufis, in den Upanishaden, den Zen-Weisen – überall spielt er eine ganz große Rolle. Heraklit nennt diesen „letzten Urgrund“ den Logos, ein Zentralwort des griechischen Denkens. Allein hörend – so meint er – kann er erkannt werden: „Wer den Logos nicht hört, der höre auf mich: Der Weise sieht ein, dass alle Dinge eins sind.“ Will sagen: Wenn ihr es schon selber nicht hören könnt, dann hört doch wenigstens auf mich: Alles ist eins. Genau das sagt auch Osho an.

4.

Man kann nicht über Harmonie sprechen, ohne an Musik zu denken. Von dort ist schließlich das Wort in unseren Sprachgebrauch gelangt. Harmonie in der Musik unterliegt dem Gesetz der Obertöne. Mit jedem Ton, den wir hören, steigen Obertöne auf. Ja, wir können einen Ton überhaupt nicht wahrnehmen ohne Obertöne. Er wäre sonst mehr nervendes Geräusch als lebendiger Ton. Auf der Obertonleiter erklingen zuerst die Oktave, dann die Quinte, dann nochmals die Oktave, dann Terzen und Quarten – und das sind alles „harmonische“ Intervalle. Wenn man aber die Obertonleiter weiter emporsteigt – und das geschieht zwangsläufig im musikalischen Tongeschehen –, dann kommt man zu jenen Intervallen, die unserem herkömmlichen Musikverständnis nach weniger harmonisch sind: große und kleine Sekunden, große und kleine Septimen, Mikrointervalle. Die Forderung, die in den spirituellen Traditionen der Menschheit erhoben wird, lautet: aufzusteigen auf der Obertonleiter – aufzusteigen soweit man nur kann, auch also in die „unharmonischen“ Bereiche hinein. Eben deshalb ist Obertonmusik – Musik, die bewusst mit Obertönen arbeitet, sie nicht bloß in Kauf nimmt – spirituelle Musik. Insofern es unendlich viele Primzahlen gibt, gibt es auch unendlich viele Obertöne. Jede Obertonleiter führt uns in die Unendlichkeit. Jedes bewusste Hören von Obertönen führt uns zwangsläufig aus dem Bereich jener Intervalle, die uns „harmonisch“ erscheinen, zu den schwächer und weniger deutlich erklingenden „unharmonischen“ Intervallen. In diesen Bereich sollen wir gelangen. Es ist der Bereich der „verborgenen Harmonie“. Dorthin sollen wir das Bewusstsein von Harmonie tragen, dort sollen wir Harmonie entdecken.

Kein Zweifel, das ist auch eine gesellschaftliche, damit eine politische Forderung. „Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch von der nichts“, hat Hanns Eisler gesagt. Musik bedeutet mehr als nur ihre Klänge. Sie bedeutet die ganze Welt. Zur Welt gehören auch Gesellschaft und Politik. Das also ist unsere Aufgabe – nicht nur in der Musik: Durchzuhören durch die Offensichtlichkeit des Harmonischen, sich damit nicht zufrieden geben, Harmonie dort zu finden und dorthin zu tragen, wo wir sie nur mit den allerfeinsten Ohren wahrnehmen – und jedenfalls nicht sehen, fühlen, schmecken, riechen – können, wo sie aber gleichwohl verborgen ist. Wenn wir diese Aufgabe nicht erfüllen, dann hören wir auf. Das sagt uns ja die Sprache mit diesem Wort: Wir hören auf, wenn wir aufhören zu hören. Sie hätte es nicht bilden können, wenn dies nicht der „verborgene“ Sinn wäre, den sie anpeilte: aufhören zu hören – aufhören zu sein.

5.

Wir müssen deshalb auf der Hut sein, uns von jenen Menschen vereinnahmen zu lassen, die heute eine „Heile Welt“ predigen. Ganz viele Menschen des sogenannten „New Age“ tun das. Die heile Welt – das ist die Welt der offensichtlichen Harmonie. Die ganze Welt – die Welt zwar nicht der Religionen, aber die Welt Gottes – ist die Welt der verborgenen Harmonie. Die Welt, die uns im Obertongeschehen auf so eindringliche Art deutlich wird. Die Welt, die ganz feine Ohren braucht. Wer ganz genau hören will, schließt instinktiv die Augen. Das Wort Mystiker kommt von griechisch myein – die Augen schließen. Osho fordert moderne Mystiker. Er ist selbst einer.

Das New Age hat es mit der offensichtlichen Harmonie – mit der leichten, seichten, eingängigen. Das ist New Age: Harmonie ohne Disharmonie, Licht ohne Dunkel, Liebe ohne Hass, Frieden ohne Krieg, Freude ohne Schmerz, Lachen ohne Weinen, Ruhe ohne Unruhe. Immer nur die Hälfte der Dinge. Deshalb klingt auch die meiste Musik des New Age so langweilig – immer nur die Hälfte der musikalischen Möglichkeiten.

Das New Age nimmt eine Scheinwelt wahr. Sie meditieren miteinander, sie tanzen und singen miteinander – und das ist ja alles total schön –, aber sie verpassen das Ganze der Existenz und des Seins. Das New Age ist auf einen Pol fixiert: auf Licht und Liebe und offensichtliche Harmonie. Deshalb taucht sofort triumphierend am anderen Pol der Teufel auf und schreit: „Hier bin ich!“ Man kann deutlich sehen, dass er wirklich präsent ist – voller Hohn – in all dem, was da unter den Teppich gekehrt wird. Und was schon jahrhundertelang im Christentum unter den Teppich gekehrt wurde. Was die etablierten Religionen unter den Teppich kehren.

6.

Ständig ist in diesem Buch von Gott die Rede, aber dann, in einem der letzten Kapitel steht: „Ein Mensch, der richtig im Kopf ist, braucht keinen Gott … Ihr wollt nicht frei sein, ihr wollt lieber Sklaven sein und darum erfindet ihr Gott … Wenn du ohne Gott lebst, dann wirst du zu Gott, wirst Du göttlich.“

Ist das ein Widerspruch? Oberflächlich gesehen: ja! Widersprüche gibt es oft im Werk und im Denken Oshos. Die Massenpresse, die Flachdenker, die im „Spiegel“ und im „Stern“ schreiben, haben ihm das angekreidet. Osho selbst sagt: „An der Oberfläche kommt es euch manchmal so vor, dass ich mir widerspreche, aber wenn ihr nicht nur auf meine Worte hört, sondern auf mich, werdet ihr keine Widersprüche finden.“ Immer wieder lehrt er uns, dialektisch zu denken: Der Tag und die Nacht. Das Licht und das Dunkel. Die Liebe und der Hass – im Sinne Heraklits. Zusätzlich aber besitzt Osho noch etwas, was kaum einer der großen Denker und spirituellen Weisen der Menschheit besitzt: Humor.

Zum Beispiel: „Dialektik ist heterosexuell, Rationalität homosexuell.“ Das trifft nicht nur, das ist auch zum Lachen. Oder: „Wissenschaft ist Erkenntnis minus Selbsterkenntnis.“ So prägnant formulieren in der spirituellen Welt allenfalls noch die großen Zen-Meister. Nicht umsonst erzählt Osho so viele Witze und Schwänke von Nasrudin, dem vielgeliebten Schelm, dem Till Eulenspiegel der Sufis. Osho will, dass gelacht wird. Und er sorgt dafür, dass gelacht werden kann. Sogar in einem Buch über Heraklit.

Osho: „Ich antworte nicht auf die Frage, ich antworte dem Fragenden.“ Oder: „Was ich auch sage – auch das Gegenteil davon ist wahr. Denkt daran, denn wenn ihr das Gegenteil ausschließt, werdet ihr engstirnig und fanatisch.“ Und schließlich: „Alle Theorien sind falsch – absolut, kategorisch, meine eigenen eingeschlossen.“ Wer so denkt, muss in unserer auf Logik, Kausalität und Bestand fixierten Welt Feinde haben.

Osho: „Wenn die Mehrheit dich für einen Idioten hält, nur dann besteht die Wahrscheinlichkeit, dass du ein Weiser bist, andernfalls ist es ausgeschlossen.“ Und: „Wenn du keinen Feind hast, verschwindet alles Salz aus deinem Leben.“ Von hierher kommt das Schillernde des Oshobildes in der Öffentlichkeit. Osho hat seinen Spaß daran. Er genießt es, ja er fördert es. Er lacht darüber. Gelegentlich zitiert er Alan Watts, der über Gurdjieff geschrieben hat: „Er ist der heiligste Schurke, den ich je gekannt habe.“ Ich glaube, Osho wäre es lieb, wenn irgend jemand das über ihn sagte.

Also sage ich es hier: Osho ist der heiligste Schurke, den ich je gekannt habe.

Osho: „Ist es richtig, auf Kosten anderer ein Heiliger sein zu wollen? Nein, durchaus nicht. In einer besseren Welt wird der Heilige auch Sünder sein … Nach Gurdjieff lässt sich das alte Konzept vom Heiligen nicht mehr aufrecht erhalten. Gurdjieff markiert einen Wendepunkt … Bis zu ihm galt, dass ein Heiliger ein Heiliger sein muss. Er aber war beides – Heiliger und Sünder zugleich.“

Osho: „Für mich gibt es nur eine Religion, und diese Religion ist: die innere Stimme finden, den inneren Leitstern.“ Und aus dem Zusammenhang dieses Buches wird deutlich: Der innere Leitstern ist die Verborgene Harmonie, der Verborgene Gott, der Gott in uns. Höre auf Seine Stimme in Dir! Deshalb ist dieses Buch so wichtig.

Für mich ist es eines der schönsten, die Osho geschrieben – eigentlich ja gesprochen – hat.

Joachim Ernst Berendt

1. KAPITEL

DIE VERBORGENE HARMONIE

Die verborgene Harmonie

Ist besser

Als die offensichtliche.

Aus Zwietracht entsteht Eintracht,

Aus Missklang

Entsteht die höchste Harmonie.

Erst durch dauernden Wechsel

Kommen die Dinge zur Ruhe.

Die Menschen sehen nicht, dass alles,

Was sich widerspricht,

Dadurch mit sich in Einklang kommt.

Es liegt Harmonie im Widerstreit,

Das zeigen Bogen und Leier.

Der Name des Bogens ist Leben,

Aber sein Werk ist Tod.

Ich liebe Heraklit nicht erst in diesem Leben, sondern schon seit vielen Leben. Und Heraklit ist überhaupt der einzige Grieche, den ich je geliebt habe.

Heraklit ist wirklich großartig: Wäre er in Indien oder sonstwo in Asien geboren worden, wäre er als ein Buddha bekannt geworden. Aber in der griechischen Geschichte, in der griechischen Philosophie war er ein Fremder, ein Außenseiter. Für die Griechen war er kein Erleuchteter, sondern Heraklit der Obskure, Heraklit der Dunkle, Heraklit der Rätselhafte. Und Aristoteles sagte: „Im besten Fall ist er ein Dichter“ – aber selbst dieses Zugeständnis fiel ihm nicht leicht. So sagte er später in anderen Werken: „Heraklit muss irgendeinen Charakterfehler gehabt haben, irgendeinen biologischen Schaden; darum redet er auf so dunkle Weise, in lauter Paradoxien.“

Aristoteles glaubte, dass Heraklit etwas exzentrisch, ein bisschen verrückt sei – und Aristoteles gab für den ganzen Westen den Ton an. Hätte man Heraklit akzeptiert, dann wäre die gesamte Geschichte des Westens anders verlaufen. Aber er wurde überhaupt nicht verstanden. Er wurde mehr und mehr vom Hauptstrom des westlichen Denkens, der westlichen Weltanschauung abgedrängt. Heraklit war vom Schlag eines Gautam Buddha oder Laotse oder Basho. Der Boden Griechenlands war absolut ungeeignet für ihn. Im Osten dagegen wäre er zu einem großen Baum herangewachsen, hätte er Millionen helfen können, Millionen hätten durch ihn den Weg gefunden. Aber für die Griechen war er bloß fremdartig, exzentrisch, irgendwie ausländisch, nicht zugehörig: Er war nicht einer von ihnen. Darum wurde sein Name verschwiegen, in die Ecke geschoben; nach und nach vergaß man ihn. Als Heraklit geboren wurde, genau zu dieser Zeit, erreichte die Menschheit einen Höhepunkt, eine Zeit der Umwandlung. Es verhält sich mit der Menschheit genauso wie mit dem Individuum: Es gibt Augenblicke, wo sich alles verändert. Alle sieben Jahre verändert sich der Körper und das geht immer weiter so – wer siebzig Jahre lebt, dessen gesamtes biochemisches System verändert sich zehnmal. Und wenn man die Lücke zwischen diesen Phasen zu nutzen weiß – den Augenblick, wo sich der Körper verändert – dann ist es sehr leicht, in Meditation zu gehen.

Zum Beispiel: Mit vierzehn wird zum ersten Mal Sex bedeutsam. Der Körper erfährt eine biochemische Umwandlung und wenn man zu diesem Zeitpunkt zur Meditation hingeführt werden kann, ist es sehr leicht, den Einstieg zu finden. Der Körper ist noch nicht festgelegt, das alte Muster ist verschwunden und das neue soll erst entstehen. Es klafft eine Lücke. Im Alter von 21 Jahren ereignen sich wiederum tiefe Veränderungen, denn alle sieben Jahre erneuert sich der Körper vollständig: Alle alten Zellen werden abgestoßen und von neuen ersetzt. Dann geschieht das Gleiche im Alter von 35 Jahren und später dann wieder. Alle sieben Jahre erreicht der Körper den Punkt, wo das Alte verschwindet und das Neue fußfasst. Und es gibt jedes Mal eine Übergangszeit. Während dieser Übergangszeit gerät alles ins Schwimmen. Wenn du möchtest, dass eine neue Dimension in dein Leben eintritt, dann ist das genau die richtige Zeit.

Und ganz genau dasselbe geschieht mit der Menschheitsgeschichte im Großen. Alle fünfundzwanzig Jahrhunderte kommt es zu einem Gipfelpunkt, und wenn dieser Punkt genutzt wird, ist es leicht, zur Erleuchtung zu gelangen. Zu anderen Zeiten ist es weitaus schwieriger. Denn in jenem Gipfelmoment fließt der Strom von selbst in diese Richtung: Nichts ist fest, alles fließt.

Vor fünfundzwanzig Jahrhunderten wurden Gautama Buddha und Mahavir der Jaina in Indien geboren, in China Laotse und Tschuangtse, Zarathustra im Iran und in Griechenland Heraklit. Das sind die Höhepunkte. Nie zuvor waren solche Gipfel erreicht worden oder wenn sie erreicht wurden, dann sind sie nicht in die Geschichte eingegangen, denn die Geschichte beginnt für das Abendland mit Jesus. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was vor fünfundzwanzig Jahrhunderten geschah. Und jetzt nähert sich wieder dieser Zeitpunkt, wir befinden uns wieder in einem fließenden Zustand: Das Alte ist sinnlos geworden, die Vergangenheit hat für euch keine Bedeutung mehr, die Zukunft ist ungewiss: Die Lücke tut sich auf. Und die Menschheit wird wieder einen Höhepunkt erreichen, den gleichen Gipfel wie zur Zeit des Heraklit.

Und wenn ihr ein wenig bewusst seid, könnt ihr diesen Augenblick nutzen – ihr könnt einfach vom Rad des Lebens abspringen. Wenn die Dinge festliegen, dann ist Umwandlung schwierig. Ihr habt das große Glück, in ein Zeitalter hineingeboren worden zu sein, wo die Dinge wieder in Bewegung sind. Nichts ist mehr sicher, alle alten Verhaltensmuster und Gebote sind nutzlos geworden. Neue Muster haben sich noch nicht wieder ausgebildet, aber sie werden sich bald ausbilden; der Mensch kann nicht ewig ohne festen Halt leben, denn ohne festen Halt herrscht Unsicherheit. Die Dinge werden sich also wieder setzen; dieser Zeitraum wird nicht lange dauern, er währt nur ein paar Jahre. Wenn du ihn nutzen kannst, kannst du einen Gipfel erreichen, der zu anderen Zeiten kaum zu erreichen ist. Verfehlst du ihn, dann wird ein solcher Zeitpunkt erst in fünfundzwanzig Jahrhunderten wiederkommen.

Macht es euch klar: Das Leben bewegt sich im Kreis – alles bewegt sich im Kreis. Das Kind kommt auf die Welt, dann kommt die Zeit der Jugend, dann das Alter, dann der Tod. Es bewegt sich so wie die Jahreszeiten: Der Sommer kommt, dann die Regenzeit, dann der Winter und so weiter, im Kreis herum.

Das Gleiche gilt auch für die Dimension des Bewusstseins: Alle fünfundzwanzig Jahrhunderte rundet sich der Kreis – und bevor der neue Kreis beginnt, öffnet sich eine Lücke, durch die man schlüpfen kann; die Tür steht für ein paar Jahre offen.

Heraklit ist wirklich eine ganz seltene Hochblüte. Er ist eine von den Seelen, die am weitesten nach oben gedrungen sind, einer von denen, die zum Mount Everest werden, zum höchsten Gipfel des Himalaja. Versucht ihn zu verstehen. Es ist sehr schwer. Nicht umsonst heißt Heraklit „der Dunkle“. Er ist aber keineswegs dunkel. Ihn zu verstehen ist deshalb schwierig, weil du dich auf eine andere Seinsebene begeben musst. Das ist das Problem. Es ist leichter, ihn als dunkel abzutun und sich anderen Dingen zuzuwenden.

Es gibt zweierlei Menschen. Wer Aristoteles verstehen will, braucht sich nicht in seinem Sein zu ändern, man braucht nur Informationen zu speichern. Informationen über Logik, Philosophie usw. kann man sich in jeder Schule besorgen, dort kann man intellektuelles Verständnis anhäufen und dann Aristoteles verstehen. Man braucht sich nicht zu ändern, um ihn zu verstehen, man braucht nur ein wenig zusätzliches Wissen. Dein Sein bleibt das Gleiche, du bleibst der Gleiche. Du brauchst keine neue Dimension des Bewusstseins. Die ist nicht erforderlich.

Aristoteles ist klar. Wer ihn verstehen will, braucht dazu nur ein wenig Anstrengung: Wer durchschnittlich intelligent ist, wer einen einigermaßen durchschnittlichen Kopf hat, kann ihn begreifen. Aber wer Heraklit verstehen will, begibt sich auf steinigen Boden, und wenn man bei ihm Wissen sucht, geht man leer aus. Es nützt nichts, nur ein äußerst gescheiter Kopf zu sein. Man braucht eine andere Seinsqualität. Und das ist die Schwierigkeit – man braucht ein verändertes Sein. Und so ist es leichter, Heraklit den „Dunklen“ zu nennen.

Er ist nicht dunkel. Ihr befindet euch nur noch unterhalb der Seinsebene, auf der er verstanden werden kann. Wenn ihr diese Seinsebene erreicht habt, verschwindet plötzlich seine ganze Dunkelheit. Er gehört zu den strahlendsten Wesen überhaupt. Er ist nicht dunkel, er ist nicht undurchsichtig – ihr aber seid blind. Seid euch ganz im Klaren, dass ihr die Verantwortung auf ihn schiebt, wenn ihr sagt, er sei dunkel und dass ihr versucht, der Umwandlung zu entkommen, die durch die Begegnung mit ihm möglich wird. Sagt nicht: „Er ist dunkel“, sagt: „Wir sind blind“ oder „Unsere Augen sind geschlossen“.

Dort ist die Sonne: Du kannst dich mit geschlossenen Augen vor die Sonne hinstellen und sagen, die Sonne sei dunkel. Oder es kommt vor, dass du mit offenen Augen in die Sonne blickst, aber das Licht ist so stark, dass deine Augen vorübergehend blind werden. Das Licht ist einfach zu stark, es ist unerträglich, und plötzlich wird alles dunkel. Die Augen sind offen, die Sonne scheint dich an, aber die Sonne ist zu viel für deine Augen, und so bist du in Dunkelheit.

Und so ist es auch hier: Heraklit ist nicht dunkel. Entweder du bist blind oder deine Augen sind geschlossen oder es gibt die dritte Möglichkeit: Wenn du in Heraklit hineinblickst, ist er ein so strahlendes Wesen, dass deine Augen ganz einfach ihre Sehkraft verlieren. Er ist unerträglich, sein Licht ist zu viel für dich. Du bist so viel Licht nicht gewohnt, und so musst du ein paar Vorkehrungen treffen, bevor du Heraklit verstehen kannst. Und wenn er spricht, klingt es so, als spräche er wirr, als mache es ihm Spaß, Rätsel aufzugeben – denn er spricht in Paradoxen.

Alle, die die Wahrheit wissen, sprechen in Paradoxen. Und das hat seinen Grund. Sie sprechen nicht in Rätseln, sie drücken sich sehr klar aus – aber was bleibt ihnen übrig? Wenn das Leben selbst paradox ist – was sollen sie machen? Man kann natürlich saubere und klare Theorien schaffen, nur um die Paradoxe zu vermeiden, aber diese Theorien stimmen dann nicht, sie können nicht mit dem Leben übereinstimmen. Aristoteles ist klipp und klar; er sieht wie ein französischer Garten aus. Heraklit sieht dagegen wirr aus, wie ein wild gewachsener Wald.

Bei Aristoteles gibt es keine Schwierigkeit; er vermeidet jedes Paradox, er hat eine saubere und klare Lehre aufgestellt; das gefällt. Aber wenn man sich Heraklit aussetzt, bekommt man es mit der Angst zu tun, denn Heraklit öffnet die Tür des Lebens, und das Leben ist paradox. Buddha ist paradox, Laotse ist paradox. Alle, die die Wahrheit wissen, müssen notgedrungen in Paradoxen sprechen. Was können sie sonst tun? Wenn das Leben selbst paradox ist, müssen sie sich nach dem Leben richten.

Und das Leben ist nicht logisch. Es ist ein Logos, aber keine Logik. Es ist ein Kosmos, kein Chaos – aber auf keinen Fall ist es Logik. Das Wort Logos muss erklärt werden, denn Heraklit gebraucht es häufiger. Und der Unterschied zwischen Logos und Logik muss ebenfalls geklärt werden. Logik ist eine Lehrmeinung über das, was wahr ist; und Logos ist die Wahrheit selbst. Logos ist existenziell. Logik ist nicht existenziell; Logik ist intellektuell, theoretisch. Versucht, das zu verstehen. Wenn man das Leben sieht, sieht man auch den Tod. Wie kann man den Tod ausklammern? Wenn man das Leben anschaut, ist er darin enthalten. Jeder Augenblick des Lebens ist auch ein Augenblick des Todes; Leben und Tod lassen sich nicht trennen. Und das ist verwirrend. Leben und Tod sind nicht zwei voneinander getrennte Erscheinungen: Sie sind die zwei Seiten ein und derselben Münze, zwei Ansichten der gleichen Medaille.

Wer tief in dieses Phänomen eindringt, erkennt, dass Leben Tod und Tod Leben ist. In dem Augenblick, wo du geboren wirst, hast du zu sterben begonnen. Und daraus folgt, dass du wieder zu leben beginnst, wenn du stirbst. Wenn im Leben der Tod enthalten ist, dann muss auch im Tod das Leben enthalten sein. Sie gehören zusammen, sie ergänzen sich gegenseitig. Leben und Tod sind wie zwei Flügel oder wie zwei Beine, du kannst dich nicht nur mit dem rechten oder dem linken Bein vorwärts bewegen.

Im Leben gibt es keine Rechten oder Linken, sondern nur beide zugleich. Man kann eine Weltanschauung haben, die einen zu einem ‚Rechten‘ oder ‚Linken‘ macht. Aber Weltanschauungen stimmen nie mit dem Leben überein und können es auch nicht, denn eine Weltanschauung muss notwendigerweise sauber, klar und schlüssig sein. Aber das Leben ist nicht so, das Leben ist grenzenlos. Einer der größten Dichter der Welt, Walt Whitman, sagt irgendwo: „Ich bin widersprüchlich, denn ich bin grenzenlos.“

Durch Logik beengst du deinen Horizont und du kannst nicht mehr grenzenlos sein. Wenn du Angst hast dir zu widersprechen, kannst du nicht grenzenlos sein. Dann musst du wählen, musst du verdrängen, musst du das Gegenteil vermeiden, musst du es verstecken. Aber ist es schon dadurch aus der Welt, dass du es verdrängst? Wirst du etwa nicht sterben, nur weil du dem Tod nicht ins Auge blickst?

Du kannst den Tod vermeiden, du kannst ihm den Rücken zukehren, du kannst ihn dir ganz aus dem Kopf schlagen … Darum sprechen wir ja auch nicht vom Tod. Das gehört sich nicht. Wir sprechen nicht davon, wir scheuen uns davor. Der Tod geschieht jeden Tag, er geschieht überall, aber wir meiden ihn wo wir können. Sobald jemand stirbt, haben wir es eilig, mit ihm abzuschließen. Wir verlegen die Friedhöfe außen vor die Stadt, damit niemand hingeht. Und dort machen wir Gräber mit Marmortafeln und meißeln schöne Sprüche darauf. Wir gehen hin und legen Blumen auf das Grab. Und was bedeutet das? Ihr versucht, alles ein wenig auszuschmücken.

Der Westen hat einen Beruf daraus gemacht, den Tod zu verdrängen. Es gibt Leute, die einem berufsmäßig helfen, den Tod zu vermeiden. Sie verschönern die Leiche, sodass sie wieder lebendig aussieht. Was macht ihr da? Meint ihr, dass das irgendwie weiterhelfen kann? Den Tod gibt es. Die Reise geht zum Friedhof; wo ihr ihn hinverlegt, macht keinen Unterschied, hinkommen tut ihr doch. Du bist schon unterwegs dahin, du stehst in der Schlange und wartest auf den Augenblick des Todes, wartest in der Schlange der Sterbenden. Wohin willst du dich vor dem Tod flüchten?

Aber die Logik versucht klar zu sein; und nur um klar zu sein, klammert sie aus. Sie sagt: Leben ist Leben und Tod ist Tod, es sind zwei getrennte Erscheinungen. Aristoteles sagt: A ist A, es kann niemals B sein. Dieses Prinzip wurde zum Grundstein des gesamten westlichen Denkens: Meide den Widerspruch – Liebe ist Liebe, Hass ist Hass; und Liebe kann niemals Hass sein.

Das ist töricht, denn alle Liebe schließt Hass ein – sie muss ihn einschließen; das ist naturgegeben. Du liebst jemanden und du hasst denselben Menschen. Du musst es tun, du kannst es nicht vermeiden. Wenn du es vermeiden willst, wird alles verlogen. Aus diesem Grund ist eure Liebe zur Lüge geworden: Sie ist nicht ehrlich, sie ist nicht authentisch; sie kann nicht aufrichtig sein, sie ist nur Fassade. Warum ist sie nur Fassade? Weil ihr die Kehrseite leugnet.

Du sagst: „Du bist mein Freund, und ein Freund kann kein Feind sein. Und du bist mein Feind, du kannst nicht mein Freund sein!“ Aber das sind nur die zwei Seiten derselben Medaille. Der Feind ist ein versteckter Freund und der Freund ist ein versteckter Feind. Die andere Seite versteckt ihr, aber es gibt sie trotzdem.

Aber das wird euch zu viel. Wenn ihr beides seht, wird es unerträglich. Wenn du im Freund den Feind siehst, wirst du ihn nicht mehr lieben können. Wenn du im Feind den Freund siehst, wird es dir unmöglich, ihn zu hassen. Das ganze Leben wird zum Rätsel.

Heraklit wird „der Verwirrende“ genannt. Er ist nicht verwirrend, er entspricht dem Leben. Was immer ist, er gibt es einfach wieder. Er hat keine Lebensanschauung, er zimmert keine eigenen Systeme zurecht, er ist einfach ein Spiegel. Was auch immer das Leben vorgibt, er gibt es wieder. Einmal bist du voller Liebe und im nächsten Moment bist du voller Hass: Der Spiegel gibt es wieder. Der Spiegel kann nichts verschleiern, er ist immer nur wahr. Aristoteles ist nicht wie ein Spiegel. Er ist wie eine leblose Fotografie, die sich nicht verändert; sie geht nicht mit dem Leben mit. Und darum sagt Aristoteles, dass etwas mit diesem Heraklit nicht stimmt, dass es in seinem Charakter einen entscheidenden Mangel geben muss. Für Aristoteles muss das Denken klar sein, systematisch, rational; Logik ist für ihn der Sinn des Lebens und Gegensätze darf man nicht vermischen.

Aber wer vermischt sie denn? Heraklit ist nicht verantwortlich dafür. Und wie könnt ihr sie trennen, wenn sie im Leben selbst vermischt sind? Ja, in euren Büchern könnt ihr das versuchen, aber eure Bücher sind dann falsch. Eine logische Aussage ist von vornherein verkehrt, weil sie nicht eine Aussage des Lebens ist. Und eine lebendige Aussage ist von vornherein unlogisch, weil sich das Leben in Paradoxen äußert.

Seht euch das Leben an: Überall ist Gegensatz – aber an den Gegensätzen selbst ist nichts verkehrt: Sie sind lediglich für euren logischen Verstand unerträglich. Wenn du zu mystischer Einsicht gelangst, wird Gegensätzlichkeit schön. Ja, Schönheit ist ohne sie überhaupt nicht möglich. Wenn du denselben Menschen, den du liebst, nicht auch hassen kannst, dann fehlt deiner Liebe jede Spannung. Sie ist dann eine leblose Angelegenheit ohne Polarität und alles ist schal.

Was geschieht tatsächlich in der Liebe? Wenn du jemanden tatsächlich liebst, dann liebst du ihn am Morgen, und am Nachmittag ist daraus schon Hass geworden. Warum? Was ist der Grund dafür? Warum ist das so im Leben? Wenn man jemanden hasst, trennt man sich von ihm; der ursprüngliche Abstand ist wiedergewonnen. Bevor ihr euch verliebt habt, seid ihr zwei getrennte Individuen gewesen. Durch eure Liebe wurdet ihr zu einer Einheit, wurde aus euch eine Gemeinschaft.

Ihr müsst dieses Wort Community – Gemeinschaft – verstehen, es ist sehr schön: Es bedeutet common unity – gemeinsame Einheit. Eine Gemeinschaft zu sein ist für ein paar Augenblicke schön, aber danach kommt es einem wie Sklaverei vor. Es ist schön, gemeinsam zur Einheit zu werden, es führt zu einem Höhepunkt, einem Gipfel, aber man kann nicht ewig auf dem Gipfel leben. Wer soll dann im Tal leben? Und der Gipfel ist nur schön, weil es auch das Tal gibt. Wenn du nicht zurück ins Tal gehen kannst, verliert der Gipfel seine ganze Gipfelhaftigkeit. Nur im Vergleich zum Tal ist er ein Gipfel. Wenn du dir auf dem Gipfel ein Haus baust, wirst du vergessen, dass es ein Gipfel ist, die ganze Schönheit der Liebe geht verloren.

Am Morgen liebst du und schon am Nachmittag bist du voller Hass. Du bist ins Tal gegangen, du bist an den Anfangspunkt zurückgekehrt, genau dorthin, wo du warst, bevor die Liebe geschah, jetzt seid ihr wieder Einzelne. Einzeln zu sein ist auch schön; es gibt Freiheit. Im Tal zu sein ist auch schön; es bringt Entspannung. Im dunklen Tal zu sein tut gut, es hilft dir, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Danach bist du dann wieder bereit, zum Gipfel aufzusteigen; am Abend liebst du wieder. Es ist ein Prozess von Trennung und Wiedervereinigung; er wiederholt sich ständig. Wenn du nach einem Augenblick des Hasses wieder liebst, dann bist du wieder in den Flitterwochen.

Wo keine Abwechslung ist, wird das Leben statisch. Wenn man nicht zum Gegenteil übergehen kann, wird alles fad und langweilig. Darum sind allzu kultivierte Menschen langweilig, sie lächeln immerzu, nie werden sie böse. Du beleidigst sie und sie lächeln; du verdammst sie und sie lächeln. Sie sind unerträglich. Und ihr Lächeln ist gefährlich. Denn ihr Lächeln geht nicht tief, es bleibt nur auf den Lippen, es ist eine Maske. Sie lächeln nicht, sie folgen lediglich ihren Anstandsregeln. Und dadurch wird ihr Lächeln hässlich.

Menschen, die immerzu nur lieben und nie hassen, die nie wütend werden, entpuppen sich regelmäßig als oberflächlich. Denn woher soll die Tiefe kommen, wenn man nicht ins Gegenteil umschlagen kann? Tiefe kommt durch das Umschlagen ins Gegenteil.

Liebe ist Hass. Eigentlich sollten wir nicht die Worte Liebe und Hass gebrauchen, sondern nur ein einziges Wort: LiebesHass. Eine Liebesbeziehung ist eine Hassbeziehung und das ist gut so! Am Hass ist nichts verkehrt, denn nur durch den Hass gelangst du zur Liebe. An einem Wutanfall ist nichts verkehrt, denn nur durch Wut gelangst du zu Stille und Ruhe.

Ist euch das schon aufgefallen? Jeden Morgen fliegen hier über uns Flugzeuge hinweg – ein sehr lauter Lärm. Und wenn das Flugzeug vorbeigeflogen ist, folgt ihm eine tiefe Stille nach. Bevor das Flugzeug kam, war es nicht so still. Wenn das Flugzeug vorbei ist, ist die Stille tiefer als zuvor.

Du gehst nachts im Dunkeln eine Straße entlang; plötzlich kommt ein Wagen. Mit voller Geschwindigkeit fährt er an dir vorbei; deine Augen sind vom Licht geblendet, und wenn das Auto vorbei ist, herrscht tiefere Dunkelheit.

Alles lebt durch den Gegensatz; durch die Spannung des Gegensatzes wird alles tiefer. Entferne dich, damit du näherkommen kannst; geh zum Gegenpol, sodass du wieder näherkommen kannst. Eine Liebesbeziehung ist eine Beziehung, bei der man immer wieder in die Flitterwochen kommt. Wenn die Flitterwochen vorüber sind und alles hat sich gesetzt, dann ist die Sache bereits tot; alles, was sich gesetzt hat, ist tot. Das Leben bleibt nur dann erhalten, wenn seine Bewegung nicht zum Stillstand kommt; alles, was sicher ist, ist schon im Grab. Eure Bankkonten sind eure Friedhöfe; dort seid ihr begraben. Wer absolut sicher ist, lebt nicht mehr, denn Leben heißt nichts anderes, als sich zwischen den Gegensätzen zu bewegen.

Krankheit ist nichts Schlechtes: Durch die Krankheit gewinnt ihr die Gesundheit zurück. In der Harmonie des Ganzen hat alles seinen Platz, und weil er das erkennt, wird Heraklit „der Verwirrende“ genannt! Laotse hätte ihm aus tiefstem Herzen zugestimmt, aber Aristoteles konnte ihn nicht verstehen. Und unglücklicherweise wurde Aristoteles zur Quelle des griechischen Denkens. Und das griechische Denken – das ist die eigentliche Katastrophe – wurde zum Ausgangspunkt des gesamten westlichen Denkens. Was ist nun die Botschaft des Heraklit, der Kern seiner Botschaft? Versteht, damit ihr weiter folgen könnt. Heraklit sieht nicht Dinge. Er sieht Bewegungen. Bewegung ist für ihn Gott. Und wenn ihr genau hinschaut, werdet ihr sehen, dass es auf der Welt keine Dinge gibt, dass alles in Bewegung ist. Und deshalb ist es ein existenzieller Irrtum, überhaupt das Wort ist zu gebrauchen, weil alles wird. Nichts ist im Zustand – nichts.

Ihr sagt: „Dies ist ein Baum“. Wenn ihr das ausgesprochen habt, ist der Baum schon weitergewachsen; eure Feststellung stimmt schon nicht mehr. Der Baum ist niemals statisch, wie kann man also das Wort ist benutzen? Der Baum wird immer nur, er wird unentwegt etwas anderes. Alles wächst, alles bewegt und entwickelt sich. Leben ist Bewegung. Es ist wie ein Fluss – immer in Bewegung.