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Das große Spiel

Wenn das Feld in die Gerade schwenkt,
Pferdeleib an Pferdeleib gedrängt,
und ein jedes Gramm Gewicht
seine eigne harte Sprache spricht,
wenn Favoriten der großen Menge
fallen zurück im dichten Gedränge
und treue Kämpfer, scharf geritten,
die im Felde die Führung erstritten,
kämpfen auf Brechen und Biegen,
hoch die Peitschen der Jockeys fliegen,
zweihundert Meter nur noch zum Ziel,
jetzt gilt‘s gewinnen das große Spiel –
manchem Wetter erbleicht das Gesicht –
Glaubst Du wirklich, sie fühlen das nicht?

Denn bei der Rückkehr zum Waagehaus
mitten im Wirbelsturm der Applaus
schreiten sie durch die Menschengasse
mit dem Gleichmut der alten Rasse.

Tropft auch der Schweiß herab von den Ohren
Haben geritzt die Flanken die Sporen,
schlägt auch das Herz in schnellem Schlage
auf dem Weg vom Geläuf zur Waage:

Sie spüren den Sieg wie die Reiter,
zwischen der Menge, die sie in weiter

Runde umjubelt und dicht umdrängt,
bis man hinein in den Ring sie lenkt –

Stolz erfüllt des Reiters Gesicht –

Glaubst Du wirklich, sie fühlen das nicht?

(Das altenglische Gedicht „Do they know?“ übersetzte Hans Georg Freiherr von Lüttwitz, Planegg. Der Nachdruck erfolgte 1967 in „100 Jahre Union-Klub“, Eigenverlag F. Chàles de Beaulieu)

Gerd von Ende

Berliner Rennfieber

Galopp und Trab
zu 150 Jahren Hoppegartener Turf

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Titelbild:

„Das Sommerrennen zu Hoppegarten bei Berlin; Jagdrennen am 19. Juni. Originalzeichnung von A. Beck.“

„Illustrirte Zeitung“ Nr. 1.411. 16. Juli 1870

Zitate und Quellenangaben

Alle Zitate und Quellenangaben werden in ihrer Originalfassung veröffentlicht, was etwaige Abweichungen von der heutigen Rechtschreibung (Duden) erklärt.

© 2018 Dipl.-Journalist Gerd von Ende (Rochsburg@web.de)
Korrektur: Dipl.-Journalistin Christiane Köhler

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback978-3-7345-7826-7
Hardcover978-3-7345-7827-4
e-Book978-3-7345-7828-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Zum Geleit

Hans-Heinrich von Loeper

Artur Boehlke

Ulrich Mommert

Vorwort

Gerd von Ende

I. Berliner Rennalltag

Kapitel 1: Biels Pamina holte Silberhumpen

Privatrennen 1791 und 1797 sowie eine Steeplechase 1823

Kapitel 2: Der Kronprinz als Ehrenrichter

Offizieller Berliner Start 1829 bei Lichterfelde

Kapitel 3: Galopp auf dem Tempelhofer Feld

Anno 1830 Prüfungen nahe dem Kreuzberg

Kapitel 4: Jubiläumsfeier in Sperlingslust

Vom Berlin-Potsdamer Reiterverein und seinen Rennen

Kapitel 5: Cum viribus unitis – mit vereinten Kräften

Die Gründung des Union-Klubs 1867

Kapitel 6: Vollblutzentrale vor Berlins Toren

Auf eine Probe folgte 1868 das Hoppegarten-Debüt

Kapitel 7: Die Passion schwerer Mitbürger

Dank Weißensee 1878 erste Trabrennen in Spree-Athen

Kapitel 8: Mit Kopf, Gefühl und Nerv über Hindernisse

Der Verein für Hindernis-Rennen 1884 in Charlottenburg

Kapitel 9: Trab für die gehobene Gesellschaft

Die Eröffnung der Rennbahn Westend 1889

Kapitel 10: Waldfee zauberte in der Wuhlheide

1894 begrüßte die Hindernishochburg Karlshorst ihre Gäste

Kapitel 11: Mit Quast auf dem Quast

In Strausberg war seit 1899 immer etwas los

Kapitel 12: Eine „Königin“ gab sich die Ehre

Galopp in Haselhorst und Traber in Ruhleben 1909

Kapitel 13: Olympia spielte Schicksal

Ab 1909 Veranstaltungen auf Grunewalder Grund und Boden

Kapitel 14: Ähnlich einer Achterbahn

Traber eroberten 1913 Mariendorf

Kapitel 15: Wiege des deutschen Nachkriegs-Rennsports

Dem Karlshorst-Beispiel entsprachen Mariendorf, Hoppegarten und Ruhleben

II. Anhang

Von der Rennbahn, ihren Reizen und ihren Rätseln

Rennbahnen und -plätze in (Jahres-)Überblicken

Hoppegartener Alltag – Jahresdaten von 1867 bis 1946

Hoppegartener Jahresstatistiken

Jahresstatistisches vom Union-Klub /Vollblutbeschäler des Union-Gestüts Hoppegarten

Große Hoppegartener Flachrennen (Gründungsjahr)

Anzahl der Mitglieder des Union-Klubs 1867 bis 1944 / Präsidenten des Union-Klubs bis 1945

Der Aufbau des Union-Klubs

Die Hoppegartener Tribünen

Geländebesitz des Union-Klubs 1945 /Aufstellung der Klub-Liegenschaften in Hoppegarten 1945

Der Berliner Rennsport nach 1945

Historische Behörden und Vereine

Alte Gestüte in Berlin und Brandenburg

150 Sattel- und Sulkyjünger

Prominente immer im Bilde

Deutsche Galopp- und Traberchampionate

Die erfolgreichsten Herrenreiter (Amateure)

Deutsche Championate der Amateur-Reiterinnen

Das Karlshorster Reiterdenkmal (Treskowallee)

Denkmaldetails/Gefallene Herren- und Berufsreiter

Restaurierung des Denkmals

Gedenkstein für „König Midas“

Berliner Siegerlisten:

„Großes Armee-Jagdrennen“

„Heeres-Jagdrennen“

„Deutsches Derby“ zu Berlin und „Großer Preis von Berlin“ (beide Galopp)

„Matadoren-Rennen“ (Trab)

„Deutsches Derby“ (Trab)

Begriffserläuterungen

Abbildungsquellen

Textquellen

Zu den Autoren

Werbung von anno dazumal

Bücherliste sowie Bibliotheken und Archive

Zu guter Letzt: Bauern-„Rennen“ in Klein-Zitschenritsche bei Cöpenick 1920

Zum Geleit

Erinnern wir uns! Vor einigen Jahren führte uns Gerd von Ende mit „Passion – Im Banne schneller Pferde“ die Geschichte des deutschen Galoppsports seit 1821 vor Augen. Dabei ließ er auch namhafte Akteure sowie berühmte Pferde aufleben. Nun richtet der Neuenhagener in „Berliner Rennfieber“ – maßgerecht veröffentlicht zwischen dem 150. Geburtstag des Union-Klubs und der Hoppegartener Piste – den Fokus auf Galopp und Trab in der Spree-Metropole; vom Ausklang des 18. Jahrhunderts an bis nach 1945.

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Abb. 1: Artur Boehlke ehrte 1990 Hans-Heinrich von Loeper

Zunächst: Wir alle sollten uns freuen, dass Gerd von Ende einerseits historisch derart fleißig forscht, uns andererseits all seine Ergebnisse und Erkenntnisse anschaulich und detailliert vermittelt. Was er an Material, Fakten und Abbildungen aus längst vergessenen Originalquellen recherchiert hat, erachte ich als fast einmalig und hoch interessant. Ich wurde an bekanntes Altes erinnert und erfuhr viel neues Altes. Besonders begeisterten mich Episoden mit Menschen, die den Berliner Galopp und Trab im Großen wie im Kleinen geprägt haben. Regelrecht fasziniert hat mich, mit welchem Elan, Mut und Optimismus sich tüchtige Männer bereits Anfang Mai 1945 in Berlin, die deutsche Kapitulation war noch nicht unterzeichnet, aufmachten, um den lokalen Rennsport schnellstmöglich wieder zu beleben, was letztlich am folgenden 1. Juli mit Trabern ausgerechnet in der einstigen Hindernishochburg Karlshorst glückte. Als der Buchautor mich um ein Geleitwort bat, kamen mir ganz plötzlich noch andere Gedanken: Wären für uns – gerade an Tagen, in denen es um Galopp und Trab kaum rosig bestellt ist – neben „Geschichtsbüchern“ nicht auch „Lehrbücher“ äußerst wichtig?! Für Frauen und Männer, die sich bei uns beruflich integrieren möchten, die sich am Metier einfach nur begeistern wollen und für solche, die mit dem Turf-Bazillus infiziert werden sollen. Ich erlebe auf verschiedenen Ebenen leider immer wieder „Rennsportler“, die Nachhilfestunden in Sachen Management und zeitgemäßer Öffentlichkeitsarbeit bedürfen, um unsere Materie so zu beherrschen, dass sie selbst – und natürlich der Rennsport – davon langfristig profitieren können. Dank einschlägiger Statistiken lässt sich leicht feststellen, welche Entwicklung Galopp und Trab genommen haben und aktuell nehmen.

Jeder von uns muss sich fragen, wohin steuern wir und vor allem was kann ich selbst tun, um der Abwärtsspirale entgegenzuwirken. Speziell bei den Galoppern bedarf es einer Strukturreform – wie vom Direktorium für Vollblutzucht & Rennen richtig erkannt. Aber möglichst gestern und nicht erst morgen! Verflossen sind die Jahre, in denen der Sport nur von Vereinen geführt und organisiert werden kann. Jetzt sind besonders gelernte Manager an der Spitze von kleineren Wirtschaftsunternehmen gefordert, um Leistungsprüfungen effektiv und publikumswirksam in Szene zu setzen. Auch für diese wären neben „Geschichtswerken“ noch zu schreibende, eben spezifische „Lehrbücher“ erforderlich. Denn: Aus der Vergangenheit zu lernen, ja, aber ebenfalls die Zukunft zu sichern, ist unser aller Pflicht. Damit auch kommende Generationen mit Stolz auf uns zurückblicken können, wenn sie ihrer Turfpassion frönen.

Hans-Heinrich von Loeper, Bedburg, September 2017

Zum Geleit

„Berliner Rennfieber“ dürfte sich ganz besonders 2018 ausbreiten, denn in diesem Jahr feiert das Vollblutparadies Hoppegarten seinen 150. Geburtstag. Passend dazu zeichnet Gerd von Ende im gleichnamigen Buch – für mich ein fast wissenschaftliches Werk und anregende Unterhaltung – ein beeindruckend detailgetreues Panorama hauptstädtischer Galopp- und Traberhistorie von Beginn an bis hin nach 1945. Vor einigen Monaten hatte mich der Autor gebeten, doch ein Geleitwort zu verfassen. Idealerweise als unmittelbarer Akteur, der jahrzehntelang in Karlshorst und Hoppegarten hobbymäßig und beruflich zu Hause gewesen sei. Und nicht zuletzt hätte ich ja maßgeblich zur Rettung des letztgenannten Turfs beigetragen und wäre dort noch heute ein wenig tätig. Dieses Vertrauen ehrte mich, ich sagte nach kurzem Überlegen zu. Dabei reizte mich ein wenig die Aussicht, ergänzend auch eine gedankliche Brücke Richtung Gegenwart schlagen zu können.

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Abb. 2: Artur Boehlke

Verständlicherweise bewegten mich besonders Kapitel, die grundlegende Entwicklungen, wichtige Ereignisse und amüsante Anekdoten auf „meinen“ Bahnen beleuchten. Wieder einmal wurde deutlich, welch schweren Stand Galopper und Traber von jeher in Deutschland hatten. Stets waren es Idealisten, die sich zusammentaten, um „Leute mit viel Geld“ an unseren schönen Sport heranzuführen und als Investoren, Pferdebesitzer und Züchter zu gewinnen, ohne die es keine nennenswerte Perspektive gegeben hätte. Ihre Crème de la Crème gründete bekanntlich am 15. Dezember 1867 im Berliner Hotel de Rome den Union-Klub, mit dem das Entstehen und Wachsen der Rennbahn Hoppegarten bis nach Ende des Zweiten Weltkrieges eng verknüpft war. Unter seiner Ägide wuchs sie zu einer der schönsten Pisten Deutschlands und vom Territorium her zur größten überhaupt heran. Durchaus in einem Atemzug mit ihren „Schwestern“ in Chantilly bei Paris und dem englischen Newmarket zu nennen.

Selbst wenn dieser Turf traditionell als „Berliner“ vereinnahmt wird, liegt er doch im Brandenburgischen, wenn auch nur ca. 2.000 Meter von der Hauptstadtgrenze entfernt. Parallel zu Hoppegarten veranstaltete ab dem 9. Mai 1894 die spätere Hindernishochburg Karlshorst. Ins Leben gerufen von betuchten Herren des 1881 gegründeten Vereins für Hindernis-Rennen, denen der ebenfalls passionierte Sigismund von Treskow 75 Hektar seines Großgrundbesitzes veräußert hatte. Diese Bahn wurde europaweit berühmt durch die Herren- und Offiziersreiterei. Nach dem Zweiten Weltkrieg ereilte beide Rennstätten gleiches Schicksal, denn ihre Besitzer wurden enteignet und deren Terrains in Volkseigentum überführt. Karlshorst öffnete bereits am 1. Juli 1945 wieder die Pforten, nunmehr als Trabrennbahn, die ich mit meinem Vater 1946 mehrmals besuchte. Hoppegarten hielt ab dem 14. Juli 1946 dem Vollblutrennsport weiterhin die Treue. Unter den Zuschauermassen war auch ich zu entdecken, fieberte damals meinem zehnten Geburtstag regelrecht entgegen. Erst in diesem Alter durfte ich nämlich Botenjunge werden. Am 19. September 1948 – seit dem Vorjahr war die Rennbahn Hoppegarten bis 1951 der Provinzialverwaltung Brandenburg unterstellt – hatte ich den ersehnten Job, gehörte endlich mit „zum Bau“. An diesem Tage gewann Birkhahn, der „Löwe der Ostzone“, sein zwölftes Rennen in Serie ganz überlegen. Ich musste unter anderem die Richtersprüche vom Abwieger, dem Union-Klub-Mitglied Friedrich Karl von Zitzewitz, holen und möglichst schnell zum Totoleiter bringen. Denn dieser durfte ohne die offiziellen Papiere keine Quote für die einzelnen Wettarten herausgeben. Trotz aller Freude konnte ich natürlich nicht erahnen, dass die beiden Berliner Rennbahnen mein Berufs- und Privatleben maßgeblich prägen sollten.

Mit 14 Lenzen stieg ich ebenfalls in Karlshorst ein, verkaufte in der großen historischen Wetthalle von 1935 erst Sieg- und Platztickets, um später Wetten für den Kleinen und Großen Einlauf zu schreiben. Eigentlich war ich dafür zu jung, aber mein Vater – wie Mutter schon lange beim Toto tätig – bürgte für mich, sprich für eventuell auftretende Differenzen. Pro Tag mit sieben bis acht Rennen verdiente ich am Ticketschalter 12,29 „Ostmark“ und fürs Schreiben von Einläufen 13,37 „Ostmark“. In Hoppegarten lag die Bezahlung etwas höher, ungefähr zwischen 18 und 22 „Ostmark“. Im Laufe der Zeit wechselten naturgemäß die Tätigkeiten, beispielsweise führte ich etwa zehn Jahre lang das Buchmachergeschäft im Auftrage des Volkseigenen Rennbetriebes Karlshorst, der nur selten ein Minus auszugleichen hatte. In der Regel machten wir Plus und konnten am Jahresende einen Überschuss von 150.000 bis 200.000 „Ostmark“ abrechnen. Bis zu meinem Abschied Ende 1988 hatte ich in der Wuhlheide faktisch auf allen Totalisator-Stühlen gesessen, zuletzt auf dem des Quotenrechners.

Natürlich konnte ich auch mit der Fahrleine umgehen, gewann 24 meiner ca. 400 Rennen. Die Amateurprüfung hatte ich in den siebziger Jahren beim leider bereits 1982 verstorbenen Bringfried Schön abgelegt. Nach dem Mauerfall fuhr ich zwar ab und zu Pferde der Trainer Jorma Oikarinen und Peter Kwiet, doch die Entwicklungen in Hoppegarten ließen mir kaum viel Zeit fürs Trabermetier. Auf der Vollblutbahn war ich bis 1966 beschäftigt gewesen, hauptsächlich am Totalisator. Als gelernter Geld- und Kreditsachbearbeiter kündigte ich zum Jahresende bei meiner Bank und avancierte ab dem 1. Januar zum Festangestellten bei der Rennbahn: erst Verwaltungsleiter, dann Bereichsleiter Ökonomie und Stellvertreter des Direktors des VEB Vollblutrennbahnen, zu dem seit 1974 auch die anderen Hippodrome zählten. Sozusagen nebenbei leitete ich von 1969 bis 1988 vor Ort auch noch den Totalisator. Mein Tätigkeitsfeld war sehr groß und vielfältig, so hatte ich neben Finanzen die ständige Pflege der Innen- und Außenanlagen im Auge zu behalten. Den stets sehr guten Zustand des Geläufs, der Hürden- und Jagdsprünge, des Führrings und Besucherbereichs garantierten Rennbahnverwalter, wie Paul Riller, Kristian Heinrich, Alfred Klimach, Konrad Giese und zuletzt Elko Lehmann. In meine Zeit fiel ebenfalls der Bau des sogenannten Kompaktstalles von 1979 bis 1980, in dem 240 Pferde von zwölf Trainern Platz fanden. Die restlichen 160 volkseigenen Tiere verteilten sich auf den ehemaligen Rennstall Graditz (Graditzer Hof), auf Stallungen in der Dahlwitzer Straße und der Grünstraße sowie auf dem Holländer. So konnten jährlich zwischen 20 und 30 Renntage über die Naturbühne gehen, denen alle fünf Jahre das Internationale Vollblutmeeting die Krone aufsetzte. Ich selbst hatte ab 1989 den Hut auf fürs Ganze, denn von Dr. Norbert Baum – Generaldirektor der VVB (Vereinigung Volkseigener Betriebe) Tierzucht und Stellvertreter des Ministers für Land-, Forstund Nahrungsgüterwirtschaft, Bruno Lietz – war ich im Februar zum Direktor für den VEB Vollblutrennbahnen eingesetzt worden. Für mich als Parteilosen zweifelsohne kurios, denn für diese Position waren bisher nur sogenannte Nomenklatur-Kader in Betracht gekommen. Deshalb hatte Dr. Baum zuvor noch mit Minister Lietz Rücksprache nehmen müssen.

Dann fiel am 9. November 1989 die Mauer, eine neue politische Zeitrechnung brach an. Tage nach der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990, bei der mehr als 40 Prozent der Wähler für die CDU stimmten, eröffnete mir Dr. Baum in Paretz, dass ich sofort entlassen sei. Für mich nicht unerwartet, weshalb ich umgehend die Bezirksdirektion VEG (Volkseigene Güter) in Frankfurt an der Oder telefonisch kontaktierte. Ich erfuhr, dass ich praktisch am gleichen Tage wieder Direktor vom VEB Vollblutrennbahnen geworden war. Mit der Maßgabe und Verantwortung, alles, einfach alles für den Erhalt von Hoppegarten zu tun. Bis August 1961, also bis zum Mauerbau, war ich auch im Toto-Bereich der Trabrennbahn Mariendorf tätig gewesen, was mir am 31. März 1990 beim ersten Hoppegartener Einsatz des mobilen Elektronentotos zu Gute kam. Sollte doch – dank des Hamburger Renn-Clubs – am denkwürdigen 1. Deutsch-Deutschen Renntag in DDR- und D-Mark gewettet werden können, was die Errechnung zweier Quoten erforderte. Da hatte ich viel zu telefonieren, was allein schon problematisch genug war. Um nämlich direkt in die BRD wählen zu können, musste ich erst nach West-Berlin reisen, weshalb mir der Axel-Springer-Verlag freundlicherweise ein Zimmer in der 18. Etage reservierte. Von Hoppegarten aus hätte ich nach entsprechender Anmeldung tatsächlich Stunden warten müssen. Natürlich waren gerade logistische Vorbereitungen immens, denn Kabel mussten von Dieter Krüger, noch heute für die Rennbahn da, und seinen Mannen ins Erdreich verbracht und sogar notgedrungen über die Äste umstehender Bäume gehängt werden. Gott sei Dank ging alles glatt und wir durften uns über mehr als 28.000 Zuschauer freuen, die für Umsätze in Höhe von 653.000 „Ost-“ und 495.000 „Westmark“ sorgten. Die Veranstaltung stand ganz im Zeichen der nahenden Wiedervereinigung. Westberliner durften nach Jahrzehnten erstmals wieder ohne Kontrollen nach Hoppegarten fahren. Sogar die in den 30-iger Jahren installierte Rohrpost – ein Bauteil lagert als technisches Denkmal in der „Alten Waage“ – kam noch einmal zum Einsatz. Als Ehrengast beobachtete der 91-jährige Franz Chàles de Beaulieu, einst Generalsekretär des Union-Klubs, die fünf Ost-West-Vergleichsrennen von der alten Klubtribüne aus mit besonderem Interesse. Obwohl Mitorganisator Hans-Heinrich von Loeper angesichts des vermuteten Leistungsunterschiedes für DDR-Pferde Gewichtsnachlässe bis zu 14 Kilogramm gegenüber westdeutschen Besitzern durchgekämpft hatte, standen unsere Starter auf verlorenem Posten. Lediglich für Gunter Richters Daros, trainiert von Hans Lubenow, langte es zu einem fünften Platz. Sowohl national als auch international fand dieser denkwürdige Renntag große Würdigung und Resonanz. Aber hinter den Kulissen hatte der gesellschaftliche Umschwung für viele Beteiligte teils dramatische Folgen.

Faktisch bewegten wir uns in einer Art Grauzone, waren über Nacht mehr oder weniger auf uns allein gestellt. Also setzte ich mich erst einmal mit meinen engsten Mitarbeitern zusammen: Rennbahnverwalter Elko Lehmann, Hauptbuchhalter Egon Albrecht, Investitionsbearbeiter Peter Retzke und Renntechniker Hartmut Faust, als ehemaliger Rennkommentator noch heute als „Stimme des Ostens“ bekannt. Nach dieser Beratung war ich überzeugt davon, dass die politische Wende ein völliges Umdenken in organisatorischer und finanzieller Hinsicht erfordern würde, um als Rennbahn existieren zu können. Ich entschloss mich zur Privatisierung aller 700 volkseigenen Pferde, von denen 400 in Hoppegarten standen. Der Verkauf musste möglichst schnell vonstattengehen, denn mit der jährlichen staatlichen Subvention von rund 13,5 Millionen „Ostmark“ war nach Lage der Dinge nicht mehr zu rechnen. Dabei achtete ich darauf, dass veräußerte Vollblüter möglichst in alter Trainerregie verblieben. Fast alle fanden von April bis Juni ihre neuen Besitzer, nur einige wenige bis zum 30. September. Im Zuge dieser Veränderungen stieg die Anzahl der Hoppegartener Vierbeiner bis 1994 unverhofft auf 554 an, wonach es aber leider wieder abwärts ging. Heute stehen in den Ställen gerade einmal 140 Pferde.

Von der erwähnten Unterstützung waren nicht nur alle volkseigenen Pferde, Rennen und Fuhrparks auf den fünf Bahnen finanziert worden, sondern ebenfalls 482 Angestellte, die ich schweren Herzens alle entlassen musste. Verständlich, dass diese Maßnahme viel Aufregung und Ärger, ja persönliche Anfeindungen provozierte. Für mich waren das sehr schwierige, manchmal schon schmerzliche Entscheidungen – aber die Traditionsbahn und alle ihre „Schwestern“ sollten bewahrt werden! Für Hoppegarten stellte ich 20 ehemalige Mitarbeiter gleich wieder ein, die anderen Pisten erhielten noch bis zum 31. März 1991 Geld für zwei Angestellte: den Betriebsteilleiter und den -buchhalter. Ab dem 1. April mussten dann örtliche Rennvereine das Ruder übernehmen, nun eine Grundvoraussetzung, um überhaupt Leistungsprüfungen abhalten zu können. Bei dieser Umstrukturierung half mir glücklicherweise wiederum Hans-Heinrich von Loeper, der Generalsekretär des Kölner Direktoriums für Vollblutzucht & Rennen, nunmehr ebenfalls Dachorganisation in den neuen Bundesländern. Der 1. Hoppegartener Rennverein e. V. hatte sich am 20. Oktober 1990 gegründet, Vorsitzender war der Westberliner Kurt Becker und ich Geschäftsführer. In dieser Funktion verblieb ich – bis auf gesundheitlich bedingte Unterbrechungen – selbst im Zeitraum 1995 bis 2005, als der Union-Klub seine alte Bahn wieder übernommen hatte. Als der am 4. August 2005 aber Insolvenz anmeldete, musste ein neuer Rennverein her, der dann am 16. März 2006 ins Vereinsregister des Amtsgerichtes Strausberg eingetragen wurde. Für die nächsten drei Jahre – also von Januar bis zum 31. Dezember 2008 – war ich dann auch Geschäftsführer des neuen Gremiums. Dieses existiert noch heute, mit Gerhard Schöningh als Vorsitzenden, Andreas Neue als Stellvertreter und mir als Schatzmeister.

Jetzt musste ich Geld anmahnen, um das Rennjahr 2006 überhaupt beginnen zu können. Aber woher nehmen und nicht stehlen? Also fuhr ich mit Karl-Dieter Ellerbracke nach Seelow zu unserem Landrat Gernot Schmidt, der einen Termin beim brandenburgischen Finanzminister Rainer Speer organisierte. Nach drei Potsdamer Sitzungen, an der letzten nahmen unser Schatzmeister Dietmar Kage und Vereinsvorsitzender Andreas Neue teil, erhielten wir – der neue Rennverein verfügte über keinerlei Finanzen mehr – von der Landesinvestitionsbank Brandenburg einen rettenden 250.000-Euro-Kredit. Von dieser Summe konnten nach acht Veranstaltungen bis Jahresende bereits 110.000 Euro zurücküberwiesen werden. Für Rennpreise in Höhe von 450.000 Euro hatte ich selbst entsprechende Sponsoren geworben.

Ähnlich brenzlig startete die Saison 2007. Um die ersten vier Monate arbeiten zu können, musste ich notgedrungen unseren Hoppegartener Bürgermeister um Hilfe bitten. Und Klaus Ahrens reagierte in für mich überwältigender Art und Weise. Dank eines einstimmigen März-Beschlusses seiner Gemeindevertreter erhielten wir 150.000 Euro, um sieben Veranstaltungen absichern zu können. An Rennpreisen beschaffte ich wiederum 450.000 Euro, von denen die Gemeinde Neuenhagen 50.000 beisteuerte. Eingedenk dieser Kraftakte bat ich die Treuhandanstalt dringlich, einen Interessenten zu finden, der unser Gelände mit allem Drum und Dran kaufen würde. Nach zehn Vorstellungsrunden fiel die Wahl auf den engagierten Fondsmanager Gerhard Schöningh, der auch ein Herz für den Turf offenbarte. Am 18. März 2008 konnte sein Rennbahnerwerb in Berlin unter Aufsicht des Notars Dr. Roland Hoffmann-Theinert notariell beurkundet werden. Auf Bitte von Silke Jacobs-Kruse, der Geschäftsführerin der Galopprennbahn Hoppegarten GmbH, wohnte ich dem Zeremoniell bei.

Genau eine Woche später trafen wir uns wegen der örtlichen Übernahme und um juristische Vereinbarungen endgültig abzuschließen. Eine neue Ära brach an, zumal sich Hoppegarten jetzt als einzige Galopprennbahn Europas komplett in privater Hand befand. Mein Weg mit oftmals kritisierten Entscheidungen und sehr radikalen Maßnahmen hatte sich als richtig erwiesen, was jetzt nicht nur in meinem Umfeld immer wieder zu vernehmen war. In den Medien huldigte man mir einerseits als Retter bzw. Seele von Hoppegarten. Andererseits regten Journalisten um Hannes Brama im Januar/Februar 2007 an, dass ich am 8. September des Folgejahres – lediglich eine Woche nach meinem 70. Geburtstag – mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt wurde. Verliehen vom Bundespräsidenten Horst Köhler und überreicht von Clemens Appel, dem Chef der Staatskanzlei, in Potsdam. Seither sind einige Jahre ins Land gegangen, in denen sich das Turfparadies Hoppegarten mit hochkarätigem Sport zunehmend besser in Szene setzte.

Zum 150. Geburtstag am 17. Mai wünsche ich mir, dass das „Berliner Rennfieber“ viel stärker grassieren möge, auch die nächsten 150 Jahre Freude, Spannung und Begeisterung an Galopp und Trab sprießen. Gemäß den Visionen all unserer Urväter des Sports, die im vorliegenden Buch nochmals zum Leben erweckt werden, und heutiger Turfjünger. Also dann: Start frei in Hoppegarten, Mariendorf und Karlshorst!

Artur Boehlke, Neuenhagen, Oktober 2017

Zum Geleit

Auf den ersten Blick sieht alles recht simpel aus: Das Startauto setzt sich in Bewegung, die Sulkygespanne nehmen ihre Positionen hinter den ausgeklappten Flügeln des Wagens ein, das Rennen beginnt – und das Pferd, das am schnellsten von allen über die Sandpiste rast, gewinnt. Trabrennen scheinen also eine recht triviale Angelegenheit zu sein. Dass dem aber ganz und gar nicht so ist, wird dem Leser bei der Lektüre dieses Buches, das sich zugleich auch intensiv dem Galopprennsport widmet, eindrucksvoll vor Augen geführt. Dem Autor Gerd von Ende gebührt großer Dank, denn er hat keine Mühen gescheut und mit seinen aufwendigen Recherchen die Chronologie des Berliner Pferderennsports nahezu vollständig dokumentiert.

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Abb. 3: Ulrich Mommert

Dieses Buch macht klar: Der Kampf auf den letzten Metern der Zielgeraden ist weit mehr als nur die finale Entscheidung, wer als Erster über die Linie stürmt. Denn hinter jedem Sieger verbirgt sich eine ganz eigene Geschichte. Eine der Weisheiten des Sulky- und Galoppsports sagt: Rennen werden im Stall gewonnen. Und in der Tat wird das erfolgreiche oder weniger gelungene Abschneiden von zahlreichen Faktoren bestimmt. Es sind zwar die Pferde, die vierbeinigen Spitzenathleten, die am Ende den größten Anteil an einem Triumph besitzen. Aber hinter jedem dieser prachtvollen Tiere steckt zugleich eine ganze Anzahl von Menschen. Angefangen vom Züchter über den Besitzer, Trainer und Pfleger bis hin zu demjenigen, der in dem Moment, in dem es ernst wird, im Sulky oder im Sattel des Pferdes sitzt. Die Freude über einen Sieg lässt also nicht nur eines, sondern viele Gesichter erstrahlen und genau das ist es, was die Faszination unserer Sportart ausmacht. Als ich das erste Mal ein eigenes Pferd besaß, habe ich diesen besonderen Zauber sofort verspürt. Er geht weit über die anmutige und makellose Ästhetik dieser edlen Geschöpfe hinaus. Denn Pferde sind nicht nur wunderschöne Lebewesen, die auf uns Menschen eine geradezu magische Anziehung ausüben. Sondern sie scheinen uns Wege aufzuzeigen. Sie lehren uns, dass wir nie durch Egoismus, sondern nur als Teamplayer gewinnen können. Wer einmal aus unmittelbarer Nähe die Euphorie einer Stallmannschaft erleben durfte, die soeben das Derby gewonnen hat, der wird dieses Erlebnis nie wieder vergessen. Denn er war Zeuge eines Augenblicks höchsten Glücks.

Wir alle wissen, dass es derzeit wirtschaftlich nicht gut um den Trab- und Galopprennsport bestellt ist. Aber wir wissen ebenso, dass es sich lohnt, jetzt und zukünftig für den Erhalt der deutschen Bahnen zu kämpfen. Denn ohne den Rennsport und ohne die Pferde, die uns Menschen so viel Vertrauen entgegenbringen und sich für unsere Zuneigung mit schier grenzenloser Liebe bedanken, würde auch unser eigenes Leben ein Stück weit ärmer werden. Ich freue mich, dass uns Gerd von Endes Buch an diese Tatsache erinnert.

Ulrich Mommert, Berlin, Dezember 2017

Vorwort

„Wer vor seiner Vergangenheit flieht, verliert immer das Rennen!“ – Selbst wenn der englischsprachige Literatur-Nobelpreisträger Thomas Stearns Eliot (1888-1965) das im übertragenen Sinne gemeint haben dürfte, so gelten seine Worte doch auch hinsichtlich des hauptstädtischen Vollblut- und Trabrennsports. Gerade zu Zeiten, in denen beide Sparten um ihre Existenz in Gegenwart und Zukunft ringen müssen, liegt eine komplexe Rückbesinnung an längst verflossene Tage nahe. In denen beileibe nicht König Fußball herrschte, sondern eben Sattelund Sulky-Duelle als die „schönste Nebensache der Welt“ galten. Heute unvorstellbar viele Hauptstädter und Brandenburger waren damals vom „Rennfieber“ infiziert, weshalb allein um 1925 vier Galopp- und zwei Trabrennbahnen veranstalten konnten und sich Berlin vor allem dadurch als Sportstadt einen guten Namen machte.

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Abb. 4: Gerd von Ende

Weil Erinnerungen an Aktive und Offizielle, an Pferde und ihre Siege sowie an die Rennbahnen selbst zusehends verblassen, soll das vorliegende Buch dieser Entwicklung ein wenig entgegenwirken. Indem es alten Galopp und Trab in Geschichte und Geschichten nochmals aufleben lässt, dabei Leute mit viel Passion würdigend. Es gilt, möglichst viel damaliges Wissen – wertvolle Erkenntnisse, Erfahrungen und Resultate – zu bewahren und allseits zugänglich zu machen. Darin sehe ich, seit mehr als einem halben Jahrhundert mit immer wieder faszinierendem Rennsport verbandelt, gleichermaßen Verpflichtung und Vergnügen. Mich selbst, ab 1959 wohnhaft in Neuenhagen, erwischte der Turfvirus schon als Kind. Habe ich doch meinen Vater – Chefredakteur des DDR-Fachorgans „Renncourier“ (später „Rennkurier“) – oft genug nach Hoppegarten oder Karlshorst begleitet. Im Jugendalter begeisterte mich die Szene derart, dass ich begann, mich journalistisch zu betätigen und parallel zu meinem Vater auch historisches Material zu sammeln. Seither haben sich diverse Ordner, Fotokisten und Datenträger ansehnlich gefüllt, sind als Ergebnis mehrere eigene Bücher erschienen. Bei den oft langwierigen, nicht selten aufwendigen Recherchen kam die Freude nie zu kurz. Beispielsweise als sich bestätigte, dass ausgerechnet Theodor Fontanes Novellen-Titelfigur „Schach von Wuthenow“ Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin „wilde“ Pferderennen inszenierte. Oder als sich herausstellte, dass die erste deutsche Steeplechase dank des Preußen-Prinzen Carl bereits 1823 nahe der Hauptstadt entschieden wurde; sogar mit dem „grünen Fürsten“ von Pückler im Sattel. Und kann es einen besseren Grund für die Veröffentlichung geben als die 150. Geburtstage des Union-Klubs am 15. Dezember 2017 und des Turfparadieses Hoppegarten am 17. Mai 2018?!

Möglich wurde meine Arbeit allerdings erst durch die Unterstützung verschiedener Damen und Herren, von denen ich zuallererst meine Ehefrau Ute, eine Berufskollegin, nennen möchte. Umfassende Einblicke in die Bibliothek des Deutschen Pferdemuseums Verden gewährte mir der dortige Leiter Christoph Neddens. Bislang wenig Bekanntes steuerte Christian Friedrich zur Person des Fürsten von Pückler vom gleichnamigen Cottbuser Museum bei. Dank Dr. Thomas Thiele durfte ich im Museum Berlin-Lichtenberg interessantes Material zum Karlshorster Reiterdenkmal einsehen. Von eigenen Familienforschungen ließen mich Pia von Doetinchem, Vita von Wedel und Rickwan von der Lancken profitieren. Über viele Jahre hinweg konnte Karl Dold dank seines Schöneberger Versandantiquariats sich mir auftuende Wissens- oder Bildlücken füllen. Und der sich mit alten Hoppegartener Offiziellen, Aktiven und Stall-Leuten beschäftigende Kai Hildebrandt vermochte so manche offene Stelle in Lebensläufen zu stopfen. Den Raum für entsprechende Recherchen boten ebenfalls die Berliner Staats- und die Stadtbibliothek, die Humboldt-Universitätsbibliothek, das Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, das Brandenburgische Landeshauptarchiv in Potsdam-Golm, die Zentralbibliothek der Sportwissenschaften der Deutschen Sporthochschule Köln sowie das Bundesarchiv (Abteilung Militärpolitik) zu Freiburg. All den genannten und nicht erwähnten Helfern und Einrichtungen gilt deshalb mein ganz herzlicher Dank! Möge nun das Endprodukt „Berliner Rennfieber“ mehr Interesse für Galopp- und Trabrennsport wecken, notwendiges Wissen weiter vertiefen, gegebenenfalls Einsatz und Engagement potenzieren. Gemäß dem Motto von Eliot: „Jeder Tag ist ein neuer Anfang.“

Gerd von Ende, Neuenhagen, Januar 2018

I. Berliner Rennalltag

Kapitel 1: Biels Pamina holte Silberhumpen

Pferderennen in Berlin können sich – im Gegensatz zu Fußball, Leichtathletik, Eishockey oder Basketball – eines verhältnismäßig langen Daseins rühmen. Damals wie heute sollen, ja müssen Vierbeiner schnellstmöglich eine bestimmte Strecke zurücklegen, wobei sich Ziele, Voraussetzungen, Regeln und Anforderungen wandelten. Nachweisbare Anfänge reichen an der Spree bis ins Mittelalter zurück. So forderte Brandenburgs Kurfürst Johann Cicero im Schreiben vom 22. April 1494, „das die von Berlin daß Rennen der Pferd zum Berlin halten“ mögen. In der „Geschichte des preussischen Staats“ von Gustav Adolf Harald Stenzel (Hamburg 1830) wurde erwähnt, dass Joachim II. – im Zeitraum 1535 bis 1571 Kurfürst von Brandenburg – neben prächtigen Festen, glänzenden Turnieren, Tierhetzen und großen Jagden gerade ein Faible für „Pferdewettrennen, jährlich am Fronleichnamstage“ pflegte.

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Abb. 1: Porträt des Chronisten August Wilhelm Jacob von Wedel

Doch ganz im Gegensatz zu englischen Gepflogenheiten, wo der König Charles II. bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Richtlinien zu Gewichten und Distanzen sowie höhere Preisgelder verfügte, um so einen geordneten Renn- und Zuchtbetrieb anzustreben, dienten all die Berliner Sattelduelle doch in erster Linie der Zerstreuung, Belustigung und Wettleidenschaft von Adligen und Kavalleristen. „Die Berliner haben sich seit Ihrer Abwesenheit noch nicht geändert, sie sind noch ebenso neugierig, noch ebenso bereit, alle Beschwerden eines kleinen Vergnügens wegen zu ertragen“, schrieb Ludwig Achim von Arnim am 2. Mai 1797, einem Dienstag, an seinen Vater Joachim in Bärwalde. „Gestern sah ich davon ein merkwürdiges Beyspiel. Es hatten nämlich die Herren von Schack und von der Lanke den Entschluß gefasst, wegen einer ansehnlichen Wette in dem Thiergarten ein Pferderennen zu halten. Nun eilte die Hälfte Berlins, Menschen von allen Geschlechtern und Altern vom frühen Morgen an bis zur bestimmten Zeit durch alle Thore Berlins nach dem Thiergarten, und verließ seine Geschäfte, um zwey Pferde und zwey Reiter zu sehen.“ Unter Hunderten von Schaulustigen fieberte August Wilhelm Jakob von Wedel – in alten Quellen auch Wedell – dem Sattelduell entgegen. Einerseits aus Eigeninteresse, denn schnelle Rösser spielten im Leben junger Adliger traditionell eine bedeutende Rolle; sei es in Sachen Transport und Sport oder als Statussymbol. Andererseits würde sich seine Mutter Charlotte Gottliebe Tugendreich im recht einsamen Hinterpommern über einen neuen Bericht aus Berlin wieder sehr freuen. Zumal der eine Hauptakteur im Sattel ja längst kein Unbekannter war.

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Abb. 2: Angehörige des Regiments Gens d‘armes

"Der Herbst des Jahres 1791 brachte dem Berliner Hofe ein sehr frohes Fest, nämlich die Doppelvermählung des Herzogs von York mit der Prinzessin Friederike und des Erbprinzen von Oranien mit der Prinzessin Wilhelmine. Der Herzog von York war, in Begleitung des englischen Duke of Manchester, schon im Mai nach Berlin gekommen und machte alle Revúen, auch einen Theil der Revúereisen des Königs mit. Den ganzen Sommer über fanden viele Festlichkeiten statt […] auch der oft genannte und noch zu nennende Lieutenant von Schack gab im Juli dieses Jahres eine große Fete auf dem Gesundbrunnen, welcher der Kronprinz, der Prinz Ludwig, der Herzog von York, viele Gesandte usw. beiwohnten.

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Abb. 3: Schach von Wuthenow, in dritter Auflage 1894 zu Berlin herausgegeben

Damals wurde auch das englische Vergnügen eines Pferderennens zuerst nach Berlin verpflanzt, indem der Herzog von York ein solches in der Gegend des hallischen Thores veranstaltete; die Berliner hatten ihr Vergnügen daran, daß die preußischen Offiziere, namentlich der Graf Medem von den Garde-du-Corps und die Lieutenants v. Schack und v. Alvensleben von den Gensdarmen Sieger blieben und die zurückbleibenden englischen Offiziere wurden vom Volke ausgepfiffen. Nach dem Wettrennen gab der Herzog von York ein Dejeuner in der Hasenhaide […].“ (1) Diese Ereignisse hatte auch schon die Nummer 153 der „Augsburgischen Ordinari Postzeitung“ vom 28. Juni 1791 unter der Überschrift „Aus dem Brandenburgischen, den 11. Juni“ geschildert. Kaum zufällig also würde Theodor Fontane mit seiner erst 1882 veröffentlichten Novelle „Schach von Wuthenow“ an einen der genannten Offiziere des Kürassier-Regiments Gens d´armes erinnern.

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Abb. 4: Szene aus einem Berliner Jagdrennen, Detail einer Originalzeichnung von Händschel

Dieser Otto Friedrich Ludwig von Schack – am 6. Februar 1796 gerade erst zum Stabs-Rittmeister befördert – galt als sehr eleganter, geradezu leichtsinniger Offizier, eben für jede Tollheit zu haben. In vollen Zügen genoss er höfisches Leben, scheute nicht vor amourösen Abenteuern zurück und widmete sich kostspieliger Pferdezucht. Weil seine Ausgaben von jeher die Einnahmen in den Schatten stellten, musste er nacheinander die ererbten Güter Kloxin und Prillwitz verkaufen. Am 1. Mai nun liebäugelte der Offizier mit einem satten Wettgewinn, denn er hatte etliche Taler auf seinen Vierbeiner gesetzt. Um möglichst sicher zu gehen, engagierte er sogar einen Engländer als Reiter. Sein Gegner, ein gewisser Herr von Lanken (auch von Lanke, von der Lancken), wird in den Quellen als Mecklenburger Gutsherr erwähnt, allerdings ohne Vorname oder örtlichen Besitz. Wohl war er kein Offizier (mehr) und stand damit nicht so hoch im gesellschaftlichen Ansehen. Aber zweifelsohne muss er ein Könner im Sattel gewesen sein, sich mit Pferden ausgekannt haben. In Betracht käme da am ehesten der 1768 in Galenbeck geborene Adolph Friedrich, zu dem die „Zeitung für Pferdeliebhaber. Dritter Jahrgang. Nr. 15. 1828“ unter „Beschreibung aller bekannten Gestüte“ überlieferte: „[…] der Herr Klosterhauptmann von der Lanken auf Gahlenbeck, nicht unbedeutende Pferdezucht, die Zahl der Füllen, welche jeder dieser Herren aber jährlich aufzieht, ist uns nicht bekannt.“ Aber ebenso in Friedrichsruh und Gädebehn, Lapitz und Groß Lukow, Klein Dratow, Puchow, Rahnenfelde, Rethwisch, Sprichusen und Steinbrink lebten – laut „Der Adel Mecklenburgs“ (1864) – Herren von der Lancken auf ihrem Gutsbesitz.

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Abb. 5: Otto Friedrich Ludwig von Schack nahm sich 1815 das Leben

Zum eigentlichen privaten Wettrennen verewigte Herr von Wedel, dessen Zeilen am 26. Januar 1878 im Fachblatt „Der Sporn“ erschienen: „Nachdem der Herr von Lanken und für Schack ein englischer Reitknecht gewogen und dem Letzteren, um ihn mit jenem gleich zu machen, achtzehn Pfund Gewicht aufgelegt waren, wurde mit zwei Trommeln das Zeichen gegeben und beide jagten los.“ Der Verlauf war ein spannender: „Die Entfernung des Ziels vom Anfang des Wettrennens betrug 2.907 gewöhnliche Schritt von dem Anfange der Charlottenburger Allee an, da, wo der Weg von der Fasanerie in die große Charlottenburger Straße biegt, bis zu Ende der Barrieren von Berlin aus. […] Der Herr von Lanke kam um etwa 10 Schritt früher zum Ziel als der Jokey und gewann so 150 Friedrichs d‘or vom Herrn Rittmeister, und noch mehrere von andern, so daß sich sein ganzer Gewinnst auf 360 Friedrichs d‘or belaufen haben soll. Er erhielt wegen seiner Gelassenheit und seines fertigen Reitens allgemeinen Beifall, und ward, wie im Triumph, nach seinem Logis begleitet. Nehme ich nun die abgemessenen Schritte im Durchschnitt zu zwei Fuß und etwas drüber an, so beträgt der Weg, den sie zurücklegten, etwa 6.000 Fuß. Da sie nun hierzu 2 Minuten 58 Sekunden brauchten, so war die Geschwindigkeit des Pferdes in der Sekunde etwa 34 Fuß gleich.“ (2)

Die Leistung beider Vierbeiner war umso höher zu bewerten, da sie an Überbeinen (Schwellungen) beziehungsweise Spat (Erkrankung des Sprunggelenks) laborierten. Zudem hatten sie wegen der Menschenmenge samt einiger Rosse, welche die Strecke säumten, nicht ungestört „wettrennen“ können. Auch gab es zu bedenken: „Bei den englischen Wettrennen darf […] kein Gegenstand das Pferd irre machen, und es wird den Weg, den man dazu auswählt, 14 Tage lang vorher täglich stets hin und her geritten, damit es mit allen Gegenständen genau bekannt wird, ihm auch nichts Fremdes aufstoßen kann. Ebenso nimmt man ihnen den Rennsattel nicht sogleich ab, sondern läßt ihn vielmehr auf ihnen liegen, bis sie sich gehörig erholt haben.“ Eine gerade aus heutiger Sicht interessante Vergleichstafel „In einer Sekunde durchliefen“ sollte die Einordnung der Siegleistung vereinfachen:

„1) unsere Wettrenner – 34 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 2 Minuten 58 Sekunden, 2) ein französischer Kabrioletgaul – 12 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 8 Minuten, 3) ein Renthier im Schlitten – 26 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 3 Minuten 50 Sekunden, 4) ein gewöhnliches engl. Rennpferd – 42 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 2 Minuten 23 Sekunden (also so geschwind als ein französischer Kaper segelt), 5) eins der berühmtesten Rennpferde zu Newmarket – 82 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 1 Minute 14 Sekunden, 6) das bekannte Rennpferd Eclipse – 58 Fuß oder gegen 6.000 Fuß in 1 Minute 44 Sekunden (es bedeckte 25 Fuß bei der größten Streckung im Galopp und wiederholte dies 2 ½ mal in einer Sekunde).“ (3)

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Abb. 6: Hoch zu Ross der Prinz Carl von Preußen zum 50. Master-Jubiläum

Während der Jubel nach dem Einlauf beim Publikum kaum verebbte, hielt sich die Begeisterung des Beobachters von Wedel in engen Grenzen: „Mich interessirte und ärgerte die ganze Geschichte etwas. Dies Pferd, das gewann, habe ich einst ein Vierteljahr geritten, es gehörte damals Bismarck, der es mit meinem Rappen vertauschen wollte. Hätte ich damals den Tausch eingegangen, dann hätte ich einen schönen Profit gehabt, denn dem Lanken sind schon 800 Thaler dafür geboten und gestern hiess es, er hätte es für 1.300 Thaler verkauft an den Prinzen Louis.“ Mit jenem Bismarck könnte der Briefschreiber einen befreundeten Jurastudenten ähnlichen Alters gemeint haben, mutmaßt Vita von Wedel aus dem Familienverband der Herren & Grafen von Wedel. „Er könnte aus dem Bismarck-Besitz Külz stammen, etwa zehn Kilometer vom Zuhause Teschendorf meines Urur-urgroßvaters entfernt. Beide Familien waren nämlich über Generationen hinweg eng befreundet.“ Aber neben Sattelruhm und Talergewinn wusste August Wilhelm Jacob von Wedel auch um eine andere, kaum zu verachtende Perspektive des Triumphators: „In allen Gesellschaften war dies die allgemeine Unterhaltung und die Damen waren neugierig, den Sieger kennen zu lernen. Wenn er noch nicht verheirathet wäre, und es ihm auch sonst darum zu thun wäre, er hätte, glaube ich, durch Vorsprache seines Pferdes eine brillante Parthie machen können.“ Wurde das Schack-Lancken-Duell 1797 auf der Flachen ausgetragen, so lockte schon 1823 nahe Berlin eine international besetzte Steeplechase (englisch: Kirchturmrennen). Die Betonung liegt auf „schon“, denn die erste soll ja eigentlich erst am 17. August 1828 nahe dem mecklenburgischen Doberan entschieden worden sein: „über die Brodhäger Kalkbrennerei nach der Jennewitzer Mühle“ hin. Mit Wilhelm von Biel als Viertplatzierten, der auch fünf Jahre vorher mit von der Partie gewesen war. Aber anderer Meinung war offensichtlich „Der Sporn“, als das Blatt das 50jährige Masterjubiläum des Prinzen Carl von Preußen würdigte, sprich seine traditionelle Führung des Teilnehmerfeldes beim Jagdreiten. Dabei wurde zu Beginn die reiterliche Karriere des Adligen beleuchtet, beispielsweise sein Wirken 1823: „Es war gegen Ende des März-Monats, dass der im Sattel nicht zu übertreffende Prinz in Gemeinschaft mit den tüchtigsten Reitern jener Epoche die ersten Anfänge zu den Rennen in Deutschland legte und den als Lehrmeistern vorangehenden Engländern, wie den in der Lehre mehr vorgeschrittenen österreichischen Nachbarn auf der Bahn nachzueifern sich bestrebte. Prinz Carl war der Stifter der ersten Steeple-Chase in Deutschland.“ (4) Diese Behauptung untermauerte in seinem 2. Dezember-Heft 1930 der „Sankt Georg“. An das Ereignis selbst hatte ebenfalls Theodor Cotta 1873 in „Die Heimatkunde für Berlin“ erinnert.

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Abb. 7: Hermann Ludwig Heinrich Fürst von Pückler-Muskau

Die Organisation dieses viel beachteten Jagdrennens über feste, vor allem natürliche Hindernisse – in England ursprünglich in Richtung eines gut zu sehenden Kirchturms ausgetragen – lag in den Händen des Prinzen Carl. „Er selber setzte einen massiven silbernen Humpen zu diesem Behuf aus, stellte die Bedingungen fest und steckte die Hinderniss-Strecke ab, mit dem Ablauf bei der Halloren-Schwimm-Anstalt in Moabit und dem Ziel unweit Spandau am Grützmacher, ziemlich in paralleler Richtung der jetzt durch die Jungfern-Haide führenden Chaussèe folgend“. (5) Den anderthalb Meilen langen, sehr schwierigen Kurs nahmen sieben Herrenreiter, unter ihnen vier englische Gentlemen, betont couragiert in Angriff. Dabei fochten Hermann Ludwig Heinrich Fürst von Pückler-Muskau und Sir Richard Meade, 3. Earl of Clanwilliam und britischer Gesandter in Preußen, wohl ein recht privates Duell aus. Laut Biographin Eliza M. Butler sei der Engländer auf den Weltenbummler neidisch gewesen, vor allem auf seinen Schlag bei Damen und sein Können hoch zu Ross. Araber-Pferden galt die besondere Vorliebe des „grünen Fürsten“, weshalb er jede sich bietende Chance nutzte, ihr Können zu demonstrieren und zu testen. Kaum zufällig hatte er selbst für seine Schlossparks Branitz und Muskau kleine Rennbahnen konzipiert. Als bevorzugter Kontrahent galt ihm Vollblutzüchter Wilhelm von Biel aus dem mecklenburgischen Zierow, mit dem er im Sattel so manchen harten Strauß ausfocht. Wie dank eines Briefes vom 13. April 1819 an seine Ehefrau Lucie überliefert, eine Geborene von Hardenberg-Reventlow: „Gute Schnucke, eben komme ich ganz harassirt von der Wette zurück, die ich ohngeachtet der größten Unglücksfälle brillant und unter dem Hurrahgeschrei einiger tausend Menschen in Gegenwart aller Prinzen gewonnen habe. Denke Dir, daß erstens eine Hitze wie im Juli seit gestern eingetreten ist, zweitens mein Pferd gleich nach den ersten hundert Schritt über einen Stein stolperte, und sich das Gelenk am rechten Hinterfuß vertrat. Es ging hierauf so lahm, daß ich schon im Begriff war, alles verloren zu geben und anzuhalten. Endlich entschloß ich mich aber doch noch alles zu wagen, und ich kann sagen, daß das brave Thier auf drei Beinen die Wette gewonnen hat.“ (6)

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Abb. 8: Wilhelm von Biel, ein unvergessener Mecklenburger Sportsmann und Züchter

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Abb. 9: Biels bekannte Vollblüterin Pamina vor Mecklenburger Kulisse

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