Dieses Buch ist ein Roman.

 

NEIN ist inspiriert von der Geschichte der Autorin, die unter ganz ähnlichen Umständen vergewaltigt wurde. Die Zeichnung der beiden Hauptfiguren orientiert sich vage an der Autorin und ihrem Bild vom wahren Täter. Die Beschreibungen des Lebens, das sie außerhalb der Tat führen, sind jedoch rein fiktiv und entspringen der Fantasie der Autorin.

 

Die in der Danksagung erwähnten Freunde und Helfer sind real. Alle anderen Freunde der beiden Hauptfiguren sowie ihre Familienangehörigen und deren Lebensumstände sind frei erfunden. Das gilt insbesondere für die Personen aus Johnnys sozialem Umfeld.

 

Der geschilderte Prozess hat nie stattgefunden, weil der reale Vergewaltiger seine Tat vorher gestanden hat. Alle anderen Personen und Institutionen in diesem Buch sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Institutionen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

 

 

 

Für die Opfer und Überlebenden – und die vielen unter uns, die beides sind.

PROLOG

Man sagt, dass so ein Erlebnis dich für immer verändert. Dass dein Leben nie mehr so sein wird wie am Tag davor. Oder gar zwei Stunden davor, als ich an der Falls Road in Belfast auf den Bus Richtung Westen wartete.

Ist es übertrieben dramatisch, wenn ich mir das, was mir passiert ist, so vorstelle? Als tiefen Riss, der die ersten neunundzwanzig Jahre meines Lebens von allen Jahren danach trennt? Ich blicke über diesen ungewollten Einschnitt in meinem Leben und möchte meinem jüngeren Ich zurufen, das ahnungslos auf der anderen Seite dieser Kluft steht. Sie ist nur ein verschwommener Fleck. Aus meiner Sicht wirkt sie verloren, sie aber glaubt genau zu wissen, wo es langgeht. In der Hand hat sie einen Wanderführer, und sie folgt einem Weg: Er führt diesen Hang hinauf und von da, entlang einer Hochebene, zu den Hügeln über der Stadt. Sie weiß nicht, dass sie verfolgt wird. Sie denkt nur an die Wanderung, die vor ihr liegt. Aber manche Dinge lassen sich nicht vorhersehen.

Ich stehe diesseits der Kluft und wünsche mir, ich könnte mein früheres Ich vor der Gestalt warnen, die sich von Busch zu Baum stiehlt. Halt!, will ich ihr zurufen. Das ist es nicht wert! Lass die Wanderung sausen und kehr um. Aber sie würde sowieso nicht auf mich hören. Sie ist zu eigensinnig, fest entschlossen, ihre Wanderung an diesem schönen Frühlingstag bis zum Ende durchzuziehen. Und jetzt ist es zu spät. Die Gegend hier ist einsam, und selbst wenn sie sich entschlösse umzukehren, würde sie ihm begegnen, denn er ist direkt hinter ihr. Beobachtet sie.

Sie hat den Aufstieg gemeistert und den schmalen Pfad gefunden, der zwischen einer sonnigen Weide und dem steilen Hang hindurchführt. Sie verschnauft kurz, lässt die Schönheit der Umgebung auf sich wirken. Die Bäume beschatten den Weg mit ihren Zweigen, zu ihrer Linken erstreckt sich die leuchtende Wiese. Sie ist dem Trubel der Stadt entkommen. Hier beginnt die wahre Natur. Einen letzten friedlichen Augenblick lang fühlt sie sich wie in einem kleinen Paradies. Aber sie ist ganz nah am Abgrund, rechts von ihr geht es steil abwärts in die Schlucht.

Der Fluss unten ist ein fernes Rauschen. Die Luft riecht nach Dung, Sonne und warmem Gras, unter den Bäumen schwirren Insekten träge im gedämpften Licht. Doch als sie einen Blick in den bewaldeten Abgrund zu ihrer Rechten wirft, sieht sie eine Gestalt, die sich im Buschwerk zu verbergen sucht, den Berghang hinaufsteigen. Ihr stockt kurz der Atem. Und erst dann begreift sie, dass sie verfolgt wird.

Jetzt, Jahre später, ist es, als würde ich meinem früheren Ich nachstellen. Ihm überallhin folgen wie ein zu spät gekommener Schutzengel. Sie teilt die Zweige vor sich, und ich mache unsichtbar dasselbe. Sie geht schneller, um den Abstand zu ihrem Verfolger zu vergrößern, und ich halte Schritt. Sie weiß instinktiv, dass sie auf offenes Gelände kommen muss, bevor er sie einholt, und so eilt sie auf die Stelle zu, wo der Weg gut einsehbar auf den Bergkamm führt. Ich will den kleinen Mistkerl mit unsichtbarer Hand aufhalten, mich auf ihn stürzen wie ein Rugbyspieler und ihr zurufen, sie soll weglaufen, den Weg verlassen und über die Wiese bis zu der stark befahrenen Landstraße rennen, die Wanderung vergessen und nach Hause fahren. Aber ich kann ihr nicht helfen. Alles muss genauso ablaufen wie damals.

Die Vergangenheit ist unsere Vergangenheit. Und so sitze ich diesseits der Schlucht und muss machtlos zusehen, wie er sie einholt. Den Rest will ich nicht sehen. Zu oft schon haben sich diese Szenen vor meinen Augen abgespult. Könnte ich den Film nur an dieser Stelle anhalten – in diesem letzten Augenblick zwischen der sonnigen Wiese und dem gähnenden Abgrund –, wäre alles so wie früher. Aber dann wäre es nicht mein Leben. Es wäre der schöne Frühlingsspaziergang einer anderen Frau durch die irische Natur. Mein Weg aber sollte ein bisschen davon abweichen.

EINS

Sie sitzt im Behandlungszimmer ihrer Therapeutin und wartet, während Dr. Greene mit der Videokamera hantiert. Der Raum ist klein, schmucklos und eng. Die deckenhohen Bücherregale sind vollgestopft mit Fachliteratur über Traumabewältigung, Patientenüberwachung und verschiedene Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie. Rechts an der Pinnwand hängen handgeschriebene Dankesbriefe und eine Ansichtskarte mit einer einsamen Palme an einem weißen Sandstrand.

Sie wendet den Blick zum Fenster und sieht hinaus in den grauen Himmel. Südlondon im November. Über den Sozialbausilos, die sich wie ein Betondschungel von Denmark Hill über Elephant and Castle bis zur Themse erstrecken, thront der Bogen vom London Eye.

Die Videokamera blinkt. Dr. Greene nimmt zufrieden Platz, streicht sich über das weizenblonde Haar und sieht ihre Patientin an.

»Und jetzt erzählen Sie mir alles noch einmal. So genau wie möglich.«

Damit hat sie gerechnet, aber sie kann die Frustration nicht ganz verbergen. Sie unterdrückt ein Seufzen. »Muss das wirklich sein?«

»Ich weiß, wie anstrengend das für Sie ist. Aber das ist Teil der Therapie. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«

»Ohne Gefühle?«

»Konzentrieren Sie sich nur auf die Tatsachen. Den genauen Ablauf. Gefühle werden hochkommen, und das ist in Ordnung.«

Dr. Greene ist geduldig und bewertet nichts, und das mag sie an ihr. Genau wie ihren bibliothekarinnenhaften Kleidungsstil und den närrischen Katzenfimmel, den man bei einer schlanken, blonden Frau in den Dreißigern absolut nicht erwarten würde. Von einer anderen Therapeutin hätte sie sich möglicherweise einschüchtern lassen, aber bei der zurückhaltenden, verschrobenen Dr. Greene verspürt sie nur stille Unterstützung und das hingebungsvolle Interesse, ihre Patienten zu verstehen.

Sie blickt erschöpft in die Videokamera. Alles noch einmal zu erzählen, ist das Letzte, was sie will. Das macht sie jetzt seit Monaten: bei der Polizei, ihren Ärzten, dem Kriseninterventionszentrum, der Frau vom Mental Health Board, die darüber entscheiden musste, ob sie psychologische Betreuung benötigt, und nun – zum wiederholten Male – bei ihrer Therapeutin. Jedes Mal mit kleinen Abweichungen. Mitunter geht es eher um die medizinischen Aspekte: Welche Verletzungen hat sie erlitten, wozu wurde sie gezwungen? Dann wieder um den Täter: Wie hat er ausgesehen, wie hat er gesprochen? Aber immer taucht dieselbe Szene auf: der schöne Frühlingstag, das Sonnenlicht, das durch die Bäume fällt, die Gestalt im weißen Pullover, die den Hang hinaufkommt.

Wahrscheinlich könnte sie das alles mittlerweile im Schlaf wiedergeben, und genau das macht ihr Unterbewusstsein seit einiger Zeit: Jede Nacht denkt es sich in ihren Träumen unzählige neue Versionen aus. Manchmal tauchen darin Leute von früher auf, vergessene Gesichter von längst erwachsenen Sportskanonen aus der Schulzeit. Manchmal passiert es an einem Fantasieort – in einer futuristischen Landschaft, die womöglich aus irgendeinem Film stammt, den sie mal gesehen hat. Doch immer gibt es die Stelle, wo Wald und Wiese aufeinandertreffen, diesen Übergangsort, der sich wie eine sichere, helle Schutzzone jenseits der Bäume ausnimmt. Aber das ist eine Täuschung, denn die leuchtende Wiese bot keinen Schutz, und so schimmert dieser Ort an den Rändern ihres Bewusstseins und sucht sie jede Nacht im Schlaf heim.

Das rote Lämpchen an der Videokamera blinkt. Die Palme winkt einladend von ihrer Postkarte.

Sie räuspert sich und fängt noch einmal von vorn an.

 

Eine Stunde später geht sie den Denmark Hill hinunter zum Camberwell Green. Der Ablauf ist immer gleich. Dienstagnachmittag: mit dem Bus nach Camberwell fahren, die Sitzung bei Dr. Greene hinter sich bringen. Auf dem Rückweg vielleicht kurz in dem chinesischen Supermarkt vorbeischauen, bevor es mit dem Bus wieder nach Hause geht.

In letzter Zeit fühlt sie sich permanent schlapp und antriebslos. Das Haus länger als drei Stunden zu verlassen, stellt eine nicht zu bewältigende Überforderung dar. Die merkwürdige lähmende Platzangst, die sie in den ersten Wochen nach dem Vorfall gequält hat, droht jederzeit zurückzukommen. Manchmal ist die Sonne zu hell oder der Wind zu rau, manchmal sind die vielen Menschen auf der Straße zu laut und nicht zu verstehen. Warum sich also der Gefahr aussetzen, nach draußen zu gehen?

In ihrer Wohnung, in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett ist sie immer in Sicherheit.

Als sie an diesem Nachmittag vom Maudsley Hospital aufbricht und sich in die reale Welt begibt, erscheint ihr das heimische Bett besonders einladend.

Konzentriere dich nur auf die Tatsachen. Gefühle werden hochkommen, und das ist in Ordnung.

Das Problem ist nur, dass es keine Gefühle gibt. Seit Monaten schon empfindet sie überhaupt nichts mehr. Partys kommen und gehen, Freunde verloben sich, ihre Mutter redet am Telefon auf sie ein – und sie fühlt nichts. Nur eine sonderbare Distanz zur Welt, als wäre sie ein Geist, der sich durch das Land der echten Menschen bewegt: Sie beobachtet und registriert, wie die Lebenden ihr Leben leben, dann schwebt sie weiter. Sie verspürt nicht einmal Wut oder Trauer darüber, dass sie nichts empfindet. Da ist nur blanke emotionale Leere. Keine Gefühle, keine Reaktionen. Nichts.

Sie betritt den chinesischen Laden. Wang’s Supermarket. Sie kann die Etiketten auf den Waren nicht lesen, sich auch nicht mit den Angestellten auf Mandarin oder Kantonesisch unterhalten, aber es hat etwas Tröstliches, durch die Gänge mit den Lebensmitteln zu schlendern, die sie an ihre Kindheit erinnern. Massen von Instantnudelsuppen für dreißig Pence, eingeschweißt in glitzerndes Plastik, in den Geschmacksrichtungen Curry Prawn, Spicy Beef und Imperial Chicken. Wasserkastanien, Strohpilze und Lotuswurzeln in riesigen Dosen. Lebensmittel, die sie noch vor einem Jahr nie gekauft hätte, aber früher oft gegessen hat, in Gerichten aus dem Wok ihrer Mutter oder in einer Winterbrühe.

Warum sie diese Sachen jetzt kauft, weiß sie nicht. Sie lassen sich nicht einfacher zubereiten als ein Fertiggericht von Tesco. Doch auf dem Weg zu ihrem ersten Gesprächstermin im Maudsley Hospital war sie an Wang’s Supermarket vorbeigekommen, und es hatte dort genauso gerochen wie in den chinesischen Lebensmittelläden ihrer Kindheit.

Aus den Lautsprechern tönt ein chinesisches Lied, ein Ach und Weh, das sich anhört, als sänge eine selbstmordgefährdete Frau mittleren Alters von Liebe und Schmerz. Ihre Mutter hört vielleicht solche Musik, aber ihr bedeutet sie nichts, sondern weckt wie alles Chinesische, das ihr in ihrem Erwachsenenleben begegnet, ein unbehagliches Gefühl von Vertrautheit.

Sie nimmt vier Päckchen Instantnudeln aus dem Regal, eine Dose Babymais und eine große Flasche Sojasauce. Sie bezahlt mit einem Fünfpfundschein und tritt mit der chinesischen Musik im Ohr aus dem muffigen Laden hinaus auf die Straße.

Eine Schar Jungen in Schuluniform drängt sich lärmend an ihr vorbei. Sie sind zu fünft, schwarz, Teenager, vielleicht zwölf oder dreizehn. Sie beachtet sie nicht. Geht ungerührt weiter.

An der Bushaltestelle lungern ein paar andere Jungen herum. Es sind drei, alle weiß, und sie beobachten zwei Mädchen auf dem Bürgersteig. Machen kichernd eine Bemerkung, die sie nicht verstehen kann.

Beim Einsteigen in den Bus streift sie einen der Jungen mit der Schulter. Er dreht sich um und sieht sie an. Sie kann den Ausdruck in seinen stahlblauen Augen nicht deuten – pubertäre Geilheit, Wut, vielleicht ist er auch einfach nur genervt. Aber sein Blick durchbohrt sie auf fast vertraute Weise, und ihr dreht sich der Magen um. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Sie wankt die Treppe hinauf, setzt sich hin, kämpft gegen den aufwallenden Brechreiz. Die Jungen trotten die Straße hinunter. Sie blickt ihnen nach. Sie weiß, dass er nicht der Täter ist, nur irgendein Jugendlicher, der ihm entfernt ähnlich sieht.

All das ist so unglaublich demütigend. Dass selbst die flüchtige Begegnung mit einem Schüler sie so aus der Fassung bringt.

Übelkeit steigt wieder in ihr auf, aber sie ringt sie nieder, hält sie auf einem erträglichen Level. Sie wird sich nicht übergeben. Ist nur unruhig. Sie zieht die Knie an die Brust, schlingt die Arme um ihre Beine, macht sich ganz klein und blickt, als der Bus anfährt, aus dem Fenster.

 

*

Einen Augenblick lang weiß er nicht mehr, wie er nach Hause gekommen ist. Er trägt noch die Klamotten von gestern Abend, ihm dröhnt der Schädel. Wahrscheinlich auf der Couch eingepennt. Später Vormittag, die Sonne scheint hell durchs Fenster, zu hell. Irgendwo zwitschern Vögel.

Sein Dad ist unterwegs, sein Bruder auch.

Dann fällt es ihm wieder ein: Noch vor ein paar Stunden hat er mit Gerry und Donal in der dunklen Gasse gestanden und billigen Whiskey aus der Flasche getrunken. Sie hatten Pillen eingeworfen. Und was geraucht. Die Jungs und er waren in irgendeinen Pub spaziert, aber der Wirt hatte sie rausgeschmissen. Dann waren sie zu Gerry rübergegangen und hatten einen Porno geguckt.

Den kannte er schon. Die Stelle, wo sie sich vorbeugt, um dem Typen einen zu blasen, und man alles sieht, alles. Das klaffende rosa Loch zwischen ihren Beinen, so abgefahren und fremd. Wie das Maul eines Aliens in einem Science-Fiction-Film, aber bei dem hier waren Titten dabei, riesige Titten, so riesig, dass du einen Ständer kriegst, wenn du nur dran denkst.

Er denkt an die Titten, und schon regt sich was bei ihm.

Noch zu früh, denkt er. Auch wenn er den Wohnwagen für sich allein hat.

Er sieht sich um. Dad und Michael sind auf alle Fälle weg. Egal, heb’s dir für später auf. Außerdem hat er rasende Kopfschmerzen und tierisch Kohldampf.

Er torkelt verkatert in die enge Küche. Macht den Kühlschrank auf, die Schränke, findet einen Rest Kekse.

Kekse. Scheißkekse zum Frühstück.

Auf der Arbeitsplatte steht ein halb voller Becher Wasser. Er trinkt es, schlingt die Kekse runter und lehnt sich gegen die Platte. Durchsucht noch mal die Schränke, aber da ist nichts, nur schimmliges Brot.

Sein Magen gluckst, er ist hungriger als vorher.

Was hat Dad gesagt, wie lange er weg ist? Vier Tage, oder?

Er setzt sich auf die Couch, verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Vielleicht wirken die Pillen noch. Vielleicht ist er noch drauf und hält es die nächsten paar Stunden ohne Essen aus. Wäre nicht schlecht.

O Mann, was für ein geiler Abend. Das Gesicht vom Wirt, als sie sich mit lauter Chipstüten unterm Arm durch die Hintertür dünngemacht haben. Das Brennen des Whiskeys in seiner Kehle, die wirbelnde Nachtluft, als er das E eingeworfen hat.

Er muss grinsen bei dem Gedanken, wünscht sich, einer von den Jungs wäre jetzt bei ihm. Aber er kann sich nicht erinnern, wo sie abgeblieben sind oder wie er von Gerry nach Hause gekommen ist.

Stille. Sonnenschein. Ein Kieselstein fliegt gegen den Wohnwagen.

Das ist der kleine Spacko von nebenan.

Tatsächlich zerschneidet eine Kinderstimme den Vormittag. Seine Mutter ruft ihm aus dem Wohnwagen irgendein Schimpfwort zu. Der nächste Kiesel landet am Wohnwagen.

Er presst die Zähne zusammen und merkt, dass sein Kiefer noch von letzter Nacht wehtut.

Wieder ein Kiesel. Pling.

Er stürzt gereizt aus dem Wohnwagen, die Sonne sticht ihm in den Augen, und er schnauzt den Kleinen an.

»Hör sofort damit auf!«

Der Kleine kichert und läuft auf ihn zu. Braune Locken und dämliche, weit auseinanderstehende Augen, die ihn einfach nur auslachen. Als ob das ein blödes Spiel wäre.

Er macht ein böses Gesicht, hebt die Hand, als würde er gleich zuschlagen, und diesmal nimmt der Kleine kreischend Reißaus.

Schnaubend blinzelt er in die zu grelle Sonne. Es ist wärmer geworden. Zehn Wohnwagen leuchten weiß auf dem grünen und braunen Feld, darüber der Frühlingshimmel, der an diesem Aprilvormittag knackig und klar über dem Horizont thront.

In diesem Moment spürt er seinen Kater kaum noch, und er riecht das gemähte Gras und die umgegrabene Erde. Schöne Gerüche, aber darunter mischt sich der Dieselgestank von irgendeinem Wagen auf dem Nachbarfeld. Die Sonne scheint ihm auf die Lider, und er verharrt ein, zwei Minuten, mit geschlossenen Augen, nur er und das Feld. Bald ist Sommer, und mit ihm kommen die langen, sonnigen Tage, an denen man im T-Shirt rausgehen kann und unter den entspannten Touristinnen leichte Opfer findet. Warme Abende, Mädchen in dünnen Kleidern, Mädchen, die angefasst werden wollen.

Eine Kinderstimme reißt ihn aus seinen Gedanken.

»Dein Dad ist nach Armagh gefahren.«

Er macht die Augen auf. »Weiß ich.«

Der Kleine lehnt ein paar Meter weiter an der Ecke des Wohnwagens und beobachtet ihn.

Mann, du kannst hier nicht mal pissen, ohne dass es gleich jeder mitkriegt.

Apropos: Zeit zum Pinkeln. Er dreht sich um und steuert auf den Rand des Feldes zu.

»Wo willst du hin?«

Er antwortet nicht. Geht einfach weiter, spürt den Blick des Jungen im Rücken. Nach zwanzig Metern erreicht er den höchsten Punkt der Hochebene und zieht den Reißverschluss runter.

Der Wind schiebt jetzt Wolken über den Horizont, und Belfast breitet sich vor ihm aus, eine Masse aus grauen und braunen Häusern, die sich aus dem hässlichen Knäuel der Innenstadt erhebt und sich weiter bis zum Meer zieht.

Zwischen ihm und der Stadt windet sich unterhalb von Wohnsiedlungen und Feldern das Tal. Das Rauschen des Bachs, angefüllt vom Frühlingsregen, dringt zu ihm herauf, als er die letzten Tropfen abschüttelt.

Er atmet die Frühlingsluft ein. Eine coolere Aussicht beim Schiffen gibt’s auf der ganzen Welt nicht.

 

*

 

»Der West Highland Way. Das ist der letzte.«

Sie stößt die Pinnnadel in die Karte, mitten hinein in die Berge irgendwo nördlich von Glasgow, und setzt sich zufrieden hin.

»Ach, nur fünf Fernwanderwege?«, sagt Melissa mit einem Hauch von Sarkasmus.

»Fünf«, sagt sie und nickt. »Die schaffe ich. Irgendwann im Leben.«

»Heißt das, du willst noch wandern gehen, wenn du fünfzig bist?«

Sie lacht. O Gott, fünfzig. »Ich hoffe, mit fünfundzwanzig habe ich sie alle abgehakt. Spätestens mit dreißig.«

Sie ist achtzehn und sitzt in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim auf dem Bett. Melissa lässt sich neben sie fallen, und ihre braunen Haare breiten sich auf der dunkelgrünen Tagesdecke aus. Einen Augenblick lang betrachten sie schweigend die Europakarte mit den bunten Pinnnadeln.

»Das ist doch verrückt, Viv. Willst du die alle wirklich ganz allein gehen?«

Sie zuckt die Achseln. »Hab ich noch nicht drüber nachgedacht, aber warum nicht?«

Geht es beim Wandern denn nicht ums Alleinsein? Thoreau lebte einsam in einer Hütte am Walden Pond. Walt Whitman saß unter einem Baum und schwärmte von Grashalmen, während sein Bart im Lauf der Jahre immer länger und zotteliger wurde. Edward Abbey fuhr im amerikanischen Südwesten mit dem Floß allein durch einen riesigen, steilen Canyon, und es gab nur ihn und die atemberaubende Natur.

»Du hast sie nicht alle«, sagt Melissa und schüttelt den Kopf. »Ich wäre schon zufrieden, wenn ich Danny Brookes dazu bringen könnte, sich mit mir auf einen Kaffee zu verabreden.«

»Echt? Stehst du immer noch auf ihn?«

»Na ja, solange kein Besserer vorbeikommt, in den ich mich verlieben kann.«

Sie lächelt in sich hinein. Zurzeit gibt es auf dem ganzen Campus nicht einen Jungen, der sie interessiert. Vielleicht sieht sie ab und zu mal einen, der nachdenklich am Rand steht und sich von den anderen abhebt. Aber im Moment hat sie für Jungs mit ihren blöden Witzen und ihrem Drang, im Seminar den Macker zu markieren, nicht viel übrig.

Melissa schnattert einfach weiter. »Charlie Kim hat im BWL-Kurs ein paarmal zu mir rübergeguckt.«

»Ist der denn was für dich?«

»Ich find ihn irgendwie interessant. Und ich hab noch nie einen Asiaten geküsst.«

»Ich auch nicht!«

Beide fangen an zu kichern.

»Würde deinen Eltern das nicht gefallen?«, fragt Melissa.

»Was? Dass ich einen Asiaten küsse? Ganz ehrlich, ich glaube, meinen Eltern wäre es am liebsten, wenn ich vorerst überhaupt keinen Jungen küsse.«

»Du Glückliche.« Melissa streckt die Hand aus und streicht ihrer Freundin übers Haar. »Meine Mutter macht ständig diese peinlichen Bemerkungen. Hast du schon einen netten Jungen kennengelernt? Gibt es jemanden in deinem Leben? Ich meine, wir sind erst seit vier Monaten am College.«

»Ich bin froh, dass meine Mutter mich nicht mit solchen Fragen nervt.«

Wieder Schweigen. Es ist Freitagabend, und auf dem Flur versammeln sich ein paar Studenten, um zur lautesten Party mit dem meisten Alkohol zu ziehen. Die Jungs grölen, das Mädchen im Zimmer nebenan schreit, sie sollen leise sein. Irgendjemand hat seine Anlage voll aufgedreht, und Oasis dröhnt durch die Wände.

»Du hast wirklich tolle Haare«, sagt Melissa. Sie fährt mit den Fingern durch Vivians dicke schwarze Mähne.

»Die sind doch nichts Besonderes. Die wachsen einfach so.«

»Ja, aber guck mal, was bei mir wächst!« Melissa zeigt auf ihr dünnes, kraftloses Haar. »Wenn ich solche Haare hätte …« Sie lässt den Satz in der Luft hängen und streicht weiter über Vivians lange schwarze Strähnen.

»Was dann?«, fragt sie neugierig. »Was würdest du tun, wenn du meine Haare hättest?«

»Ich würde … ich würde … keine Ahnung, ich würde mir die tollsten Frisuren machen. Jeden Tag eine andere!«

»Viel zu aufwendig«, sagt sie lachend.

Aber Melissa springt aufgeregt vom Bett. »Komm, wir probieren es aus! Hast du Haarspray und Klemmen?« Sie sieht hinüber zur Kommode, aber die Auswahl an Stylingprodukten und Accessoires ist spärlich.

»Macht nichts. Mir fällt schon etwas ein. Ich zaubere dir eine umwerfende Frisur.« Sie kniet sich aufs Bett und bürstet ihrer Freundin das Haar. »Du kannst sie später zur Sigma-Chi-Party tragen.«

Und einen Augenblick lang gefällt ihr diese Vorstellung. Sie ist nicht mehr das unsichere Mädchen, das erst seit zwei Jahren Kontaktlinsen trägt. Und vielleicht trifft sie dort einen netten, stillen Jungen, der nicht nur Sport im Kopf hat. Einen, der ihr Herz höherschlagen lässt.

Ihre Kopfhaut ziept unter Melissas kräftigen Bürstenstrichen, und sie zuckt zusammen. Aber als die Freundin ihr mit den Händen durchs Haar fährt, es teils zu Zöpfen flicht, teils mit Gummis hochbindet, entspannt sie sich. Sie harrt geduldig aus und betrachtet die Karte an der Wand. Der West Highland Way. Der Jakobsweg. Der GR15. Wege, die sich über Berge und durch Täler schlängeln, irgendwo am anderen Ende der Welt.

 

Sie ist acht, als sie das Buch zum ersten Mal bei Barnes and Nobles sieht. In der Edgewood Hills Mall in New Jersey. Irische Märchen und Sagen. Auf dem Einband sind ein Steinkreis, ein grüner Berghang und ein Vollmond zu sehen. Ein Weg im Nebel. Ein einsamer Wanderer, der im Mondlicht am Steinkreis vorübergeht.

»Mommy«, sagt sie. »Kaufst du mir das? Bitte, bitte! Es kostet nur zwei Dollar.«

Und weil es ein Buch ist und außerdem noch billig, kann Mommy natürlich nicht Nein sagen. Bücher sind gut für dich. Davon wirst du schlau.

Sie lächelt, als sie in dem Buch blättert, sich zuerst die Bilder ansieht, bevor sie die Geschichten liest. Stell dir vor, du wärest der Mensch auf dem Einband und würdest auf diesem Weg wandern. Irgendwo in Irland. Ganz allein. Das Mondlicht silbern auf den großen Steinen. Wäre das nicht himmlisch?

 

*

 

»Dein Bruder Michael bringt mich noch ins Grab.« Mam weint, wie meistens, und er möchte ihr eine runterhauen, damit sie endlich still ist. So wie Dad es immer macht. »Kaum ist er raus aus dem Gefängnis, sitzt er wieder drin. Und er ist noch so jung. Ich bin jedes Mal ganz krank vor Sorge, wenn ich an ihn denke.«

Er sagt nichts dazu. Sie regt sich ständig über Michael auf. Peinlich, dieses ewige Geflenne.

Er guckt aus dem Fenster, auf die Felder vorm Wohnwagen. Sie haben sich hier in Cork einen guten Platz ausgesucht. Nur wenige Häuser in der Nähe. Nur wenige glotzende Sesshafte. Jede Menge Platz zum Herumtoben für ihn und die anderen Traveller-Jungs.

»Ich geh raus«, sagt er. »Nur kurz. Solange es noch hell ist.«

»Sei brav, Johnny«, sagt Mam und will ihm die Wange streicheln.

Er zieht den Kopf weg. Er ist doch kein Baby mehr. Sie soll ihn nicht so anfassen. Was würden die Jungs dazu sagen?

 

*

 

In der zweiten Klasse, sie ist sechs, kommt eine Logopädin an die Schule und redet mit allen Kindern, die merkwürdig sprechen. Darunter auch sie.

Ein Kind nach dem anderen geht in das Zimmer mit der Sprechtante. Sie hat kurzes Haar und heißt Jason. Komisch, dass eine Frau heißt wie ein Mann und auch wie einer aussieht.

»Und wie heißt du?«

»Vivian.«

»Das ist aber ein hübscher Name.«

Die Sprechtante bittet sie, ihr ein paar Sätze vorzulesen. Dann zeigt sie ihr verschiedene Bilder, und sie soll sagen, was darauf zu sehen ist. Rabe, Rot, Lama, Ball, Giraffe, Salat.

Dann soll sie die Wörter wiederholen, ganz langsam diesmal.

Sie sagt alle noch einmal auf. Raaaaaa-be. Rrrrr-ot. Laa-ma.

Die Sprechtante nickt.

»Prima«, sagt sie. »Du kannst sehr gut vorlesen.«

 

Zum nächsten Besuch bei der Sprechtante ist Mommy mitgekommen. Auch Mommy muss ein paar Wörter sagen. Dieselben. Rabe. Rot. Lama.

»Ah«, sagt die Sprechtante. »Das hast du von deiner Mutter.«

Mommy lacht. »Wirklich?«, fragt sie.

Die Sprechlehrerin sagt, sie muss am r und am l arbeiten. Und vielleicht ein kleines bisschen am s.

Im Moment spricht sie das r nicht richtig aus.

»Das liegt daran, dass deine Mutter aus einem anderen Land kommt. Darum spricht sie englische Wörter anders aus.«

Ihr ist nie aufgefallen, dass sie oder ihre Mutter anders sprechen als die Menschen um sie herum.

»Wir treffen uns ab jetzt jeden Dienstag und machen gemeinsam Spiele, um dein r und dein l zu verbessern, und schon bald hast du ein schönes, rundes amerikanisches r. Hört sich das gut an?«

Sie nickt. Ja, das hört sich gut an, aber sie stellt fest, dass außer ihr nur die Transusen (die aus der schwächsten Lesegruppe) zu der Sprechtante müssen. Dazu Priya, die Inderin ist, und Mo, die von den anderen gehänselt wird, weil ihre große Schwester ein Kopftuch trägt.

Sie findet es ein bisschen peinlich, mit den Transusen zusammen zu sein. Aber die Sprechtante ist nett.

Jede Woche gibt ihr die Sprechtante Hausaufgaben auf. Merkwürdige Aufgaben, zum Beispiel muss sie sich einen Pfefferminzbonbon auf die Zungenspitze legen und die Zunge dann fünf Mal zurückziehen. Das soll bewirken, dass ihre rs nicht mehr so flach klingen.

Oder sie muss die Zungenspitze an die Schneidezähne legen und laut l sagen. l-l-l.

Jeden Dienstagnachmittag heißt es r-r-r und l-l-l, fünf Monate lang.

Ihre Zunge wird müde dabei, aber sie gibt nicht auf. Zieht sie zurrrück. Berührt mit der Spitze den Gaumen.

Und dann, an einem Frühlingstag, sagt die Sprechtante, dass sie nicht mehr zu kommen braucht.

»Dein r klingt wunderschön! Du hast es geschafft!« Sie überreicht ihr eine Urkunde mit aufgedruckter Schleife, einer blauen für den ersten Platz, und dazu ein Bild mit einem großen r und einem Raben, das sie rot ausmalen darf.

»Und jetzt sag es noch einmal für mich: Rachel der Rabe ist rot.«

»Rachel der Rabe ist rot.«

Die Sprechtante klatscht in die Hände. »Du kannst sehr stolz auf dich sein!« Sie nimmt sie in die Arme.

Sie sieht die Sprechtante nie wieder. Der Sprechunterricht am Dienstagnachmittag mit den Transusen ist zu Ende. Sie sitzt wieder in ihrer Klasse, und ihre rs hören sich anders an. Wie die rs von allen anderen. Ihre Zunge hat vergessen, wie es war, flach in ihrem Mund zu liegen, sie zieht sich ganz von selbst zurück.

Zurrrückziehen. Ab jetzt macht sie nur noch wunderschöne runde rs, genau so, wie sie klingen sollen.

 

*

 

Er ist drei, und dies ist seine früheste Erinnerung: Musik. Gelächter. Knisterndes Lagerfeuer. Nachts auf einer Wiese. Er blickt hinauf zu den Sternen. Zittert vor Kälte. Atmet weiße Wolken in die Luft. Spielt im Matsch zwischen den Wohnwagen Verstecken. Kichert mit Claire, seiner kleinen Schwester. Michael ringt ihn zu Boden, dann zeigt er ihm, wie man richtig zuschlägt. Grandad wirft ihn hoch, sein Ring glänzt im Feuerschein. Wenn es nachts zu kalt wird, kuschelt er sich an Mam.

Der Geruch des Whiskeys, der herumgereicht wird. Lachende Erwachsene. Das Feuer verglüht.

Später im Wohnwagen schreit Dad Mam an, und Mam schreit zurück. Wenn sie sich streiten, verkriecht er sich unterm Tisch. Dad schlägt Mam, immer wieder. Dad schläft ein. Mam sitzt zusammengekauert in der Ecke und weint.

Sie blickt zu ihm hoch, ihr Gesicht ist dunkel und nass. Er krabbelt zu ihr hin. »Komm, Johnny. Ab ins Bett mit dir.«

 

*

 

Jeden Sonntagmorgen liegt sie bäuchlings auf dem Küchenfußboden und liest Zeitung. Ihre Haut klebt an den Fliesen, besonders im Sommer, weil ihre Mutter aus Sparsamkeit darauf verzichtet, die Klimaanlage anzustellen.

Aber das macht ihr nichts aus. Die Sonntagszeitung ist ein großer, ziegeldicker Packen aus dünnem Papier. Sie wird bald dreizehn, und sie kann stundenlang darin lesen, während Serena Klavier übt. Mit aufgestützten Ellbogen und angewinkelten, schwingenden Beinen blättert sie durch die verschiedenen Ressorts.

Mom geht um sie herum und spült das Frühstücksgeschirr. Dad liest immer nur den öden Wirtschaftsteil. Für ihr Fach Zeitgeschehen am Montagmorgen muss sie einen Artikel aus dem Hauptteil heraussuchen und vor der Klasse darüber sprechen. Einmal hatte sie sich für einen Bericht über eine Frau entschieden, die man tot aus dem Passaic River gezogen hatte. »Nackte misshandelte Frauenleiche entdeckt.« Die Jungs hatten gekichert, und der Lehrer schrie sie an, weil das Thema so gewalttätig war. Offenbar sollte sie lieber über Friedensverhandlungen, eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs oder etwas ähnlich Langweiliges berichten.

Den Reiseteil verschlingt sie von vorn bis hinten. Ferienziele, Kreuzfahrt-Sonderangebote in die Karibik, Bahnrouten durchs norwegische Bergland – alles fasziniert sie. So viele Fragen geistern ihr durch den Kopf: Wie fliegt man in die Türkei? Worin unterscheiden sich die vielen karibischen Inseln? Wie lange braucht man, um den Appalachian Trail zu wandern?

Die Zeitung berichtet über North Jersey, und manchmal schreibt jemand über eine Ausstellung oder ein Theaterstück. Dann sieht sie nach, in welchem Ort sich das Museum oder das Theater befindet, breitet einen Faltplan von New Jersey auf dem Fußboden aus und sucht ihn.

Die Karte zieht sie magisch an, sie könnte sich den ganzen Vormittag hineinvertiefen. An den Falzkanten ist das Papier brüchig und ausgefranst, und sie muss sich vorsehen, dass die Karte nicht auseinanderreißt. Die Orte liegen alle dicht beieinander, manche sind nur durch einen Fluss oder eine große Verkehrsstraße getrennt. Sie versucht herauszufinden, wie man von Edgewood zu dem Museum oder dem Theater kommt, folgt mit dem Finger den bekannten Straßen und dann dieser oder jener Autobahn, bis sie am Ziel ist.

Sie weiß, dass ihre Eltern nie mit ihr dorthin fahren werden. Sie haben zu viel mit ihrer Reinigung zu tun und nicht genug Geld für solche Ausflüge. Aber wenn sie ihrem Wunsch doch einmal nachgäben, könnte sie ihnen sofort den Weg erklären. Zu wissen, wie man ans Ziel kommt, ist fast so schön wie tatsächlich hinzufahren. Das erfüllt sie mit stiller Zufriedenheit.

Oft sieht sie sich auf der Karte die Parks an. Die State Parks, riesige, grün eingefärbte Flächen, die Regionalparks, die Flüsse und Seen. Versucht die Punkte auf der Landkarte mit den Orten abzugleichen, an die sie sich von Ausflügen mit ihren Eltern erinnert. Aber jede Karte geht weit über die ihr bekannte Welt hinaus. Und je länger sie hinsieht, desto mehr staunt sie darüber, wie viele Städte es in ihrem Bundesstaat gibt, wie viele Seen und dass Autobahnen über die Grenzen von New Jersey nach Pennsylvania, Delaware und New York führen. Und das ist nur ein winziger Teil der USA. Sie denkt an die vielen Straßen, die alle Bundesstaaten, all die Parks, Seen und Gemeinden miteinander verbinden. So viele Orte, die sie nie im Leben sehen wird.

Nachts kann sie oft nicht einschlafen, weil sie an die Karten und die Orte hinter den Grenzen denkt. Wenn du einmal durchs ganze Land fährst, kommst du an die Plätze, über die John Steinbeck geschrieben hat. Wenn du durchs halbe Land fährst, kommst du nach Kansas, wo Dorothy vom Wirbelsturm nach Oz getragen wurde. Und ganz in der Nähe, in New York City, ist Holden Caulfield nachts zu Fuß einundvierzig Blocks in sein Hotel zurückgelaufen.

So viel gibt es zu entdecken, wenn sie erst älter ist. Sie liegt in ihrem schmalen Bett zwischen Wand und Klavier und stellt sich vor, wie sie über die Straßen auf der Karte fährt. Straßen, die überallhin und noch weiter führen. Der Schlaf kann warten, sie ist zu sehr mit Träumen beschäftigt. Sie saust eine Autobahn hinunter, und massenweise Ortschaften rauschen vorbei. Sie steht auf einem Bergrücken wie in den Fernsehsendungen über Pioniere, und unter ihr breitet sich das Tal aus.

 

*

 

Er geht mit Mam zur Polizeiwache von Kilkenny, oberhalb der Kathedrale. Frauen mit Einkäufen eilen vorbei. Ein paar alte Männer sitzen auf Bänken.

Mam marschiert im Stechschritt auf den Eingang zu. Sie wollte ihn bei der Hand nehmen, aber er trödelt hinterher. So kann er die Leute besser beobachten.

Sie drückt die blaue Tür auf und dreht sich ungeduldig zu ihm um.

Drinnen brennt helles Licht, und es ist gemütlich warm. Aber sie fühlen sich hier nicht willkommen. Hinter dem Tresen sitzen ein paar Männer. Michael nennt sie Schweine. Sie sehen ihn und Mam grimmig an. Steif und fies wirken sie in ihren Uniformen.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragt einer. Er ist ungefähr so alt wie Dad, dunkles Haar mit grauen Strähnen.

Mam zögert. Dann redet sie. »Ich, äh … Ich suche meinen Sohn. Sie haben meinen Sohn hier.« Ihre Hände zittern, und sie klammert sich an ihr rotes Taschentuch.

Das Schweinegesicht verändert seinen Ausdruck – nicht zum Guten. Er grinst irgendwie, sieht zu den beiden anderen Schweinen rüber und wendet sich wieder Mam zu.

»Und wie kommen Sie darauf?«

»Sie … Sie haben ihn in dem Sportgeschäft in der Ormonde Street erwischt. Er heißt Michael Sweeney. Er ist vierzehn, braune Haare. So groß ungefähr.«

Sie hält sich die Hand über den Kopf.

»Mi-chael Swee-ney.« Der Polizist spricht den Namen absichtlich langsam aus. Er fragt seine Kollegen. »Haben wir einen Jungen hier, auf den die Beschreibung passt, Sergeant?«

»Michael Sweeney«, sagt der andere. »Mal überlegen …«

Er merkt, dass sie Mam verarschen. Sie halten sie hin, um sie zu verunsichern. Und es funktioniert. Mam wickelt sich hektisch das Taschentuch um den Finger.

»Bitte, Sir, sagen Sie mir einfach, ob er hier ist.«

»Dann sind Sie wohl Mrs Sweeney?«

»Ja, ja, die bin ich.«

»Und der da ist Michael Sweeneys kleiner Bruder?«

Das Schwein dreht sich zu ihm und starrt ihn an. Dieser Blick gefällt ihm nicht.

»Ja, Ja. Das ist mein Johnny. Er ist erst acht.«

Er starrt zurück, versucht, kalt und gemein zu wirken.

»Erst acht?« Der Polizist nickt den anderen zu. »Sagen Sie, Mrs Sweeney … Sind Sie wohnhaft in Kilkenny?«

»Ich … wir …« Mam verstummt nervös. »Wir leben zurzeit hier.«

»Zurzeit … und das heißt?«

»Wir sind vor ein paar Wochen hergekommen.«

»Und das heißt, dass Sie Kilkenny bald wieder verlassen?«

»Nein, also, äh … wir wissen es noch nicht.«

»Ah, dann reisen Sie herum?«

»Ja, das stimmt. Wir … wir leben gern so.«

»Wir – leben – gern – so«, wiederholt das Schwein genüsslich. »Verraten Sie mir noch eins, Mrs Sweeney … Gehört zu diesem Leben, das Sie so gern führen, auch, dass Ihr Sohn rechtschaffene, fleißige Leute bestiehlt? Buffer, wie Ihresgleichen zu sagen pflegt? Leute, die, im Gegensatz zu Ihnen, sesshaft sind?«

Mam weiß nicht, was sie antworten soll. Wenn sie jetzt wieder anfängt zu heulen, hier, direkt vor den Polizisten, stirbt er vor Scham.

»Antworten Sie! Finden Sie es richtig, dass Ihr Sohn in unseren Geschäften stiehlt, weil er sich langweilt und ungebildet ist? Weil Sie nicht in der Lage sind, Ihre zwölf Kinder mit der nötigen Strenge zu erziehen? Finden Sie es richtig, dass wir pausenlos unter Kesselflickerpack wie Ihresgleichen leiden müssen?«

Mam zittert.

»Mrs Sweeney«, herrscht das Schwein sie an. »Finden Sie das richtig?«

Mams Atem wird ruhiger, und sie findet ihre Stimme wieder.

»Nein, nein, natürlich nicht. Nein, das ist nicht richtig! Ich will nicht, dass mein Sohn das tut, ich will, dass er anständig ist, ich weiß auch nicht, warum er solche Sachen macht. Es tut mir leid, und ich entschuldige mich aufrichtig für ihn.«

Irgendwie kotzt ihn Mams Verhalten an. Er will raus, vergessen, dass sie hier ist. Andere buckeln nicht so vor den Schweinen.

Das Schwein schnaubt verächtlich. »Ihre Entschuldigungen nützen nichts. Wir sind diejenigen, die sich mit Kriminellen wie Ihrem Sohn befassen müssen. Seit Sie in die Stadt gekommen sind, ist er der Schrecken aller Einzelhändler. Er hat auch in anderen Läden gestohlen und Handtaschen geklaut. Wir sind froh, dass wir ihn endlich geschnappt haben.«

Mam macht ein entsetztes Gesicht, aber er hat es die ganze Zeit gewusst. Seit Michael ein paarmal atemlos nach Hause kam, mit der Beute in einem schwarzen Müllsack. Geldbeutel, Handys, Schminkzeug, Schals und all das Zeug, was Frauen so herumschleppen.

»Das geht kinderleicht«, hatte Michael ihm erklärt. »Wenn du den Bogen raushast. Guck nach Frauen mit Kinderwagen. Die können dir nicht hinterherrennen. Oder alte Frauen. Wenn ein Mann dabei ist, Finger weg. Zu riskant.«

Wenn Münzen oder Süßigkeiten unter der Beute waren, gab Michael sie ihm. »Bis du selber welche klauen kannst«, sagte er dann mit einem Augenzwinkern.

Die Scheine steckte Michael selber ein. Die Handys machte er auf, nahm die SIM-Karten raus und warf sie mit den Kreditkarten weg. Alles andere war noch zu gebrauchen: Handys, Geldbeutel, Schlüsselringe, Schals, sogar das Schminkzeug. Michael wischte alles ab, warf die Beute zurück in den schwarzen Müllsack und knotete ihn fest zu.

»Was machst du damit?«, hatte er ihn gefragt.

Michael zwinkerte ihm zu. »Das verrat ich dir, wenn du alt genug bist.«

Natürlich hat er Dad und Mam nichts davon gesagt, und jetzt steht Mam betroffen und fassungslos hier auf der Polizeiwache.

»Mein Michael?«, fragt sie mit Tränen in den Augen. »Er war immer ein schwieriges Kind, aber kriminell?«

»Machen Sie endlich die Augen auf, Mrs Sweeney. Ihr Sohn ist nicht schwierig. Er ist ein ausgemachter Dieb. Wir haben ihn dabei erwischt, als er zwei Paar teure Turnschuhe in seinem Mantel verschwinden ließ. Von wem hat Ihr Sohn das wohl gelernt?«

»Nicht von mir! Ich gehe mit ihnen zur Kirche. Ich bringe ihnen bei, gut zu sein.«

»Na, das hat ja offensichtlich nicht geklappt. Vielleicht wäre es das Beste für ihn, wenn wir ihm eine kleine Jugendstrafe aufbrummen.«

Mam sieht aus, als kriegte sie keine Luft mehr. Er will sie weiter anstarren, aber er hält es nicht aus. »Mein Michael ins Gefängnis? Nein, bitte nicht, Sir …« Jetzt fleht sie ihn sogar an.

Das Schwein guckt ungerührt. »Jugendgefängnis ist das Beste für Ihren Sohn, Mrs Sweeney.«

»Nein, das würde er nicht überleben. Das wird schrecklich für ihn.«

»Ach, jetzt übertreiben Sie mal nicht. Der kleine Scheißer braucht eine Lektion.«

»Bitte, geben Sie uns noch eine Chance. Schicken Sie ihn nicht weg. Ich werd es ihm eintrichtern. Ich bring ihm bei, ein besserer Mensch zu sein.«

»Sie wollen ihm das beibringen? Ich glaube, Sie hatten Ihre Chance, Mrs Sweeney. Wenn Sie aufhören würden, ständig herumzuziehen, und sich stattdessen eine richtige Arbeit suchen und ihre Kinder zur Schule schicken …«

Er hasst diesen Polizisten wie die Pest. Konnte ihn von Anfang an nicht ausstehen, aber jetzt kocht eine Mordswut in ihm hoch. Er ballt die Fäuste, so wie Michael es ihm beigebracht hat.

»Für … für wie lange wollen Sie ihn wegschicken?«

»Darüber entscheidet das Gericht. Es gibt natürlich Zeugen, und bei so einem Delikt … ein paar Monate vielleicht? Es ist sinnvoll, sie frühzeitig zu bestrafen. Zur Abschreckung, damit sie später nichts Schlimmeres anstellen.«

»Bitte, glauben Sie mir. Er wird so etwas nie wieder tun. Das verspreche ich.«

Das Schwein lacht nur. Die beiden hinter dem Tresen lachen mit.

»Sie haben ja keine Ahnung, Mrs Sweeney.«

Mam verstummt.

»Die Strafanstalt befindet sich nördlich von Dublin. Sie dürfen ihn einmal wöchentlich besuchen. Vielleicht hält Sie das ja davon ab, ständig weiterzuziehen. Sehen Sie es einfach positiv: Dort bekommt er wenigstens drei anständige Mahlzeiten am Tag. Wahrscheinlich mehr, als er, äh, zu Hause kriegt.«

Er sieht Mam durchdringend an, und sie erstarrt.

Die zwei anderen Schweine sortieren grinsend die Papiere auf ihrem Schreibtisch.

»Kommen Sie, Mrs Sweeney. Ich bringe Sie kurz zu Ihrem Sohn. Es hat keinen Zweck, um ihn zu weinen, er ist auf die schiefe Bahn geraten. Jetzt müssen wir abwarten, ob wir ihn wieder auf den rechten Weg bringen können.«

Der Polizist geht links zu einer Tür. Schließt sie mit einem klimpernden Schlüsselbund auf und sieht sie ungeduldig an. Mam bedeutet ihm, ihr zu folgen. Aber bevor er durch die Tür geht, wirft er dem Polizisten noch einen kalten, hasserfüllten Blick zu. Er wünscht sich, das Schwein würde auf der Stelle tot umfallen.

 

*

 

Sie etikettiert gereinigte Kleidungsstücke und tackert Rechnungen an Plastikhüllen, als sie die große Neuigkeit erfährt.

Es ist April, sie ist dreizehn und muss täglich zwei Stunden in der Reinigung ihrer Eltern arbeiten. Danach wird eine Stunde Klavier geübt, dann sind die Hausaufgaben dran. Dad sitzt hinten und macht die Buchhaltung. Mom ist schon die ganze Woche lang ganz hibbelig. Die Elitehochschulen verschicken gerade ihre Zulassungsbescheide, und Mom läuft jeden Tag zum Briefkasten, sobald der Postbote da war.

Serena hat schon Zusagen für Yale, Princeton, Georgetown, Cornell, von der UPenn und der Rutgers University (dem sicheren Notnagel). Sie hat sich an insgesamt zehn Unis beworben, und die einzige, von der sie noch nichts gehört hat, ist Harvard.

Seit sie denken kann, spricht Mom schon von Harvard. Im vergangenen Sommer sind sie eine Woche lang durch New England gefahren und haben die großen Ivy-League-Unis besichtigt. Das war die erste Urlaubsreise seit Jahren. Sie fand es großartig, auf den großen grünen Rasenflächen des Universitätsgeländes herumzuspazieren, war fasziniert von den ehrwürdigen Gebäuden mit Spitzbögen und weinberankten Fassaden. Alles kam ihr so ruhig und friedlich vor. So alt. Die Campusführer erzählten den Reisegruppen Wissenswertes über die Architektur, aber eigentlich hätte sie sich die prächtigen Häuser mit den Steinsäulen und Treppenaufgängen lieber allein angesehen.

Sie kann verstehen, dass Serena unbedingt nach Harvard will. Der Campus liegt direkt am River Charles, und die Gebäude dort sind die ältesten von allen. Nach der Besichtigung hatten sie Sandwiches gekauft und sich direkt am Wasser auf den Rasen gesetzt. Hinter ihnen ragten Türme mit Kuppeln und Uhren auf, und sie kam sich vor wie in einer anderen Welt, einer verwunschenen Welt aus einer fernen Zeit, so ganz anders als die zu Hause in New Jersey.

Die Tür geht auf, und Mom und Serena stürmen mit strahlenden Gesichtern in den Laden.

»Sie hat es geschafft! Sie hat es geschafft!«, kreischt Mom.

Dad kommt von hinten herbeigeeilt, und Serena hüpft vor Freude. »Ich habe einen Studienplatz in Harvard!«

»Ich wusste, dass du es schaffst!«, ruft Mom begeistert.

Dad drückt Serena an sich. »Seht ihr, ich weiß gar nicht, warum ihr zwei euch solche Sorgen gemacht habt.«

Auch sie freut sich riesig und umarmt Serena. Ist das wahr? Harvard? »Echt super«, sagt sie.

Serena zuckt die Achseln. »Na ja, mal sehen, für welche Uni ich mich entscheide.«

»Für Harvard natürlich«, sagt Mom, als wäre das überhaupt keine Frage. »Jetzt, wo sie dich genommen haben.«

In diesem Moment geht die Tür auf, und Mrs Weissman, eine Stammkundin, betritt die Reinigung. Mrs Weissman ist eine Frau in den Sechzigern mit kurzem, orange gefärbtem Haar und runzligen Händen. Mom berichtet ihr die große Neuigkeit. »Ist das zu fassen? Meine Große geht nach Harvard! Sie hat es gerade eben erfahren.«

Mrs Weissman klatscht vor Freude in die Hände. »Ich habe immer gewusst, dass du ein kluges Köpfchen bist. Sie müssen stolz auf Ihre Tochter sein.«

»Das bin ich, das bin ich. Sehr stolz sogar«, sagt Mom. Trotz der vielen Einsen, der gewonnenen Klavierwettbewerbe und der tollen Prüfungsergebnisse sagt Mom so etwas nur ganz selten. Spitzenleistungen werden einfach vorausgesetzt. Mom wendet sich von Serena und Mrs Weissman ab und sieht lächelnd zu ihr. »Jetzt muss ich nur noch dafür sorgen, dass sie hier es genauso weit bringt.«

 

*

 

Er ist neun und geht seit ein paar Wochen in Dublin zur Schule. Traveller-Kinder gemischt mit Buffer-Kindern, aber nicht so richtig. Mitten über den Schulhof verläuft ein dicker Strich. Die Traveller spielen auf der einen Seite, die Buffer auf der anderen.

Wegen ein paar Raufereien ist er gleich am ersten Tag in der Klasse mit den richtig bösen Jungs gelandet, den Jungs, um die sich die Lehrer nicht mehr kümmern. Von denen kann er noch einiges lernen, sogar von den Buffern.

Einer von ihnen, Joe, ist ganz bestimmt reich. Das erkennt man an seinen Klamotten und den glänzenden Schuhen. Joe ist immer rotzfrech zu den Lehrern. Macht nie, was sie von ihm verlangen. Redet mit ihnen, als wären sie Dreck, und das hassen sie.

Insgeheim findet er das toll. Wünscht sich, er könnte genauso mit den Lehrern reden.

Aber Mams Worte gehen ihm nicht aus dem Kopf: »Bring bloß keine Schande über uns, wenn du in der Schule bist. Benimm dich. Hör auf deine Lehrer.«

Aber warum auf die hören? Die sind langweilig und können ihn sowieso nicht ausstehen.

Joe stellt ihm lauter Fragen: wo er herkommt, wie lange sie schon in Dublin sind, was Traveller so essen. Joe sagt, sie hätten Glück, dass sie nicht in die Kirche gehen und mit Nachbarn reden müssen. Noch nie hat ein Buffer zu ihm gesagt, dass er Glück hat.

»Ihr habt’s echt gut. Ihr könnt einfach abhauen, wenn euch danach ist.«

Außerdem weiß Joe alles über Mädchen. Hat immer etwas Neues zu erzählen.

»Hast du Schwestern?«, fragt er ihn einmal, als sie nach der Schule auf der Straße abhängen.

»Ja, zwei. Claire und Bridget.« Er spuckt die Namen aus wie das eklige Zeug, das er bei der Schulkrankenschwester einnehmen musste.

»Wie alt?«

»Claire ist sieben und geht mir auf den Geist. Bridget ist noch ein Baby. Fängt gerade an zu laufen.«

»Ah, noch klein also. Das heißt, du hast ihre Titten noch nicht gesehen, weil sie noch keine haben.«

Er schluckt ein Lachen herunter. »Warum soll ich mir die Titten meiner Schwestern ansehen? Das ist doch krank.«

»Nee«, sagt Joe. »Titten sind geil. Als ob du eine Kuh melkst, bloß dass sie ganz weich und schwabbelig sind und sich gut anfühlen. Wie ein Wasserbett.«

Wasserbett? Was soll denn das sein? Aber er lässt die Frage stecken und fragt etwas anderes.

»Hast du schon mal ’ne Kuh gemolken?« Ein Stadtkind wie Joe?

Joe nickt. »Ja, ein Mal. Bei meinem Onkel in Wexford. Aber vergiss die Kühe, ich rede von Titten. Titten sind richtig geil.«

Titten. Geil. Er denkt an die Hefte, die Michael immer mit nach Hause bringt, er hat sie unter der Matratze gesehen. Einmal war eins aufgeschlagen, und die großen, prallen Titten einer blonden Frau hatten ihn angeglotzt. Er kapierte nicht so richtig, wie eine Frau mit etwas so Riesigem vorn dran herumlaufen kann, ohne hinzufallen.

»Kriegst du ’nen Ständer, wenn du an Titten denkst?«, fragt Joe.

Er sucht nach einer Antwort. Wahrscheinlich soll er Ja sagen, aber die Blonde in dem Heft hatte ihm irgendwie Angst eingejagt. Ihr Blick war ganz anders, als er es von Mam, seinen Schwestern und Tanten kennt.

»Wenn nicht, bist du ’ne Schwuchtel«, sagt Joe.

»Ich bin keine Schwuchtel.«

»Dann musst du ab jetzt öfter an Titten denken, weil Titten einfach der Hammer sind.«

Er nickt, als wäre er derselben Meinung.

»Schon mal welche angefasst?«

Bei dem Gedanken läuft ihm ein Schauer über den Rücken.

Joe schnaubt und lacht. »Das müssen wir! Wenn du einem Mädchen an die Titten fasst, wird er hart, ich schwör’s dir.«

Sie sind um die Ecke gebogen und außer Sichtweite der Schule. Joe zieht ihn in eine Gasse. Autos rasen vorbei.

»Und wo kriege ich ein Mädchen her, dem ich an die Titten fassen kann?« Claire ist flach wie ein Brett, und Dad würde Hackfleisch aus ihm machen, wenn er es bei ihr versuchen würde.

Joe lacht. »Das ist der Vorteil, wenn man ältere Schwestern hat.«