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Nr. 4

 

BIEDERMANN
UND
RAUSCHGIFTHÄNDLER

 

 

 

 

von

JOHN BALL

IMPRESSUM

 

DR. MORTON

 erscheint im

ERBER+LUTHER VERLAG, Schweiz.

Konvertierung: Romantruhe-Buchversand.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise,

gewerbsmäßige Verbreitung in Lesezirkeln,

Verleih, Vervielfältigung/Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung

sind nicht gestattet.

DR. MORTON ist auch als

Printausgabe erhältlich!

 

Bisher erschienen:

 

Band 1: Blaues Blut

Band 2: Das ist Ihr Sarg, Sir!

Band 3: Bad in HCL

 

 

 

In Vorbereitung:

 

Band 5: Mr. Gregory kann nicht sterben

Band 6: Dr. Morton empfiehlt Selbstmord

Band 7: Morton’s totale Operation

 

 

»Sie hätten diesen Kerl, diesen Steinhauer, nicht umbringen sollen, Grimsby«, sagte Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen und hochgerühmter Mediziner mit Nobel-Praxis in der Londoner Harley Street sowie Privatklinik in exklusiver Lage Brightons. »Ich hätte ihn jetzt doch für ein Experiment verwenden können.«

»Tut mir leid, Sir«, erwiderte Grimsby. »Ich konnte das nicht voraussehen. Sie sagten damals …«

»Schon gut, Grimsby, ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Wir werden eine andere Versuchsperson nehmen.«

»Mr. Gregory«, schlug Grimsby vor.

»Ja, vielleicht.«

»Oder Chefinspektor Spratt?«

»Der käme natürlich auch infrage«, sagte Glenn Morton zögernd. Dabei lächelte er nur mit den Augen, und das blieb Grimsby verborgen, weil sein Chef eine Brille trug.

»Zumal Sie die Experimente mit dem Nervengas vorläufig nicht fortsetzen wollen, Sir.«

»Mr. Spratt.« Morton wiederholte den Namen nachdenklich. »Haben Sie an mir jemals Anwandlungen von Sentimentalität festgestellt, Grimsby?«

»Bewahre, Sir!«

»Ich kann's mir auch kaum erklären. Vielleicht suche ich Spratt zu schonen, weil er der erste Mann vom Yard ist, den wir aus dem Verkehr ziehen mussten. Vielleicht reizt mich auch die Gefahr. Schließlich könnte Spratt uns entkommen …«

»Kaum, Sir«, sagte Grimsby sachlich. »Wie sollte das zugehen? Unsere Sicherheitsvorkehrungen sind so gut wie lückenlos.«

»So gut wie, Grimsby. Nichts ist vollkommen.«

»Dann soll ich Spratt also von der Liste streichen?«

»Vorläufig ja.«

»Wie ist es mit Mrs. Clandon, Sir?«

»Es geht ihr nicht gut, wie?«

»Nein, kann man wirklich nicht behaupten. Sie wird bei nächster Gelegenheit durchdrehen.«

»Unsere Versuche mit dem Kunstblut sind abgeschlossen. Dazu brauchen wir Mrs. Clandon also nicht mehr.«

»Gregory und die Clandon. Wenn Ihnen die beiden nicht genügen, hole ich Ihnen gern ein paar Exemplare von der Straße, Sir«, erbot sich Grimsby.

»Das ist vorläufig nicht nötig, danke. Für das erste Stadium meiner Versuche benötige ich nicht mehr als zwei Menschen. Trauen Sie sich übrigens zu, mir zu assistieren?«

Grimsby nickte.

»Ja, Sir, ich glaube, dass ich das schaffe. Ohne Schwierigkeiten.«

»Hm, ja. Was hindert uns dann eigentlich daran, möglichst bald zu beginnen?«

»Nichts, Sir.«

»Richtig. Bereiten Sie den Operationsraum vor, sobald Sie Zeit haben, schaffen Sie Philipp Gregory hinüber und geben Sie mir Nachricht, wenn Sie soweit sind.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Grimsby fast devot, denn die Tür hatte sich nach kurzem Klopfen geöffnet und Miss Barrington kam herein, eine Schönheit in Schwesterntracht, außerdem ebenso tüchtig wie schön und für Dr. Glenn Morton in Praxis und Klinik unentbehrlich.

»Ihr Koffer ist gepackt, Doktor«, sagte sie.

Grimsby ärgerte sich über die Vertraulichkeit. Warum sagte sie nicht ›Sir‹, wie sich das gehörte? Spürte sein Chef eigentlich nicht, wie gefährlich es war, dieser Hexe mit dem ebenmäßigen Gesicht und der Figur eines Glamourgirls soviel Vertrauen zu schenken?

»Mein Koffer«, wiederholte Dr. Morton. »Du meine Güte, ich hatte völlig vergessen …«

Er wandte sich zu Grimsby. »Ich werde zwei oder drei Tage nicht da sein. Muss mich mal wieder um die Ärmsten der Armen kümmern.«

Seine Stimme hatte einen sarkastischen Ton angenommen, als er von den Ärmsten der Armen sprach. Er meinte damit die Landarbeiter, die kleinen Bauern, Händler und Tagediebe, die er in der Mini-Praxis in seinem Cottage in der Nähe von Ashburton behandelte. Menschen, die der staatlichen Gesundheitsfürsorge misstrauten, die aber kein Geld für teure Spezialisten hatten und in Dr. Glenn Morton ihren Heiland sahen. Er behandelte sie umsonst, was Schwester Barrington leise missbilligte. Aber sie war froh, dass er sie fast immer mitnahm, denn nie fühlte sie sich so wohl wie während der Tage, die sie mit ihrem verehrten Herrn und Meister ganz allein (sah man von den zahlreichen wehleidigen und nichtsnutzigen Patienten ab) drüben in Dartmoor verbringen durfte.

»Soll ich Sie fahren, Sir?«, fragte Grimsby. Er war der Ablehnung sicher und fragte nur aus Höflichkeit. Seine Aufgaben in Brighton waren wichtiger, und außerdem fuhr Dr. Morton recht gern selbst, wenn Wetter- und Straßenverhältnisse nicht zu extrem waren.

»Wir nehmen den Rover«, sagte Dr. Morton denn auch kopfschüttelnd.»Wenn ich die Lust verliere, kann Cynthia mich ablösen. Nicht wahr, Schwester?«

»Natürlich«, sagte Miss Barrington. Was hätte sie nicht für Dr. Glenn Morton getan?

Sie fuhren in Richtung Andover und Deptford nach Westen. Cynthia Barrington saß links neben Dr. Morton und wartete geduldig darauf, dass er sich mit ihr unterhielt. Solange er seinen Gedanken nachhing, mochte sie ihn nicht stören.

»Gestern war eine Sitzung unserer hochwohllöblichen Standesorganisation«, sagte Glenn Morton plötzlich. »Ich habe mich wieder mal verleiten lassen, daran teilzunehmen.«

»Langweilig?«, fragte sie mitleidig.

»Gar kein Ausdruck!«, sagte er seufzend. »Sogar die Fliegen sind an den Wänden eingeschlafen.«

»Hat es lange gedauert?«

»Nach meinem Gefühl drei Tage!« Er lachte spöttisch. »Ich glaube, den meisten meiner Kollegen wäre wohler, wenn Sie mich nicht zu sehen bekämen auf diesen Festivals der Nutzlosigkeit.«

»Warum?«, fragte Cynthia Barrington spontan.

»Weil sie mich nicht ausstehen können.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Es ist aber so. Ich bin ihnen zu jung, zu wenig konservativ, zu vorlaut – und überhaupt irgendwie unheimlich.«

»Unheimlich«, wiederholte seine Begleiterin.

Sie spürte einen leichten Schauer über ihren Rücken laufen. Dr. Glenn Morton konnte wirklich zuweilen geheimnisvoll und unheimlich wirken, vor allem auf Menschen, die ihn nicht so gut kannten wie sie, die ihn tagtäglich aus nächster Nähe erlebte.

Nein, unheimlich war er ihr eigentlich nicht, wenn sie's recht bedachte. Aber geheimnisvoll ganz sicher.

»Finden Sie mich unheimlich, Cynthia?«, fragte Dr. Morton in diesem Moment.

»Nein.«

»Kein bisschen?«

»Nein«, wiederholte sie lachend. Fügte nach einer kleinen Pause hinzu: »Nur geheimnisvoll.«

»Jeder Mann hat seine Geheimnisse«, erklärte Morton gut gelaunt, während er einen Lastzug überholte und vor der nächsten Kurve leicht abbremste.

Sie erreichten das Cottage in der Abenddämmerung. Dr. Morton stoppte den Roover vor der Garage, die von dem kleinen Sunbeam besetzt war, der ständig hier draußen bereitstand.

Cynthia Barrington wollte aussteigen. Dr. Morton griff plötzlich nach ihrem Arm. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, was Cynthia trotz des mangelhaften Lichts erkennen konnte.

Morton wirkte im Moment wie ein wildes Tier, das eine Beute erspürt hat.

»Was ist denn?«, flüsterte Cynthia lautlos.

»Ich weiß nicht. Ein Einbrecher möglicherweise.«

Er versuchte, die Tür so geräuschlos wie möglich zu öffnen, dann glitt er aus dem Wagen. Cynthia Barrington blieb reglos auf ihrem Sitz. Sie hatte Angst um Dr. Morton, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihm je etwas passierte. Glenn Morton schien zu jenen Menschen zu gehören, die immer und überall vom Glück begünstigt sind und von Schicksalsschlägen verschont bleiben.

Unerklärlich war das. Man musste es einfach hinnehmen.

Glenn Morton schlich mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze über den gepflasterten Platz zwischen Garage und Eingang. Er war sich selbst nicht sicher, ob er wirklich Verdächtiges gesehen hatte. Es war eigentlich nicht mehr als ein winziger Reflex in seinem Hirn gewesen, der ihn zur Vorsicht veranlasst hatte.

Die Tür schien verschlossen.

Glenn Morton zog geräuschlos das Schlüsselbund aus der Tasche und fand ohne hinzusehen den richtigen Schlüssel. Er glitt ins Schloss und wurde gedreht.

Nichts Verdächtiges. Morton blieb trotzdem auf der Hut.

Langsam schwang die Tür nach innen. Wie hingezaubert hatte Morton eine kleine, kurzläufige Automatik in der Hand, eine Llama, die ihm besonders gut in der Hand lag, und die er fast so geschickt zu handhaben wusste wie ein Skalpell.

Die völlige Stille konnte man fast greifen. – Hatte er eine Halluzination gehabt? Machte er sich lächerlich vor Cynthia Barrington, die immer noch im Roover saß und ihn vermutlich beobachtete?

Alles ging furchtbar schnell.

Dr. Morton schaltete das Licht ein, trat einen Schritt ins Haus, das scheinbar wirklich leer war, wollte sich gerade umdrehen, um Schwester Barrington zu rufen, und spürte erst im allerletzten Moment, dass die Gefahr vorhanden war und aus welcher Richtung sie kam.

Der Mann hatte sich im Obergeschoss über das Geländer der Galerie geschwungen und auf dem schmalen Podest über der Haustür gewartet, bis Dr. Morton den Schritt ins Haus tat. In diesem Augenblick war er gesprungen.

Der Aufprall hätte Dr. Morton das Leben kosten können. Ein Nackenwirbel ist schnell gebrochen. Aber instinktiv warf er sich zur Seite, sodass der herabsausende Körper ihn nur streifte. Die Llama rutschte über den Steinfußboden und knallte irgendwo gegen. Dr. Morton, halb betäubt, erkannte im Bruchteil einer Sekunde, dass er nicht rechtzeitig an die Waffe kommen konnte. Der andere hatte sich geschickt abgerollt, war schon wieder auf den Beinen und schien sich auf Morton stürzen zu wollen.

Morton spannte alle Muskeln, um dem Angriff zu begegnen. Doch sein Gegner sprang an ihm vorbei, war schon durch die Tür und verschwunden.

Der Roover! Miss Barrington!

Dr. Morton setzte die Spannung seiner Beinmuskeln in einen gewaltigen Satz nach vorn um, der ihn ebenfalls aus dem Haus beförderte. Er sah den Einbrecher – oder um wen immer es sich handeln mochte – über den Hof und auf den Wagen zu huschen. Fast hatte er die Tür auf der Fahrerseite schon erreicht. Morton setzte in langen Sprüngen hinter ihm her.

Kein Schrei von Cynthia Barrington?

Nein, sie dachte nicht daran, zu schreien.

Als der Mann über den Hof und auf den Wagen zulief, der ganz bestimmt nicht mit Dr. Morton identisch war, hatte sie sofort begriffen. Mit ruhiger Hand zog sie den Schlüssel aus dem Zündschloss und wartete ab, öffnete allerdings die Tür auf ihrer Seite spaltbreit. So konnte sie sich notfalls hinausfallen lassen. Selbstverständlich hatte sie auch erwogen, die Tür neben dem Fahrersitz zu verriegeln. Aber ein Blick hatte ihr gezeigt, dass Vorder- und Hintertür unverriegelt waren. Und bevor sie beide erreicht gehabt hätte …

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann mit verzerrtem Gesicht schwang sich auf den Sitz hinterm Lenkrad und fingerte nach dem Schlüssel. Seit Atem ging keuchend.

»Her damit!«, herrschte er Cynthia Barrington an. »Los, her mit dem Schlüssel, oder …«

Er kam nicht weiter. In dieser Sekunde war Dr. Glenn Morton da, riss die Tür auf, packte den Burschen und zog ihn aus dem Wagen.

»Vorsicht!«, schrie Schwester Barrington.

Sie hatte etwas aufblitzen sehen. Etwas, das der Fremde plötzlich in der Hand hielt. Dr. Morton wich dem seitlich nach hinten geführten Stoß aus. Das Messer fuhr ins Leere. Er hatte den anderen aber loslassen müssen, und der bewies seine katzenhafte Gewandtheit, indem er sich zum zweiten Mal abrollte, auf die Beine kam und das Überraschungsmoment auszunutzen versuchte, indem er sich auf Glenn Morton stürzte.

Diesmal konnte Morton dem Stoß nicht schnell genug entgehen. Der kalte Stahl drang durch den linken Ärmel und brachte ihm eine harmlose Fleischwunde bei. Doch als der andere das Messer zurückziehen wollte, erhielt er einen harten Handkantenschlag gegen den Unterarm. Er stieß einen gurgelnden Schrei aus. Sein Arm war gebrochen und hing hilf- und kraftlos herab. Instinktiv griff er mit der anderen Hand danach und war für den Augenblick völlig ohne Verteidigung.

Dr. Mortons Hieb traf ihn am Hals. Er fiel um wie ein gefällter Baum. Morton riss das Messer aus der Wunde, wechselte es in die andere Hand und zog den Mann mit der unverletzten Hand vom Boden hoch.

Miss Barrington war mittlerweile ausgestiegen und um den Roover herumgekommen.

»Sie sind verletzt!« Ihre Stimme konnte die Angst, die sie um Morton hatte, nicht ganz verbergen.

»Unwichtig«, knurrte Morton.

Er versuchte, seinen Gegner mit einigen Schlägen links und rechts ins Gesicht wieder zur Besinnung zu bringen.

Erfolglos.

»Ist er tot?«, fragte Cynthia.

»Unsinn.«

»Es sah so aus«, sagte sie leise. »Als Sie ihn trafen und er umfiel …«

»Na und? Würden Sie ihn bedauern?«, fragte er schroff.

»Natürlich nicht. Er hat Sie angegriffen. Er war in Ihr Haus eingedrungen und hat versucht, Sie zu erstechen.«

»Bringen Sie bitte unser Gepäck rein und schließen Sie den Wagen ab«, sagte Dr. Morton ruhig. »Ich kümmere mich um den hier.«

Er trug den anderen ins Haus, warf ihn in einen Sessel und zog das Sakko aus. Er krempelte den Ärmel seines reinseidenen Hemds hoch und betrachtete die nicht besonders stark blutende Wunde.

»Glück gehabt«, murmelte er. »Zwei Zentimeter neben der Schlagader.«

Als Schwester Barrington den Wagen abgeschlossen und das Gepäck hereingebracht hatte, als sie sich anschickte, Mortons Wunde zu versorgen, hatte der das bereits selbst getan.

Zu ihrem geheimen Kummer.

Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den immer noch Bewusstlosen, der reglos im Sessel lag.

»Was wird er hier gesucht haben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Schwester Barrington unsicher. »Was suchen Einbrecher in einsamen, unbewohnten Häusern? Wertsachen. Geld. Vielleicht brauchte er auch nur eine Unterkunft.«

»Sie halten ihn also für einen simplen Einbrecher«, sagte Morton leise und nachdenklich.

»Sie nicht?«

»Möglich, dass Sie recht haben, Cynthia. Gekämpft hat er jedenfalls wie ein Professioneller.«

»Ein Professioneller?«, fragte sie einigermaßen verständnislos.

»Ein Gewaltverbrecher.«