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Wiener Vorlesungen im Rathaus

Band 190

Herausgegeben für die Kulturabteilung der Stadt Wien

von Daniel Löcker

Vortrag im Rahmen der Woche der Würde
am 5. Mai 2018

Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Druck und Verarbeitung:

Christian Theiss GmbH, St. Stefan im Lavanttal

ISBN 978-3-7117-3010-7

eISBN 978-3-7117-5371-7

Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at

Informationen über das aktuelle Programm

des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Manfred Nowak

Menschenwürde und
Menschenrechte

Picus Verlag Wien

Inhalt

Die Wiener Vorlesungen

Menschenwürde und Menschenrechte

1. Was sind Menschenrechte?

1.1. Menschenrechte in nationalen Verfassungen

1.1.1. Bürgerliche und politische Rechte

1.1.2. Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

1.2. Menschenrechte im Völkerrecht

2. Was ist Menschenwürde?

2.1. Bedeutung und philosophische Begründung

2.2. Menschenwürde in menschenrechtlichen Dokumenten

2.2.1. Menschenwürde im Verfassungsrecht

2.2.2. Menschenwürde im Völkerrecht

3. Die Bedeutung der Menschenwürde für die Menschenrechte

3.1. Menschenwürde als philosophische Begründung der Menschenrechte

3.2. Menschenwürde als eigenes Menschenrecht

3.3. Menschenrechte, deren Verletzung notwendig auch eine Verletzung der Menschenwürde darstellt

3.3.1. Entmenschlichung durch Ausbeutung und Erniedrigung

3.3.2. Wirtschaftliche Ausbeutung des Menschen

3.3.3. Wirtschaftliche und soziale Sicherheit als Ausdruck der Menschenwürde

3.3.4. Diskriminierung als Verletzung der Menschenwürde

3.3.5. Menschenwürde und Biomedizin

4. Schlussfolgerungen

Die Wiener Vorlesungen

Vor mehr als dreißig Jahren wurde das einmalige und hochkarätige Wissenschaftsformat der Wiener Vorlesungen ins Leben gerufen, das seither den Kulturkalender der Stadt Wien bereichert und sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen der Zeit auseinandersetzt.

Wien hat als Forschungsstandort und Universitätsstadt eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum und nimmt die Rolle als Impulsgeberin für aktuelle Diskussionen sehr ernst. Die gesellschaftspolitische Relevanz steht dabei außer Frage, denn Bildung und Wissen sind wesentliche Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben, wobei die Wiener Vorlesungen als Projekt der Aufklärung Initialzündung für einen offenen und öffentlichen Diskurs waren, der nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel geführt wird, sondern ein breites Publikum als Beitrag für eine offene Gesellschaft erreicht. Auch nach drei Jahrzehnten geben die Wiener Vorlesungen Anstöße für Kontroversen und behandeln jene Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind.

Das lebendige und innovative Veranstaltungsformat bietet in einer oft unübersichtlichen Lage von Fakten und Informationen ein Navigationssystem, das dabei hilft, Dimensionen abzuschätzen, Fragen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Die Wiener Vorlesungen sind ein Informationskatalysator für neue Erkenntnisse aus unseren Forschungswerkstätten und Labors und leisten einen wichtigen Beitrag für eine aufgeklärtere Gesellschaft. Sie setzen nun neue inhaltliche Schwerpunkte, wollen noch jüngeres Publikum gewinnen und begeistern, und verwandeln dabei nicht nur das Wiener Rathaus in eine offene Stadtuniversität, sondern nutzen eine Vielzahl anderer Lokalitäten der Stadt als Orte der Bildung und des aktiven Austauschs.

Die Wiener Vorlesungen laden prominente Denkerinnen und Denker im Sinne einer zeitgemäßen Wissenschaftsvermittlung ein, ihre Erkenntnisse und Einsichten mit der Bevölkerung zu teilen – auch an ungewöhnlichen Orten und in neuartigen Formaten. Sie liefern Modelle für die Welt von morgen und unterstützen uns in der fachkundigen Auseinandersetzung mit den wichtigen Fragen unserer Lebenswelten. Die oft rasche Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse und die mitunter damit einhergehenden Problematiken verlangen einen stärkeren öffentlichen Diskurs über die Voraussetzungen und Folgen von Forschung. Als Plattform, die den Wissensaustausch und Dialog mit einem breiten Publikum, Wienerinnen und Wienern außerhalb universitärer Kreise, fördert, haben die Wiener Vorlesungen als Angebot der Wiener Kulturabteilung demokratiepolitisches Gewicht.

So entsteht ein faszinierender Einblick in die Werkstatt der Wissenschaft, der die Vielfalt des Gesellschafts- und Geisteslebens unserer Zeit widerspiegelt und den Blick für die Differenziertheit und Diversität der Gegenwart schärft.

Andreas Mailath-Pokorny
Stadtrat für Kultur, Wissenschaft und Sport
in Wien

Menschenwürde und Menschenrechte

1. Was sind Menschenrechte?1

1.1. Menschenrechte in nationalen Verfassungen

Menschenrechte sind ein Produkt der europäischen Aufklärung, die sich in Reaktion auf zwei Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit, den Aufstieg des Faschismus und die Barbarei des Holocaust zu einem universellen Wertesystem entwickelt haben. Juristisch betrachtet handelt es sich bei den Menschenrechten um jene grundlegenden subjektiven Rechte, die von nationalen Gesellschaften und der internationalen Gemeinschaft als so wichtig erachtet werden, dass sie in staatlichen Verfassungen (Grundrechte) und in völkerrechtlichen Verträgen (Menschenrechte) verankert wurden.

Auch wenn die den Menschenrechten zugrundeliegenden Werte wie Menschenwürde, Leben, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, persönliche Integrität, soziale Sicherheit, Privatheit, Autonomie oder Gesundheit auch in anderen Wertesystemen zum Ausdruck kommen, so besteht das Besondere an den Menschenrechten darin, dass sie als subjektive Rechte der Menschen konzipiert wurden, denen korrespondierende Pflichten anderer Menschen, der Gesellschaft, des Staates und der internationalen Gemeinschaft gegenüberstehen. Während Religionen und andere Wertesysteme meist mit Pflichten operieren (Gebote, nicht zu töten oder zu stehlen), steckt in der Idee subjektiver Rechte ein Element des »Empowerment«: Menschen sollen sich nicht damit begnügen, dass andere sie nicht töten oder bestehlen, sondern sie werden dazu ermächtigt, ihre Rechte auf Leben oder Eigentum selbst durchzusetzen und von jenen, die diese Rechte verletzen, Wiedergutmachung zu verlangen. In der Regel sind die Menschenrechte daher mit einem besonderen Durchsetzungsinstrumentarium ausgestattet, das von Individualbeschwerden vor nationalen (Verfassungs-) Gerichten und regionalen Menschenrechtsgerichten wie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über Staatenberichte an internationale Überwachungsorgane bis zu Wirtschaftssanktionen und militärischen Interventionen auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen reicht.

1.1.1. Bürgerliche und politische Rechte

Historisch gesehen wurden die Menschenrechte immer als Reaktion auf besonders gravierende Unrechtserfahrungen entwickelt und nicht selten in revolutionären Bewegungen erkämpft. Sie wurden von Philosophen unterschiedlichster Denkrichtungen konzipiert und im Zuge des Konstitutionalismus zuerst in nationalen Verfassungen und später im Völkerrecht kodifiziert. Am Anfang stand die Lehre vom Gesellschaftsvertrag als philosophische Begründung des modernen Verfassungsstaats. Sie wurzelt in der rationalistischen Naturrechtslehre der Aufklärung. John Locke und andere Denker postulierten, dass der Mensch mit natürlichen Rechten (auf Freiheit, Leben und Eigentum im weitesten Sinn) geboren wird, dass diese Rechte aber im Naturzustand ungeschützt sind und dem Recht des Stärkeren zum Opfer fallen. Folglich schließen sich die Menschen zu politischen Gemeinschaften (Staaten) zusammen, deren Legitimität darin besteht, Sicherheit zu gewähren und die natürlichen Rechte der Menschen gegen Verletzungen durch andere Menschen und Staaten zu schützen (innere und äußere Sicherheit). Das bedeutet aber, dass die Menschen ihr ursprüngliches Recht auf Durchsetzung ihrer natürlichen Menschenrechte an den Staat übertragen und diesen im Wege des Gesellschaftsvertrags mit einem Gewaltmonopol ausstatten. Für den deutschen Soziologen Max Weber stellt dieses Gewaltmonopol ein essenzielles Definitionsmerkmal des modernen Staates dar. Mit der Idee der Volkssouveränität (dem »allgemeinen Willen« des Volkes) hat Jean-Jacques Rousseau ein demokratisches Element in die Lehre des Gesellschaftsvertrags eingeführt.

Diese sogenannte »erste Generation« der bürgerlichen (= liberalen) und politischen (= demokratischen) Rechte wurde zuerst in der Französischen und der Amerikanischen Revolution des späten 18. Jahrhunderts und später in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts vom Bürgertum (dem »dritten Stand«) gegen die Macht des Adels (der Monarchie), des Feudalismus und der katholischen Kirche erkämpft. Herausragende Verfassungsdokumente dieser Epoche sind die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776, die Grundrechtskataloge der 13 neu gegründeten Staaten an der amerikanischen Ostküste (z. B. die Virginia »Bill of Rights«), die amerikanische Bundesverfassung 1787 mit ihrem Grundrechtskatalog in den ersten zehn Zusatzartikeln 1791, die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789, die integraler Bestandteil aller französischen Verfassungen bis in die Gegenwart wurde, die belgische Verfassung 1831, die Frankfurter Paulskirchenverfassung 1848 oder das österreichische Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger 1867, das bis in die Gegenwart den Kern des österreichischen Grundrechtskatalogs bildet.