Irrlicht – Jubiläumsbox 5 – 6er Jubiläumsbox

Irrlicht
– Jubiläumsbox 5–

6er Jubiläumsbox

E-Book: 23-28

Carol East
Runa Moore
Vanessa Crawford
Celine Noiret
Janey Carpenter
Susan Lennox

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-998-5

Weitere Titel im Angebot:

Das Haus auf dem Hügel

… als wäre es nicht von dieser Welt

Roman von Carol East

Das Haus auf dem Hügel war von fast jeder Stelle innerhalb der kleinen Stadt zu sehen. Zumal kein Haus in dieser Stadt höher war als ein Stockwerk – genauso wie das Haus auf dem Hügel. Als würden sich die Häuser der Stadt vor ihm ducken und sich bemühen, bloß nicht größer und prächtiger zu wirken.

Prächtig war das Haus auf dem Hügel durchaus, wie es da so einsam stand, als wäre es um Abstand zur übrigen Stadt bemüht. Kein Baum, kein Strauch behinderte die Sicht zu ihm hinauf. Die Gegend war absolut kahl. Selbst das Gras bildete höchstens ein paar mickerige Büschel, die sich verzweifelt in die wenigen und winzigen Ritzen im allgegenwärtigen Felsboden klammerten.

Petra Hansen fiel besonders eines auf, was sie als viel merkwürdiger noch empfand im Vergleich zur kahlen Landschaft und dem seltsamen Haus auf dem Hügel: Es gab keinerlei Straßen! Nicht nur nicht innerhalb der Stadt, wo die Häuser standen wie von einem Riesenkind zufällig hingewürfelt, mit unterschiedlichen Abständen voneinander, sondern auch nicht zum Haus auf den Hügel hinauf. Und es gab keine Straße nach außerhalb.

Sie zog ihre hübsche Stirn kraus, die sie allerdings selber alles andere als hübsch empfand, und schüttelte am Ende sogar den Kopf, während sie dieses Bild der Stadt mit ihrem Haus auf dem Hügel betrachtete.

Der Hügel war die höchste Erhebung weit und breit. Mit nur knapp hundert Fuß über der Stadt noch weit entfernt von einer Bezeichnung etwa wie Berg. Und dennoch hatte dieses Haus etwas Majestätisches, wie es da so thronte.

Eine Umgrenzungsmauer des Grundstücks gab es keine, als wolle das Haus damit demonstrieren: Mir gehört sowieso die ganze Gegend!

Petras blaue Augen verengten sich zu einem schmalen Spalt, als könnte sie dadurch besser sehen. Sie wunderte sich darüber, daß sie keinerlei Lebenszeichen entdeckte. Ohne Straßen gab es auch keine Autos. Aber zumindest hätte es Fußgänger geben können.

Am fernen Horizont senkte sich der Glutball der Sonne, um der Nacht Platz zu machen.

Petra grübelte darüber nach, wie sie denn überhaupt dazu kam, den späten Abend anzunehmen. Wer sagte ihr denn, daß es nicht im Gegenteil früher Morgen war und die Sonne sich nicht senkte, sondern erst jetzt erhob, um den Tag einzuleiten?

Sie spürte es einfach und hörte auf, sich darüber zu wundern. Genauso, wie sie sich keineswegs darüber wunderte, überhaupt hier zu sein, auf einem geradezu idealen Beobachtungsposten, von dem aus sie alles bis ins kleinste überblicken konnte. Sie befand sich irgendwie höher noch als das Haus auf dem Hügel, sonst könnte sie es doch nicht von schräg oben sehen, nicht wahr? Und das, obwohl es keinerlei höhere Erhebung als diesen Hügel hier gab?

Ihr Blick heftete sich auf die Zwischenräume zwischen den Häusern.

Wie eine Spielzeugsiedlung, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie strich eine Strähne ihres langen blonden Haares zurück, die ihr vor das linke Auge gefallen war. Ja, wie bei ihrem Bruder, der ein leidenschaftlicher Fan von Spielzeugeisenbahnen war und dafür ganze Landschaften in miniaturisierter Form erschuf.

Doch diese Stadt mit dem Haus auf dem Hügel vor ihr war viel zu realistisch, als daß es ein Modell hätte sein können. Das sah sie, wenn sie die Details mit ihren Augen regelrecht aufsaugte.

Sie ließ ihre Blicke weiterschweifen, auf der Suche nach dem, was man Leben hätte nennen können. War es denn möglich, daß es so etwas außer den mickrigen Grasbüscheln innerhalb dieses Bereiches gar nicht gab? Schon länger nicht?

Nein, die Häuser machten einen gepflegten Eindruck. Wenn die Bewohner sie verlassen hatten, dann war das noch nicht lange her.

Es gelang ihr, näher heranzugehen. Wie eine Riesin, die sich über die Landschaft beugte, um ihr Gesicht näher an das Geschehen zu bringen. Falls es denn so etwas wie ein Geschehen gab...

Die Sonne versank beinahe endgültig hinter der Horizontlinie. Die Landschaft wurde von einem blutigen Licht übergossen, das schaurige Assoziationen in Petra weckte. Sie betrachtete eines der Häuser genauer. Die Fenster blieben dunkel. Aber nicht mehr lange. Ein Licht glomm im Innern auf. Es zuckte unruhig hin und her wie ein aufgeregtes Glühwürmchen. Und dann... öffnete sich die Haustür, und ein junger Mann trat hervor, mit einer Kerze in der Hand, deren Licht unruhig flackerte. Das also war das nervöse Flackern, das sie durch das Fenster gesehen hatte?

Der Mann trat vor das Haus und schaute sich wie suchend um. Dann blieb sein Blick am Haus auf dem Hügel hängen.

Petra wandte nun ebenfalls ihre Aufmerksamkeit dem Haus auf dem Hügel zu: Dort hatten die Fenster zu glühen begonnen, als wären sie rotglühende Augen, die auf die Stadt hinabstarrten.

Sie schaute wieder nach dem jungen Mann, der nach wie vor dastand und hinaufstarrte.

Er war schlank-muskulös, so richtig durchtrainiert, wie es Petra am besten gefiel. Sie hatte die Theorie, nur deshalb auf dieser Art Mann zu stehen, weil sie selber sich als völlig unsportlich einschätzte. Überhaupt hielt sie von sich selber sowieso eher wenig.

Das Gesicht des jungen Mannes erinnerte sie an einen berühmten Schauspieler, der schmachtende Liebhaber genauso überzeugend spielen konnte wie bitterböse Schurken – und in jeder seiner Rollen sowieso stets und ständig der Schwarm aller Frauen blieb, ob jung oder alt.

Kaum hatte sie diesen Vergleich gezogen, als der junge Mann seinen Blick von dem Haus auf dem Hügel löste – und sie unmittelbar anstarrte.

Sein Gesicht zeigte so etwas wie Erschrecken. Er riß sogar wie abwehrend seinen linken Arm hoch und hätte vor Schreck beinahe die brennende Kerze verloren, deren Flamme jetzt flackernd erlosch.

*

Er – er kann mich sehen, dachte Petra konsterniert, denn in dieser skurrilen Situation war das alles andere als selbstverständlich.

Als der junge Mann begriffen hatte, daß von ihr keine unmittelbar Gefahr ausging, ließ er den Arm wieder sinken.

Inzwischen war die Sonne so tief gesunken, daß er kaum mehr als ein Schatten blieb. Doch jetzt entstand überall in den Häusern jenes Glühen, das sie zuerst im Haus auf dem Hügel bemerkt hatte, und da es keinerlei Vorhänge gab, warf es seinen unwirklichen Schein in die Zwischenräume der Häuser. Zwar war es nur ein eher dürftiges Licht, da es keinerlei sonstige Straßenbeleuchtung gab...

Logisch, es gibt ja auch keine Straßen, dachte Petra prompt und betrachtete sich den jungen Mann näher.

Dieser fuhr erschrocken einen Schritt vor ihr zurück, blieb dann jedoch wieder stehen.

»Wer – wer bist du?« stotterte er.

Petra hielt überrascht inne, ehe sie leise antwortete: »Ich heiße Petra Hansen.«

»Eine... Deutsche?«

»Ja, ich bin Studentin und will mich auf Indianergeschichte spezialisieren. Deshalb kam ich hierher, nach Amerika.«

»Indianergeschichte?« Der Mann schaute sich gehetzt um, als befürchtete er, es könnte gefährliche Zuhörer geben. »Das – das ist ja entsetzlich!«

Petra runzelte die hübsche Stirn und meinte: »Entsetzlich? Was ist denn daran...?« Sie brach ab und nagte an ihrer Unterlippe. Jetzt erst begann sie sich zu fragen, was sie hier überhaupt wollte – und wie sie überhaupt hierhergekommen war.

Sie schaute sich unwillkürlich um. Das hieß, sie wandte sich von der Stadt mit ihrem Haus auf dem Hügel ab und warf einen Blick zurück, über ihre Schulter.

Und damit war sie wieder dort, was die Menschen ihre Wirklichkeit nannten. Aber war diese Wirklichkeit denn tatsächlich wirklicher als das, was sie soeben gesehen und erlebt hatte?

Verwirrt schüttelte sie den Kopf, daß ihre langen blonden Haare flogen.

Sie stand in dem Indianermuseum, das unter Insidern als absoluter Geheimtip galt. Dafür hatte sie viele Meilen durch die Wüste fahren müssen, um das Museum neben einer schäbigen und anscheinend kaum frequentierten Tankstelle zu finden. Aber auf einer Fläche von schätzungsweise dreihundert Quadratmetern hatte sie so viele Kostbarkeiten entdeckt wie nicht in ihrem bisherigen Leben und Forschen insgesamt! Sie hatte es doppelt und dreifach bedauert, allein hierhergefahren zu sein und nicht gewartet zu haben, bis ihr Kommilitone und Freund Fred Stinner hatte mitkommen können.

Gerade hatte sie eine eigenartig anmutende Anordnung von indianischen Totems und anderen Utensilien betrachtet, die sie trotz ihres immensen Fachwissens in keiner Weise einordnen konnte, als es geschehen war: Jetzt konnte sie sich deutlich daran erinnern!

Das Ganze war wie ein Vision gewesen, so realistisch, wie eine Vision überhaupt sein konnte.

Mehr noch als eine Vision war das gewesen, wenn sie berücksichtigte, daß jener junge Mann... sie gesehen und sogar zu ihr gesprochen hatte!

Und noch viel mehr: Sie hatte ihm sogar geantwortet und ihren Namen genannt.

Im nachhinein sah sie darin allerdings einen entscheidenden Fehler!

Sie schaute wieder nach vorn, auf die Anordung.

Es war eine Art magische Anordnung. Soviel war jedenfalls sicher. Obwohl sie noch vor Minuten angenommen hatte, so etwas könnte es gar nicht geben – eine echte magische Anordnung nämlich. Kein Wunder, denn es war das erste Erlebnis dieser Art überhaupt in ihrem ganzen Leben.

*

Erst draußen, in der Tageshitze, kam sie wieder zu sich. Sie hatte sich nach dem Erlebnis wie betäubt gefühlt. Ihre Gedanken waren nur träge und teilweise sogar unkontrollierbar gewesen. Die heiße Luft, die sie an einen Backofen erinnerte, brachte sie vollends in die Wirklichkeit zurück.

Mit hölzernen Schritten ging sie zu ihrem Wagen. Eigentlich seltsam, daß es im Museum so kühl war, obwohl die Sonne unbarmherzig auf das flache Dach knallte und eigentlich das Gebäude in seinem Innern gehörig aufheizen müßte. Eine Klimaanlage hatte sie weder gehört noch gesehen. Es war völlig still gewesen im Museum. Und sie war der einzige Gast gewesen.

Nein, nein, jetzt durfte sie nicht übertreiben: Es war schließlich nicht das erste Mal in ihrem Leben, daß sie mutterseelenallein in einem Museum herumstöberte. Außer den Touristen, die schubweise und dabei auch noch in Scharen über alle Sehenswürdigkeiten herfielen wie Heuschreckenschwärme über blühende Felder, interessierte sich kaum noch jemand für indianische Kultur. Sie hatte oft den Eindruck, als wollte man diese möglichst vergessen, auch von indianischer Seite selbst her.

Sie, Petra Hansen, konnte eine solche Einstellung weder teilen, noch billigen. Sonst wäre sie nicht spontan hierhergekommen, sobald sie endlich hatte erfahren können, wo sich dieses Museum überhaupt befand.

Aber jetzt war es an der Zeit, diesem Ort wieder den Rücken zu kehren. Das spürte sie tief in ihrem Innern. Je länger sie noch zögerte, desto stärker wurde dieser Drang, der sie beinahe wie zur Flucht drängen wollte.

Flucht vor was oder vor wem?

Sie startete den Motor und warf einen Blick auf die Tankanzeige. Es wäre riskant gewesen, die Tankstelle zu meiden. Unterwegs gab es keine andere. Das hatte sie bereits auf der Strecke hierher feststellen können. Also ließ sie den Wagen vor die Säule rollen, die so aussah, als sei sie selber bereits ein Museumsstück. Aus dem Häuschen, das nicht viel größer als eine Kabine war, trat ein Indianer. Besser gesagt: Die Mumie von einem uralten Indianer. So jedenfalls der Eindruck von Petra. Nur die Augen des Mannes schienen zu leben, obwohl er sie recht teilnahmslos betrachtete, selbständig den Tank öffnete und den Zapfhahn hineinhängte, ehe Petra noch ausgestiegen war, um ihm ihre Wünsche zu nennen.

Sie stieg trotzdem aus und beschloß, genauso schweigsam zu bleiben.

Während dem Tankvorgang stieg ihre Unruhe stetig an. Jetzt war es schon soweit, daß sie am liebsten einfach davongerannt wäre. Nur die Tatsache, daß sie in dieser flirrenden Hitze nicht weit kommen würde, hielt sie noch davon ab.

Als der Tank endlich voll war – nach einer schieren Ewigkeit, wie es Petra erschien –, fischte sie ihre Handtasche aus dem Fond des Wagens. Wieso hatte sie das nicht schon längst getan? Wo waren denn ihre Gedanken? Sie fingerte umständlich daran herum, bis es ihr endlich gelang, sie zu öffnen. Aber bevor sie das noch schaffte, hängte der mumifizierte Indianer den Zapfhahn an die Säule und schlurfte müde davon.

Petra hielt irritiert inne und folgte ihm mit geöffneter Handtasche in das Wärterhäuschen.

Dieses war leer!

Ja, sie hatte doch noch vor einer Sekunde den Alten hier eintreten sehen, vor ihren Augen war das geschehen. Sie konnte sich unmöglich geirrt haben. Aber das Häuschen war leer. Im wahrsten Sinne des Wortes sogar: Darin war nicht nur kein Indianer, sondern überhaupt fehlte jegliche Möblierung. Also auch eine Kasse, an der sie zahlen konnte.

In dem Häuschen war es nach Empfinden von Petra mindestens doppelt so heiß wie außerhalb. Sie war überzeugt davon, man hätte nur einen Kochtopf auf den Boden stellen müssen, um innerhalb kürzester Zeit das Essen gar zu bekommen.

Fluchtartig verließ sie das Häuschen wieder und schaute sich suchend um.

Vor dem Museum war ein Schalter. Dort hatte sie ihr Ticket gelöst und war anschließend durch die Tür daneben eingetreten. Wieviel Zeit war seitdem vergangen? Jedenfalls, der junge Indianer, der hinter dem Tresen gesessen hatte, war jetzt nicht mehr da.

Die Unruhe schnürte ihr die Kehle zu und drängte sie zu ihrem Wagen zurück, obwohl sie eigentlich hinübergehen wollte, um nach dem Tankwart zu fragen. Schließlich wollte sie nicht ohne zu bezahlen einfach von hier verschwinden. Sie war ja keine Kriminelle.

Aber sie konnte nicht anders, als in ihren Wagen zu steigen. Achtlos warf sie die immer noch offene Handtasche neben sich auf den Beifahrersitz und startete wieder den Motor. Sie legte den ersten Gang ein und fuhr los.

Erst als sie die Tankstelle und das geduckt sich ausbreitende Museumsgebäude im Rückspiegel entschwinden sah, wurde ihr wieder bewußt, daß sie den Tankwart um sein Geld geprellt hatte.

Was aber sollte sie tun?

»Ich komme zurück, sowieso!« murmelte sie vor sich hin. »Dann werde ich bezahlen, mit Zins und Zinseszins.«

Noch während sie das sagte, glaubte sie in ihrem Innern eine Stimme zu hören, die sie eindringlich davor warnte, jemals wieder an diesen Ort zurückzukehren.

Nach ungefähr zwei Meilen Fahrt stieg sie plötzlich in die Bremsen. Ein erschreckender Gedanke war ihr gekommen:

Tatsächlich, ich bin regelrecht geflohen von diesem Ort! Dabei wäre es das Naheliegende gewesen, zumindest diese magische Anordnung näher in Augenschein zu nehmen. Aber nein, sie war nach diesem seltsamen Erlebnis einfach auf und davon. Für eine angehende Expertin in indianischer Geschichte nicht gerade typisch und irgendwie sogar... peinlich.

Ein Blick auf die Tankanzeige. Na, wenigstens hatte sie vollgetankt. Sie würde also die Fahrt zurück schaffen. Und verfahren würde sie sich auch kaum können. Immer auf der Hauptstraße bleiben, bis nach ein paar hundert Meilen einer der Highways kreuzte, und der war so gut ausgeschildert, daß sie keine Bange zu haben brauchte, den richtigen Weg zu verfehlen.

Und wieso hatte sie trotzdem Bange?

Sie hielt es nicht mehr länger aus und gab wieder Gas, um mit weit überhöhter Geschwindigkeit davonzubrausen, ungeachtet der drastischen Strafen, die ihr für zu schnelles Fahren in diesem Land drohten.

Bloß weg von hier, so schnell wie möglich! hieß die Devise. Und: Koste es, was es wolle!

*

Als Petra Hansen viele Stunden später ihre Wohnung betrat, hatte sie erneut den Eindruck, wie aus einem Traum zu erwachen. Es war dasselbe Gefühl wie nach dem Museumsbesuch, bevor diese Unruhe in ihr entstanden war und sie zur Flucht gedrängt hatte.

Ich habe den Tankwart nicht bezahlt! fuhr es ihr durch den Kopf. Als wäre dies das Wichtigste überhaupt gewesen, was sie dort draußen erlebt hatte.

Schwer ließ sie sich in ihren Lieblingssessel plumpsen. Sie schloß die Augen, um nachzudenken.

Der Tip mit dem Indianermuseum... Sie hatte immer wieder davon gelesen, daß sich jenes Museum irgendwo befinden sollte, mit unerhörten Kostbarkeiten. Das war zunächst eher ein Mythos gewesen als ein echter Tip, genauer betrachtet. Deshalb hatte sie lange Zeit auch angenommen, daß es dieses Museum überhaupt nicht wirklich gab. Bis gestern abend. Fred hatte sich mit Kumpels getroffen. Petra hatte es ihm gegönnt und sich einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher gönnen wollen. Gelangweilt hatte sie sich durch die einzelnen Programme gezappt. Und da war plötzlich diese Sendung gewesen – mit dem Hinweis, wo sich das Museum befand. Sie hatte gar nicht gewußt, auf welchem Sender dies ausgestrahlt worden war, geschweige denn, um welche Sendung es sich überhaupt handelte. Ihr Interesse war sofort geweckt gewesen. Zumal sie innerhalb von gut einem einzigen Tag hin und zurück fahren konnte. So verhältnismäßig nah hätte sie jenes Objekt ihrer Begierde niemals vermutet.

Sobald nichts mehr von Interesse gesagt worden war, hatte Petra abgeschaltet und war ins Bett gestiegen, um am nächsten Tag fit zu sein. Vor lauter Aufregung hatte sie trotzdem kaum schlafen können. Dann war es in aller Frühe losgegangen. Und jetzt saß sie hier und konnte nicht wirklich begreifen, was sie überhaupt erlebt hatte.

Das Haus auf dem Hügel! Was, um alles in der Welt, hatte das mit Indianern zu tun? Wieso hatte ihr die magische Anordnung eine solche Vision ermöglicht? Oder mußte sie eher sagen: Wieso hatte ihr diese magische Anordnung eine solche Vision überhaupt aufgezwungen?

Nein, keine Vision! Mehr! Viel mehr!

Sie riß die Augen weit auf, als befürchtete sie, den Verstand zu verlieren. Sie schaute sich in ihrer engen Wohnung um. Alle Gegenstände waren ihr längst vertraut. Ihre Blicke saugten sie regelrecht auf. Dies alles hier war real, war die Wirklichkeit.

Aber was war in jenem Museum gewesen? Der beginnende Wahnsinn? Hatte sie es sich nur eingebildet? Und dann der Tankwart, der plötzlich verschwunden war, gewissermaßen vor ihren Augen?

»Das alles gibt es nicht!« hörte sie ihre Stimme sagen, und es klang, als hätte eine Fremde gesprochen.

Es raschelte an der Tür, und Petra fuhr erschrocken herum.

Jemand steckte einen Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Aber nur ein Mensch hatte einen Schlüssel, nämlich ihr Freund Fred Stinner.

Mit weitaufgerissenen Augen und offenstehendem Mund wartete Petra ab, unfähig, sich zu rühren.

Die Tür wurde geöffnet... und es war tatsächlich Fred.

»Hi, Darling, immer noch auf? Nett, daß du auf mich gewartet hast, aber es wäre doch nicht nötig gewesen!«

Petra hörte die Worte, verstand aber ihren Sinn nicht.

Sie versuchte, sich zu bewegen, aber irgendwie ging das nicht. Sie war viel zu erschrocken, obwohl es doch ihr Freund war, mit dem sie nicht nur die Wohnung teilte. Moment mal, sinnierte sie. Ich habe mich gestern ins Bett gelegt und bin heute morgen aufgestanden, um früh aufzubrechen. Dabei habe ich mich gar nicht gewundert, daß Fred überhaupt noch nicht daheim war. Ich bin die ganze Nacht allein gewesen.

»Wo warst du denn so lang?« fragte sie prompt, und abermals hörte sich ihre Stimme an wie die einer Fremden.

»Lang?« wunderte er sich und schaute auf die Uhr. »Es ist gerade mal eins. Ich war der erste, der nach Hause ging. Ich hatte irgendwie so eine Unruhe. Nicht so schlimm, als wäre was mit dir passiert, aber man kann auch sagen: Ich hatte ganz einfach Sehnsucht nach meinem Schatz.« Lachend und mit weit ausgebreiteten Armen kam er näher.

Petra konnte sich immer noch nicht vom Fleck rühren.

Was redet der denn für einen Unsinn? Er ist gestern weggegangen und kommt jetzt erst zurück. Ein Uhr? Dann ist er weit über vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen – und tut so, als sei er sogar früh dran?

Er beugte sich zu ihr herab und wollte sie küssen, doch endlich konnte sie sich bewegen und wehrte ihn ab. Zornig sprang sie auf.

»Du bist gestern abend weggegangen und kommst jetzt erst zurück...«

»Gestern abend? Richtig, Schatz, und jetzt haben wir ein Uhr in der Frühe. Was ist denn los mit dir? Du warst doch anscheinend recht froh darüber, mal den Abend für dich allein zu haben, oder habe ich da was verpaßt?«

Es hatte wie ein Scherz klingen sollen, doch er sah seiner Freundin an, daß dieser ganz und gar nicht nach Scherzen zumute war.

»Das ist ja die Höhe!« rief sie auf Deutsch, obwohl sie genau wußte, daß ihr Freund kaum ein Wort davon verstand. »Will mir weismachen, der gestrige Tag wäre gar nicht gewesen!« Sie schaute jetzt ebenfalls auf die Uhr. Wenigstens die stimmte.

Aber wieso hatte sie sich heute morgen nicht darüber gewundert, daß Fred nicht neben ihr im Bett lag? Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß sie seine Rückkehr verschlafen hätte. Manchmal ging sie ja auch lieber mit Kommilitoninnen aus. Frauen ganz unter sich. Ja, das mußte durchaus einmal sein. Genauso gönnte sie es ihrem Freund, wenn der mal nur unter Männern sein wollte.

Benommen faßte sie sich an die Stirn.

Auch Fred tat dies jetzt: Er faßte an ihre Stirn.

»Darling, du glühst ja wie ein Ofen! Du hast hochgradig Fieber!«

»Fieber, ich?« Sie ließ die Hand sinken und schaute ihn an, als würde sie ihn jetzt erst erkennen. »Ich bin kerngesund, aber ich bin wütend, weil du mich so anlügst. Ich bin gestern morgen schon sehr früh losgefahren, weil ich im Fernsehen gesehen habe, wo sich dieses Museum befindet. Du weißt schon, wir haben öfter darüber geredet. Eigentlich habe ich geglaubt, es sei eine Erfindung, und gestern war ich tatsächlich dort. Vorhin erst kam ich zurück.«

»Vorhin?« wunderte er sich ehrlich. »Gestern? Aber wir waren doch gestern den ganzen Tag zusammen. Ich bin jetzt gerade mal...«, er warf wieder einen Blick auf die Uhr, »...gute fünf Stunden weggewesen. Was ist in der Zwischenzeit mit dir passiert?« Er wollte wieder an ihre Stirn tasten, doch sie entzog sich ihm.

»Laß das!« keifte sie und taumelte einen Schritt zurück.

Irgendwie schwindelte ihr. Hatte sie vielleicht doch Fieber? Es war ziemlich heiß gewesen den ganzen Tag. Hatte ihr die Hitze etwa geschadet?

Sie faßte sich jetzt selbst wieder an die Stirn.

Sie glühte, ohne Zweifel. Und da war wieder jene Unruhe, die sie fortgetrieben hatte, weg von dem Museum und der Tankstelle.

»Ich – ich war dort, definitiv. Ich war den ganzen Tag unterwegs. Eine weite Fahrt, obwohl in einem Tag zu schaffen. Ich habe dort getankt, sonst...«

Sie schaute ihren Freund an, in seine ehrlichen Augen.

»Mein Gott...«, stotterte sie. »Ich – ich muß irgendwie eingeschlafen sein und habe schlecht geträumt, oder was?«

Er näherte sich ihr besorgt. Als er vor ihr stand, hob er zögernd die Arme, doch sie wehrte ihn diesmal nicht ab. Mutiger geworden umarmte und drückte er sie.

Petra zitterte und bat ihn leise: »Halte mich ganz fest!«

Aber es nutzte alles nichts: Überdeutlich war vor ihrem geistigen Auge, was abgelaufen war. Sie hatte sich früh ins Bett gelegt, um am nächsten Tag fit zu sein. Sie war dort hinausgefahren...

Plötzlich stemmte sie sich gegen ihn, um ihm in die Augen schauen zu können.

»Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist, Fred, aber ich werde dir beweisen, daß ich es mir nicht einfach nur einbilde. Dies alles hat eine Bedeutung. Denn wenn nicht, bin ich einfach nur... verrückt geworden!«

Sie sah, wie sehr ihn ihre Worte erschreckten. Er forschte in ihrem Gesicht, als würde er jetzt wirklich annehmen, sie sei dabei, den Verstand zu verlieren.

Ich werde es dir beweisen, bekräftigte sie indessen wieder in Gedanken. Sie hatte allerdings nicht die leiseste Ahnung, wie sie das anstellen konnte. Vor allem: Sie wußte noch nicht einmal, wie es ihr möglich war, es sich selber zu beweisen!

*

Es tat gut, von Fred getröstet zu werden. Wenn er wollte, war er überaus fürsorglich, sanft und zärtlich. Nur wenn seine Kumpels in der Nähe waren, spielte er gern den harten Mann, der keinerlei weiche Stellen aufwies. Petra kannte ihn anders: Besser! Und sie liebte ihn so, wie er war.

Diesmal jedoch gelang es Fred nicht, sie soweit zu beruhigen, daß sie wieder an sich selbst glauben konnte. Ihr wurde endgültig klar, daß sie irgendwie beweisen mußte: Dieser Ausflug in die Wüste, der Besuch des Museums... Dies war wirklich passiert. Obwohl alles dagegensprach.

Und sie war sich endgültig sicher, daß in erster Linie sie selber diesen Beweis benötigte.

»Ich habe den Wagen in der Waschanlage gehabt«, sinnierte sie auf einmal laut.

»Wie bitte?« wunderte sich Fred, der ihren plötzlichen Stimmungswandel nicht nachvollziehen konnte.

Sie löste sich aus seinen tröstenden Armen, schaute ihn aber nicht an.

»Er war blitzsauber, wie er da vor der Tür stand. Ich bin eingestiegen am Morgen und fuhr in die Wüste. Als ich zurückkam...« Ihr Blick kreuzte sich mit dem seinigen. »Als ich zurückkam, war er ziemlich dreckig. Wäre dir das Beweis genug? Innerhalb so kurzer Zeit, in der du weg warst: Wie hätte ich es schaffen können, durch die Wüste zu fahren, daß unser Auto so dreckig wurde?«

In seinen Augen irrlichterte es. Sie sah es überdeutlich, wußte es aber nicht zu deuten – noch nicht.

»Na, nichts einfacher als das, Darling: Wir gehen jetzt hinunter und schauen uns den Wagen an. Er steht vor der Tür, an derselben Stelle, an der er immer steht. Kein Wunder, der Parkplatz gehört zum Apartment, das wir bewohnen.«

Petra schöpfte neuen Mut.

»Ja, komm, wir gehen hinunter.«

»Bist du sicher: Jetzt, um diese Zeit noch?«

»Ich war mir in meinem ganzen Leben noch nie so sicher wie jetzt!« beharrte sie und zog ihn einfach mit sich.

Nur halb widerstrebend folgte Fred seiner blonden Traumfrau zur Tür. Er hatte nicht abgeschlossen, als er gekommen war. Petra öffnete die Tür und ließ sie offenstehen, als sie gemeinsam mit Fred nach unten lief.

Der Wagen stand vor der Tür. Wie immer. Fred mußte ihn gesehen haben, als er gekommen war.

Jetzt wußte Petra dieses Irrlichtern in seinen Augen endlich zu deuten, das ihr aufgefallen war beim Erwähnen des Autos: Es wäre von Fred nicht übersehen worden, wäre der Wagen tatsächlich von der Wüstenfahrt verdreckt gewesen. Aber er stand da..., wie frisch aus der Waschanlage!

Petra stierte darauf und wollte es nicht glauben. Es wäre ein eindeutiger Beweis gewesen. Doch jetzt bewies dieser Umstand eher... das genaue Gegenteil.

Sie lief hin und legte die Hand auf die Motorhaube. Das hatte sie einmal in einem Krimi gesehen. Der Kommissar hatte die Hand daraufgelegt, um festzustellen, ob das Auto in der letzten Stunde gefahren war. Nach der im wahrsten Sinne des Wortes heißen Wüstenfahrt und in Anbetracht der Tatsache, daß sie erst kurz vor Fred zurückgekehrt war, hätte der Motor tatsächlich noch jede Menge Wärme ausstrahlen müssen. Doch die Motorhaube war eiskalt. Genauso, als hätte der Wagen schon seit vielen Stunden hier gestanden. Auch die Möglichkeit, daß jemand inzwischen den Schmutz beseitigt hatte, schied aus.

»Ich – ich habe nach dem Waschen frisch getankt. Der Tank war voll gewesen. Beim Museum habe ich trotzdem neu tanken müssen, damit es bis zurück reichte.«

»Ich hole den Autoschlüssel!« sagte Fred und ging einfach.

Petra stand an dem Wagen und fühlte sich wie versteinert. Sie konnte und wollte einfach nicht glauben, daß sie sich das alles irgendwie nur eingebildet haben sollte. Ihr Gedächtnis funktionierte einwandfrei. Sie konnte sich sowohl an Einzelheiten der Fahrt in die Wüste als auch an Einzelheiten während der Rückfahrt erinnern. Sie hatte das Auto hier geparkt und war nach oben gegangen. Sie hatte sich in den Sessel fallen lassen, und nicht lange danach war Fred heimgekehrt. Und jetzt stand sie da, und alles bewies ihr überdeutlich, daß dies nicht geschehen sein konnte. Das war in der Tat zum Verrücktwerden!

Wenn ich das nicht schon längst bin: verrückt!

Sie rieb sich über die brennenden Augen, vergessend, daß sie leicht geschminkt war und dieses Reiben eine verheerende Wirkung hatte. Aber im Moment gab es für sie wirklich ganz andere Probleme, denen sie sich nicht entziehen konnte.

Fred kam mit dem Schlüssel in der Hand zurück. Er schloß das Auto auf, klemmte sich hinter das Steuer und schaltete die Zündung ein.

Die Nadel der Tankanzeige wuchs empor.

Petra beugte sich in den Wagen hinein und starrte darauf, ohne zu zwinkern. Obwohl ihre Augen nun zu tränen begannen.

Die Tankanzeige ging hoch... bis zum Anschlag!

»Voll«, kommentierte Fred leise und wandte sich seiner Freundin zu.

»Was ist los mit dir, Darling? Was ist wirklich passiert in den wenigen Stunden meiner Abwesenheit?«

Petra hatte nicht die Kraft, hinauf in die Wohnung zu gehen. Sie taumelte mehr als daß sie um den Wagen ging, riß die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen.

Dabei fiel ihr etwas ein: Sie hatte bei der überstürzten Flucht vom Museum die offene Handtasche achtlos auf den Beifahrersitz geworfen und danach nicht mehr daran gedacht. Auch war sie ohne Handtasche nach dem Abstellen des Autos nach oben gegangen. Also müßte sie doch noch auf dem Beifahrersitz liegen...

Es wurde ihr jetzt erst bewußt, da sie darauf saß: Es gab keine Handtasche! Petra war auf einmal sicher, daß sie brav oben in der Garderobe direkt neben dem Wohnungseingang stand, auf ihrem angestammten Plätzchen, unberührt – und das seit einigen Stunden.

»Es – es gibt diese Fahrt gar nicht!« murmelte sie vor sich hin. »Ich habe den Tip im Fernsehen gar nicht gesehen, bin nicht ins Bett gegangen, habe nicht eine unruhige Nacht verbracht, um am nächsten Morgen früh aufzubrechen. Die lange Fahrt in die Wüste. Ich kann mich genau an Einzelheiten erinnern von etwas, was es nie gegeben hat. Dann das fantastische Museum, der Traum eines jeden Historikers, der sich auf Indianerkultur spezialisiert. Ja, ein Traum, nichts anderes.«

Sie hob den Kopf und schaute Fred an. Sie sah die Sorge in seinem Gesicht, doch er sah seinerseits, wie hellwach ihre Augen waren. Nein, das waren nicht die Augen einer Verrückten. Petra gab sich jetzt völlig ruhig, und diese Ruhe war echt: Sie spürte sie tief in ihrem Innern.

»Es ist etwas passiert, an das ich mich sehr genau erinnere, Fred, aber ich weiß, ich bin nicht verrückt geworden. Als wäre ich in einer Art Zeitschleife gefangen gewesen. Nein, das ist wohl die falsche Erklärung. Tut mir leid, Fred, aber ich weiß keine bessere.«

»Aber welchen Sinn sollte dies alles überhaupt haben?« fragte Fred ruhig und wich nicht ihrem Blick aus.

Das war es: Das war die entscheidende Frage!

Petra klatschte mit der flachen Hand gegen ihre Stirn.

»Mein Gott, Fred, du bist ein Genie!« entfuhr es ihr. »Wieso bin ich nicht selber darauf gekommen? Ohne das Haus auf dem Hügel ergibt dies alles wirklich absolut keinen Sinn!«

»Das Haus auf dem Hügel?« wunderte sich Fred.

»Komm mit nach oben, Darling, und dann werde ich dir alles haarklein erzählen. Falls du es überhaupt hören willst...?«

»Und ob ich das will!« Fred nickte grimmig. »Petra, Darling, ich vertraue dir. Wenn du mir sagst, daß du Ungewöhnliches erlebt hast, obwohl das eigentlich gar nicht sein kann, dann muß es irgendwie dennoch eine Erklärung dafür geben. Egal, wie diese ausfallen sollte: Ich bin auf deiner Seite.«

Sie hörte diese Worte, die ihr unendlich gut taten, denn sie wußte, daß Fred sie ehrlich meinte. Aber es war nicht nur, weil er sie liebte, sondern auch sein fachliches Interesse an Indianerkulturen, das er hundertprozentig mit ihr teilte. Und wer sich damit beschäftigte, wurde zwangsläufig mit allerlei Mythos konfrontiert. Jeder Indianerstamm hatte da so seine ganz eigenen Vorstellungen von der Welt, aber gemeinsam hatten alle zumindest das eine: Sie klangen in den Ohren Unbedarfter wie Geschichten aus »Tausend und einer Nacht«. Obwohl sie für die Indianer selbst für lange Zeit feststehende Tatsachen gewesen waren.

Eines spielte dabei ebenfalls eine Rolle – genauso wie in anderen alten Kulturen auch: Magische Rituale, während denen mit und ohne Drogen Halluzinationen hervorgerufen werden konnten.

Zumindest wäre das für Fred wahrscheinlich jetzt in erster Linie eine akzeptable Erklärung für alles, was Petra offenbar erlebt hatte: War es möglich, daß man ihr ohne ihr Wissen eine Droge verabreicht hatte? Oder handelte es sich gar... um so etwas wie Hypnose?

Petra begann endlich, detaillierter zu erzählen. Als sie jedoch bei der Geschichte vom Haus auf dem Hügel anlangte, wurde sie von Fred unterbrochen:

»Und du meinst tatsächlich, dies sei der Grund für das Erlebte?«

»Nein, da hast du etwas mißverstanden, Darling: Es ist der Grund, wieso ich es nicht beweisen kann!«

Er zwinkerte irritiert, weil er kein Wort verstand.

Petra versuchte, es ihm klarzumachen: »Das Haus auf dem Hügel... Das hat eine tiefe Bedeutung. Eine Art Vision. Eine wichtige Mitteilung, wenn du so willst, an meine Adresse gerichtet.«

»Aber warum so umständlich?« wandte Fred ein. »Du erzählst, einen ganzen Tag lang unterwegs gewesen zu sein. Zwanzig Stunden oder so, wenn ich das richtig sehe. Nur um dieses kurze Erlebnis zu haben?«

»Aber ich kann es überhaupt nicht beweisen!« erinnerte ihn Petra beinahe triumphierend. »Verstehst du denn nicht?«

»Nein«, gab Fred unumwunden zu. In seinem Innern begannen seine Vorstellungen von einer heimlich verabreichten Droge oder gar von Hypnose zu zerbröseln. Er betrachtete seine Freundin forschend. Was käme sonst noch in Betracht?

Er hatte Mühe, sich auf die folgenden Worte von Petra zu konzentrieren: »Das Haus auf dem Hügel, die ganzen Umstände dort, diese seltsame Stadt ohne Straßen und scheinbar auch ohne Menschen... Zumindest habe ich nur diesen jungen Mann gesehen. Die magische Anordnung im Museum, über die ich diese Mitteilung erhielt. Nicht nur das Haus auf dem Hügel war eine Vision, sondern der gesamte Vorgang. Jenes Haus ist nur der Dreh- und Angelpunkt dabei.«

Fred schüttelte den Kopf. Weil er jetzt nicht mehr wirklich sicher sein konnte, ob seine Freundin den Verstand verloren hatte oder nicht.

Petra spürte seine Skepsis gar nicht. Sie redete sich regelrecht in Eifer:

»Morgen früh werde ich diese Fahrt wiederholen, in jeder Kleinigkeit. Ich werde genauso aufstehen, wie ich es in Erinnerung habe, und dann...«

»...werde ich mit dabei sein, Darling!« fiel ihr Fred ins Wort.

Sein Blick war so entschlossen, daß Petra genau wußte: Widersprechen wäre sinnlos.

»Warum?« fragte sie nur.

»Bist du wirklich sicher, daß wir überhaupt das Museum gemeinsam finden werden – dort draußen?«

Sie nickte heftig, obwohl bei diesen Worten quälende Zweifel versucht hatten, in ihr Fuß zu fassen. Schließlich war jedes Bemühen bisher gescheitert, das Erlebte irgendwie zu beweisen.

»Ja, ich bin mir sicher: Vergiß nicht, ich kenne den Weg haargenau! Ich würde ihn sozusagen blind wiederfinden.«

»Obwohl alles dafür spricht, daß du diesen Weg in Wirklichkeit noch nie gefahren bist?«

Jetzt waren sie heraus, seine Zweifel.

Trotzdem: Petra konnte jetzt sogar wieder lächeln.

»Richtig: Allen Widernissen zum Trotz!«

Fred mußte lachen. Er nahm seine Petra fest in die Arme, herzte und küßte sie.

»Das ist mit der Grund, wieso ich dich so sehr liebe: Deine Entschlossenheit, deine Beherztheit! So muß die Frau sein, mit der ich mein Leben, mein Zukunft teilen will.«

»Obwohl sie zur Zeit völlig überdreht und durchgeknallt wirkt?«

Er lachte abermals.

»Ich nehme das billigend in Kauf, sozusagen! Und wenn wir morgen in der Gegend herumirren und es keinerlei Spuren gibt von der Straße nach Irgendwo..., dann werde ich sie fest in meine Arme nehmen und trösten.«

»Und wenn wir den Weg dann dennoch finden sollten und du das Museum am Ende mit eigenen Augen siehst..., dann wird umgekehrt sie dich tröstend in die Arme schließen!« versprach Petra eher grimmig als mit einem scherzenden Unterton in der Stimme, und Fred sah ihr an, wie ernst es ihr tatsächlich damit war.

*

Es grenzte an ein Wunder: Kaum lag Petra in ihrem Bett, als sie auch schon eingeschlafen war. Keine negativen Gedanken konnten sie davon abhalten. Es wurde ein tiefer, traumloser Schlaf. Bein Erwachen konnte sie sich jedenfalls an keinerlei Traum erinnern.

Obwohl es noch ziemlich früh am Tag war und sie ja spät ins Bett gegangen waren, fühlte sie sich erstaunlich frisch.

Fred erging es schlechter. Er faßte sich stöhnend an den Kopf und brauchte eine Weile, bis er überhaupt begriffen hatte, daß schon wieder Zeit war zum Aufstehen.

»Muß das wirklich sein?« vergewisserte er sich dennoch schlaftrunken.

»Ja, muß: du hast es mir versprochen! Und ich sehe keine andere Möglichkeit, dir zu beweisen, daß es wirklich so war, wie ich erzählt habe.«

Schlagartig erinnerte er sich. Das weckte seine Lebensgeister zumindest halbwegs und zwang ihn, die Beine aus dem Bett baumeln zu lassen.

Petra stand auf, faßte ihn an den schlaffen Armen und zog ihn hoch.

Seine Augen waren geschlossen. Als er sie öffnete, lächelte er.

»Also gut, überredet!« Er küßte sie auf den Mund, gab sich sichtlich einen Ruck und verschwand in Richtung Bad. »Macht es dir was aus, wenn ich noch kurz unter die Dusche springe?«

»Und ob: Weil ich lieber duschen würde!«

»Ich habe gestern abend ein wenig getrunken. Ich brauche das jetzt, sonst komme ich nicht richtig zu mir«, verteidigte er sich.

»Getrunken hattest du? Davon war nichts zu bemerken.«

»War ja auch nicht soviel, wie gesagt. Du weißt ja, daß ich mich nicht sinnlos betrinke. Ein paar Gläschen in der Gesellschaft, das ist alles. Trotzdem fahre ich nicht Auto am sogenannten Herrenabend.«

»Ist ja schon gut. Geh schon«, beruhigte sie ihn. »Ich mache rasch was zum Frühstück für uns beide.«

Sie ging daraufhin in die Küche und dachte nach: An dem Morgen, den sie sich anscheinend nur einbildete, hatte sie nicht gefrühstückt. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen und nichts getrunken – und es war ihr noch nicht einmal aufgefallen. Alles sehr seltsam. Als wäre sie sowieso nicht ganz Herrin ihrer Sinne gewesen.

»Irgendwie habe ich nur funktioniert. Sonst nichts!« sinnierte sie laut. »Aber was oder wer hat mich gesteuert – und warum?«

Gesteuert?

Das war ein Wort, das sie erschrocken zusammenfahren ließ.

Im nächsten Moment weckte es ihn ihr so etwas wie Groll: Sie wollte..., ja, sie mußte der Sache auf den Grund gehen. Egal, wie. Auch egal, ob ihr dabei Fred beistand oder nicht. Das würde mit der Fahrt zum Museum beginnen.

Falls wirklich eintrat, daß sie den Weg nicht mehr fand... Das würde sie nicht wirklich entmutigen. Sie würde weitermachen. Auf jedenfall. So lange, bis die Angelegenheit geklärt war. Selbst wenn es dauern sollte bis ans Ende ihres Lebens.

Wie sonst hätte sie jemals damit leben können, für eine unbestimmte Zeit manipuliert worden zu sein, ohne es auch nur im geringsten beweisen zu können? Sie mußte doch auch damit rechnen, daß solches jederzeit wieder mit ihr passierte.

Und wenn es sich am Ende herausstellt, daß du einfach nur verrückt geworden bist? fragte eine innere Stimme ketzerisch.

Auch darauf fand sie problemlos eine Antwort:

»Dann ist es auch gut: Dann hat mein künftiger Therapeut wenigstens genügend Anhaltspunkte, wenn ich vorher entsprechend recherchiere!« meinte sie leichthin.

Fred war in Rekordzeit mit dem Duschen fertig. Der Kaffee war noch gar nicht ganz durchgelaufen.

Jetzt sprang auch Petra unter die Dusche. Als sie fertig angezogen in die Miniküche trat, hatte ihr Freund den Rest vom Frühstück vorbereitet.

»Ist das nicht ein bißchen zuviel für zwei Personen, die es eilig haben?« wandte sie ein.

Fred mußte lachen.

»Was wir nicht schaffen, nehmen wir mit für unterwegs.« Er deutete auf die Thermoskanne für den Kaffee. Außerdem hatte er eine Art Picknickkoffer vorbereitet.

»Fleißig, fleißig!« kommentierte Petra respektvoll.

»Was man von dir nicht unbedingt behaupten kann, denn während ich unter der Dusche stand, ist nicht viel passiert in der Küche«, versetzte Fred. Aber es war nicht ganz ernst gemeint, denn sogleich umarmte er sie lachend und fügte hinzu: »Warst wohl ziemlich in Gedanken, wie? Kein Wunder: Wäre ich an deiner Stelle ebenfalls!«

Sie küßten sich und scherzten miteinander. Dann erst ging es ans Frühstücken.

Petra bekam jedoch kaum einen Bissen herunter. Als Fred das sah, hatte er ein Einsehen: »Wie gesagt, wir können es auch einpacken und einfach mitnehmen für unterwegs. Klar, daß du jetzt zu nervös bist...«

Sie brauchte nur zu nicken, und Fred wurde sogleich tätig.