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Der große Roman
– Jubiläumsbox 3 –

E-Book 13-18

Hilde Neuhaus
Bettina Clausen
Diane Meerfeldt
Viki Brausewetter
Gerda Morris
Liese-Lotte Altermann

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-947-3

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Die stolze Isabell

Roman von Hilde Neuhaus

»Pst! Nicht so laut, Isabell! Wenn jemand wach wird und uns hört, sind wir verloren. Zwei Tage Arrest ist das mindeste, was uns blühen kann.«

»Hätte ich diesen Blödsinn nur nicht mitgemacht«, kommt die erboste Stimme von Isabell von Bonin zurück. »Das ist wieder so eine verrückte Idee von dir, Ulla.«

»Ach was! Prima ist das. Du wirst sehen, wir werden uns auf dem Trachtenfest blendend amüsieren.«

»Sind wir noch nicht unten?« flüsterte Isabell.

»Noch zwei Stufen«, raunt Ulla Eschenbach zurück.

Die beiden jungen Damen sind damit beschäftigt, eine Leiter an der Hauswand hinunterzusteigen. Es ist zehn Uhr abends. Sie können nur ahnen, wo die nächste Stufe ist, denn die Mondsichel kommt nur alle paar Minuten hinter einer Wolke hervor und beleuchtet schwach das nächtliche Abenteuer.

Ulla ist schon auf der feuchten Gartenerde angelangt und breitet beide Arme aus, um ihre Freundin Isabell zu helfen.

»Nun noch die Leiter weg«, sagt Ulla, »wir legen sie lautlos auf die Erde, damit wir nachher wieder auf demselben Weg ins Haus können.«

Beide fassen sie an und lassen die leichte Leiter zur Erde gleiten.

Sie werfen noch einmal einen prüfenden Blick auf die Hausfassade. Aber es bleibt alles dunkel und still.

»Das hätten wir geschafft«, sagt Ulla und reibt sich vergnügt die Hände. »In der Gartenlaube liegen unsere Dirndlkleider.«

Sie ducken sich und schleichen durchs Gebüsch zur ­Gartenlaube. Aus einem Karton zieht Ulla zwei Dirndlkleider.

Hastig ziehen sich die beiden Mädchen an. Die Frisuren werden geändert. Sie erkennen sich fast selber nicht mehr wieder, als sie sich im Mondschein in einem kleinen Taschenspiegel betrachten.

»Beinahe sehen wir aus wie die Bauerntrampel«, erklärt Ulla und kann sich kaum halten vor Lachen.

Isabell findet das nicht lächerlich. Sie ist überhaupt in keiner vergnügten Laune. Sie hat das Ganze nur notgedrungen mitgemacht, weil Ulla sie schon seit Wochen beschwatzt hat.

Ulla nimmt ihre Hand und führt sie durch die verschlungenen Wege des Gartens zu einer kleinen versteckten Tür, die sie vor Wochen entdeckt hat.

Als sie im Freien sind, atmen beide hörbar auf.

»Wenn nur keiner merkt, daß wir nicht da sind«, sagt Isa­bell mit klopfendem Herzen, »du weißt, wie streng Frau Hohenstein ist. Wir fliegen sofort aus dem Pensionat.«

»Die schläft wie ein Dachs. Glaube mir. Es ist noch nie vorgekommen, daß sie nachts durch das Haus gegangen ist. Wir sind in zwei bis drei Stunden zurück. Denk bitte nicht daran. Wir wollen uns heute amüsieren. Ich bin es sowieso leid, ständig beaufsichtigt zu werden. Mir hat es von Anfang an nicht gepaßt, in ein Pensionat gesteckt zu werden. Daran ist aber nur meine Stiefmutter schuld. Die wollte mich für ein bis zwei Jahre los sein.«

»Wie weit ist es noch bis zum Ort?« fragt Isabell.

»Wir sind gleich da. Höchstens noch zehn Minuten. Drücken dich die ungewohnten Schuhe?«

»Natürlich«, stößt Isabell wütend hervor, »noch niemals habe ich so gräßliche Schuhe getragen. Sie drücken an allen Ecken.«

»Halb so wild. Das müssen wir auf uns nehmen. Sonst merkt man, daß wir nicht vom Lande sind. Es muß alles stilecht sein.«

Isabell seufzt. Sie hören jetzt schon die Blaskapelle, die im Dorfkrug zum Tanz aufspielt.

»Und rede bloß nicht so vornehm«, mahnt Ulla, »sag lieber gar nichts. Wir wollen einmal richtige Landmädchen spielen.«

»Eine verrückte Idee von dir«, murmelt Isabell.

Sie sehen jetzt schon das hell­erleuchtete Dorf. Es ist eine warme Sommernacht. Es duftet nach Wald und Wiese.

Ein paar junge Männer begegnen ihnen und wollen sie gleich in ihre Mitte nehmen. Entrüstet will Isabell auffahren, aber Ulla gibt ihr einen Rippenstoß, so daß sie verwirrt schweigt.

Ehe sie sich versehen, sind sie mitten im Festtrubel drin, der zu dieser Zeit bereits seinen Höhepunkt erreicht hat.

Es ist ein herrlich buntes Gewimmel. Die leuchtenden Farben der Trachten geben ein verwirrend schönes Bild.

Der Dorfkrug ist bis auf den letzten Platz besetzt. Es ist noch ein großes Zelt daneben auf einem freien Platz aufgestellt worden, das genauso gefüllt ist.

Kaum hört die eine Kapelle auf zu spielen, so fängt die zweite schon an. Die ganze Umgebung ist zu diesem traditionellen Trachtenfest gekommen.

Die beiden Mädchen werden sogleich in den Trubel mit hineingezogen. Ehe sie so recht zu sich kommen, sind sie voneinander getrennt.

Isabell ist wütend, als sie Ulla nicht mehr in ihrer Nähe entdecken kann. Sie möchte am liebsten sofort zurückgehen. Aber das kann sie nicht wagen, wenn sie nicht alles verraten will.

Sie muß schon bis zwölf Uhr ausharren, denn um diese Zeit wollen sie den Rückweg gemeinsam antreten.

Was soll sie nun tun? Sie fühlt sich wie eine Fremde.

Sie dreht sich suchend um.

In diesem Augenblick spürt sie ein Augenpaar auf sich gerichtet. Es sind Augen, deren Blick man einfach nicht ausweichen kann.

Auch Isabell kann es nicht. Wie magisch zieht der Blick dieser graublauen Augen sie an.

Die Augen gehören einem dunkelblonden Mann mit hoher, schlanker Gestalt. Mit sicheren, ruhigen Schritten bahnt er sich eine Gasse durch die wogende Menge und kommt auf Isabell zu.

»Suchen Sie jemanden?« fragt er höflich. Isabell ist nur einen Augenblick verwirrt.

Jetzt wird ihr Blick abweisend, und ihre dunklen Brauen ziehen sich hochmütig nach oben.

»Nein«, sagt sie schroff und mustert die imponierende Gestalt des Mannes mit unnahbarer Miene.

Er läßt sich allerdings nicht davon beirren. Er lächelte sogar, als gehe er auf einen Scherz von ihr ein.

»Sie sind sehr hübsch«, sagt er, »auch wenn Sie eine Schmollmiene machen.«

Wer kann sie schon sein, denkt er, irgendein hübsches Mädchen aus der Gegend hier herum. Wenn auch ihr Gesicht feiner ist und ihr Mund hochmütiger, so verrät doch ihre ländliche Tracht, daß sie zu den Menschen hier gehört.

Isabell will sich entrüstet abwenden, aber da fängt die Musik schon wieder an. Und im nächsten Moment packt eine kräftige Hand sie am Arm und hält sie fest.

»Tanzen wir?« fragt er mit lachenden Augen.

Isabell ist starr über so viel Frechheit. Aber im rechten Moment denkt sie an Ullas Warnung. Nicht vornehm reden und sich nicht durch hochmütiges Benehmen verraten.

Wenn sie nicht den ganzen Abend hier allein herumstehen will, muß sie mit diesem unverschämten Menschen leider tanzen.

Er faßt sie so spontan und fest um die Taille, daß sie ihm einen leicht empörten Blick zuwirft.

Er tanzt atemberaubend. Er hat sie so fest im Griff, daß sie einfach mitgerissen wird. Sie vergißt fast zu atmen, so wirbelt er sie herum.

Die Musikkapelle spielt nur alte Tänze. Moderne Tänze sind auf diesem Trachtenfest verpönt. Sie würden auch nicht recht zum Bild passen.

Isabell spricht kein Wort und ihr Tänzer auch nicht.

Er schaut sie nur an. Es sieht fast aus, als mache er sich über sie lustig, weil sie so abweisend aussieht.

Als der Tanz zu Ende ist, suchen Isabells Augen verzweifelt nach Ulla. Aber sie kann nicht ein Zipfelchen von ihrer Freundin entdecken.

Ihr Tanzpartner hat anscheinend auch nicht die Absicht, sich von ihr zu trennen. Er hält weiterhin ihren Arm fest, um sie nicht im Gewühl zu verlieren.

»Wollen wir ein Gläschen miteinander trinken?« fragt er sie.

Seine stahlblauen Augen sind so dicht vor ihr, daß es Isabell heiß und kalt über den Rücken läuft.

»Meinetwegen«, wirft sie hin. Immer noch besser, mit diesem Mann als Schutz, als allein in diesem Gewühl zu stecken.

»Jetzt sagen Sie wenigstens mal ein Wort«, lacht er übermütig. »Ich dachte schon, Sie würden überhaupt nicht mehr mit mir sprechen.«

Er hat anscheinend einen festen Platz an einem der langen Tische.

Für Isabell hat er blitzschnell einen zweiten Stuhl herangezogen. Seine Bewegungen sind sicher und überlegen. In seiner Nähe müßte man sich geborgen fühlen, denkt Isabell einen Moment lang.

Ehe sie sich versieht, steht ein Glas Wein vor ihr.

»Prost«, sagt ihr Partner und hält ihr sein Glas entgegen. Isabell muß ihn notgedrungen anschauen. Sie findet seinen Blick ausgesprochen dreist.

»Weißt du, daß man sich eigentlich auf diesem Fest mit ›Du‹ anreden muß?« fragt er leise. »Ich bin fremd hier in der Gegend, aber man hat es mir gesagt.«

»Davon weiß ich nichts«, sagt Isabell frostig.

Er zuckt mit den Schultern. »Du bist also auch nicht aus dieser Gegend?«

»Doch«, sagt sie schroff.

Er findet ihre Schroffheit offenbar sehr amüsant, denn er ist nicht im Geringsten eingeschnappt. »Ich habe Mädchen sehr gern, die so kratzbürstig sind wie du«, flüstert er ihr zu.

»So«, wirft sie bissig hin. Ihre Brauen heben sich geringschätzig. Am liebsten würde sie diesem Theater ein Ende machen und ihm sagen, daß sie keinen Wert darauf legt, mit anderen Mädchen verglichen zu werden.

Sie nippt an ihrem Wein. Sie merkt, daß er plötzlich auf ihre Hände starrt.

»Was für feine Hände du hast«, murmelt er verwirrt, »so als ob du in deinem ganzen Leben noch nichts getan hättest.«

Sie erschrickt. Ulla hat ihr fest eingeschärft, sich nicht zu verraten.

»Ich arbeite aber«, sagt sie trotzig.

»Oh, Verzeihung«, lacht er nun wieder. »Ich habe ja auch nur einen Moment daran gezweifelt. Selbstverständlich ge­hörst du hier in diese Gegend. Und hier muß jeder arbeiten. Darf ich fragen, aus welchem Ort du bist und was du arbeitest?«

Ehe Isabell eine ungezogene Antwort geben kann, hat die Musik wieder angefangen und ihr Partner fordert sie zum nächsten Tanz auf, damit ihm keiner zuvorkommen kann. Bis dahin hat Isabell Zeit, sich eine Antwort zu überlegen, ohne sich zu verraten.

»Ich bin aus Rosenbach«, lügt sie. »Ich arbeite zu Hause auf unserem Bauernhof.«

»Bella«, sagt sie wie aus der Pistole geschossen. Langsam findet sie an diesem Theater Spaß. Der Wein trägt dazu bei, ihr die schlechte Laune zu nehmen.

»Bella«, sagt er andächtig und schaut sie voll Bewunderung an. »Ich hab noch nie ein so schönes Bauernmädchen gesehen wie dich. Hast du noch keinen Burschen zum Freund? Bist du allein hier?«

»Ich bin allein hier. Und einen Freund habe ich noch nicht.«

»Dir ist sicher keiner hübsch genug, nicht wahr? Ich könnte mir denken, daß du sehr wählerisch bist.«

»Wie heißen Sie eigentlich?« fragt Isabell von oben herab. Auf seine letzte Bemerkung antwortet sie erst gar nicht.

»Sie!« sagt er beleidigt. »Fällt es dir so schwer, mich mit du anzureden, wie es hier alle tun?«

Isabell beißt sich auf die Lippen. Sie weicht seinem drängenden Blick aus.

Er drückt sie fester an sich. Isabell spürt die Wärme seines Körpers. Noch nie hat ein Mann sie so ungeniert umfaßt. Es macht sie unruhig und unsicher.

»Mädchen«, flüstert er heiß, »sei doch nicht so kratzbürstig. Warum bist du hierhergekommen? Du willst sicher doch tanzen und lustig sein wie die anderen. Oder welch einen Grund hast du?«

Isabell weiß keine Antwort.

»Übrigens heiße ich Rainer«, fährt er fort. »Ich bin aus Norddeutschland. Ich bin zufällig hier für ein paar Tage. Du gefällst mir sehr. Aber du darfst nicht so bockig sein.« Seine Lippen berühren ihr Haar. »Du bist schön«, murmelt er dicht an ihrem Ohr.

Isabell spürt seinen heißen Atem. Sie möchte sich aus diesen starken Armen losreißen. Sie möchte diesen Mann schlagen. Mitten ins Gesicht. Weil er sich Dinge erlaubt, die sich noch niemals jemand erlaubt hat. Weil sie ihn kaum kennt und weil er doch schon tut, als seien sie sich seit Jahr und Tag vertraut.

Aber Isabell ist nicht fähig, sich zu rühren. Sie fühlt eine süße Schwäche in den Gliedern. Ist das der Wein oder ist es ein Gefühl, das sie bisher nicht gekannt hat? Ganz schwindlig ist ihr auf einmal.

Nach dem Tanz führt er sie wieder zu ihrem Platz. Er ­bestellt neuen Wein, und Isabell trinkt ihr Glas sehr schnell aus.

Jeden Tanz tanzt er mit ihr. Sie fügt sich willenlos. Auf einmal erblickt sie auch Ulla. Ulla hat glühendrote Wangen und liegt selig lächelnd in den Armen eines wildfremden jungen Mannes.

»Ulla«, ruft Isabell erfreut und auch ängstlich.

Ulla sieht sie. »Juhu«, ruft sie und schwenkt ihren Arm. Sie scheint sich fabelhaft zu amüsieren und dasselbe von Isabell anzunehmen.

»Ist das deine Freundin?« fragt Rainer.

»Ja«, preßt Isabell zwischen den Lippen hervor. Sie will mit Ulla sprechen. Sie will veranlassen, daß sie beide sofort das Fest verlassen. Aber Ulla ist im nächsten Moment schon wieder ihren Blicken entschwunden.

So bleibt Isabell nichts anderes übrig, als weiterzutanzen und abzuwarten, bis es endlich zwölf Uhr ist.

Nach dem dritten Glas Wein fängt Isabell an, alles rundherum schön zu finden. Und ihren Partner, von dem sie nur den Vornamen kennt, findet sie auch gar nicht mehr so übel. Im Gegenteil. Sie betrachtet ihn jetzt eingehender. Er ist beinahe das, was man einen schönen Mann nennt. Die braungebrannte Haut paßt zu den graublauen Augen und dem dunkelblonden Haar. Der Mund ist schön geschwungen und das Kinn energisch. Seine Hände sind kraftvoll. Sie können zupacken, das weiß Isabell bereits. Sie denkt darüber nach, was er für einen Beruf haben könnte. Aber sie fragt nicht. Für sie ist die ganze Geschichte spätestens um zwölf Uhr zu Ende.

»Ich bin müde«, sagt sie, als der nächste Tanz zu Ende ist.

Er sieht sie erschrocken an. »Oh, verzeih«, sagt er, »daran hätte ich denken müssen. Gut, machen wir eine Pause. Ich bringe dich nachher nach Hause, Bella. Ich habe meinen Wagen draußen stehen. Aber wir bleiben noch ein bißchen zusammen, ja?«

Isabell nickt. Bis zwölf Uhr muß sie durchhalten. Sie sieht sich nach Ulla um, aber von der ist nichts zu entdecken.

Rainer führt sie aus dem Saal. Die frische Luft tut gut. Rainer scheint hier genau Bescheid zu wissen.

Er führt sie ein Stückchen weiter. Es geht den Wiesen und dem Wald zu. Die Sommernacht ist schwül.

Merkwürdigerweise hat Isabell keine Angst, daß ihr von diesem fremden Mann etwas geschehen könnte.

Er hat den Arm um sie gelegt, Isabell läßt sich führen. Durch den Alkohol beeinträchtigt, kann sie nicht ganz klar denken.

Alles sieht sie wie durch einen rosaroten Schleicher. Die Musik tönt weiter und ist weit im Umkreis zu hören.

Rainer findet eine Bank. Sie setzen sich nebeneinander. Er legt den Arm um ihre Schulter. »Ich möchte dich wiedersehen, Bella«, sagt er bittend. Seine freie Hand streicht über ihren Arm.

Als Isabell nicht antwortet, beugt er sich zu ihr. So weit es die Dunkelheit erlaubt, forscht er in ihrem Gesicht. »Wann darf ich dich wiedersehen. Morgen…?«

»Gut, morgen«, lacht Isabell belustigt. Sie findet es langsam köstlich, ihn zu belügen.

»Du mußt mir sagen, wann und wo ich dich treffen kann.«

»In Rosenbach«, sagt sie, »vor dem Ortseingang steht eine alte Linde mit einer Bank darunter. Sagen wir so um acht Uhr herum.«

Sie hat keine Ahnung, ob es Rosenbach wirklich gibt und wie es da aussieht.

Er küßt spontan ihre Hand. »Jetzt bist du endlich etwas netter zu mir«, stellt er beglückt fest. »Ich freue mich schon auf morgen.«

Isabell lächelt hintergründig, aber er sieht es nicht.

Ihr Atem stockt, als sie plötzlich seine Lippen auf ihrem Mund spürt. Sie will schreien, aber sie kann es nicht. Ein Schauer durchrieselt sie. Dieser Kuß ist so heiß und verzehrend, daß Isabell keinen Widerstand mehr aufbringt. Das Blut rauscht in ihren Ohren.

Als er sie immer wieder küßt, kann sie nur noch verwirrt und betäubt stillhalten.

»Du süßes kleines Mädchen«, murmelt Rainer. »Du raubst mir den Verstand, hörst du? Bella, süße, entzückende Bella.«

Isabell hört die wilden Herzschläge des Mannes. Sie spürt die Kraft seiner Muskeln. Es ist ein berauschendes Gefühl, so geküßt zu werden. Isabell hat es noch nie erfahren. Wo ist ihr Stolz geblieben? Wer ist dieser Mann, der sie so verwandelt hat? Warum wehrt sie sich nicht? Warum läßt sie geschehen, daß ein Fremder sie küßt und umarmt?

Die Zeit vergeht, ohne daß es Isabell bewußt wird. Sie liegt in den Armen Rainers, und sie hört seine verliebten Worte. Sie duldet seine brennenden Küsse und die Liebkosungen seiner Hand.

Erst als es vom nahen Kirchturm dumpf Mitternacht schlägt, erwacht Isabell aus ihrer Verzauberung.

»Laß uns tanzen gehen«, murmelt sie.

Er küßt sie noch einmal. Dann gehen sie zurück. Stark hält sein Arm sie umschlungen. Sie mischen sich unter die tanzenden Paare. Von Ulla ist nichts zu sehen.

Isabell gewinnt langsam ihre Fassung zurück. Sie denkt nur daran, wie sie unbemerkt verschwinden kann.

Als sie zum Tisch zurückgehen, ruft Rainer sofort nach dem Kellner, der aber nicht kommt. Schließlich springt Rainer selber auf, um den Kellner zu holen. Er entschuldigt sich bei Isabell und bahnt sich einen Weg durch das Gedränge.

Diesen günstigen Moment benutzt Isabell, um ebenfalls aufzuspringen und in umgekehrter Richtung zu verschwinden. Sie findet auch sofort einen Ausgang und ist im Augenblick draußen vor der Tür. Sie hetzt zu der verabredeten Stelle. Ulla steht schon da und winkt. Neben ihr steht ein junger Mann.

»Wo hast du denn deinen netten Kavalier?« witzelt Ulla. »Wir stehen schon seit zehn Minuten hier.«

Isabells Gesicht wird immer frostiger. Sie nickt dem jungen Mann hochmütig zu und wendet sich dann an Ulla.

»Ich habe dich den ganzen Abend wie eine Stecknadel gesucht«, platzt sie ärgerlich heraus.

»Ich hatte den Eindruck, daß du dich blendend amüsierst«, gibt Ulla zurück. »Wenn ich gemerkt hätte, daß du dich langweilst, wäre ich bestimmt gekommen. Wo ist denn dein Tänzer?«

»Das interessiert mich nicht«, gibt Isabell kalt zu verstehen. »Wir müssen weg hier… Sofort! Sonst findet er mich.«

Sie zieht Ulla heftig am Arm.

»Wie du willst«, sagt Ulla, »ich dachte, der junge Mann würde dir gut gefallen. Es sah nämlich so aus.«

»Für ein paar Stunden, gewiß. Aber nun ist die Sache für mich erledigt. Wenn wir uns nicht beeilen, kommt alles heraus.«

Ulla und der junge Mann folgen Isabell, die einfach losrennt. »Halt!« ruft Ulla, als sie auf der Dorfstraße sind. »Warte, Isabell! Wir fahren doch zurück. Wir brauchen nicht zu gehen. Herr Brinkmann fährt uns mit seinem Wagen zurück. Er weiß Bescheid. Und wenn du einen Augenblick Zeit gehabt hättest, hätte ich ihn dir schon vor zehn Minuten vorgestellt.«

Isabell gibt keine Antwort. Der fremde junge Mann ist ihr gleichgültig. Sie findet es höchstens empörend, daß Ulla ihr Geheimnis bereits preisgegeben hat. Dabei sollte alles doch nur ein kleiner Scherz sein.

Isabell läßt durch ihr Benehmen deutlich erkennen, wie sehr ihr das Verhalten Ulla mißfällt. Der junge Mann stellt sich ihr als Günther Brinkmann vor. Isabell nimmt es schweigend zur Kenntnis. Sie wartet ungeduldig darauf, daß man endlich abfährt.

Herr Brinkmann hat einen kleinen Sportwagen am Straßenrand stehen. Sie finden alle drei knapp Platz darin. Aber Ulla behauptet, es sei besser, schlecht zu fahren als gut zu gehen. Sie ist vergnügt und lacht ununterbrochen.

Isabell atmet auf, als sie endlich losfahren. Sie hat bis zum letzten Augenblick Angst gehabt, daß ihr Tanzpartner noch auftaucht.

In wenigen Minuten sind sie vor dem kleinen Portal angelangt. Herr Brinkmann hilft den beiden jungen Damen voll Umsicht. Er öffnet leise die Tür und schleicht mit ihnen durch den nachtdunklen Garten.

Das Haus liegt still und friedlich da.

An der Hauswand liegt noch die Leiter. Günther Brinkmann stellt sie lautlos auf. Er ist geschickt.

Dann hilft er den beiden Damen hinauf. Zuvor verabschiedet er sich von Ulla mit einem Kuß. Isabell wendet sich abrupt ab. Sie ist als Erste oben. Sie hat kein Wort des Dankes für die Hilfe. Ulla wartet, bis die Leiter wieder von Günther Brinkmann an ihren Platz gestellt wird. Dann winkt sie noch einmal zurück.

Lautlos schleichen sich die beiden Damen in ihr Zimmer. Sie machen kein Licht, um nicht aufzufallen.

Ulla möchte gern noch in der Dunkelheit plaudern, aber Isabell ist nicht mehr an sprechbar. Sie ist in wenigen Minuten entkleidet und im Bett. Von da ab hört Ulla nichts mehr von ihr.

*

Als Rainer zurückkommt, findet er den Platz neben sich leer. Er erschrickt zuerst, aber dann sagt er sich, daß sein schönes Mädchen gleich wiederkommen wird.

Er zündet sich ungeduldig eine Zigarette an und wartet. Dabei geht sein Blick suchend im Saal umher. Vielleicht ist sie von einem anderen Mann zum Tanz aufgefordert worden und konnte nicht nein sagen. Vielleicht hat sie auch Bekannte getroffen oder ihre Freundin gesehen.

Als eine Viertelstunde vorbeistreicht, ohne daß Bella auftaucht, wird Rainer nervös.

Er erkundigt sich bei den neben ihm Sitzenden, ob sie seine Partnerin gesehen hätten. Er erfährt, daß Bella sofort nach ihm aufgestanden ist und in anderer Richtung weggegangen ist.

Rainer springt auf und macht sich auf die Suche nach Bella. Er durchsucht das ganze Lokal. Seine Augen gehen hin und her. Dann geht er hinaus und sucht draußen weiter. Aber er findet keine Spur von Bella.

Niedergeschlagen kehrt er zurück. Er trinkt seinen Wein in einem Zug. Die Enttäuschung über Bellas Verschwinden ist ihm anzusehen.

Warum hat sie das getan? Sie ist ihm ein Rätsel. Aber gerade weil sie so geheimnisvoll ist, kommt sie ihm noch begehrenswerter vor.

Er wartet, bis die letzten Gäste aufbrechen. Er kann es nicht fassen, daß sie nicht wiedergekommen ist. Daß sie keine Zeile, kein Wort hinterlassen hat.

Seine ganze Hoffnung richtet sich nun auf den nächsten Abend, an dem er sich mit ihr verabredet hat. Er ist froh, daß er diese Verabredung vorsorglich getroffen hat. Er wird sie finden. Er muß sie finden, koste es, was es wolle. Dieses Mädchen hat eine Glut in ihm entfacht, die niemand mehr löschen kann.

*

Als Isabell aufwacht, steht Ulla schon fertig angezogen vor ihr.

»Ich habe die Dirndlkleider wieder versteckt und die Leiter in aller Frühe in den Schuppen getragen«, flüstert sie. »Ich bin schon seit einer Stunde auf. Ich konnte vor Aufregung überhaupt nicht schlafen. Und du? Hast du gut geschlafen?«

Isabell gähnt. »Ja«, behauptet sie, aber es stimmt nicht.

»Mir hat es wunderbar gefallen«, sagt Ulla und richtet schwärmerisch die Augen gen Himmel. »Und dir?«

Isabell springt aus dem Bett und geht zum Waschbecken. Ehe sie antwortet, läßt sie einen Strahl kalten Wassers laufen.

»War es unbedingt nötig, daß du diesem Herrn Brinkmann alles verraten hast?« fragt sie zurück. »Man weiß doch überhaupt nicht, mit was für Menschen man da zu tun hat. Ich verstehe dich nicht. Mir bläust du ein, daß ich mich nicht verraten soll, und du erzählst dem erstbesten Menschen unser Geheimnis. Wir wären auch ohne seine Hilfe zurückgekommen. Weißt du überhaupt, wer er ist?«

»Natürlich! Er ist hier bei seinem Onkel zu Besuch. Er wohnt in Dortmund und studiert in Heidelberg Volkswirtschaft. Er hat mir seine ganzen Familienverhältnisse erzählt. Das fand ich rührend. Daraufhin habe ich ihm auch von mir berichtet. Er hat mir sowieso auf den Kopf zugesagt, daß ich kein Bauernmädchen wäre und daß ich auch nicht hier aus der Gegend stamme. Was sollte ich da machen? Ich habe gelacht und ihm die Wahrheit gesagt. Hat dein Kavalier dir alles geglaubt?«

Isabell zuckt mit den Schultern. »Weiß ich nicht, und es ist mir auch jetzt ganz gleichgültig. Ich werde ihn sowieso nie wiedersehen.«

Ulla starrt sie an. »Du, der sah aber fabelhaft aus. So männlich. Der ist bestimmt nicht aus der Gegend hier.«

»Nein, aus Norddeutschland.«

»Und was tut er? Ich meine, was hat er für einen Beruf?«

»Liebes Kind, daß weiß ich doch nicht. Denkst du, danach hätte ich gefragt? Er sollte sich nicht einbilden, daß mich so etwas interessiert.«

»Schade«, sagt Ulla. »Ich fand, ihr wart ein wundervolles Paar.«

»Quatsch«, behauptet Isabell heftig. Die Zornröte ist ihr ins Gesicht gestiegen. Sie erinnert sich jetzt wieder deutlich an die vergangene Nacht. Sie schämt sich unsagbar, daß sie so schwach gewesen ist. Ihr ganzer Stolz bäumt sich dagegen auf.

»Ich treffe mich heute nachmittag wieder mit Günther«, sagt Ulla. »Ich finde ihn goldig. Er bleibt noch vierzehn Tage. Wir haben versprochen, uns gegenseitig zu schreiben.«

»Das kannst du halten, wie du willst«, sagt Isabell kühl. »Ich für mein Teil betrachte den gestrigen Abend als einen dummen Scherz, der für mich zu Ende ist. Ich will nichts mehr davon hören. Ich schäme mich, daß ich diesen Blödsinn mitgemacht habe. Hoffentlich kann dieser Herr Brinkmann seinen Mund halten.«

Ulla wird rot vor Ärger. »Er schweigt, verlaß dich darauf«, sagt sie heftig. »Ich bin nur erstaunt darüber, daß du jetzt so wütend und kurz angebunden bist. Gestern abend habe ich dich beobachtet, wie du in den Armen deines Partners dahingeschwebt bist. Wie im siebten Himmel sahst du aus. Du hast mich überhaupt nicht gesehen.«

»Schweig«, zischt Isabell, bleich vor Entsetzen.

»Wieso denn? Was wahr ist, muß wahr bleiben. Heute willst du es nicht mehr wahr haben, daß du gestern abend bis über beide Ohren verknallt warst in deinen hübschen Partner.«

»Du bist verrückt«, ruft Isabell außer sich. »Wie du dich ausdrückst! Verknallt! Das wäre das Letzte! In einen wildfremden Menschen! Dieser Mann ist mir gänzlich gleichgültig, hörst du? Vollkommen gleichgültig. Er ist für mich überhaupt nicht mehr da. Ich werde ihm in meinem ganzen Leben nicht mehr begegnen. Worauf du dich verlassen kannst. Ich bitte dich, hör jetzt auf damit! Ich will nichts mehr davon wissen.«

Isabell hält sich mit dem Handtuch die Ohren zu.

Ihr schönes Gesicht ist verzerrt in kaltem Hochmut.

Ulla wendet sich ab. »Du tust mir leid«, sagt sie leise. »Dein falscher Stolz nimmt dir alle Lebensfreude. Du läßt nur Menschen gelten, die aus deinen Kreisen kommen. Alles andere ist Abschaum für dich. Du blickst nicht in das Herz. Mein Vater ist bestimmt nicht arm, aber er hat mir von Kindheit an eingeprägt, daß es nur auf den inneren Wert eines Menschen ankommt und nicht auf seine Stellung in der Gesellschaft.«

Verbissen hört Isabell die Vorwürfe ihrer Freundin an. Aber sie reagiert nicht darauf. Sie frottiert sich ab und kämmt ihr Haar. Es leuchtet wie Kupfer in der aufgehenden Sonne.

Ulla geht zur Tür. »Ich geh schon in den Frühstücksraum«, sagt sie und verschwindet. Isabell ist allein mit ihren widerstreitenden Gefühlen. Sie möchte den gestrigen Abend vergessen, und sie kann es nicht. Sie möchte das Bild des fremden Mannes, der sie so heiß geküßt hat, aus ihrem Gedächtnis reißen, aber es gelingt ihr nicht.

Sie verrennt sich in ihren Stolz und ihren Hochmut und zeigt nach außen die kalte Schulter.

Kein Wort über den gestrigen Abend kommt mehr über ihre Lippen.

Ulla sieht das verschlossene Gesicht der Freundin und weiß, daß es besser ist zu schweigen.

*

Rainer Wendt hat den ganzen Tag damit verbracht, mit seinem Wagen in der Gegend herumzufahren und Bella zu suchen. Er hat kaum geschlafen, die Unruhe hat ihn früh aus den Federn getrieben.

Er hat seine kleine Pension verlassen, in der er das Wochenende verbracht hat.

Er fiebert dem Augenblick entgegen, an dem er sich mit Bella verabredet hat.

Aber gleich früh hat Rainer den ersten Schock bekommen. Auf seine Frage, wo Rosenbach liegt, hat ihm sein Wirt geantwortet, daß es diesen Ort nicht gibt. Jedenfalls nicht in der weiteren Umgebung.

Rainer kann das nicht glauben. Er ist zum Ortspolizisten gegangen und hat sich eine Karte geben lassen. Er hat eine Stunde lang nach dem Namen Rosenbach gesucht. Aber er hat ihn nicht gefunden.

»Es wird Roterbach sein«, hat der Ortspolizist ihm gesagt. »Da kann man sich mal verhören. Aber das liegt zweiundzwanzig Kilometer von hier entfernt.«

»Das muß es sein«, sagt Rainer aufatmend. »Wie komme ich da hin?«

Der Polizist erklärt es ihm und Rainer setzt sich sofort in seinen Wagen und fährt ab. Er sucht vor der Einfahrt nach Roterbach nach der uralten Linde mit der Bank drum herum, wie Bella sie ihm am Abend vorher geschildert hat. Aber es findet sich weder am Ortseingang ei­ne alte Linde noch eine dazugehörige Bank.

Verstört fährt Rainer in den kleinen Ort hinein. Wen soll er hier fragen nach Bella? Er kennt nur ihren Vornamen. Beschreiben kann er sie natürlich ganz genau.

Soll er warten, bis es acht Uhr ist, oder soll er sich vorher erkundigen, wer und wo sie ist?

Rainer hat keine Ruhe und keine Geduld mehr.

Er steigt aus und geht zum nächsten Bauernhof. Er trifft eine Magd an, die in der Küche Kartoffeln schält.

In diesem kleinen Ort muß man Bella kennen. Ein so auffallend schönes Mädchen ist jedem Menschen im Ort bestimmt ein Begriff.

Er fragt die Magd und schildert Bella so genau, als stünde sie vor ihm.

Die Magd schüttelt immer heftiger den Kopf.

»Die gibt’s hier nicht«, sagt sie bestimmt, »die müßt ich kennen. Ich kenne alle Leute hier im Ort. Und die Mädchen ganz besonders. Bella heißt hier keine, und es sieht auch keine so aus, wie Sie sie beschreiben.«

»Sie muß hier leben«, beharrt Rainer verwirrt.

»Fragen Sie im ganzen Ort herum«, sagt die junge Magd, »keiner wird Ihre Bella kennen.«

Trotzdem gibt Rainer sich noch nicht geschlagen. Er bedankt sich und geht. Aber er fragt noch ein Dutzend anderer Leute, denen er begegnet. Alle sagen ihm dasselbe. Niemand kennt ein Bauernmädchen namens Bella mit kastanienbraunem Haar und tiefblauen Veilchenaugen.

Rainer Wendt weiß nun genau, daß Bella ihn beschwindelt hat. Sie hat von Anfang an nicht vorgehabt, sich mit ihm noch einmal zu treffen. Wahrscheinlich ist auch ihr Vorname falsch. Sie hat ihm ein Märchen aufgebunden. Aber warum? Warum hat sie überhaupt das Fest besucht, und warum war sie allein? Warum hat sie sich den ganzen Abend nur mit ihm abgegeben?

Hundert Fragen stürmen auf Rainer Wendt ein. Aber keine einzige kann er beantworten.

Es ist schon beinahe wie ein Traum, daß er gestern abend ein schönes, fremdes Mädchen in den Armen gehalten hat, das sich Bella nannte.

Er spürt noch die herbe Süße ihrer Lippen und den zarten Duft ihres Haares. Eigentlich war sie gar nicht das, was man sich unter einem Bauernmädchen vorstellt.

Ihre feinen Hände sind ihm gleich aufgefallen. Und sie sprach auch keinen Dialekt. Allerdings hat sie so wenig gesagt, daß sich Rainer kein rechtes Bild von ihrer Sprache machen kann.

Nun steht er einsam auf der Dorfstraße und überlegt, was er tun soll.

Er hat auch nach der Dorflinde gefragt. Die gibt es nicht. Trotzdem bleibt Rainer bis acht Uhr in dem kleinen Ort. Er sieht die Bauern von der Feldarbeit zurückkommen. Ein Mädchen wie Bella ist nicht dabei.

Er bleibt vor dem Ortseingang mit seinem kleinen Wagen stehen. Er wartet. Aber nichts rührt sich.

Es wird langsam dunkel, und er verspürt einen quälenden Hunger und Durst.

Als es langsam still wird in dem kleinen Ort, fährt Rainer Wendt endlich davon.

Er ist noch niemals von einem Menschen so getäuscht worden. Sein gerader Sinn sträubt sich dagegen, daß eine Frau so gemein sein kann. Sie muß doch gestern abend gemerkt haben, wie sehr es ihn gepackt hat.

Sie weiß doch auch, daß er heute auf sie wartet. Und das alles stört sie nicht. Im Gegenteil, sie hat nicht einmal Mitleid mit ihm. Vielleicht lacht sie jetzt über diesen Toren, der sich in sie verliebt hat. Rainer kann sich gut vorstellen, daß sie überlegen lacht.

Ein Stich geht durch sein Herz.

Er muß morgen wieder fort nach Norddeutschland, wo er eine neue Stelle annehmen wird. Heute früh war er noch traurig darüber. Aber jetzt ist er froh, daß er diese Gegend hier verlassen muß. Alles erinnert ihn jetzt an Bella und an den gestrigen Abend.

Er weiß, daß er dieses seltsam schöne, stolze Mädchen nicht vergessen kann. Auch wenn er sie nur einen Abend gekannt hat. Aber dieses kurze Erlebnis hat sein ganzes Wesen aufgewühlt.

Er stöhnt auf. Die Sehnsucht nach dem Glück der vergangenen Nacht überkommt ihn mit einer Gewalt, daß es fast seine Brust sprengt.

»Bella«, formen seine Lippen. Aber heißt sie auch in Wirklichkeit Bella? Oder hieß sie nur so für ihn und nur für einen Abend?

Müde kehrt er in seine Gastwirtschaft zurück. Er nimmt an einem einzelnen Tisch Platz und bestellt etwas zu essen. Er ist müde und so niedergeschlagen, daß er sofort nach dem Essen in seinem Zimmer verschwindet.

*

»Liesel, du sollst mal zum Herrn Baron kommen!«

Mit diesen Worten erscheint der Kammerdiener Heinrich in der großen Küche des Herrenhauses.

Ein junges Mädchen springt hastig von einem Stuhl auf. Es wischt sich die feuchten Hände, die eben noch Kartoffeln geschält und geschnitten haben, an der Küchenschürze ab. Dann wird die Schürze abgebunden und das Haar schnell glatt gestrichen.

»Sofort«, sagt das junge Mädchen eifrig.

»Was will denn der Herr Baron von der Liesel?« erkundigt sich die Köchin Bertha, die gar nicht erbaut davon ist, wenn ihr das Personal so kurz vor dem Essen weggerufen wird.

»Das entzieht sich meiner Kenntnis«, sagt Kammerdiener Heinrich steif und würdevoll. Dann wendet er sich an Liesel. »Der Herr Baron erwartet dich in seinem Arbeitszimmer.«

Liesel nickt eifrig und rennt hinaus. »Ich bin gleich zurück«, ruft sie der Küchenchefin Bertha noch rasch zur Beruhigung zu.

Sie nimmt ein paar Stufen auf einmal, um in den ersten Stock des Herrenhauses zu kommen, wo das Arbeitszimmer des Barons gleich anschließend an die große Bibliothek liegt.

Der Herr Baron hat gerade ein Telefongespräch beendet, als Liesel auf sein Geheiß eintritt. Sie bleibt ehrerbietig an der Tür stehen, aber der Baron winkt ihr freundlich zu, näherzukommen.

Baron Otfried von Bonin ist ein kräftig gebauter Mann Anfang fünfzig. Er ist sehr beliebt bei seinen Angestellten und Gutsarbeitern, denn er kehrt nie den stolzen Baron heraus, obwohl das Geschlecht derer von Bonin schon seit Hunderten von Jahren den weitläufigen Besitz innehat.

»Liesel«, sagt er wohlwollend, »ich möchte nicht mehr, daß du unten in der Küche arbeitest. Du bist zu schade dafür. Bertha mag sich unter den Mägden eine andere Küchenhilfe aussuchen.«

Liesel wird rot. »Ich hab es aber gern getan, Herr Baron.«

»Trotzdem«, widerspricht der Baron, »ich will es nicht. Meine Tochter Isabell kommt morgen aus ihrem Pensionat zurück. Du sollst künftig nur noch für Isabell da sein. Es wird dir bedeutend besser gefallen, glaube mir. Du brauchst dir die Hände nicht mehr schmutzig zu machen. Du bekommst ein nettes Zimmer neben den Gemächern von Isabell.«

Über das Gesicht von Liesel geht ein Leuchten. Sie kann es noch nicht ganz fassen.

»Ist das wirklich wahr, Herr Baron?« stammelt sie.

»Natürlich, Liesel. Wenn ich so etwas anordne, dann bleibt es dabei. Ich werde mit Bertha selber sprechen. Du hast nichts weiter zu tun, als Isabells kleine Wünsche zu erfüllen.«

»Ich bewundere die gnädige Baronesse sehr«, sagt Liesel, »ich bin glücklich, daß ich etwas für sie tun darf.«

»Na also. Und ich bin davon überzeugt, daß auch meine Tochter sich darüber freuen wird.«

Plötzlich läuft Liesel auf die mächtige Gestalt des Barons zu und will seine Hand küssen.

Baron Otfried von Bonin wird bleich und zieht die Hand blitzschnell zurück. »Liesel«, stammelt er, »das darfst du nicht. Ich will das nicht, hörst du?«

Er sagt es so erregt, daß Liesel selber ganz blaß wird.

Sie murmelt eine Entschuldigung. »Ich wollte Ihnen nur danken, Herr Baron.«

»Schon gut, Liesel. Das ist aber ganz unnötig. Denn du arbeitest ja dafür. Du kannst morgen früh in dein neues Reich einziehen. Gegen abend wird Isabell ankommen. Wenn sie dann alles nett vorfindet, wird sie sich freuen. Am besten, du schmückst Isabells Räume mit hübschen Blumen, damit sie sich zu Hause wieder wohlfühlt.«

»Das tue ich alles furchtbar gern«, versicherte Liesel mit strahlenden Augen.

»Dann habe ich also das Richtige für dich erwählt«, lächelte der Baron. Er nickt Liesel freundlich zu. Dann darf sie wieder gehen.

Auf den teppichbelegten Stufen möchte Liesel am liebsten laut singend herunterspringen, so glücklich ist sie. Sie ist davon überzeugt, das große Los gewonnen zu haben. In tiefster Seele ist sie dem Baron dankbar für seine Güte. Er ist wie ein Vater zu ihr, seitdem sie Vollwaise geworden ist.

Ihre Eltern haben auf dem Gut gearbeitet, das zum Besitz der Bonins gehört. Liesel ist hier zur Welt gekommen und sie möchte niemals hier weg.

Darum ist sie dem Baron auch so dankbar, daß sie bleiben durfte, nachdem die Eltern tot waren. Sie ist bescheiden und sehr fleißig. Ein liebes Wort genügt ihr, um freudig ihrer Arbeit nachzugehen.

Sie ist glücklich, die Baronesse bedienen zu dürfen. Sie wird sich alle Mühe geben, um die schöne und stolze Baronesse Isa­bell zufriedenzustellen.

Gleich morgen früh wird sie die schönsten Blumen des Gewächshauses aussuchen, um die Zimmer Isabells damit zu schmücken.

*

»Willkommen zu Hause, mein geliebtes Kind«, sagt Baron Otfried von Bonin weich. Er hat beide Arme ausgestreckt und zieht seine einzige Tochter Isabell gerührt an die Brust. »Ich bin sehr froh, dich wieder zu haben, Isabell. Es war doch recht langweilig ohne dich in den beiden Jahren deines Fortseins. Du bist eine richtige Dame geworden. Und außerdem noch viel hübscher als früher.«

»Du Schmeichler«, sagt Isabell und macht sich leicht verlegen aus der Umarmung ihres Vaters frei. Sie ist kein Freund von allzu zärtlichen Umarmungen. Ihr Stolz läßt es nicht zu, ihre Gefühle deutlich zu zeigen. Diese Unnahbarkeit hat sie von ihrer ebenso kühlen und stolzen Mutter geerbt, die vor drei Jahren von einer tückischen Krankheit dahingerafft wurde.

Voll Bewunderung betrachtet Baron Otfried seine schöne Tochter. Er strahlt vor Glück und Stolz.

»Komm«, sagt er, »du bist sicher müde nach der langen Reise. Wir essen nachher ganz allein miteinander, ja?«

»Gern, Papa. Ich gehe nur nach oben und mache mich etwas frisch.«

Der Diener Heinrich bringt die Koffer der Baronesse in die Halle.

Der Baron nickt seiner Tochter zärtlich zu. Isabell hat ihre Gemächer im zweiten Stock. Als sie eintritt, stutzt sie.

Ein Meer von Blumen grüßt sie. Und an der Tür steht ein junges Mädchen mit leuchtenden Augen und macht einen tiefen Knicks vor ihr.

»Liesel Brauer?« fragt Isabell leicht erstaunt. »Was tun Sie denn hier? Ich denke, Sie gehören in die Küche.«

Liesel wird rot. »Der Herr Baron hat mich hierher befohlen. Ich soll ganz dem gnädigen Fräulein zur Verfügung stehen. Ich soll nicht mehr in der Küche arbeiten.«

»So«, sagt Isabell etwas frostig. Sie hat es nicht gern, wenn man ihr vorgreift. Aber sicher hat es ihr Vater gut gemeint.

»Na schön«, sagt sie nun etwas zugänglicher, »meinetwegen. Hoffentlich können Sie etwas mehr, als Kartoffeln schälen. Packen Sie bitte meine Koffer aus. Und richten Sie mir gleich ein Bad. Nachher können Sie meine Kleider ­etwas aufbügeln und nachsehen. Verstehen Sie etwas davon?«

»Ich gebe mir bestimmt alle Mühe«, versicherte Liesel eifrig. »Sie werden mit mir zufrieden sein.«

Isabell verzieht den schönen. Mund zu einem zweifelhaften Lächeln.

»Ein bißchen viel Blumen hier«, sagt sie, als sie ihre drei Räume durchschritten hat, »sie duften zu stark. Da kann man nachts nicht schlafen. Schaffen Sie bitte einen Teil davon wieder hinaus.«

Liesel ist enttäuscht, aber sie gehorcht sofort. Auf keinen Fall möchte sie sich den Zorn der Baronesse zuziehen.

Sie läuft hin und her und beginnt, die schweren Koffer auszupacken.

Isabell verschwindet im Bad.

Auch hier hat sie noch allerlei Wünsche. Liesel wird hin und her zitiert, bis Isabell endlich zufrieden ist.

Eine Stunde später sitzt die Baronesse mit ihrem Vater auf der Terrasse vor dem Speiseraum. Der Tisch ist für zwei Personen festlich gedeckt. Eine Flasche Sekt steht im silbernen Kübel bereit.

Baron von Bonin greift nach der schönen Hand Isabells.

»Ich bin glücklich«, sagt er. »Du mußt mir erzählen, wie es war in deinem Pensionat. Hast du nette Freundinnen gehabt? Und was hast du alles hinzugelernt?«

»Alles nach der Reihe, Papa«, sagt Isabell würdevoll.

Sie lehnt sich zurück und schaut über den weiten Park, der das Herrenhaus umgibt.

»Es ist schön, wieder hier zu sein«, sagt sie nach einer Pause. »Ich kann wieder tun und lassen, was ich will.«

»Hat dir der Zwang nicht gefallen, Isabell?« fragt ihr Vater besorgt.

»Nein. Ich habe mich nur gefügt, weil es zum guten Ton gehört, in einem vornehmen Pensionat gewesen zu sein. Manchmal war es auch ganz hübsch, natürlich. Aber hier ist es schöner.«