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EVELYN SCHALK

Graz

ABSEITS DER PFADE

Eine etwas andere Reise durch die Stadt
zwischen den Zeiten und Zeilen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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1. Auflage 2018

© 2018 by Braumüller GmbH

Servitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Fotos: © Evelyn Schalk

Karten: S. 10, 24, 56, 92, 142, 156, 174, 194

openstreetmap.org | © OpenStreetMap-Mitwirkende (CC BY-SA 2.0),

Tiles © Humanitarian OSM Team

Lektorat: Lisa Kärcher

Druck: FINIDR, s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín

ISBN 978-3-99100-236-9

eISBN 978-3-99100-237-6

Für die, die immer da ist

Für den, der gerade ankommt

Für alle, die nicht wissen wohin

Für jene, die nicht aufhören, Fragen zu stellen

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Inhalt

Abheben, ankommen, raus aus der Kapsel!

Ab durch die Mitte!

An den Ufern von Murtropolis

Die Kunst der Gleichberechtigung – mit Grenzgängern, Heldinnen und Zeitreisenden que(e)r durch die Stadt

Es grünt so grün, wenn …

Bewegte SchriftSpuren – Gedenken & Gegenwart

Konsulat für Menschlichkeit

Zentrale Zwischenräume

Vorwort

Liebe LeserInnen, ich muss Sie warnen. Diese Stadt, Graz, hat Untiefen – und sie finden sich in jedem Kapitel dieses Buches wieder. Manchmal sind sie nicht zu übersehen, ein anderes Mal stolpert man beinah hinein und versinkt darin, dann wieder blitzt ein Lichtreflex über die Seiten und macht rechtzeitig auf den unberechenbaren Grund aufmerksam.

So ist es auch mit der Sprache. Weniger mit dem Steirischen, aber jedenfalls mit der Hinwendung zum Literarischen. Eine solche ist der Stadt eingeschrieben, ob sie nun will oder nicht. Ein Aufbrechen von Verkrustung und Abschottung. Vieles davon hat sich über die Jahre ab- und eingeschliffen in die radikale Beständigkeit der Verhältnisse, aber es ist auch Neues durch den Beton gebrochen und schlägt hartnäckig Wurzeln.

Entlang der Sprünge, die sie verursachen, wandern die Kapitel dieses Buches. Sie sind unvollständig, subjektiv, faktengetreu, selektiv, emotional, nüchtern, begeistert, manchmal verstörend, stellenweise aufbrausend, hie und da überschäumend und mitunter widersprüchlich.

Jedes steht für sich und doch finden sich rote Linien quer über die Zeilen und Seiten hinweg. Mancher Sprachsalto wird Muster verwirbeln, manche Brüchigkeit, manches Verweilen oder Weitereilen an ungewohnter Stelle vertraute Rhythmen durchbrechen – und zum Tanz aus dem Takt auffordern.

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As we go marching marching …

Die Sätze, Absätze, Zusätze, Vor- und Nachsätze dieses Bandes zeichnen weniger Wege durch Graz vor, sondern öffnen diese zum Selbstentdecken und Verändern ihrer Verläufe. Geliefert werden Andockpunkte, verweigert hingegen Anweisungen.

Stattdessen bekommen Sie eine Einladung – zum Gespräch, zur Nachfrage, zur Auseinandersetzung. Denn wie lässt sich einer Stadt, wie lässt sich Menschen besser näher kommen als im Dialog?

Wort für Wort, Blick für Blick, Schritt für Schritt.

Miteinander und quer durch die Straßen, Zeilen und Zeiten der Stadt.

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A

Flughafen Thalerhof

B

Steirische Flugsportunion

1.

Abheben, ankommen, raus aus der Kapsel!

Es ist heiß, unglaublich heiß. Mit jedem Meter und jeder Minute scheint die Temperatur weiter zu steigen. Die Glaskuppel zwei Zentimeter über mir wird zum Brennglas. Ich öffne das winzige Schiebefenster, Luft strömt herein, ich atme gierig. Über mir das gleißende Blau eines nahezu wolkenlosen Himmels, unten Wasserflächen, Spielzeughäuser, grüne Bergkuppen. Alles schwebt. Kein Windhauch, libellengleich stehen wir in der Luft. Doch eine winzige Berührung des Steuerknüppels genügt, um das Bild zu kippen, die Perspektive dreht, öffnet sich neu, gibt den Blick frei und schickt ihn auf Entdeckungsreise.

Genau das gilt auch für die Stadt da unten. Spannend wird es dort, wo die vielen Postkartenmotive, die Graz zu bieten hat, ausfransen und damit zum Leben erwachen – an den Grenzen, Bruchlinien, Untergründen. Also überall dort, wo zutage tritt, was man der Stadt nicht zutraut, nicht ansieht, was man in ihr wohl kaum vermutet hätte. Nicht auf den ersten oder zweiten Blick und meist nicht mal beim vielfachen Hinschauen. Vielleicht, weil diese Seiten immer schon Teil des Bildes waren, das man in jener vermeintlich selbstverständlichen Unveränderbarkeit aufgenommen hat, die Graz zu oft von sich selbst behauptet. Vielleicht aber auch, weil sie gerade in dieser Sekunde des Hinschauens entstanden sind.

Jetzt und hier, mehr als 1.300 Meter über dem Boden und bereits einige Kilometer südlich des Hangar West hinterm Flughafen Graz Thalerhof, gibt das helle Licht jedenfalls einen Blick auf die Stadt frei, der zuerst jede einzelne Dachschindel erkennen ließ und nun, je höher wir steigen, aus den Gassen, Plätzen, Straßen, Grün- und Wasserflächen ein Puzzlespiel mit ungezählten Teilchen macht, eingerahmt von Bergen, überspannt von wolkenloser Matrix.

Abgehoben sind wir mit einer EB28 edition – einem „High-End-Modell“ von Segelflieger, wie mir Viktor Steiner, Obmann der Steirischen Flugsportunion, etwa eine Stunde zuvor noch am Boden bei der Besichtigung des Geländes begeistert erklärt hat. Inzwischen ist es zwar eher mein Magen, der sich von dem Geschaukel und der Hitze ein wenig high anfühlt, aber der Ausblick und die grazile Leichtigkeit des Flugzeugs, die Intensität von Luft und Farben machen die Enge der Kapsel nahezu vergessen, der Glassturz um mich herum scheint sich für Sekundenbruchteile im Luftflirren aufzulösen, was bleibt, sind Schwerelosigkeit und Weite.

Am I sitting in a tin can / Far above the world … eine Space Oddity made in Graz …

… warum auch nicht, schließlich wurde 2017 bereits der dritte Kleinsatellit für die ESA an der hiesigen Technischen Universität (TU) gebaut. PRETTY heißt der Zwerg und soll zur Erforschung des Klimawandels beitragen.1 Aber auch Bestrebungen zur Realisierung eines Kunst-Nano-Satelliten gab es an der Mur schon, mit dem Ziel „‚the‘ space as ‚public‘ space“ zu behaupten, „in which other projections, wishes, concerns, desires, purposes and undertakings of different matter have authority and entitlement.“2 Das All und den Himmel zu öffentlichem Raum erklären, wo unterschiedliche Projektionen, Wünsche, Bedenken, Verlangen, Ideen und Unternehmungen Platz und Berechtigung finden. Klingt wie Utopie, ist es auch, und ist gerade deshalb so wichtig – Luftschlösser, die die realen Verhältnisse beherbergen, hinterfragen, verändern. Dafür sind die Leute vom Verein mur.at immer ein Garant. Ebenso wie für jede Menge weitere technische und künstlerische Höhenflüge …

Eines steht fest: Auf zahlreichen anderen Wegen lässt sich dieses Graz leichter, schneller, bequemer und auch sicherer erreichen. Landet man beispielsweise mit einer Linienmaschine auf dem kleinen Airport, geht das in der Regel rasch und wenig spektakulär über die Luftbühne. Auf der weiten, dennoch versteckt gelegenen Wiese abseits des üblichen Flughafenrummels aufzusetzen bedeutet jedoch, dass man zuvor zumindest eine Stunde lang in der Luft gehangen ist und gefühlt alle Zeit der Welt hatte, die Stadt und ihr Umland aus den schrägsten Blickwinkeln zwischen Himmel und Erdboden zu betrachten. „Das muss man mögen“, so Viktor, dieses „Schwimmen in der Luft“, das das Segelfliegen so charakteristisch macht. Dasselbe gilt für die Stadt darunter – Thomas Bernhard monierte einst, er „verstehe nicht, dass es Leute gibt, die von Graz begeistert sind.“ Das verstehen diese tatsächlich oft selbst nicht – und kommen nach ihrem ersten Besuch dennoch wieder. Und wieder. Und wieder.

So begann ein paar Stunden zuvor auch dieses Flugabenteuer mit Skepsis und Neugierde. Letztere bei mir, erstere beim Taxifahrer vor dem Flughafenhauptgebäude, der bei der Adressnennung gezwungen war, etwas zu tun, was Grazer Taxler generell als unter ihrer Würde betrachten: das Navi einschalten. Ergo näherten wir uns zögerlich und leicht grummelnd unserem Ziel, bis es dann doch soweit war: Zwischen Schwarzlsee und Flughafen, hinter Kukuruzfeldern und Gstettn, aber immer in Sichtweite des Towers, fand ich den Eingang zum Abheben.

Vor der Tür sind unter schattenspendenden, ausladenden Bäumen Tische und Bänke aufgestellt, ein paar Leute unterhalten sich lachend, hinter dem grün überwachsenen Zaun mache ich größere Bewegungssilhouetten aus und im Büro sitzt ein junger Mann an einem Tisch in der Mitte des Raumes über einen Stapel Papiere gebeugt, schreibt, zeichnet, während andere ein und aus gehen. Es ist Wochenende, kurz nach Mittag, einer der heißesten Sommertage dieses Jahres. Viktor Steiner nimmt mich in Empfang. Dunkle Shorts, lachsfarbenes Hemd, Sonnenhut, ein verschmitztes Grinsen, verbreitet er joviale Lässigkeit. Rasch wird klar, hier draußen, das ist eine eigene kleine Welt und er gibt jetzt den stolzen Gastgeber. Zum Gelände haben nur Mitglieder Zutritt, die gute Zusammenarbeit mit dem Flughafen ist dem Verein logischerweise wichtig, und ohne die Austro Control, an deren Anweisungen sich die SportfliegerInnen wie alle anderen zu halten haben, geht auch kein Segelflieger in die Luft. Draußen auf dem Flugfeld treffe ich dann den Startleiter, mit dem sämtliche PilotInnen per Funk verbunden sind und der für die reibungslose Kommunikation zum Tower sorgt. Das alles ganz entspannt von seinem Platz vor dem kleinen Getränkestand unterm Sonnenschirm aus, mitten auf dem Grün, während rundum die Flieger abheben und landen.

Fast eine Million Passagiere wurden im Jahr 2016 am Flughafen Thalerhof abgefertigt3, gerade mal über 100 Mitglieder zählt hingegen der Verein, die meisten HobbyfliegerInnen, aber auch einige Berufspiloten sind dabei, die selbst in ihrer Freizeit nicht anders können, als in die Luft zu gehen. Viktor ist außerhalb des Flugplatzes Chef eines Malerbetriebs, „wir kommen dort ins Spiel, wo der Restaurator nichts mehr anrührt, man aber auch keinen Nullachtfünfzehn-Maler dranlassen kann.“ Momentan sind er und seine Leute im Foyer des Grazer Opernhauses zugange. Jetzt aber ist er ganz Flieger. Von Donnerstag bis Sonntag ist am Hangar West Flugsportbetrieb, ausschließlich in den Sommermonaten und vorausgesetzt, das Wetter spielt mit. So wie heute. Gleich links vom Eingangstor erstreckt sich die flache, blau gestrichene Halle, die Flugzeugen und FliegerInnen ganzjährig ein Dach über Kopf und Propeller bietet. Schritt für Schritt enthüllt sich hier, was der Traum vom Fliegen von seinen Anfängen bis heute hervorgebracht hat. Motorflieger sind ebenso untergestellt wie Segelflugzeuge, winzige Einsitzer und größere Doppelsitzer mit fast dreißig Metern Flügelspannweite, und sogar ein Ultraleichtflieger ist darunter. Viktor ist in seinem Element. Rasch umreißt er die Grundlagen des Fliegens, Steuerelemente, Navigation, Höhenmessung, Thermik. Einige der BesucherInnen von den Tischen draußen haben sich uns angeschlossen, die Sonne knallt aufs Flachdach und ein Flugzeugtyp nach dem anderen wird präsentiert. Mit ein paar geübten Bewegungen zieht Viktor ihnen ihre Pyjamas aus – so werden die Schutzhüllen über den Tragflächen liebevoll genannt. Nun schiebt er etwas, das wie ein Miniaturmodell eines Flugzeuges wirkt, ein Stück nach vorne, öffnet das Verdeck, ähm, die Kabinenhaube und – „bitte einsteigen!“ Da rein? Na denn … Zuerst heißt es Fallschirm anlegen, das Ding ist schwerer als gedacht, zieht nach hinten und trägt nicht unbedingt zur Abkühlung bei. Dann winde ich mich auf den engen Sitz, rutsche so gut es geht in Position, über den Schirm noch die Sicherheitsgurte, wie soll man sich da bloß bewegen? Ist sowieso nicht nötig. Jetzt schließt Viktor auch noch die Kabinenhaube. „Wie fühlt sich das an“, fragt er durch die kleine Öffnung. Nicht so schlecht wie gedacht, an die Sitzposition gewöhne ich mich nach wenigen Minuten, irgendwie vergesse ich sogar die Enge, während ich auf die Anzeigen vor meiner Nase schaue. Nur, in so einem Ding tatsächlich in die Lüfte zu steigen, kann ich mir beim besten Willen noch immer nicht vorstellen. Nachdem ich vom Probesitzen wieder in eine mehr oder weniger stehende Position in die Halle geklettert bin, schaue ich auf das Flugzeug zu meinen Füßen. Ist doch irre, damit hochzugehen! Dennoch werde ich es wenig später tun, mit der etwas größeren EB28 edition, um einen Moment den Atem anzuhalten, wenn Viktor den Starthilfsmotor ausschaltet und gleich darauf zwar nicht gänzliche Stille eintritt, aber nur mehr luftiges Rauschen zu hören ist. Nachdem wir das Flugzeug draußen in Position gebracht haben, eingestiegen und ein Stück über die Wiese gerumpelt sind, ist es abgehoben und hat sich immer höher in den fast durchsichtigen Himmel gearbeitet. Weder von der Schöckel- noch der Koralmwelle, die laut Viktor die thermischen Bewegungen in dieser Gegend maßgeblich bestimmen, ist heute etwas zu spüren. Wir hängen buchstäblich in der Luft. Doch Viktor, auf dem Pilotensitz vor mir, weiß sich als erfahrener Segelflieger zu helfen. Er „kitzelt“ die Luftströmungen, erspürt die kleinste Regung und nützt sie geschickt. Ein virtuoses Spiel mit den Naturkräften, das aber nicht zuletzt von Respekt geprägt ist. „Risiko ist immer dabei“, weiß der Pilot. „Aber man kann es so gering wie möglich halten.“ Durch Kenntnis, Erfahrung, Ausrüstung und schlichtweg entsprechendes Verhalten in der Luft. Die Basis für das richtige Know-how wird während der Flugschein-Ausbildung vermittelt, wie sie die Flugsportunion anbietet. Im Zuge dessen werden auch sogenannte Außenlandungen trainiert, also Landungen außerhalb des angepeilten Flugfeldes. „Das müssen nicht zwangsläufig Notlandungen sein“, so Steiner. „Manchmal sind es einfach Sicherheitsmaßnahmen, wenn die Aufwinde nicht mehr reichen“, das ließe sich nicht immer vermeiden. Besonders in einem solchen Fall jedoch gilt für ihn ein zunächst recht ungewöhnlich scheinendes Motto in Sachen Sicherheit: „Fahrt ist Leben“. Mit Fahrt meint er Geschwindigkeit, und erklärt: „Klar, jeder hat den Impuls, die Geschwindigkeit zu drosseln, wenn’s ungeplant runtergeht. Aber genau das ist falsch! Es verursacht viele Unfälle bei Außenlandungen, denn dann kann ich nicht mehr entsprechend manövrieren, zum Beispiel eine notwendige Kurve hinkriegen vor dem Aufsetzen, weil ich schlicht zu langsam dafür bin. Da muss man wirklich gegen einen Reflex antrainieren.“

Eigenartigerweise fühle ich mich in der Luft tatsächlich nicht unsicher. Hoch über der Stadt schwebend, lässt mich Viktor für eine kurze Weile selbst das Steuern ausprobieren. Ich lege die rechte Hand an den Steuerknüppel und eine winzige Bewegung genügt, um die Schnauze unserer Libelle, wie manche ihre Flieger liebevoll nennen, rasant abzusenken. Ein kurzer Zug und sie reckt sich wieder nach oben. Auch auf die Betätigung der Pedale für die Seitenruder reagiert sie höchst sensibel. Und ich spüre ein ganz klein wenig, was es bedeutet, mit dem Wind zu flirten …

Auch das ist Graz. Wagt man erstmal, die unterschiedlichen Klangfarben zwischen Be- und Entschleunigung ihrer zahlreichen Stimmen zu unterscheiden und zu enträtseln, erschließt sich einem die Textur dieser Stadt. Vieles liegt unter der Oberfläche, Schönes wie Schreckliches wird manchmal nur nach hartnäckigem Bohren preisgegeben. Beinah ein Jahrhundert hat es gedauert, bis öffentlich thematisiert wurde, dass der Flughafen Thalerhof nicht nur auf den Überresten einer antiken römischen Villa gebaut ist, sondern dass auf dessen Gelände in den Jahren 1914–17 auch ein Internierungslager der K.-u.-k.-Monarchie bestand. Unter fürchterlichen Bedingungen waren dort insgesamt über 30.000 vermeintliche oder tatsächliche mit dem Kriegsgegner Russland sympathisierende BürgerInnen Galiziens und der Bukowina (der heutigen Ukraine) eingekerkert, 1917–18 außerdem über 5.000 russische Kriegsgefangene. Erst vor ein paar Jahren begann, eher widerwillig und zögerlich, eine ernsthafte wissenschaftliche Aufarbeitung und öffentliche Auseinandersetzung. In der Ukraine hingegen sind die historischen Geschehnisse in Graz seit langem immer wieder Gegenstand politischer Debatten.

Die Welt in der Kapsel, die Kapsel in der Welt.

Zusammenstöße in der Luft gilt es dringend zu vermeiden. Daher sind sämtliche Flugzeuge, die vom Grazer Hangar West aus starten, mittlerweile mit dem Kollisionswarnsystem FLARM ausgestattet, das Alarm schlägt, wenn ein anderes Flugzeug zu nahe kommt. Auch jetzt beginnt es zu piepsen. Doch Viktor beruhigt: „Ich hab schon gesehen, das sind die Kollegen unter uns.“ Es wird tatsächlich fast ausschließlich auf Sicht geflogen, nähert sich ein anderer Flieger in einem für den/die PilotIn uneinsichtigen Winkel (etwa von schräg unten), kann es leicht zu Zusammenstößen kommen. Dem beugt FLARM vor. Und schon wieder piepst es. Jetzt verstehe ich auch, warum Viktor keine Schirmkappen mag, sondern als Schutz vor der stechenden Höhensonne ein dünnes Schlauchtuch bevorzugt. „Ich will freie Sicht haben.“ Das Funkgerät knistert, hinten höre ich nicht genau, worum es geht. Doch Viktor antwortet lachend: „Ja, danke, klar halten wir gebührenden Abstand zum Polizeihubschrauber!“ Ground Control to Major Tom … Ich muss ebenfalls grinsen. Auch die Staatsmacht tummelt sich heute also im reglosen Luftraum über Graz.

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Segelflug über Graz

Aber wachsam ist „mein“ Pilot sowieso. Über 1.500 Kilometer können im Segelflieger, der zudem sehr wendig ist, zurückgelegt werden, mit bis zu 280 Kilometer pro Stunde. Muss aber nicht sein. Viktor zieht Streckenflug dem Kunstflug vor, beweisen müsse er sich nix mehr, stattdessen macht er per Segelflieger lieber mal einen Abstecher an den Lido von Venedig, zusammen mit seiner Frau, einer ebenfalls begeisterten und erfolgreichen Fliegerin. Damit zählt sie immer noch zu einer Minderheit, denn Segelfliegen ist leider nach wie vor eine Männerdomäne. Das kann sich Viktor nicht erklären, im Gegenteil. Zahlreiche überaus talentierte Flugschülerinnen haben ihren Schein schon in Graz gemacht, gerade vor Kurzem eine erst 16-jährige junge Frau, die über das Sommersportprogramm der Stadt Graz das Fliegen ausprobiert hat und mit Begeisterung und Können dabei geblieben ist. „Segelfliegen ist ein Sport für alle“, ist Viktor überzeugt, unabhängig von Geschlecht und Alter – ab 16 kann man den Schein machen, PilotInnen und Fluggäste bis weit über 80 kennt er ebenfalls, begeisterter Mitflieger ist auch sein eigener Vater. Trotzdem schätzt er das Verhältnis von Männern zu Frauen in den Kursen auf neun zu eins. Das trifft in etwa den durchschnittlichen Frauenanteil im Segelflugsport, er beträgt nur rund zehn Prozent4, wie ich beim späteren Nachrecherchieren in Erfahrung bringe. Hexen oder Babajagas nennen sich Segelfliegerinnen weltweit stolz, Pionierinnen waren einst Pilotinnen der DDR, manche sind bis heute große Vorbilder. Doch bis zur Gleichstellung ist es noch immer ein weiter Weg, die Freiheit über den Wolken wird eben auch von den Rollenbildern am Boden limitiert.5

Langsam neigt sich unser heißes Höhenerlebnis wieder der Erde zu, sanft geht der Flieger in den Sinkflug über, ein paar Schlenker nach links, ein kleines Kippen schräg rechts und bald darauf landen wir erhitzt, aber wohlauf perfekt am Grün. Ein paar Meter rumpeln wir übers Gras, dann steht die Libelle, diesmal auf der Erde statt in der Luft. Ich klettere ein wenig benommen aus dem Cockpit, der frische Sauerstoff in den Lungen holt mich aber ebenso schnell wieder auf den Boden der fliegenden Tatsachen zurück wie die wartende Arbeit. Denn die EB28 edition muss vom Feld wieder retour in den Hangar. Als Zugmaschine fungiert am Grazer Flugsportplatz stilsicher ein – Traktor. Also, Flugzeug in Position schieben, einhängen, aufspringen und ab geht’s! Nochmal Gerumpel, dann wieder runter vom ländlichen Gerät, abhängen und die letzten Meter einparken, das wird händisch erledigt. Zuvor aber heißt es noch – putzen! Denn nach jedem Einsatz werden die Tragflächen peinlich genau von Staub und Mücken befreit. Bloß war es heute offenbar selbst den Insekten zu heiß da oben, umso rascher glänzt die grazile Lady in der Sonne und wir bugsieren sie umsichtig zurück an ihren Schlafplatz. Dort bekommt sie wieder die Pyjamas übergestreift und kann sich ein wenig erholen – bis zum nächsten Höhenflug.

Zurück im Büro sitzt der junge Mann noch immer über seine Papiere gebeugt, er schreibt gerade die Theorieprüfung für seinen Flugschein, erfahre ich. Doch alle sind entspannt, er ist sehr sicher und offenbar gut vorbereitet, sein Lehrer signalisiert beim Blick in die Unterlagen schon Zustimmung. Später werde ich auf Facebook dann auch die Gratulation zu seiner bestandenen Prüfung lesen. Für mich ist es jetzt Zeit zum Aufbrechen. Herzlich verabschiede ich mich von Viktor und habe dabei das Gefühl, dass er eigentlich schon wieder auf dem Weg ins Cockpit ist. Im Hinausgehen überlege ich, wen ich bei nächster Gelegenheit mit Schnupperflugtickets überraschen könnte. Schwindelfreiheit sowie robuster Kreislauf und Magennerven sind nämlich schon Voraussetzung für den Genuss. Aber so ein Kunstflug könnte mich jetzt nun auch selbst einmal reizen … Während ich noch vor mich hin sinniere, sehe ich das Taxi, das mich zurück in die Stadt bringen soll, auf einer Parallelstraße vorbeifahren. „Dort ist eine Sackstraße, der kommt sicher gleich zurück“, lacht Viktor, der noch mit nach draußen gekommen ist. Ich verabschiede mich endgültig, überquere die Wiese zwischen den Wegen und gehe dem Fahrer entgegen. Und gehe. Und gehe. Plötzlich höre ich ein leises Rauschen über mir. Als ich hinaufblicke, schwebt aus dem blitzblauen Himmel ein Ballett bunter Gleitschirme sanft gen Erde. Leicht, schwerelos. Ein paar Minuten sehe ich ihnen hingerissen zu. Der Weg vor mir führt mich dann auch auf den Parkplatz hinter der nächsten Biegung; dort entdecke ich das Taxi, das versehentlich vor der Niederlassung der FallschirmspringerInnen gelandet ist. Auf dem Rückweg in die Stadt grummelt der Fahrer. Erraten – er muss das Navi einschalten. Der Platz liegt eben doch ziemlich abseits. Und der Himmel über Graz verweigert sich einer Grenzziehung und leuchtet endlos in der Frühabendsonne. Statt nach oben geht’s jetzt aber mitten hinein, ins Zentrum, ins Herz dieser Stadt …

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Propeller im Pyjama

Now it’s time to leave the capsule, if you dare …

Links:

Steirische Flugsportunion

Flugschulweg 1

8073 Feldkirchen bei Graz

https://www.flugsportunion.at/

mur.at – Initiative Netzkultur

http://mur.at

http://sat.mur.at/ (mur.sat – a space art project)

Film: Babajaga – Hexen im Aufwind!

http://babajaga-film.de/

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A

DruckZeug

B

Café Schwalbennest

C

Linzbichler

D

Annachord

E

Uhren Gerstner

F

Druckerei Khil

2.

Ab durch die Mitte!

Der beste Platz an der Sonne. Das zufriedene Niederlassen auf einer der Bänke unter dem Vordach. Blinzeln. Es wuselt. Rundherum. Alles sehen und gleichzeitig die Beine ausstrecken und genießen. Show up, slow down. Halb Graz kommt hier vorbei. Trotzdem oder gerade deshalb ist es einer der besten Orte für eine Pause. Zum Baumeln der Seele und der Geschmacksnerven. Anflug, Landen, Bleiben. Den Abflug besser noch ein bisserl verschieben … und noch ein bisserl … Der gleicht ja fast einem Sprung aus dem Nest, und damit tun sich die GrazerInnen traditionell eher schwer. Erst recht, wenn es das Schwalbennest ist, gleich gegenüber der Franziskanerkirche in einem der wenigen verbliebenen Schopfwalmgiebelhäuser, abgerissen und wieder aufgebaut wie vor gut 250 Jahren. Es steht quasi am Beginn beziehungsweise Ende jener Gasse, an der im Mittelalter die alte Ringmauer verlief und das dahinterliegende Kälberne Viertel mit Viehmarkt und Schlachtbänken aus dem Stadtgebiet ausschloss. Schlachthöfe, ebenso wie etwa Zuchthäuser und Mülldeponien, waren zwar auch damals schon unabdingbare Bestandteile städtischer Gefüge, die man jedoch lieber weit weg vom repräsentativen Zentrum in die Vorstädte verbannte. Zur Trennlinie hatte man die Mur auserkoren (mehr dazu siehe Kapitel 3).6 Als Folge des Dreißigjährigen Krieges litt auch Graz heftig unter Lebensmittelknappheit, doch Geld für militärische Investitionen, in dem Fall den Ausbau des Bastionengürtels gen Südosten, war dennoch vorhanden.7 Damit war auch die Errichtung des Neutors nötig geworden, von dem die gleichnamige Gasse an der Grenze zwischen Innen und Außen, Reich und Arm, Angesehen und Ignoriert ihren Namen hat. Aber der ist auch alles, was hier an diese Zeit erinnert. Der einstige Wehrturm wurde schon im 17. Jahrhundert zum Kirchturm umfunktioniert, von Fleischerbänken ist weit und breit nichts mehr zu sehen und der Platz am Rand ist längst Teil des Grazer Zentrums geworden.

Das Café Schwalbennest macht seinem Namen jedenfalls alle Gemütlichkeitsehre. Und ist trotzdem keine Sekunde langweilig, auch nicht übertrieben hip, aber dennoch fast immer voll besetzt von einer bunten Menschenmischung. Familie Wörz hat sich dem Slow Food verschrieben. Die Mehlspeisen sind hausgemacht, das Angebot je nach Jahreszeit immer ein wenig variabel, der Kaffee eine Spezialröstung aus der Weststeiermark. Langsam sollte ich mich wohl entscheiden (langsam!) – jetzt eine Schoko-Weichseltorte essen oder doch die Apfel-Wein-Schnitte probieren? Dazu den steirischen Herbstklassiker, ein Viertel Schilchersturm, dessen tiefer Zyklamton in den Gläsern leuchtet, um über den herannahenden Winter hinwegzutrösten. As Time Goes By summt einer am Nebentisch, ein Lächeln fliegt zwischen den Gläsern hin und her. Ich kuschle mich in die bereitgelegte Decke, rücke meinen Sessel ein Stück weiter in die Sonne. Ein Moment. Und noch einer. Es braucht schon etwas – Zeit. Zum Verweilen. Zum Eintauchen. Zum Durchatmen. Bissen für Bissen. Schluck für Schluck. Blick für Blick. The simple things of life … Gerade habe ich die letzten Krümel vom Teller mit der gezuckerten Schwalbenverzierung verputzt … are such … ein Schluck ist noch da … They cannot be removed … Von wegen, schon weg!

Ich mache mich auf den Weg. Sehr entstresst. Aber ich komme bloß zwei Schritte weit. Slow down, schon wieder. Für einen Sprung nur, einen kurzen, bestimmt. Genau gegenüber befindet sich nämlich das Zuckerlgeschäft, wie schon meine Großmutter den Süßwarenhändler Linzbichler nannte. Auf wenigen Quadratmetern, in einen Vorsprung der Kirche gedrückt, tut sich hier ein süßes Mini-Paradies auf. Ausgewählte Trüffel, feine Schokoladen und immer auch neue Kreationen, eine erlesene und doch umfangreiche Auswahl auf kleinstem Raum. Und schon wieder muss man sich entscheiden … Auch die Grazer Schloßbergkugeln sind nach wie vor im Angebot. Seit die legendäre Konditorei Strehly in der Sporgasse für immer ihre Pforten geschlossen hat, bekommt man sie nur hier. Aber irgendwie schmecken sie trotzdem anders als damals … vielleicht auch nur für mich. So wie die Zimtkipferln, die mir jedes Jahr am Krampustag noch immer fehlen und die nur an diesen wenigen Tagen in der Konditorei gebacken wurden, sodass ihr Duft über der halben Gasse lag. You must remember this … Was es aber immer noch gibt, und zwar ebenfalls beim Linzbichler, sind Lebkuchen. Im zweiten Verkaufsraum ein paar Häuser weiter in verschiedensten qualitativ hochwertigen Variationen made in Styria. Und wie im Mittelalter, als Lebzelter auch Wachszieher waren und im kirchlichen und klösterlichen Umfeld (wie hier, wo es vor Mönchen und Nonnen nur so gewimmelt haben dürfte) ihre Produkte reißenden Absatz fanden, werden im selben Geschäft auch Kerzen verkauft: Taufkerzen, Hochzeitskerzen, Weihnachtskerzen, aus Bienenwachs und auch in sehr modernen und kreativen Varianten. Ich beiße in eine Zirbentrüffel, doch statt den Innenhof des Klosters zu besuchen, der seit 2003 für alle, die eine stille Verweilpause wünschen, offensteht, der mir jetzt aber etwas zu ruhig und weihevoll ist, biege ich endlich um die Ecke in die Neutorgasse und – da tickt es.

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Läufst du noch oder tickst du schon? So viel Zeit …

Die wiedergefundene Zeit

Momo