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KURT-MICHAEL WESTERMANN

Istrien

ABSEITS DER PFADE

Ein anderer Blick auf die größte Halbinsel
der Adria und die Welt der Kvarner-Bucht

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1. Auflage 2018

Fotos: © Kurt-Michael Westermann

Druck: EuroPB, Dělostřelecká 344, CZ 261 01 Příbram

Für Elisabeth

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Ein Maler vor dem Kolosseum in Pula

Inhalt

Ein Vorwort zur Einstimmung

01 Durch istrische Hügel – durch istrische Zeiten

Von Hum über Motovun an die Küste (Livade, Grožnjan, Buje, Buzet)

02 Zu den Highlights am Meer

Von Rovinj bis Pula

03 Entlang der Küste zwischen Labin und Volosko

Vom Bergbaugebiet bis zur Riviera der Hautevolee

04 Die tapfere Schwester Triests

Rijeka, Hauptstadt am Kvarner-Golf

05 Ein Krebs als Insel

Das Mittelalterparadies Rab

06 Im Reich der Piraten

Die Kvarner Hauptinsel Krk

07 Insel-Hopping entlang der Straße des Scampis

Die Doppelinsel Cres Lošinj

Allgemeine Reisetipps für Istrien

Literaturnachweis

Danksagung

Ein Vorwort zur Einstimmung

Kein Mensch ist zu sehen. Unsere geräuschlose, e-motorisierte Karosse erregt kein Aufsehen. Bei wem auch? Wir sind allein in der grünen Wildnis. Ein lauer, warmer Windhauch fährt uns in die Haare beim Öffnen des Wagens. Erste Berührungen mit der Natur, fünf Stunden von Wien, drei von Venedig und eine Stunde von Triest entfernt. Das weist zumindest das Navigationsgerät aus.

Das sich weit hinziehende Blätterdach der Hügellandschaft zwischen den historischen Schwestern Rijeka und Triest lässt das südliche Alpenvorland als frische Chlorophyll-Lunge in die fruchtbare Halbinsel Istrien übergehen. Von Horizont zu Horizont nur Blätterwipfel, dicht an dicht. Keine Zäune, keine Hochleitungsmasten, keine Häuser im Blick westlich der Landstraße zwischen den beiden alten Städten – eine Gegend zum Durchatmen. Friedlich liegt sie da, die Urlandschaft, fast etwas langweilig, aber kraftvoll homogen, die Ćićarija, der Tschitschenboden. Seine rumänischen Ureinwohner haben ihre Behausungen und Ställe in dem karstigen Boden aus diesem Material gebaut: kleine Trulli, ähnlich den runden Steinbehausungen im italienischen Apulien, Iglus aus aufgeschichteten Steinen mit einer Kuppelspitze. Heute sind es Baudenkmäler aus einer lang vergangenen Zeit und erinnern an einen Menschenschlag, der sicher arm, aber widerstandsfähig war und sich seinen bodenständigen Stolz und seine Bescheidenheit bis heute erhalten hat.

Aber da gibt es auch eine ganz andere Seite. Der istrische Mensch wird unter Historikern immer wieder als der kosmopolitischste Bürger Kroatiens bezeichnet. Dieser Landstrich, der heute überwiegend kroatisches, aber auch slowenisches Staatsgebiet ist, hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich, war immer fremden Einflüssen und überraschenden Besitznahmen ausgesetzt. Man hat sich wehren, aber auch arrangieren müssen, ist geflohen, zurückgekommen und hat sich vermischt. Ob Illyrer aus dem Süden, Römer, Langobarden, Venezianer, später Italiener, vor allem aber auch Österreicher während der Habsburgermonarchie, Ungarn, durchziehende Franzosen unter Napoleon oder Deutsche in den Weltkriegen – verschont wurde hier niemand, doch konnte man durch Bauernschläue und sture Gelassenheit zumindest den einfachen Besitz, manchmal auch die Höfe und so manches Leben retten. Anpassung als Schutz zur Eigen ständigkeit ist in Istrien wohl eine Wesensart, die dieser charakteristischen Halbinsel ihre Vorteile erhalten hat. Die kolportierte Posse: Als im frühen 19. Jahrhundert Franzosen auf den Balkan zumarschierten und österreichische Wachen die Bajonette einer Truppe im Istrischen sichteten, aber auf keine eigene Truppe Zugriff hatten, haben diese mit Bauern zusammen eine Hügelkuppe so knapp bestiegen, dass nur ihre Mistgabelspitzen zu sehen waren. So zeigten sie der französischen Formation nicht die wirkliche Personenanzahl und haben dann im Verborgenen so viel Lärm mit Töpfen und Geräten erzeugt, dass sich die fein Uniformierten zurückzogen und einen anderen Weg in den Süden nahmen. So blieben die Bewohner Istriens erfolgreich und bescheiden, was bis heute Gültigkeit hat.

Der Wechsel von der italienischen Zugehörigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu Jugoslawien und den pseudonationalen Abenteuern der Tito-Ära ist immer noch spürbar, die Vereinigung mit der Europäischen Union ist noch immer im Werden. Der Fortschritt zu modernen Maximen zeigt sich nur langsam, aber dennoch beharrlich und in manchem nachhaltiger als anderswo, etwa in der Architektur. Die Bausünden, die die kommunistische Geisteshaltung hervorbrachte, verschwinden nur schleppend, werden modern adaptiert oder ganz der Vergänglichkeit überlassen, manche auch als Denkmal einer besonderen Epoche gepflegt.

Aber wo ist denn nun eigentlich das Meer? Istrien ist doch eine Halbinsel, da ist ein Gewässer als andere Hälfte unabdingbar. Die als Schaf- und Ziegenställe oder Lebensmittellager genutzten Steiniglus sind ja besondere landmarks, aber doch nur eine leicht übersehbare Sensation – immerhin ist eine Ziege pittoresk im Wappen Istriens verewigt worden. Doch die Küste, der freie Horizont der See, das ist das eigentliche Ziel, wenn man auf eine Halbinsel reist, sie ist es, die einen anzieht. Vordergründig ist diese Halbinsel zwar zuerst einmal eine Sackgasse, aber das hat eben seinen speziellen Reiz.

Der Blick in die Weite aus Himmel und Wasser hat wohl für die meisten Menschen etwas Magisches. Die Sicht auf die vorhandene Natur regt den Geist an. Wellenschläge, Möwenschreie oder Bootsmotoren sind dabei Assoziationsfaktoren, die ein ganz spezielles Milieu erschaffen, das in der Gegenwart durch Natur erfahrbar wird. Es ist ein einzigartiges Meer, das Istrien begrenzt, denn die Adria hat fast alle Eigenschaften und Vorzüge des Mittelmeers, sie bleibt überschaubar und ist äußerst angenehm zu bereisen, wurde hier doch (noch) nichts kaputtmodernisiert. Natürlich ist es Ansichtssache, wie viel Wert man darauf legt, jeden Winkel schnell und bequem erreichen zu können. Andere schätzen die Belassenheit mehr als eine perfekte Infrastruktur. Vielerorts wird die Felsenküste jedenfalls mehr und mehr bebaut, dennoch bestimmt in weiten Teilen die herrlich wilde Natur nach wie vor den Charakter Istriens. Der Standard von Hotels und Badeplätzen wird in Ausstattung und Service beständig höher – wie die Erwartungen von Bauherren und Gästen auch, gepaart mit der Hoffnung auf ein günstigstes Preis-Leistungs-Verhältnis – eine Quadratur des Kreises, die gerade hier immer mehr gelingt! Für den Urlaubstraum gibt es eben kein Patentrezept. Besonders für ein Land, das nach einer langen, selbstbewussten sozialistischen Vergangenheit neue Wege in die moderne kapitalistische Wertewelt sucht, stehen viele internationale Beispiele zur Auswahl, um Bau- und Marketingsünden nach Möglichkeit zu vermeiden. Und es gibt inzwischen viele Projekte, um alte Architektur erhalten und Gäste nicht nur mit Sonne und Meer anlocken zu können. Auch die wiedererwachte bodenständige Identität führt sichtbar zu erstaunlicher Vielfalt und erfreulich hoher Qualität landwirtschaftlicher Produkte, die viele Besucher zu Kennern und viele Gourmets zu Dauerbesuchern werden lässt. „Der Weg ist das Ziel“ wird gern als Beschreibung für das Erleben des Moments zitiert – und genauso wahr bleibt es. Auch wenn neue Autobahnen dazu verleiten, „Strecke zu machen“, um schneller an Hauptorte, berühmte Plätze oder zu Lieblingsadressen zu gelangen, abseits dieser eingetretenen Pfade gibt es die vielen stillen Refugien, die durch ihre Geschichte und ihre Bewohner immer weiter zum Wandel beitragen und diese geografische Region in all ihrer Besonderheit und Schönheit erlebbar werden lassen. Es gibt noch so viel zu entdecken und zu verstehen.

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Hum: Das Stadttor schützt auch die kleinste Stadt, um zu bestehen.

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Frühe Behausungen tun immer noch Dienst – Kažuni bei Vodjan

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Hum, die kleinste Stadt der Welt

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Ein Weg für die glagolitische Schrift

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Stadt der beweglichen Lettern: Roč

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Liburner Stadt für stille Genießer

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Rekordfundort istrischen Golds: Livade

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Festung und Festivalstadt Motovun

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Mirna – die Wasserader zur Adria

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Künstlermetropole Grožnjan

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Winzerhochburg Buje

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Einkehren am Meer bei Sergio im Čok

01 Durch istrische Hügel – durch istrische Zeiten

Von Hum über Motovun an die Küste (Livade, Grožnjan, Buje, Buzet)

In der Ćićarija beginnt man seine istrische Reise als heutiger Neuankömmling, ähnlich der frühen Siedler aus dem Rumänischen, die im Zuge der Ausweitungsversuche des osmanischen Reichs ab 1329 kamen und deren Sprache es dort noch heute gibt: das Čakavische.

Vorher aber, etwa 1200 Jahre v. Chr., lebten hier die Liburner, denen man inzwischen die gesamte Küsten- und Inselregion zuordnet. Welche Stämme der Liburner wann und woher kamen, ist aber nicht gesichert. Man nimmt an, dass Zweige der südlicheren Illyrer hierherzogen, die Küstengebiete der Gegend eroberten, sich niederließen und es Liburnien nannten. Im Inneren und im Norden der Halbinsel Istrien hießen sie dann Histrier. Im Osten Japoden und im Süden, unterhalb der Kvarner-Bucht, Dalmaten.

Es waren Geschichtsschreiber aus griechisch-römischen Gefilden, die es uns so überlieferten. Das Küstenvolk bestand aus fleißigen Fischern, gefürchteten Piraten und gewieften Händlern zur See. Der Romanisierung, wie es immer so friedlich heißt, die Eroberung des gesamten Mittelmeerraumes durch die Römer, über einen Zeitraum von gut 700 Jahren, entkam bis 535 n. Chr. kein Volk an seinen Küsten. Danach, als das Römische Reich unter dem Ansturm der Völkerwanderung aus dem Osten zusammenbrach, ging die christliche Macht an Ostrom, also Byzanz am Bosporus, über. Die verschiedenen Slawen-Stämme, die aus der Weite des Ostens bis tief nach Mitteleuropa strömten, besetzten die durch Flucht verlassenen Gebiete und betrieben dann vor allem Ackerbau und Viehzucht. Südslawen drangen als Slowenen und Kroaten im 7. Jahrhundert bis zur nördlichen Adria vor, als direkte Nachbarn der liburnisch-histrischen Bevölkerung, und vermischten sich im Laufe der Zeit mit ihr. Das Hochplateau, das im Norden Istriens, zwischen Triest und Rijeka, beginnt und weit in die Halbinsel hineinreicht, wurde von rumänischen Slawen bevölkert, die ihre Sprache stark in der abgelegenen Landschaft erhalten konnten, das Čakavische eben.

Zwei missionierende Mönche wurden von Konstantinopel aus, dem vorherigen Byzanz, tätig. Ihre neu entwickelten Schriften, so die Idee, sollten die Christianisierung für die nördlichen Slawen-Stämme attraktiver machen. Die Brüder Kyrill und Method versuchten es mit zwei Schrift-Varianten und wollten die lateinische Schrift durch neue, einfachere Eigenständigkeit ersetzen. Die kyrillische Schrift setzte sich bei den orthodoxen Serben und Bulgaren durch, die glagolitischen Lettern wurden vor allem am Kvarner und in Istrien angenommen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden sie für Kirche und Justiz geschrieben und gedruckt. Die Meister dieser Schrift blieben Mönche und sie predigten, auch als römisch-katholische Priester, immer auf Kroatisch und nicht in Latein. Dieser Widerstand im Kleinen wohnt allen Bewohnern der Region inne, vermutlich weil gegen die großen Mächte nur dieses Maß an Freiheit möglich war. Das erste kroatische Königreich wurde 925 mit dem Schutz des Papstes Johannes X. durch Tomislav als Land Chrobatia gegründet, es bestand vorerst nur bis 1102. Erbstreitigkeiten aus einer Union mit Ungarn, deren König auch der von Kroatien, Slawonien und Dalmatien war, wurden in einer Schlacht gegen die Magyaren beigelegt. Ein kroatischer Statthalter vertrat diese drei Erbländer nach 1102 unter den Venezianern, bis Ungarn später an Österreich fiel und damit alle zu einem Teil des Habsburgerreichs wurden.

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Motovun, venezianischer Löwe im Altstadttor, allgegenwärtiges Zeichen der Macht

Die Küste war ununterbrochen Widersachern ausgesetzt, nach der ersten Jahrtausendwende vor allem den Venezianern. Der geflügelte Löwe hielt fast 800 Jahre lang in allen Regionen an der östlichen Adria Einzug. Napoleon mit seinen Armeen trat ab 1797 die Nachfolge an, in dem er den Adelsleuten der Lagunenstadt den Garaus machte. Auch Österreich-Ungarn machte er die Vorherrschaft streitig, doch seine vielen Fronten bereiteten mit der Niederlage in Russland auch seinem Balkan-Abenteuer ein baldiges Ende.

Die grüne, kühle Ćićarija blieb mehr oder weniger unangetastet, sie zu bezwingen, war zu wenig Erfolg versprechend, sie blieb höchstens Durchzugsgebiet, und so erhielt sich auch die Sprache der Hirten und Bauern. Die einfachen, grauen Kažuni, Zelte aus Steinen, die man bei der Feldarbeit fand und dazu gedacht sind, Güter, Tiere und sich selbst zu schützen, bestehen bis heute. Die flachen Steine wurden zu mörtelloser Architektur kreisrund aufgeschichtet, raffinierter als die Trennmauern (Gromače) ihrer Felder oder Grundstücke, sehr schlicht, schön, einfach und stabil. Die Krone ist der Schlussstein am schrägen Dach, der oft auch verziert wurde. Diese urzeitlichen Bauten kommen auf Istrien auch andernorts vor – ja auch in anderen Ländern, wie Italien, Irland oder Afrika –, eine archaische Architektur, die beim Rückblick als kulturelle Leistung erstaunt. Auch die Gromače, die grauen Steinmauern aus ursprünglich hellem Kalkstein, gibt es in vielen anderen Ländern der Welt. Dennoch nehmen sie einen wunder, weil man sie in Mitteleuropa heute selten sieht und sie hier die Landschaft so stark prägen. Sie sind eine organische, grafisch wirkende Landschaftseinteilung, aber nicht als Landart entstanden, sondern aus natürlichen Existenzgründen, um Tiere und Pflanzen voreinander zu schützen und Ressourcen so zu lenken, damit das Überleben gesichert bleibt. Nebenbei sind sie wunderschön. Die Patina aus Witterung und Zeit haben ihren Anteil daran. Während ich an einer der Mauern gelehnt etwas weiter entfernt eine dieser Steinhütten entdecke und mir das Leben eines Feldwächters während deren Entstehungszeit vorzustellen versuche, bei dessen weidenden Schafen in der Natur oder gar bei plötzlich aufkommendem Gewitter, da schlüpft eine kleine, schillernde Echse über den sonnenwarmen Stein. Ein lebendiger Moment in tiefer Ruhe, der entspannt ins Jetzt zurückführt.

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Gromače – Karststeinmauern dienen der Sicherung von Vieh und Quellwasser.

Mauern mit Wehrtürmen umgeben Kirchen, Rathäuser, Gerichte, Bürgerhäuser und Höfe, so sind frühe Siedlungen meist gewachsen und geplant worden. Die Hierarchien innerhalb der Bevölkerung sorgten für geordnete Machtverhältnisse, und so findet man, über fast alle besonderen Einflüsse der Einwanderer und Eroberer hinweg, die drei wichtigsten Gemeinschaftseinrichtungen nah beieinander. Meist liegen in Kroatien alle am Hauptplatz, das Gericht, die Loggia, ein offenes Rechteck aus Steinbänken, geschützt durch ein von eleganten Säulen getragenes, flaches Walmdach, das Rathaus, die Kirche oder der Dom. Seitdem die Justiz in geschlossenen Häusern tagt, sitzt man gern bei einem Plausch in der Loggia gesellig zusammen. Das kühle Innere der Kirche gleich gegenüber sorgt für Zuflucht bei Hitze und Kummer, ergötzt staunende Fremde und versammelt die Gemeinden zu Gottesdiensten, Konzerten und bildet den Anfang vieler Feste. Typische Melodien mit langer Tradition in Istrien, an der Kvarnerbucht und weiter südlich in Dalmatien finden sich vor allem in A-capella-Gesängen, die von vier bis acht Personen, üblicherweise von Männern, dargeboten werden: die Klapa.

Die nicht temperierte istrische Tonleiter wird durch zwei Stimmebenen und starke Rhythmen getragen. Der Gesang berührt den Fremden durch seine fast sakrale Leidenschaft, die die Sänger, Musiker und Tänzerinnen in ihren fein gearbeiteten Trachten ausstrahlen. Inzwischen hat die UNESCO diese Kunst als Weltkulturerbe anerkannt und versucht sie mit diesem Label zu schützen. Die schwarzen Wollpumphosen mit Bündchenschleifen und weißen Leinenkragen, Holzschuhe und schwarzen Filzkappen beeindrucken harmonisch neben den bunt tanzenden Mädchen in ihren goldenen, grünen oder violetten Taftkleidern mit Puffärmeln und vielen Lagen weißer, gehäkelter Baumwollunterröcke, die glockenartig geweitet über den Platz schweben. Wie kann es sein, dass mich ein solch aus der Zeit gehobenes volkstümliches Ereignis so berührt? Wurzeln kleiner Wunder scheinen tief im Unbewussten zu beginnen.

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Klapa-Musik mit Tanz in traditionellen Trachten erlebt man oft auf Volksfesten.

Der Besuch in der angeblich kleinsten Stadt der Welt, damit wird hier jedenfalls glaubhaft geworben, führt unterhalb der Ćićarija-Felskante ins Innerste der Halbinsel. Eine Stadt mit gerade mal zwanzig Einwohnern, wie kann das angehen? Das hügelige Plateau ist die Terra rossa Istriens. Rot und fruchtbar ist die Erde auf dem hellen Karstgrund. Festungsreste, eine Kirche, die Loggia, eine Konoba als Gasthaus, eine Galerija mit handwerklichen Andenken und einige alte Wohnhäuser gibt es, die aus dem Mittelalter stammen und halbwegs erhalten geblieben sind. Hum ist der Name dieser besonderen Stadt.

Es ist eine Idylle wie aus Gemälden der Romantik. Ruinen mit Stadttor, ausschließlich Gebäude aus grauem, bemoostem Stein, eingepasst in eine Umgebung aus hoher Macchie und einigen großen Bäumen, wie Kastanien und Linden. Es gibt keine Motorengeräusche, die paar Autos auf einem naturbelassenen Platz vor den Gemäuern stehen still. Ein wundersamer Ort versteckt im grünen Dickicht.

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Klein, aber fein: Hum, die Kirche St. Hieronymus aus dem 12. Jahrhundert …

Hier wird der Bürgermeister jedes Jahr neu gewählt. Jede der vier Kanten eines Stück Holzes entspricht einem Kandidaten und die Wähler fügen eine kleine Kerbe als ihre Priorität hinzu. Wer die meisten Kerben hat, ist dann bis zum nächsten Juni gewählter Patron der Stadt Hum. Klipp und klar hat der mit den meisten Kerben am Kerbholz die Wahl gewonnen. In der „Humska Konoba“, dem Lokal der Stadt mit Terrassenblick ins Grüne, kann dann die Nedeva gemeinsam genossen werden, ein besonders guter Serviettenknödel mit Gulasch. Dazu fließt der anderswo kaum bekannte, hervorragende Mistelschnaps am jährlichen Wahlfest des zweiten Juni-Samstags. Die Klänge eines Gitarrenspiels vereinen die Gesamtbevölkerung des abgeschiedenen Hum – zufriedenen mit der Welt.

Die von Aleksandar Merlak geführte Humska Konoba, das einzige Gasthaus der kleinsten Stadt der Hemisphäre, braucht keine Konkurrenz zu fürchten und ist vielleicht auch deshalb großartig. Einfach – und so gut – ist dieses Gasthaus mit solide überdachter Terrasse, einem Lebensmittelladen und warmer Küche. An Tischen und Stühlen erweisen sich beim sofortigen Verzehr die schmackhaften Würste, luftgetrocknete Schinken (Pršut), Lamm, Kartoffeln und Polenta als Delikatessen. In den Vitrinen und Borden lagern jede Menge Flaschenweine und Öle, die keinen internationalen Vergleich scheuen müssen. Die Luft und die Stille mitten in der Natur tun ihr Übriges, um einen nach dem Essen vom einzigartigen Mistelschnaps kosten lassen zu wollen oder das vorhandene Rauchverbot im Freien seitlich der Terrasse genüsslich zu umgehen.

Bevor es weiter über Buzet gegen Westen geht, sei noch einmal auf die frühe Zeit der Alphabetisierung, beflügelt durch die Schriftschöpfungen der Brüder Kyrill und Method, hingewiesen. Ein Abstecher zur kleinen Festungsstadt Roč lässt staunen, wie früh in diesem entrückten Landflecken die Buchdruckerkunst ausgeübt wurde und bis heute stolz hochgehalten wird. Die um 820 n. Chr. eingeführte glagolitische Schrift, durch fleißiges Übersetzen von heiligen Texten in den Klöstern, hat damit zur angewandten Verbreitung des christlichen Glaubens stark beigetragen. Roč wurde damit im ausgehenden Mittelalter bereits ein Buchdruckerzentrum. Im Jahr 1483 druckte man hier schon das erste kroatische Buch. Das Messbuch, das Missale in Altkroatisch beziehungsweise Čakavisch, wurde zum Grundstein für den Erfolg der modernen Drucktechnik in der Provinz Istriens. Was in Mainz mit den lateinischen Buchstaben nur 30 Jahre zuvor durch die von Johannes Gutenberg erfundenen „beweglichen Lettern“ begann, wurde hier gleich mit glagolitischen Lettern betrieben. Ein Meilenstein in der Kulturgeschichte des Landes! Die Christianisierung war auch in den slawischen Volksgruppen nicht mehr aufzuhalten, die allgemeine Bildung ebenfalls. Hier, am Rande des rauen Hochlandes, das sich als Ćićarija, ein etwa 50 mal 70 Kilometer großes, aber dünn besiedeltes Berg- und Waldgebiet, das sich mit den seit tausend Jahren heimischen Rumänen einen Namen gemacht und eine eigene Sprache hervorgebracht hat, das Istrorumänische, wird hoch qualifiziert gedruckt. Die gotische Antonius-Kapelle, gleich hinter der größeren St.-Bartholomäus-Stadtkirche, beherbergt noch heute das einzigartige Abecedarium, wo das berühmte glagolitische Alphabet in den Querbalken eines Kreuzfreskos eingeritzt wurde. Dieser Schatz ist der ganze Stolz der istrischen Slawen und heutige Basis für die Schrift, die zwischenzeitlich allerdings aus der Mode gekommen ist. Die Neubesinnung auf diese historische Leistung hat einen gewissen Frane Paro dazu gebracht, in der ganzen Welt nach beweglichen Lettern Ausschau zu halten, und es ist ihm gelungen, aus den USA, England und der Schweiz dieses frühe volkstümliche Alphabet aus Holz wieder zusammenzustellen. Mit dem Nachbau einer Original-Gutenberg-Druckerpresse ist die Lücke der besonderen Tradition inzwischen wieder geschlossen worden. Auf dem Abschnitt zum kleinen Ort Roč findet man nicht zuletzt eine alte Glagolitische Allee, die zweite ihrer Art zu Ehren der alten slawischen Schrift, mit Skulpturen aus Stein in Form ihrer Lettern. Als gelernter Schriftsetzer verbindet mich einiges mit diesen beweglichen Lettern, die in dieser Form und Größe mich selbst zur Beweglichkeit animieren. Beim Klettern über einige von ihnen sinne ich über den Wandel durch geniale Erfindungen nach, wie eine die andere unschuldig verdrängt, weil sich die Mehrheit der Mittel ihrer Zeit bedient. Gutenbergs 500-jährige Praxis ist inzwischen durch Bill Gates und Steve Jobs so weit Geschichte geworden, dass deren stille Revolution anderswo kaum mehr als solche empfunden wird. Hier auf der abgelegenen Lichtung im istrischen Wald bringt mir das die Glagolitische Allee bei einer Jause wieder ganz klar vor Augen.

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… und die verwunschene Atmosphäre des mittelalterlichen Gemäuers.

Die Weiterfahrt durchs istrische Binnenland rund um das Quellgebiet der Mirna führt durch eine weit gestaffelte Hügellandschaft. Das beschauliche Cruisen im Auto erzeugt eine Art Schwebezustand, es geht durch Täler und über Bergrücken entlang des größten Flusslaufs der Halbinsel. Er entspringt bei Hum und schlängelt sich 53 Kilometer bis zur Mündung in die Adria bei Novigrad als historisch wichtiger Wasserlauf dahin, ein pittoresker Leitfaden zum Meer. Die großen Wälder bei Motovun haben sich die Habsburger dann 1816 gesichert, sie sollten unter dem Forstbeamten Josef Ressel als Reservat für den Schiffsbau in Pula dienen. Im Tal, vorbei am kleinen Ort Livade, ist der Fluss dort für den Transport noch heute begradigt und kanalisiert. Flößer sieht man keine mehr, eher Hirten, deren Schafe den Wiesengrund rund um die Mirna durchs Äsen gepflegt halten. Und überall auf den Hügelspitzen erblickt man kleine Ortschaften.

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Schäfer und Herde im Mirnatal als Landschaftshüter

Die Festungsstadt Buzet liegt 158 Meter hoch. Deren Äußeres prägten seit dem 15. Jahrhundert die Venezianer. Die kleine Stadt mit ihren 1700 Einwohnern gilt, wie einige Nachbarorte auch, zu den Trüffel-Hotspots. Der nahe, feuchte Wald macht es möglich. Schnüffelhunde haben heute die Trüffelschweine abgelöst, weil diese die Trüffel nicht fressen würden. Die Nachfrage ist, auch über die sozialen Medien, stark gestiegen und stellt eine erhebliche Einnahmequelle dar. Zu Anfang der Saison wird die größte Fritaja aus inzwischen 2018 Eiern (seit 1999 kommt jedes Jahr eines hinzu) und 10 Kilogramm Trüffeln für die Öffentlichkeit in einer Pfanne mit mehreren Metern Durchmesser gebacken – ein einmaliges Fest zur Geburt Marias. Die Subotina, am zweiten Wochenende im September, sorgt auf dem Marktplatz Trg Fontana stets für große Anziehung.

Saisonunabhängig sind aber auch die barocken und älteren Sehenswürdigkeiten einen Besuch wert. Zwischen den beiden Stadttoren Vela und Mala Vrata liegen am zentralen Platz das Rathaus, Bürgerhäuser, eine Zisterne und die Maria-Himmelfahrts-Kirche (Uznesenje Marijina) sowie das Volkskundemuseum mit Trachten und Töpferkunst.

Auf der oft von Zypressen gesäumten Höhenstraße, die sich parallel zum Mirna-Tal über die Hügel windet, ist am Weg nach Westen für wechselhafte Ausblicke gesorgt. Motovun auf der anderen Seite des Tals erhebt sich 277 Meter über dem Wasserlauf und lohnt unbedingt einen Besuch. Natürlich muss man sich dazu in die Niederungen begeben und passiert damit den kleinen Ort Livade, der sich in den letzten Jahren eines Weltrufs unter Trüffelfreunden erfreut, der sich auch durch den Rekordfund eines 1,5 Kilogramm schweren Trüffels begründet hat. Ein ausgezeichnetes Restaurant folgte durch seinen Finder, Meister Giancarlo Zigante, alsbald dort. Auch der dazugehörige Shop mit allerlei Spezialitäten und Trüffelprodukten in Gläsern machen einen Stopp zu einem kulinarischen Highlight.

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Giancarlo Zigante – der Trüffelkönig von Livade mit Früchten seines Rufes

Doch es gibt hier nicht nur Trüffel: 33 Jahre lang hat die Parenzana-Schmalspurbahn die Mirna auf ihrer Strecke zwischen Triest und Poreč gekreuzt. Ein Mini-Museum erinnert noch an diese wichtige Transportmöglichkeit für die Bauern, damit sie an die größeren Märkte gelangen konnten. Mussolini ließ die Schienen aber 1935 demontieren, um sie in Äthiopien (seinem kolonialen Abessinien) einzusetzen. Sie kamen dort allerdings nie an, weil der Frachter vorher sank. So ist Istrien heute nur ein Radfahrwanderweg auf dem Gleisbett geblieben, zur Freude von Rad- und zum Bedauern von Bahnfreunden. Ein Drittel dieser 123,1-Kilometer-Strecke wäre für einen Abstecher zur „Hauptstadt“ (Sitz der Gespanschaftsverwaltung) Pazin geeignet, aber auch für Autofahrer abseits der Schmalspur ist die Straße dorthin ein herrliches Hügelreiten. Höhlenkletterer hätten dort die einzigartige Gelegenheit, über ein Seil die Schlucht zu queren, um in die gegenüberliegende, tiefe Grotte des Flusses zu gelangen, unter der befestigten Stadt. Schon Odysseus soll sie zur Donauentdeckung verführt und Dante als das Tor zur Unterwelt in seinem Werk „Die Göttliche Komödie – Inferno“ inspiriert haben.

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Das „Wohnzimmer“ von Motovun: Kirchen- und Festspielplatz

Der aufragende Mauerring samt dem 24 Meter hohen romanischen Festungsturm, der zur gotischen Zeit als Kirchturm mit gezackter Krone gebaut wurde, lädt zum nächsten Stopp ein: Motovun. Spiralartig windet sich die alte Straße über den Parkplatz hinaus zum venezianischen Wehrtor. Steil kommt man auf dem mittelalterlichen Kopfsteinpflaster hinein in die gute alte Stube, den von antiken Mauern umgebenen Hauptplatz, vor der Kirche Sveti Stjepan und dem Hotel „Kaštel“ nebenan. Zahlreiche Restauranttische unter ausladenden Kastanien fordern zur Einkehr auf, bevor man den stufenreichen Rundgang auf der Mauerkrone unternimmt oder einen nach langen Vorführungen zur Filmfestivalzeit im Renaissance-Palais Ende Juli der Hunger übermannt.

Gegenüber sieht man jetzt gut die Gegend, aus der man hierherkam, sie wirkt von der Mauerkrone aus wie eine dreidimensionale Landkarte. Die kleinen Siedlungen mit spitzen Campanile-Dächern machen auf Momjan neugierig und weit hinten ahnt man Grožnjan sowie Buje. Orte, die alle nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen. Sie haben sich die herrliche Ruhe vergangener Epochen in ihren alten Gemäuern erhalten, die Einrichtungen ähneln sich sehr, aber es sind letztlich ihre unterschiedlichen Bewohner, die ihnen Individualität verleihen.

Im nahen Momjan halten mittelalterliche Ruinen die Stellung als Zeugen ihrer Entstehungszeit. Diese Orte hatten alle schwere Nöte zu überwinden: Invasionen verschiedener Eroberer, Pest, Missernten, die Industrialisierung und die damit verbundene Abwanderung, ethnische und politische „Säuberungen“.

Heute trifft hier wieder Weinstraße auf Olivenölroute, die zu Verkostungskellern und Ölmühlen führen. Sie zeigen erfolgreich die Qualität der Früchte dieses Bodens und die Bemühungen um eine besondere Art der Kultivierung durch ihre Bauern. Das belebt die Region nachhaltig.