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Titelseite

Inhalt

1. Kapitel – Mach’s gut, Ella, …

2. Kapitel – Ralf Süßholz kramte …

3. Kapitel – Ella?“ Vorsichtig trat …

4. Kapitel – Aufgeregt stürzte Charlie …

5. Kapitel – Verdammt, nicht einmal …

6. Kapitel – Elena und Thomas, …

7. Kapitel – Jetzt, wo Ralf …

8. Kapitel – Hatschi!“ Charlie nieste. …

9. Kapitel – Ralf Süßholz war …

10. Kapitel – Es war eine …

11. Kapitel – An Süßholz’ Wohnungstür …

12. Kapitel – Agathe und Charlie …

13. Kapitel – Ralf Süßholz legte …

14. Kapitel – Es war Sonntagvormittag. …

15. Kapitel – Vor lauter Vorfreude …

16. Kapitel – Agathe war heute …

17. Kapitel – Ralf Süßholz konnte …

18. Kapitel – Okay, ihr dürft …

19. Kapitel – Ralf Süßholz kam …

20. Kapitel – Als Charlie nach …

21. Kapitel – So, Meier, auch …

22. Kapitel – Charlie hatte Mister …

23. Kapitel – Also, macht es …

24. Kapitel – Also, ich weiß …

25. Kapitel – Mit großer Zufriedenheit …

26. Kapitel – Agathe und Charlie …

27. Kapitel – Ralf Süßholz hatte …

28. Kapitel – Charlie und Agathe …

29. Kapitel – So, und wer …

30. Kapitel – Süßholz betrachtete sich …

31. Kapitel – Am liebsten wäre …

32. Kapitel – Es war so …

33. Kapitel – Süßholz hätte jubeln …

34. Kapitel – Uaaaaaaaaah!“ Süßholz’ hysterischer …

35. Kapitel – Als Ralf Süßholz …

36. Kapitel – Und Sie wollen …

 

 

 

 

 

Für meine beiden zuckersüßen Wunder

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1. Kapitel

Mach’s gut, Ella, bis morgen!“ Charlie winkte ihrer besten Freundin zum Abschied zu. „Und mach dir keinen Stress, wir werden Alfons schon irgendein Kunststück beibringen, immerhin haben wir ja noch fast zwei Wochen Zeit!“

Ella verdrehte ihre blauen Augen. „Na ja, die Hoffnung stirbt zuletzt“, antwortete sie lachend, „auch wenn Alfons sicher das faulste Zwergkaninchen ist, das die Welt je gesehen hat!“ Dann lief sie weiter in Richtung Fußgängerzone, während Charlie gut gelaunt den Marktplatz überquerte und auf das alte Ziegelsteingebäude neben dem Stadttor zusteuerte.

An den Rosenranken, die sich zwischen den weißen Sprossenfenstern bis hinauf zu den Dächern der Türmchen wanden, blühten noch immer ein paar gelbe und weiße Rosen, obwohl schon Ende Oktober war.

Es war ein herrlicher Tag und die Herbstsonne spiegelte sich in den schmiedeeisernen Buchstaben über dem großen Schaufenster. Charlie kam es beinahe so vor, als würde ihr der Schriftzug Der zuckersüße Wunderladen verschwörerisch zublinzeln.

„Tja“, dachte Charlie, „einen wundervolleren Ort als diesen gibt es wohl kaum.“ Wie jeden Tag, wenn sie von ihrer neuen Schule in Glückshausen nach Hause kam, rieselte ihr ein unvergleichbarer Schauer über den Rücken – wohlig und aufregend zugleich.

Schon als sie die Bonbonfabrik ihrer Tante zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr das Gebäude vorgekommen wie das verwunschene Zauberschloss aus einem Märchen. Aber inzwischen wusste sie, wie viel Magie sich tatsächlich hinter den alten Mauern verbarg.

Genau genommen war die Bonbonfabrik gar nicht Charlies richtiges Zuhause. Sie war in Frankfurt in einer modernen Villa – dem sicher unmagischsten Ort auf der ganzen Welt –, groß geworden.

Aber weil Charlies Eltern, beide erfolgreiche Architekten, einen Großauftrag in Frankreich angenommen hatten, durfte Charlie dieses Jahr bei der älteren Schwester ihrer Mutter wohnen, in der beschaulichen Kleinstadt Glückshausen. Und Charlie war überglücklich darüber, denn Tante Agathe führte nicht nur die Bonbonfabrik mit einem dazugehörigen Verkaufsfenster, sondern auch ein komplett anderes Leben als das von Charlies Eltern: warmherzig, zauberhaft und voller Überraschungen – beinahe genauso bunt und fantasievoll wie die Bonbons, die Agathe herstellte.

Charlie erinnerte sich noch genau an den Tag vor etwa zwei Monaten, an dem sie – eher durch Zufall – von Agathes Fähigkeit erfahren hatte, neben gewöhnlichen Süßigkeiten auch magische Bonbons herzustellen, die kleine und manchmal auch große Wunder vollbringen konnten. Hätte sie die Wirkung nicht am eigenen Leibe erfahren, würde sie wohl noch immer an der Zauberkraft der Bonbons zweifeln. Aber spätestens Wilma, die sprechende Schildkröte in Agathes geheimem Labor, hatte Charlies letzte Zweifel aufgelöst wie Brausepulver auf der Zunge. Und wie Brausepulver auf der Zunge hatte auch das Geheimnis dieses magischen Ortes ein süßes, prickelndes Gefühl bei Charlie hinterlassen.

„Wenn Mama und Papa wüssten, was ich bei Agathe schon alles erlebt habe, würden sie mich auf der Stelle aus der Bonbonfabrik schleifen und in ein Internat stecken“, dachte Charlie oft. Ihre Eltern hatten nämlich eine sehr genaue Vorstellung davon, wie das Leben einer knapp Elfjährigen auszusehen hatte, und diese entsprach ganz und gar nicht den abenteuerlichen Ereignissen, in die Charlie während ihrer ersten Wochen bei Agathe hineingeschlittert war. Charlie hingegen hätte sich nichts Großartigeres erträumen können.

Das Beste an allem aber war, dass Charlie und Ella, die ebenfalls erst vor Kurzem mit ihren Adoptiveltern nach Glückshausen gezogen war, Freundinnen geworden waren. Nicht irgendwelche Freundinnen – nein: richtige, beste Freundinnen, die über alles sprachen, alles teilten, jede freie Minute miteinander verbrachten und keine Geheimnisse voreinander hatten. „Na ja, fast keine“, dachte Charlie ein bisschen traurig. Denn es gab Dinge, die Ella einfach nicht wissen durfte. Nämlich dass sie, Charlie, genauso wie ihre Tante, die entfernte Nachfahrin eines uralten Hexengeschlechts war und gemeinsam mit Agathe einen bösen Zauberer beschattete, um zu verhindern, dass seine Kräfte weiter wachsen und in der Stadt Unheil anrichten konnten.

„Hallo, Kleines!“ Agathe hatte ihre Nichte entdeckt. Sie winkte ihr fröhlich vom Verkaufsfenster aus zu und riss Charlie aus ihren grüblerischen Gedanken. „Wie war es heute in der Schule? Habt ihr mehr über dieses Projekt erfahren, von dem du neulich …?“

Agathes Frage ging unter in einem ohrenbetäubenden Lärm. Sie verzog das Gesicht, als hätte sie schlimme Zahnschmerzen und auch Charlie schaute genervt hinauf in den ersten Stock, aus dessen geöffneten Fenstern riesige Staubwolken quollen.

Die Bauarbeiten in Agathes Labor im Erdgeschoss und der darüberliegenden Wohnung dauerten nun schon viel länger als geplant.

„Es hilft nichts“, seufzte Agathe, als der Lärm wieder verebbt und Charlie zu ihrer Tante hinters Verkaufsfenster getreten war. Sie rollte mit den grünen Augen und strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer flüchtig hochgesteckten Frisur gelöst hatte. „Die Leitungen und Rohre sind uralt und müssen dringend ausgetauscht werden. Besser jetzt, wo es ansonsten ruhig ist und wir keiner anderen Beschäftigung nachgehen müssen!“ Agathe warf Charlie einen vielsagenden Blick zu.

„Ich weiß“, murmelte Charlie.

Ihre Tante hatte recht: Seit zwei Monaten war nichts Außergewöhnliches mehr in Glückshausen vorgefallen. Wilma, die sprechende Schildkröte, schlief seelenruhig in einem Regalfach in Agathes verstecktem Labor – ein Indiz dafür, dass alles in Ordnung war und sich kein böser Zauber anbahnte. Jedenfalls im Moment …

„Hast du denn nach wie vor das Gefühl, die Luft ist rein?“, erkundigte sich Agathe und rückte die zahllosen Gläser mit Bonbons und anderen Leckereien in den weißen Regalen zurecht, sodass ihre schnörkeligen Etiketten wieder nach vorne zeigten.

„Hatschi!“, nieste Charlie. „Na ja, bis auf den Baustaub in meiner Nase kann ich jedenfalls nichts feststellen“, erwiderte sie.

„Sicher?“

„Ganz sicher“, beteuerte Charlie. „Ich bin erst gestern Nachmittag an der Bankfiliale vorbeigelaufen. Kein Gestank! Außerdem scheint Ralf Süßholz noch immer im Urlaub zu sein, ich hab bloß seine Vertretung gesehen, diese Frau Karwendel.“

„Gut!“ Agathe nickte zufrieden. „Wir können um jeden Tag froh sein, den uns dieser Fiesling keinen Ärger macht. Aber wer weiß, wann und mit welch böser Idee er zurückkehrt.“

Charlie erinnerte sich nur ungern an den grauenhaften Gestank, den sie wahrnahm, wenn böse Magie aufflammte. „Ich weiß, der Gestank ist unbequem“, hatte Agathe oft zu ihr gesagt, „aber er ist auch äußerst nützlich und hilft uns enorm weiter! Deine Mutter hat ihre Gabe ja leider nie zu schätzen gewusst.“

Charlie war fast aus allen Wolken gefallen, als Agathe ihr verraten hatte, dass auch Charlies Mutter eine magische Fähigkeit besaß – nämlich jene, böse Zauberei zu schmecken. Und ihr war vollkommen klar, weshalb ihre Mutter ihr nie etwas davon erzählt hatte. Zauberei und Magie passten einfach nicht zu ihrem geordneten Lebensstil. Deshalb war es wohl besser, Agathes Rat zu befolgen und ihren Eltern gegenüber so zu tun, als wäre Charlies Aufenthalt in Glückshausen allenfalls so aufregend wie ein Besuch auf dem Ponyhof.

Agathe lächelte Charlie aufmunternd zu, als hätte sie in diesem Moment ihre Gedanken gelesen. „Denk nur an letztes Mal, Kleines. Ohne deine hervorragende Spürnase hätten wir nie herausgefunden, was für ein gemeiner Zauberer Ralf Süßholz ist. Also, sei stolz darauf!“ Agathes Miene verfinsterte sich, was selten vorkam, und sie griff nach einem Putzwedel, um die ohnehin schon blank polierten Gewichte ihrer nostalgischen Waage zu entstauben. „Ausgerechnet Ralf Süßholz!“, zischte sie wütend, als wäre ihr die Bedeutung ihrer eigenen Worte gerade erst richtig bewusst geworden.

Charlie grinste in sich hinein. Ihre Tante schien sich noch immer darüber zu ärgern, dass sie bis vor Kurzem in den schnieken Bankfilialleiter verknallt gewesen war. Er hatte sie mit seinem falschen Zahnpastalächeln und seinen perfekt sitzenden Anzügen glatt um den manikürten kleinen Finger gewickelt. Anfangs hatte Agathe es gar nicht wahrhaben wollen, dass ausgerechnet ihr Angebeteter ein Bösewicht der schlimmsten Sorte sein sollte und Charlie und Wilma mussten ganze Überzeugungsarbeit leisten. Umso größer waren nun Agathes Zorn und ihre Rachegelüste gegenüber Süßholz.

„Tja“, dachte Charlie, „Liebe macht eben blind!“ So gesehen war eine Nase, die böse Zauberei erschnüffeln konnte, vielleicht gar nicht schlecht.

Nun wussten Agathe, Charlie und die Schildkröte Wilma zwar, wer in Glückshausen versuchte, für Unmut und Unglück zu sorgen, aber sie selbst durften unter keinen Umständen auffallen. Sie mussten Süßholz im Geheimen beschatten, ebenso heimlich zuschlagen und seinen Plänen entgegenwirken, sollte er auf neue böse Gedanken kommen. Denn wenn Agathe und Charlie aufflögen, würde Süßholz wissen, wer gegen ihn arbeitete, und mit Sicherheit alles unternehmen, um sie loszuwerden. Er und sein noch viel grausamerer und gefährlicherer Boss Vesuvio Salpetri.

So unfassbar, unheimlich und ungemütlich ihre letzte Mission auch gewesen war – insgeheim wünschte sich Charlie manchmal, ihre Nase würde wieder etwas erschnüffeln. Denn obwohl aufkeimende böse Magie roch wie eine grauenhafte Mischung aus Käsefüßen und Schweinestall, so bedeutete sie auch gleichzeitig jede Menge Abenteuer und Nervenkitzel – etwas, wovon Charlie gar nicht genug bekommen konnte.

Da war es gut, dass sich wenigstens in der Schule etwas Interessantes tat.

„Ach ja, das Schulprojekt …“, sagte Charlie und Agathe legte ihren Putzwedel zur Seite. Ihr Gesichtsausdruck hellte sich wieder auf.

„Ja, genau, erzähl mal!“

Charlie schnappte sich eine rosa Gummimaus und biss hinein. „Also“, sagte sie schmatzend, „in Glückshausen finden demnächst irgendwelche Umwelttage statt!“

Agathe nickte. „Ja, davon habe ich auch schon gehört. Das Motto lautet: Mensch und Natur im Einklang. Unser Bürgermeister Horst-Dieter Mück steckt wieder mal dahinter. Er wünscht sich, dass Glückshausen das grüne Glückskleeblatt-Abzeichen bekommt, eine Auszeichnung für Städte mit umweltbewussten Bürgern! Es sollen sich auch alle möglichen Einrichtungen, Geschäfte und Firmen engagieren.“

Charlie nickte. „Ja, ich weiß, er war heute bei uns in der Schule und hat alles darüber erzählt.“ Sie grinste. „Das hat so lange gedauert, dass Mathe und Deutsch ausgefallen sind!“

Agathe lachte. „Ich bin sicher, das hat euch alle ziemlich geärgert, oder?“, meinte sie augenzwinkernd.

„Und wie“, scherzte Charlie. „Jedenfalls sollen unsere und die Parallelklasse einen Beitrag dazu leisten, indem wir zeigen, wie wichtig dem Menschen Tiere sind.“ Sie griff zu einer weiteren Gummimaus und biss ihr den Schwanz ab. „Dazu gibt es am Freitag nächste Woche einen Infotag auf dem Schulhof“, erklärte sie.

„Na, wenn du mit echten Mäusen auch so rabiat umgehst, dann gute Nacht!“, meinte Agathe.

Charlie kicherte. „Keine Angst. Wir müssen in Gruppen Infostände und Broschüren zu den bekanntesten Haustieren vorbereiten – zu ihrer Haltung, Pflege und so weiter. Und alle Schüler, die ein Tier zu Hause haben, dürfen es mitbringen. Wir veranstalten am Nachmittag nämlich eine Tierschau.“

Charlie verzehrte den Rest der Gummimaus. „Und wenn ein Tier irgendein Kunststück kann, darf sein Herrchen das mit ihm vorführen.“

„Das klingt wirklich toll“, meinte Agathe. „Auch wenn du leider kein Haustier hast, das du mitbringen könntest. Ich bezweifle nämlich, dass Wilma da mitspielen würde – mal abgesehen davon, schläft sie zum Glück ja noch.“

„Ja, schade eigentlich“, sagte Charlie kichernd. „Ich schätze, mit einer sprechenden Schildkröte wäre ich der Star der Show. Vor allem, wenn sie so schön motzen kann wie Wilma! Aber ich bin mit Raffi und Ella in einer Gruppe und beide haben Haustiere. Außerdem sind wir für eine Infobroschüre zu Nagetieren eingeteilt!“

„Ach, das passt ja, Ella hat doch jetzt einen Hasen, oder?“, fragte Agathe.

„Ein Zwergkaninchen“, stellte Charlie richtig. „Bloß ist sein Hirn leider auch zwergenmäßig klein. Mal sehen, was wir mit ihm anfangen können.“

Agathe legte einen Arm um Charlies Schultern. „Ich bin sicher, euch fällt etwas Lustiges ein“, sagte sie. „Schließlich bist du schon mit ganz anderem fertiggeworden!“

2. Kapitel

Ralf Süßholz kramte seinen Schlüsselbund aus der Manteltasche und schloss mit einem mulmigen Gefühl im Bauch die Haustür zu seiner Wohnung auf, die oberhalb der Bankfiliale lag.

„Da wären wir also wieder, Meier“, sagte er mit einem abschätzigen Blick auf die schlafende Fußgängerzone.

Der Besen neben ihm strich betrübt um seine Beine. Er schien auch nicht besonders glücklich darüber, wieder zu Hause zu sein. Immerhin hatte es am Strand in Italien jede Menge Sand zum Fegen gegeben. Ein Paradies für einen staub- und bröselbesessenen Besen wie ihn.

„Tja“, murmelte Ralf Süßholz, „jeder Urlaub hat nun mal ein Ende.“

Genau genommen hätten ihre Ferien schon vor geraumer Zeit enden sollen. Aber Süßholz hatte sich einfach nicht aufraffen können und jeden Tag von Neuem beschlossen, dass er und Meier noch etwas Erholung verdient hatten. Irgendwann allerdings hatte er mit einem nervösen Blick auf den Kalender festgestellt, dass sich seine Rückkehr nicht noch länger verschieben ließ, wenn er sich nicht gehörigen Ärger mit seinem Boss einhandeln wollte, dem großen und gemeinen Zauberer Vesuvio Salpetri, Oberster des Geheimen Zirkels für wiederkehrende Schwarzmagie. Und das wollte niemand, der nicht komplett durchgeknallt war.

„Na ja, hier ist schließlich auch nicht alles schlecht, Meier“, versuchte Süßholz seinen Besen und sich selbst zu trösten. „Denk nur an unsere Lieblingsserie! Die Italiener mögen gut kochen können und Ahnung von Mode haben. Aber Susis Suche nach dem Glück kennen sie nicht. Außerdem scheint im Süden für meine Begriffe viel zu oft die Sonne!“

Susis Suche nach dem Glück war Meiers Stichwort gewesen. Aufgeregt sauste er an Süßholz vorbei und die Treppe zur Wohnung hoch, sodass die Bänder seiner blauen Schleife nur so flogen. Wie sein Herrchen war nämlich auch Meier ein riesengroßer Fan der Fernsehsoap.

Süßholz folgte schwerfällig. Das schlechte Gewissen nagte an ihm. Einige Male hatte er am Strand unterm Sonnenschirm ein schwarzes Notizbuch hervorgeholt, um Ansätze von bösen Ideen reinzukritzeln. Aber … ob es am Meeresrauschen lag oder an der Sonne (er vertrug eben nicht allzu viel davon) – Süßholz war jedes Mal darüber eingenickt. Somit war er nicht mit sonderlich vielen Schandtaten im Gepäck zurückgekehrt, dafür aber mit drei neuen maßgeschneiderten Anzügen sowie sieben dazu passenden Krawatten und zwei Paar Schuhen. Auf gutes Aussehen legte Süßholz großen Wert und außerdem, hatte er sich gesagt, war gepflegte Kleidung in seiner Position mindestens genauso wichtig wie ein neuer gemeiner Einfall. Denn sie lenkte schließlich von seinen Tätigkeiten im Verborgenen ab und bildete somit die Rahmenbedingung. Der Rest war letztlich nichts weiter als die Kirsche auf einer Torte – und Süßholz’ Kirsche würde bald reif sein. Ach was, Hunderte von Kirschen. Wenn er es darauf anlegte, konnte er einen ganzen Baum ernten und Salpetri riesige Kirschtorten servieren, gerne auch mit Sahne. Schließlich war er der letzte Nachfahre der Familie von Rabenschwarz, eines vor Urzeiten hier ansässigen und gefürchteten Geschlechts mächtiger dunkler Zauberer. Er wusste, was er auf dem Kasten hatte.

„Meierchen“, rief Süßholz und fegte den letzten Rest schlechten Gewissens beiseite, „Meierchen, wir beide haben keinen Grund für Sorgenfalten. Ein paar Stunden ernsthafte Konzentration und mein böser Wille ist reaktiviert und fit wie ein Turnschuh! Soviel ich weiß, kommt Salpetri ohnehin erst übernächste Woche zurück von seiner … was war es doch gleich? Forschungsreise! Uns bleibt also noch massig Zeit für einen ganzen Sack voll mieser Pläne! Er braucht nur hineinzugreifen und sich einen herauszufischen!“

Meier nickte beteuernd mit den Borsten.

„Aber wir wollen es nicht übertreiben“, fügte Süßholz rasch hinzu. „Den ersten Abend zu Hause dürfen wir uns ruhig noch ein wenig Entspannung gönnen, nicht wahr, mein kleiner Schnuckelbesen?“ Süßholz zupfte Meiers Schleife zurecht.

„Ich hole uns nur rasch ein paar von Agathes köstlichen Brauseherzchen“ – noch etwas, das den Italienern fehlte, wie Süßholz hatte feststellen müssen – „werfe mich in meinen Flauschbademantel und dann ab vor den Fernseher! Wir haben einiges vor – immerhin müssen wir jede Menge verpasste Susi-Folgen aufholen!“

3. Kapitel

Ella?“ Vorsichtig trat Charlie am nächsten Nachmittag in das abgedunkelte Zimmer ihrer Freundin, aus dem eigenartige Gitarrenklänge drangen. Ella saß im Schneidersitz auf dem Boden und ließ mit geschlossenen Augen eine silberne Kette über Alfons’ weißem Köpfchen hin- und herpendeln. Dabei murmelte sie pausenlos etwas vor sich hin. Um das Zwergkaninchen herum hatte sie einen Kreis aus Karotten drapiert, auf ihrem Schreibtisch flackerte eine Kerze. Alfons hockte ganz still. Seine schwarzen Schlappohren berührten fast den Boden und noch nicht mal das kleine schwarze Stummelschwänzchen zuckte.

„Was genau … äh … machst du da?“, erkundigte sich Charlie.

Alfons machte einen erschrockenen Satz.

„Mensch, Charlie!“ Ella warf ihrer Freundin einen vorwurfsvollen Blick zu. „Jetzt hast du Alfons aufgeweckt!“ Ärgerlich trat sie zu ihrer Musikanlage und schaltete sie ab. Dann zog sie die Vorhänge auf.

„Wieso hockst du hier im Dunkeln und hörst so komische Musik?“, fragte Charlie mit gerunzelter Stirn.

„Ich wollte Alfons hypnotisieren“, knurrte Ella. „Ich dachte, so könnte ich ihm vielleicht etwas beibringen.“

Charlie prustete los.

„Nein, wirklich“, sagte Ella mit ernster Miene. „Ich hab mal gelesen, dass ein Mann unter Hypnose plötzlich Klavier spielen konnte, obwohl er vorher nie Unterricht hatte – richtig professionell. Er ist auf Welttournee gegangen und Millionär geworden!“

„Du hast aber nicht vor, Alfons Klavier spielen zu lassen, oder?“, erkundigte sich Charlie lachend.

Jetzt musste auch Ella kichern. „Mit Schlips und Frack – würde ihm sicher gut stehen! Ich dachte eher daran, ihm beizubringen, wie man Karotten apportiert.“

„Auf jeden Fall weiß er, wie man sie isst“, sagte Charlie und deutete schmunzelnd auf das schwarz-weiß gescheckte Zwergkaninchen, das sich genüsslich über seinen Karottenkreis hermachte.

„Ach, Alfons, du bist einfach hoffnungslos verfressen“, seufzte Ella. „Und unglaublich kuschelig!“ Liebevoll nahm sie Alfons auf den Arm und drückte ihm einen dicken Schmatz auf die Stirn.

„Vielleicht sollten wir uns etwas Einfacheres für ihn ausdenken“, meinte Charlie und kraulte Alfons hinter den Ohren. „Etwas, das ihm besser liegt und woran er Spaß hat.“

Ella verzog das Gesicht. „Und das wäre? Fressen?“

„Na ja, warum nicht? Er kann so süß Männchen machen, wenn du ihm was zum Futtern hinhältst. Vielleicht könnten wir ihm ja beibringen, sich dabei im Kreis zu drehen oder so.“

Ella zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich hast du recht! Ich wollte zwar was Ausgefallenes, aber im Kreis drehen ist auch süß – und wahrscheinlich schon genug Arbeit für ihn!“

In diesem Moment steckte Ellas Mutter den Kopf zur Tür rein. „Mädels, ihr habt Herrenbesuch!“

„Was? Wer?“, entfuhr es Charlie und Ella wie aus einem Mund.

Ein Junge mit dunkelbraunen Locken und einem Rucksack über der Schulter tauchte neben Ellas Mutter auf.

„Ach, Raffi, du bist es!“, sagte Ella überrascht. Dann leuchteten ihre Augen auf. „Hast du etwa Wölkchen und Schoko dabei?“

Auch Charlie wurde ganz hibbelig. „Ja, wo sind sie?“

„Äh … zu Hause auf unserer Weide. Ich dachte, wir treffen uns zum Mathelernen!“