BLICK AUS DEM ALTEN ZIMMER

Wenn ich mein Elternhaus besuche, stelle ich mich manchmal in meinem alten Zimmer ans Fenster. Es ist ein zwölf Quadratmeter großer Raum, den meine Eltern inzwischen in ein Gästezimmer umgebaut haben. Die Möbel sind heute andere als in meiner Kindheit. Aber der Ausblick – weit in die Landschaft hinein – ist immer noch der gleiche wie vor 35 Jahren: Ich sehe das alte Most-presshaus mit dem Ziegeldach, das – seit ich mich erinnern kann – nur noch als Abstellschuppen für Rasenmäher, BMX-Räder und Gartengeräte dient. Als kleine Kinder durften wir nicht hinein, weil drinnen die Werkzeuge und Düngemittel gelagert waren. Aber wir sind gerne auf das Dach geklettert. Sehr vorsichtig, denn das alte Dach war nicht besonders stabil, und man musste aufpassen, keinen Ziegel runterzutreten. Eine gute Gleichgewichtsübung, die meine Eltern nicht gerne sahen.

Gleich hinter dem Presshaus beginnen unsere Wiesen mit den Obstbäumen. Wie so oft im Mostviertel liegt das Land in Hügeln. Links führt eine kleine Straße in Richtung Bundesstraße 1 zum Hof der Großeltern, wo heute mein Bruder wohnt. Rechts windet sich ein Ausläufer des Musterhartenbachs. Und dahinter beginnt unser Wald. In meiner Kindheit waren es 20 Hektar Wald – groß genug, um damit zu wirtschaften. Auch einen kleinen Karpfenteich gibt es dort. Als Kinder sind wir ab und zu hineingehüpft. Weniger zum Schwimmen – es war mehr eine Schlammschlacht als ein idyllisches Bad.

Am Horizont, Luftlinie sind das vielleicht zwei Kilometer, steht die letzte Baumreihe, eine Obstbaumallee. Sie verläuft entlang der B 1, die an dieser Stelle Strengberg und Oed verbindet. Die schnellen Motorräder und Lastwagen kann man bis zu unserem Hof hören.

Ein anderes Detail fällt mir auf. An der Außenseite der Fenster sind schwere dicke Gitterstäbe aus Gusseisen angebracht. Ich weiß nicht, was sich die Erbauer des alten Vierkanthofs gedacht haben oder vor wem sie sich schützen wollten. (Wir wissen nicht einmal genau, wann der Hof erbaut wurde. Vermutlich irgendwann Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts.) Bis in den ersten Stock hinauf sind die Fenster jedenfalls vergittert. Mich in der Nacht wegzuschleichen, ohne dass dies meine Eltern gemerkt hätten, wäre nicht möglich gewesen. Wohin hätte ich auch gehen sollen? Der Hof steht drei Kilometer außerhalb des Ortszentrums von Strengberg – ein Ort mit heute knapp über 2000 Einwohnern. In den beliebten Gasthäusern dort – dem Unterberger, dem ehemaligen Steinkellner und dem Blumauer – hätte mich jeder gekannt. Vielleicht hätten wir uns hinunter zum Bach stehlen können, um dort ein Lagerfeuer zu machen. Ich weiß es nicht.

Fest steht: Abends war ich daheim. Eingesperrt fühlte ich mich trotzdem nicht. Zumindest nicht als Kind. Das kam erst später.

Leben auf dem Bauernhof

Auf einem Bauernhof aufzuwachsen, relativ weit weg vom Geschehen in der Gemeinde, hatte als Kind gewaltige Vorteile: Der Hof, die Viehställe, der Wald und die Felder waren ein riesiger Spielplatz. Herumtoben, erforschen und Fangen spielen: Es war einfach genial. Ich hatte zwar keine Ahnung davon, welchen Blockbuster es gerade im Kino spielte – das erste Mal war ich mit sieben Jahren im Kino. Und ich kannte keine Fast-Food-Restaurants wie McDonald’s: Dort war ich das erste Mal mit zwölf Jahren. So etwas gab es bei uns eben nicht, dafür bekam ich mit sieben Jahren schon mein erstes Moped, als andere vielleicht gerade erst Radfahren lernten.

Auch Schlechtwetter minderte unsere Laune keineswegs: Alle Türen im ersten Stock des Vierkanthofes wurden geöffnet – eine durchgängige Indoorlaufarena war eröffnet. Ich kann mich an das Gefühl erinnern, mit Socken auf dem blanken Holz dahinzugleiten. Mehr als einmal rutschten wir auf der alten Treppe aus und polterten hinunter. Auch das gehörte zum Aufwachsen dazu.

Im Spielzimmer

Im Erdgeschoss hatten meine Eltern für meinen Bruder Robert und mich ein Spielzimmer eingerichtet: gelbbrauner Spannteppich im Wohnstil der 1970er-Jahre, ein großer Kasten, eine große Polstergarnitur zum Springen, Turnen und Polsterschlachtmachen – und natürlich Lego. Das war unsere große Leidenschaft. Mein Bruder baute extrem viel mit den bunten Plastiksteinen, er nahm immer wieder an Lego-Technic-Wettbewerben teil und belegte einmal sogar den dritten Platz in einer Landesmeisterschaft.

Im Winter bauten wir die Eisenbahn auf. Und natürlich schlug damals schon meine Begeisterung für Autos durch: Modellautos, dann funkgesteuerte Autos, irgendwann Computer. Als ich sieben Jahre alt war, »erbte« ich von meinem Bruder den alten Commodore 64 – mein erster Zugang in die digitale Welt. Immerhin war das Gerät mit 5,25-Zoll-Floppy-Disc ausgestattet und nicht mehr mit einem Kassettendeck.

Baderituale

Es ist nur ein Detail aus meiner Kindheit, sollte mich aber ein Leben lang prägen: unsere Baderituale. Wir hatten zwar eine Dusche, aber die wurde nicht verwendet. Stattdessen saßen wir immer in der Wanne, und das abendliche Waschen geriet regelmäßig zur Zeremonie. Meistens badeten wir Buben gemeinsam, und nach dem Baden hob uns die Mutter auf die Wickelkommode. Selbst als wir längst »stubenrein« waren, saßen wir noch dort unter dem Heizstrahler, wurden abgetrocknet, gehätschelt und geföhnt. Es war Entspannungs- und Familienzeit und gehört zu den besten Momenten aus meiner Kindheit.

Mir ist aus dieser Zeit ein – wenn man so will – »Tick« geblieben. Ich liebe das Baden nämlich auch heute noch. Wenn ich ein Hotel buche, achte ich darauf, dass es dort eine Wanne gibt. Dusche allein will ich nicht. Und wenn ich mich auf etwas vorbereite, wenn ich abschalten will oder einfach Zeit zum Nachdenken brauche, dann gelingt mir das am besten beim Baden. Am Vorabend einer großen Präsentation, früher auch vor einem Fußballspiel, gehe ich in der Badewanne die Aufgabe durch als mentale Vorbereitung. So kann ich mich entspannen und mich ungestört mit dem Thema befassen. Das macht mich ruhiger – und glücklich.

Auch der Heizstrahler aus unserem Spielzimmer zeitigt bis heute Nachwirkungen: Ich liebe es, meine Füße vom Heizstrahler wärmen zu lassen. Wenn ich reise, habe ich einen Föhn dabei. Warum? Um mir die Füße zu föhnen! Dieser kleine Ausflug in die Kindheit verschafft mir Wohlgefühl. Egal wo in der Welt. Innerhalb von Sekunden. Nach einer halben Stunde Füßewärmen geht es mir gut. Egal wie anstrengend der Tag gewesen sein mag.

Jeder, der einmal mit mir gereist ist, weiß, dass sich ein Föhn eigentlich immer in meinem Gepäck befindet. Jeder, der einmal mit mir im Zimmer gelegen hat, dreht zu irgendeinem Zeitpunkt durch, weil es ihm zu laut wird.

Kinderpartys

Es war zwar nicht möglich, einmal zum Nachbarn rüberzugehen, die meisten meiner Schulkolleginnen und -kollegen lebten dazu zu weit weg, das kompensierten meine Eltern jedoch mit den großen Geburtstagsfeiern und Festen, die bei uns am Hof regelmäßig stattfanden. Zu meinem Geburtstag im Januar kamen ein Dutzend Kinder oder mehr. Platz für derartige Events hatten wir ja genug, und mein Bruder Robert und ich luden immer gerne Gäste ein.

Der Bauernhof war einmal dafür ausgelegt, nicht nur eine große Familie zu beherbergen, sondern auch das landwirtschaftliche Personal: Mägde, Erntehelfer und Facharbeiter. Zur Erntezeit wohnten früher ein halbes Dutzend Personen hier, erzählt mein Opa. Dementsprechend viele Zimmer gab es.

Leben in der Küche

Das Herz des Hauses damals wie heute ist die Küche. Hier spielte sich das familiäre Leben ab. Während die Mutter kochte, lümmelten wir Kinder auf dem Sofa gleich beim Kachelofen. Hier machten wir unsere Hausübungen, hier fanden die Unterhaltungen statt, hier übte unsere Mutter mit mir Diktate. Für unseren schulischen Erfolg war allein sie zuständig. Mein Vater sah das viel entspannter. Dem waren unsere Noten völlig egal. Von dem hieß es zum Thema Schule immer: »Du machst das schon!« Und damit war das für ihn abgehandelt.

Die Mutter war da ganz anders. Während mein Vater immer schon ein wenig chaotisch war und dazu sehr lebenslustig – es kam nicht selten vor, dass er zu Mittag zu Hause sein sollte, aber dann erst irgendwann am Nachmittag eintrudelte, weil er sich mit seinen Freunden über einem Bier verplaudert hatte (vor allem sonntags nach dem Frühschoppen) –, war meine Mutter stets sehr sorgsam und zuverlässig. Bis heute kümmert sie sich um alles: das Frühstück, die Wäsche, den Haushalt ... Sie weiß, wo alle Dokumente, wo alle Rechnungen sind. Sie hat mindestens für drei Menschen gearbeitet. Pausenlos. Heute versuche ich, sie da ein bisschen rauszureißen. In einem Haus wie unserem hört die Arbeit ja niemals auf. Ich versuche ihr dann zu sagen: »Das geht einfach nicht. Du kannst nicht viermal im Jahr 84 Fenster putzen.«

Aber zurück in die Stube: Auch der Fernseher stand hier in einem Eck auf der Anrichte. Vielleicht der Höhepunkt einer jeden Woche war das Schnitzelessen am Sonntag, immer nach dem obligatorischen Gang in die Kirche. (Ein Fixpunkt, der mir weit weniger zusagte.) Wiener Schnitzel gab es 52-mal im Jahr. Die ersten 20 Jahre meines Lebens war das so. Und wahrscheinlich könnte ich das die nächsten 50 Jahre auch so machen.

In mancher Hinsicht halte ich gerne an Gewohnheiten fest. Gerade beim Essen! Was ich in meinem Leben Schinken-Käse-Toast gegessen habe! Nicht nur als Kind, sondern auch später als Student während der Gründungsphase von Runtastic oder auch heute noch. Aus rationaler Sicht ergibt das durchaus Sinn: einmal weil es schnell geht. Außerdem: Mit den richtigen Zutaten – viel Schinken, Magerkäse, Vollkornbrot – passt das auch zu meinen Ernährungsvorstellungen. Ich bin da vielleicht nicht sehr wählerisch veranlagt. Anderen mag es zu banal sein, ich kann jahrelang das Gleiche essen.

Interview mit Florians Eltern

Ist Florian mehr nach dem Papa oder nach der Mama geraten?

Papa: In der Schule zum Glück mehr nach der Mama. (lacht) Und sonst mehr nach dem Papa.

Was heißt das?

Papa: Dass Florian und ich ein bisschen schlampig sind beim Zusammenräumen. Die Mama ist sehr ordnungsliebend, Florian und ich nehmen es da nicht so genau.

Wie war Florian als Bub?

Papa: Er ist ein lustiges, aufgewecktes Kind gewesen, hochinteressiert, sehr mutig und draufgängerisch beim Radfahren und mit dem Moped. Er hat vor nichts Angst gehabt.

Mama: Ehrgeizig war Florian schon immer, und wenn er etwas wollte, dann hat er nicht nachgegeben. Egal ob es um ein Spielzeug ging oder ein Kleidungsstück. Gerade auf Kleidung hat er als Kind sehr viel Wert gelegt. Seine Geschwister überhaupt nicht, denen war vollkommen egal, was sie getragen haben. Er war da anders.

Papa: Das stimmt schon. Bei uns war es üblich, dass der Kleinere das Gewand vom Großen angezogen hat. Das wollte Florian aber gar nicht. Er wollte immer modern sein und immer das Neuste. Jetzt war es nicht so, dass wir ihm zerschlissene Jeans zum Anziehen gegeben hätten, aber eben nichts Extravagantes. Dass man immer das Neuste haben muss, hat nicht unbedingt unserer Vorstellung entsprochen, aber das war seine Leidenschaft.

Mama: Einmal – kann ich mich erinnern – hat er sich ein Paar Sportschuhe eingebildet, die wollte er unbedingt. Ich glaube, die haben damals über 1.200 Schilling gekostet. Mein Mann hat gesagt: »Kommt überhaupt nicht infrage, so teure Schuhe.« Florian hat dann mich wochen-, wenn nicht monatelang bearbeitet. Und ich war dann diejenige, die sie ihm doch gekauft hat. Wir sind zum Intersport nach Amstetten gefahren. Wir haben das meinem Mann nie gesagt. Also schon, aber dass sie wesentlich billiger waren. Sogar das Preispickerl haben wir umgeklebt. Mein Mann hat dann trotzdem noch geschimpft.

Papa: Geld verschwenden wollte ich nicht. Die Kinder haben ohnehin viele Spielsachen gehabt, Räder und Ski. Aber ich habe gefunden, es muss nicht immer das Allerneuste sein.

Und bei der Mode hat es große Auffassungsunterschiede gegeben?

Mama: Wie er älter war, ist er einmal mit ganz blonden Haaren heimgekommen. Da war wieder große Aufregung. Und als er gesagt hat, er hätte gern ein Flinserl/Piercing, hat mein Mann wieder gesagt: »Kommt überhaupt nicht infrage.« Dann ist Florian einmal heimgekommen und hat beim Mittagessen das Kapperl aufgelassen. Wir sind dann drauf gekommen, er hat sich das Piercing in die Augenbraue stechen lassen. Mein Mann ist daraufhin ... Na, frage nicht.

Wie hat die Kinderbetreuung ausgesehen?

Mama: Ich habe ja in diesen Hof geheiratet. Mein Elternhaus ist drei Kilometer entfernt. Als Florian und Robert noch klein waren, haben uns die Großeltern sehr viel geholfen. Wenn wir über Nacht fort waren, oder auch spontan, wenn der Fleischhacker oder der Mähdrescher gekommen sind, haben wir sie zu den Großeltern rübergebracht. Das war sehr praktisch. Die Buben sind sieben Jahre auseinander. So hat der ältere Sohn oft auf den Florian geschaut, wenn ich in den Stall gegangen bin.

Papa: Auf dem Bauernhof ist es so, dass man die Kinder viel zur Arbeit mitnimmt. Er ist oft mit mir im Traktor mitgefahren. Dadurch war er ein Naturmensch. Er war auch immer gern draußen.

Ursprünglich sollte Florian den Hof übernehmen. Wie war es für Sie, als es dann anders gekommen ist?

Papa: Nicht unbedingt angenehm, weil wir fix damit gerechnet haben, dass er den Betrieb weiterführen wird.

Mama: Deswegen haben wir ihn ja auch nach Wieselburg ins Internat gegeben. Aber je länger er ins Francisco Josephinum gegangen ist, desto weniger hat es ihn interessiert. Irgendwann ist er an einem Samstag mittags heimgekommen und hat gesagt, die Landwirtschaft sei nichts für ihn.

Papa: Wir haben am Anfang schon gesagt, dass er weitermachen soll. Er war ja als Nachfolger vorgesehen. Aber es war auch irgendwann klar, dass die Landwirtschaft nicht mehr so zukunftsträchtig war. Es ist viel Arbeit, und man muss viel investieren. Alles wird immer härter. Als er dann nach Hagenberg studieren gegangen ist, hat er bald gut verdient.

Wie haben Sie die Unternehmensgründung von Runtastic erlebt?

Mama: Ich kann mich gut daran erinnern, wie die vier im ehemaligen Spielzimmer gesessen sind und getüftelt haben. Manchmal habe ich ihnen einen Kaffee gebracht. Wir haben damals alle nicht verstanden, was sie da wirklich machen. Irgendetwas, das man in die Schuhe hineingibt. (lacht) So richtig verstanden haben wir das erst viel später.

Papa: Für mich war die Firmengründung eine komplette Überraschung. Dass es dann noch so steil bergauf gegangen ist, war unglaublich.

Mama: Als er erzählt hat, dass er seinen Job aufgeben will, um sich selbstständig zu machen, war das für mich ein Schock. Gerade erst hatte er den neuen Job bekommen – mit Firmenauto und allem. Ich war am Anfang skeptisch, aber er hat sich nicht beirren lassen.

Wie haben Freunde und Bekannte auf den Erfolg reagiert?

Papa: Ganz Strengberg hat davon gesprochen. Wir waren natürlich überglücklich.

Mama: Mit seinem Durchbruch war eine Riesenfreude da. Wir waren sehr stolz, haben gefeiert. Alle haben sich gefreut. Auch die Nachbarn. Natürlich gibt es immer auch Neider, aber ich sage jedem: Jeder von euch kann das auch schaffen. Florian hat keinen speziellen Hintergrund. Keiner hat ihm dabei geholfen. Er hat sich das ganz allein aufgebaut.

Was hat sich geändert, seit Florian so viel Erfolg hat?

Papa: Dass wir herumgekommen sind und Reisen gemacht haben! Florian hat uns nach New York, Los Angeles, Las Vegas und Paris eingeladen.

Mama: Solange wir noch auf dem Hof gearbeitet haben, sind wir eigentlich nie auf Urlaub gefahren. Ein einziges Mal haben wir eine Woche auf der Insel Krk verbracht. Ein Arzt hat damals gesagt, dass Florian ans Meer fahren soll, weil er dauernd Bronchitis hatte. Wir sind dann zu viert, mit Florian und seiner Schwester Katrin, mit dem Auto runtergefahren. Es war von Anfang an ein riesiger Stress: Das Wetter war entsetzlich, es hat dauernd geregnet. Und am Tag der Abreise haben wir noch den Raps zum Dreschen gehabt. Den muss man sofort dreschen, den kann man nicht liegen lassen. Deshalb hat Herbert bis 21 Uhr gedroschen. Ich bin danach noch mit einer Fuhre zum Speicher gefahren. Um 22 Uhr sind wir endlich in den Urlaub gestartet. Das ist in der Landwirtschaft eben so. Da kommst du nicht raus. Das hat sich inzwischen geändert: Florian schaut sich jetzt die ganze Welt an – und wir manches Mal mit ihm.

Arbeiten auf dem Bauernhof

Die Arbeit auf den Feldern und im Wald interessierte mich. Schon als Vierjähriger saß ich neben meinem Vater auf dem Traktor und begleitete ihn hinaus auf die Felder und in den Wald. Unser Hund Palto – ein großer Münsterländer – lief neben uns her. Ich erinnere mich gut an die Ausfahrten zeitig in der Früh. Mein Vater Herbert ist ein passionierter Jäger. Wer unseren Hof betritt, dem fallen im Vorzimmer als Erstes die Geweihe und Trophäen auf, die mein Vater von seinen Jagden zurückgebracht hat.

Wenn wir über die Felder tuckerten, sahen wir Hasen und Rehwild oder zumindest deren Spuren und Losung. Mein Vater kann besser mit Kindern umgehen als jeder andere Mensch, den ich kenne. Er hatte unglaublichen Spaß daran, mir jede Pflanze und jedes Tier zu erklären. Wir hatten eine richtig gute Zeit miteinander.

Hin und wieder durfte ich den Traktor lenken. Je älter ich wurde, desto häufiger. Mit sieben oder acht Jahren war ich dann schon allein damit unterwegs: »Geh, Florian, stell den Traktor schnell um!«, rief mein Vater aus der Küche, während ich noch draußen im Hof war. Ich habe früh begonnen mitzuhelfen. Das war in meiner Familie selbstverständlich.

Der Alltag auf dem Bauernhof machte mir zwar Spaß. Im Sommer konnte das alles aber auch ganz schön mühsam sein. Wenn die anderen Schüler während der Ferien im Schwimmbad saßen oder auf Urlaub fuhren, blieb unsere Familie auf dem Hof. Ein einziges Mal sind wir eine Woche auf Sommerurlaub gefahren. Gerade im Sommer war nämlich viel zu tun. Ich stand dann auf dem Acker und klaubte Steine, damit die Maschinen keinen Schaden nahmen, oder half bei der Ernte. Das waren die Schattenseiten.

Technisches Verständnis

Ich glaube, dass ich mir mein grundsätzliches technisches Verständnis in meiner Kindheit auf dem Hof angeeignet habe. Die Maschinen faszinierten mich. Ich lernte den Umgang mit allen erdenklichen Gerätschaften. Ich sah meinem Vater beim Schrauben an den Traktoren und beim Schweißen zu. Mit 16 Jahren machte ich bereits den Traktorführerschein und dann mit 18 den Lkw-Führerschein.

Fast jeder Tag in einer Landwirtschaft bedeutet auch eine neue technische Herausforderung. Nicht selten waren gefinkelte Lösungen und Hausverstand gefragt. Wer sich die Sachen nicht selbst reparieren kann, ist ständig auf teure Serviceleistungen angewiesen.

Mein Vater – ein begnadeter Reparierer, der für alles eine schnelle Lösung findet (die oftmals dann nicht ewig hält, aber jedenfalls fürs Erste das Problem löst) – sagte oft, dass man als Bauer alles können müsste. Wahrscheinlich hat er recht damit. Es gibt kaum etwas, das ein Bauer nicht selbst reparieren kann. Man muss ein universelles Verständnis entwickeln für die verschiedensten Bereiche. Man muss die Natur verstehen, den Boden, das Wetter, Tiere und Schädlinge. Man muss eine gewisse Ahnung von Chemikalien haben. Man braucht Verständnis für Maschinen, für Gebäude – und Geschicklichkeit.

Und zu guter Letzt – vielleicht ist das das Wichtigste – ist jeder Landwirt ein Unternehmer. Er muss rechnen und seine Buchhaltung führen können. Das bewirkt ein eigenes, ein wirtschaftliches Denken. Ein eigensinniges Denken vielleicht. Aber wenn ich mir überlege, was mir meine Eltern mitgegeben haben, dann ist es wahrscheinlich das.

Es gibt auch einen Aspekt, mit dem ich heute weniger anfangen kann. Wenn mein Vater zum Beispiel einen Handwerker beauftragen musste, war für ihn klar, dass es einer aus Strengberg sein würde. Das war für ihn wie eine moralische Pflicht. Ich denke da anders. Ich hole drei Angebote ein und wähle den, der das beste Angebot legt. Nur weil ich wo wohne, bin ich nicht verpflichtet, zu meinem eigenen Nachteil zu wirtschaften. Aber das ist ein Thema, bei dem die Leute heute anders denken als früher.

Mopeds und Kfz

Mehr noch als die landwirtschaftlichen Maschinen interessierten mich irgendwann Autos und Motorräder. Und natürlich vor allem mein erstes eigenes Mofa, eine Stangel-Puch MS 50 (Maurersachs). Diese hatte meine Mutter von ihrem Vater bekommen, der damals schon damit zur Arbeit gefahren war. Mein Papa baute dann den Sitz so um, dass ich damit fahren konnte, weil ich mit sieben Jahren mit den Füßen den Boden noch nicht erreichte.

Später kamen viele weitere Mopeds hinzu. Mein Vater fuhr damals mit mir auf den Schrottplatz Amstetten. Dort nahmen wir drei oder vier Mopedwracks in Teilen mit. Aus ihnen bauten wir dann meine erste Maschine, eine MS Cross 50, zusammen. Ich richtete sie dann selbst her und tunte sie natürlich, sodass sie wesentlich schneller ging als erlaubt. Man sollte das wahrscheinlich nicht schreiben, aber schon mit sieben Jahren fuhr ich zusammen mit den Nachbarsbuben damit durch die Gegend. Die Gegend hier ist ideal, um sich als Motocrossfahrer zu erproben. Wir holperten auf den kleinen Maschinen über Feldwege und Äcker. Zum Glück verirrten sich Gendarmen selten auf die Schleichwege abseits der Landes- und Bundesstraßen.

Wie ich zum Sport kam

Zum Fußballspielen kam ich durch meinen damals besten Freund Jürgen, der zwei Häuser weiter wohnte. Schon dessen älterer Bruder Jochen hatte für den FCU Strengberg gekickt. Die beiden nahmen mich dann im Alter von sieben Jahren zu meinem ersten Fußballtraining mit. Das machte mir von Anfang an ungeheuren Spaß, sodass Fußball eine Zeit lang für mich fast zum Lebensmittelpunkt wurde.

Unser Trainer Walter ließ mich – das machte man damals noch so – von links auf rechts umlernen, was das Schießen anging – und stellte mich gleich auf die Position, auf der ich dann meine ganze Fußballerlaufbahn über blieb: linker Verteidiger.

Bis zum Alter von 17 Jahren war ich im Team. Seither halte ich viel vom Mannschaftssport. Man lernt dort soziale Kompetenz und als Team zu arbeiten. Ich war damals eher bei den Kleineren. Dennoch setzte mich der Trainer häufig bei den U-14-Spielen – also bei den Spielen mit einem Alterslimit von 14 Jahren – ein, obwohl ich eigentlich als noch nicht einmal Elfjähriger bei den U-11-Spielen hätte spielen können. Meine Gegner bei den U-14-Matches waren drei Jahre älter als ich und mir natürlich körperlich überlegen. Ich hatte jedoch keine Angst vor jemandem, der einen Kopf größer war.

Ich war zwar nicht der Geschickteste am Ball – das bin ich bis heute nicht –, aber ich war antrittsschnell, flott auf der Außenbahn und konnte gut verteidigen. Die Kraft per se ist beim Fußball ja egal, Agilität und Mut machen viel aus. Ich hatte auch Freude daran, mir Respekt zu verschaffen. Aus der Underdogposition für eine Überraschung zu sorgen, das gefiel mir. Zwar bin ich nicht unbedingt brutal aufs Feld gegangen, jedoch trat ich schon hin, wenn es darauf ankam.

Dass ich unterschätzt wurde, ist mir natürlich später auch bei Runtastic immer wieder begegnet. Ich weiß nicht, wie viele Neins ich mir anhören musste und wie oft auch gute Leute sagten, dass bei unserem Projekt nichts herauskommen könne. Aber dazu später mehr ...

Pubertät und Widerstand

Ich war sicher nicht das bravste Kind, sondern immer etwas wild und eigensinnig. Immer etwas grenzwertig. Nicht in dem Sinn, dass ich kriminelle Sachen oder kompletten Blödsinn gemacht hätte, aber tendenziell war ich doch eher bei den Schlimmen dabei.

In der Pubertät wurde das dann natürlich extremer. Oft denke ich mir, dass das für junge Männer die gefährlichste Zeit ist. In diesem Alter hat man keine Angst, man denkt, man sei unsterblich. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie oft ich mit dem Moped gestürzt bin. Passiert ist – zum Glück – nie etwas.

Wahrscheinlich etwa im Alter von 13 Jahren wurden mir Strengberg, das Leben auf dem Hof und das Drumherum langsam zu eng. Damals verschoben sich die Prioritäten einfach. Mädels, rausgehen, andere junge Leute treffen – das wurde plötzlich wichtig. Stattdessen saß ich – gefühlt – allein auf dem Bauernhof herum. Handys gab es damals keine. Die eisernen Gitterstäbe vor den Fenstern bekamen damals auch metaphorischen Charakter.

Das Arbeiten während der Ferien und nach der Schule wurde zusehends zur Belastung. Ich kann mich an einen besonders heißen Tag im Sommer erinnern – es muss Mitte August 1996 gewesen sein –, da stand wieder einmal Getreide ableeren auf dem Programm. Getreide abzuleeren bedeutete einen Erntetag. Mein Vater fuhr den ganzen Tag auf dem Mähdrescher – wir hatten damals einen uralten John Deere ohne Kabine vorne. Man selbst stand vorne und war nach einer halben Stunde schwarz vom Staub. Die Gerste juckte unheimlich auf der Haut. Was der Mähdrescher einbrachte, wurde dann direkt auf den Kipper geladen, der am Traktor hing. Mein Großvater, der uns früher bei den schweren Arbeiten meistens unterstützte, oder meine Mutter fuhren das Getreide in den Hof. Dort wurde alles in eine Förderschnecke gekippt, die das Getreide in den ersten Stock auf den Getreideboden hob. Über eine Holzrutsche landete das Getreide schließlich auf dem 100 Quadratmeter großen Boden.

Ich musste das Getreide mit einer Schaufel gleichmäßig im Speicher verteilen. Das war an sich schon eine mühsame Arbeit, vor allem jedoch im Hochsommer, wenn die Sonne auf das Dach brannte und sich die Temperatur im Getreideboden auf 40 Grad oder mehr aufheizte. Ich wusste, dass alle meine Freunde jetzt im Schwimmbad faulenzten und Spaß hatten, und die Arbeit interessierte mich überhaupt nicht. Das war der Moment, als ich – mit den Mitteln, die mir damals zur Verfügung standen – dagegen aufbegehrte. Ich erzählte meinen Eltern, dass ich das nicht mehr machen konnte, da ich gegen Staub allergisch sei und Husten bekäme. Entkommen gab es keines. Irgendwer musste ja schließlich die Arbeit machen. Ich ging daraufhin in meiner Winterjacke und mit meinem Vollvisierhelm auf den Speicher, was meinen Vater natürlich zur Weißglut trieb. Der wollte nicht verstehen, wie man so ein Theater aufführen konnte. Ich wollte ihm aber zeigen, dass ich es ernst meinte.

Lessons learned

Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, dann ist sie ein schöner Abschnitt meines Lebens. Es war eine Zeit, die mich Nähe zur Natur und Liebe zur Technik gelehrt hat. Sie hat mich in das Selbstverständnis eines Unternehmers hineinwachsen lassen. Die Herausforderung kam in der Pubertät, als sich viele der Vorteile, die ich als Kind auf dem Bauernhof genossen hatte, nicht mehr in der Form genießen ließen. Plötzlich bedeutete das Leben auf dem Bauernhof, das mir als Kind so viele Freiheiten ermöglicht hatte, eine Einschränkung. Natürlich war es auch eine Zeit des Grenzenauslotens, des Austestens, der Streitereien mit meinen Eltern ... Es war eine Zeit der Dummheiten und der verrückten Ideen. Die große Herausforderung sollte noch folgen.

INTERNAT: DER HÄRTERE WEG

Verzweifelt

Es ist Montag, der 7. September 1998, elf Uhr. Meine Mutter und mein Vater warten schon im Auto. Ich bin noch einmal zurück ins Haus gegangen, um meinen Schlüssel zu holen. Ich bin verzweifelt. Heute ist der Tag, an dem wir ins Internat fahren werden. Im Kofferraum des alten Mercedes 220D liegen mein Koffer und eine Sporttasche mit Kleidung, Schuhen und all den Toilettenartikeln. Meine Eltern werden mich ins Francisco Josephinum bringen.

Die höhere landwirtschaftliche Schule in Weinzierl, einem Ort innerhalb der niederösterreichischen Gemeinde Wieselburg-Land, bietet seit dem Jahr 1869 eine höhere landwirtschaftliche Grundausbildung. Seit dem Jahr 1934 ist die nach Kaiser Franz Joseph benannte Schule hier untergebracht. Rund 50 Minuten dauert die Autofahrt von Strengberg dorthin. Ich erinnere mich nicht mehr genau an jedes Detail, sicher bin ich mir jedoch, dass ich die ganze Fahrt über mit den Tränen gekämpft habe. Schon beim Hinfahren war mir klar: Ich will dort einfach nicht hin.

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht mehr, was ich als Kind für Berufswünsche hatte. Ich nehme an, es wird Rennfahrer gewesen sein oder so etwas Ähnliches. Die Maschinen auf dem Bauernhof haben mich fasziniert, wobei es stets mehr ein allgemeines Interesse an Technik überhaupt als an Landwirtschaft war. Ich bin gerne auf dem Traktor gesessen und war gerne im Wald unterwegs, um meinen Eltern bei den Forstarbeiten zu helfen, die Entscheidung für Wieselburg jedoch war die meiner Eltern. Ich sollte ja – das war der Plan – eines Tages den Hof übernehmen.

Wer übernimmt den Hof?

Mein um sieben Jahre älterer Bruder Robert war ebenfalls ein Jahr lang in Wieselburg in die Schule gegangen, hatte aber abgebrochen, um einen Lehrberuf zu erlernen. Zudem, fanden meine Eltern, hätte er nicht das passende Alter gehabt, um den Hof zu übernehmen. Meine Mutter war zum Zeitpunkt seiner Geburt erst 19 Jahre gewesen. In Roberts Zwanzigern wären meine Eltern noch voll im Berufsleben gestanden und hätten definitiv noch nicht an eine Hofübergabe gedacht.

Bei mir, der ich sieben Jahre jünger war, sah die Sache schon ganz anders aus. Umso mehr, als ich ja als Kind großes Interesse für die technischen Aspekte der Landwirtschaft gezeigt hatte.

Eigenartig ist lediglich, dass bei uns das Nachfolgethema nie offen angesprochen wurde. Ich glaube, es war für meine Eltern intuitiv einfach klar, so klar, dass sie offenbar gar keinen Grund sahen, meine Zukunft oder die Zukunft des Hofes mit mir zu besprechen.

Es mag eine Rolle spielen, dass mein Vater nie gut darin war, die wichtigen Sachen offen anzusprechen. So wundervoll er in vieler Hinsicht war – etwa wenn es darum ging, uns Kindern alles Mögliche zu erklären, oder er uns mit enormer Geduld und Vertrauen alles ausprobieren ließ –, die großen Fragen schwebten über den Dingen, wurden jedoch niemals direkt angesprochen. Ebenso wenig wie die großen wirtschaftlichen Investitionen übrigens: Sollen wir den Stall erneuern oder in einen neuen Traktor investieren? Sollen wir Ackerfläche dazunehmen? Die Viehwirtschaft ausbauen oder einstellen? So etwas wurde einfach nicht besprochen. Zumindest nicht mit uns Kindern.

Dasselbe galt für Fragen der Ausbildung. Zwar war es meinen Eltern sehr wichtig, dass wir eine gute Ausbildung bekamen, in eine gute Schule gingen und – wenn möglich – Matura (das Abitur) machten, aber ob es vielleicht Alternativen zu Wieselburg gegeben hätte, darüber hat sich mein Vater wohl ebenso wenig wie meine Mutter Gedanken gemacht.

Vorgegebene Entscheidungen

Vielleicht – so habe ich mir später gedacht – sind meine Eltern auch deshalb mit dem Schaffen oder dem Analysieren von Optionen so schlecht umgegangen, weil sie selbst in ihrem Leben kaum Optionen hatten. Für sie waren die großen Entscheidungen vorgegeben. Die Gschwandtners sind seit vielen Generationen Landwirte. Bei der Familie meiner Mutter war es ebenso. Für Jammern, Grübeln oder übertriebene Gefühlsduselei war in ihrem Leben kein Platz. Ich glaube nicht, dass ich die Frage »Wie geht es dir wirklich?« früher von meinen Eltern gehört hätte. Es wurde für das Wesentliche gesorgt. Der Rest war sehr viel Arbeit und Routine. Jemanden einfach so umarmen – das hat es nicht gegeben.

Erst viele Jahre später und wohl auch gezielt von mir forciert, fand dann das Besprechen und überhaupt das Ansprechen von Problemen und Konflikten Eingang in meine Familie. Da machten wir alle in der Verwandtschaft eine große Entwicklung durch. Heute ist vieles ganz anders, ich muss jedoch auch noch die Initiative ergreifen und klar sagen: »Kommt, wir bereden das jetzt! Es ist wichtig.«

Die landwirtschaftliche Fachschule

Die höhere landwirtschaftliche Fachschule in Wieselburg ist ein weitläufiger Komplex aus mehreren Gebäuden, umgeben von Feldern, die von der Schule zu Lehrzwecken bewirtschaftet werden. Im Zentrum des Areals steht das alte barockisierte Schloss (erbaut Ende des 16. Jahrhunderts), wo heute noch die Festsäle und Teile der Verwaltung untergebracht sind. Hier fand auch die Informationsveranstaltung am ersten Tag statt, bei der auch meine Eltern noch anwesend waren. Wenn man ins Schloss kommt, geht man durch den Hof und dann weiter nach links in den Festsaal, ich erinnere mich noch an den ersten Eindruck – alles war alt und irgendwie in die Jahre gekommen. Nach den Begrüßungsworten vom Direktor und von unserem Klassenvorstand David Lercher gingen wir gleich hinüber ins Internat, um die Zimmer zu beziehen.

Das Gebäude mit den Schlafsälen war damals noch ein gedrungener Bau aus den 1950er-Jahren und in extrem schlechtem Zustand. Gefühlt gab es dort für 200 Leute gerade einmal drei Duschen. Im Jahr 2004, zwei Jahre nach meiner Matura, wurde die Schule endlich vollständig renoviert. Nachdem die acht Klassen mit rund 730 Schülern zwei Jahre in Containern untergebracht waren, wurde im Jahr 2008 der Neubau fertiggestellt. All das war freilich noch Zukunftsmusik, als ich meinen ersten Schultag hatte.

Meine Mutter half mir im Zimmer – es war das hinterste im ersten Stock, das ich zusammen mit drei anderen Erstklässlern bewohnen würde – beim Auspacken. Ich bin von Natur aus kein schüchterner Mensch, kannte aus meinem Jahrgang damals jedoch nur einen einzigen Menschen, und den nicht besonders gut. Das war nicht einfach für mich.

Es war dann auch bald klar, dass im Internat eigene Gesetze galten. Jeder kennt die Klischees von den wilden Zuständen in Internaten. Es gibt genügend Filme, die in so einer Umgebung angesiedelt sind. Auch in Wieselburg stellten sich einige der Klischees als wahr heraus. Die Zweitklässler sekkierten die Neuen nach allen Regeln der Kunst, froh darüber, dass sie nun nicht mehr die Untersten in der Hackordnung waren. Da wurden Türen blockiert, Neulinge bedroht und eingeschüchtert, und es wurde ordentlich geschlagen.

Die Streiche waren mal mehr, mal weniger lustig und gingen natürlich stets auf Kosten der Jüngeren. Es war ein täglicher Überlebenskampf, in dem ich schnell dazulernen musste. Ich besorgte mir bald Zigaretten. Die waren eine gute Währung, um Schikanen abzumildern oder ihnen ganz zu entgehen.

Es interessiert mich nicht

Der Umgang miteinander im Internat war das eine. Das andere war die Ausrichtung der Schule. Der landwirtschaftliche Fokus war eben nicht meiner. Auch das unterschied mich von den meisten Schülern dort, mit denen ich nicht sehr viel gemeinsam hatte. Ich fühlte ich mich in Wieselburg so richtig fremd. Der Unterrichtsstoff interessierte mich kein bisschen: Das begann bei Bodenkunde, wo es darum ging, die lateinischen Namen der Pflanzen auswendig zu lernen und voneinander zu unterscheiden, und ging weiter bis zur Vererbungslehre beim Züchten von Vieh.

Hängten meine Kollegen Poster von Traktoren an die Wände über ihren Betten, waren es bei mir Golf GTIs. Ich wollte ausgehen, in die Disco, die anderen fuhren zu irgendwelchen Blasmusikkirchtagen. Es gab eine Handvoll Leute, mit denen ich mich irgendwann recht gut verstand. Aber mit dem Großteil war es schwierig, weil die Interessen ganz andere waren.

Was mir damals ebenfalls zu denken gab: Einige meiner Mitschüler waren die Kinder von reichen Großbauern. Die schwärmten von ihren Traktoren mit Klimaanlage und ihren CD-Wechslern. Mir fiel dazu unser alter Mähdrescher ein, auf dem mein schwitzender, vollständig eingestaubter Vater stand.

Es war klar, dass ein Lebensstil, wie ich ihn mir vorstellte, mit einer Landwirtschaft in der Größe der meiner Eltern nur schwer möglich sein würde. Mit 15 Jahren träumte ich von cooler Kleidung, wollte ein schnelles Auto fahren, keinen klapprigen Mercedes, wie ihn mein Vater schon seit Jahren fuhr. Finanzielle Unabhängigkeit, eine gewisse materielle Sicherheit und einen finanziellen Spielraum wollte ich schon immer. Das Leben als Bauer passte zu diesen Träumen ganz und gar nicht.

Immerhin: Schummeln gelernt

In einem feindlichen Umfeld und einem Fachgebiet, das mich wenig interessierte, versteht sich fast von selbst, dass ich kein herausragend guter Schüler war. Wenn es allerdings eine Sache gibt, die ich in Wieselburg gelernt habe, dann ist es Schummeln.

Beim Erstellen von Schummelzetteln war ich äußerst erfinderisch. Ich verbrachte Stunden damit, die Prüfungsinhalte in winziger Schriftgröße auf Miniaturzettel zu übertragen. In der Schulzeit noch mit der Hand, später verfeinerte ich die Methode mithilfe der Technik: Computerausdrucke, Arial Narrow, Schriftgröße 3,5. So ließ sich eine ganze Menge Text auf einem kleinen Blatt Papier unterbringen. Mein größter Trick bestand in Schummelzetteln, die ich um einen dicken Kugelschreiber wickelte. So brachte man eine ganze A4-Seite voller Notizen auf einem Kugelschreiber unter. Teilweise hatte ich dann vier bis fünf auf diese Weise präparierte Stifte im Federmäppchen.

Nebeneffekt dieser Vorbereitungsarbeiten: Ich war durch das Verfassen der Hilfsmittel dann doch immer recht gut vorbereitet, und die Noten waren halbwegs in Ordnung.