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ELEONORE BÜNING

SPRECHEN
WIR ÜBER
BEETHOVEN

Ein Musikverführer

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw.
Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Redaktion: Fritz Jensch, München

ISBN 978-3-7109-0050-1

INHALT

»Warum wir von Beethoven so erschüttert werden«

1»Heiliger Boden«

2»Er wird nie etwas Ordentliches machen!«

3»Veränderungen über einen Deutschen«

4»Mozart’s Geist aus Haydens Händen«

5»Da ist das Werk, sorgt um das Geld!«

6»Für solche Schweine spiele ich nicht!«

7»Sprecht lauter, schreyt, denn ich bin taub!«

8»Geschrieben auf Bonaparte«

9»Nichts als Trommeln, Kanonen, Menschenelend«

10»Das macht mir so leicht nicht ein anderer nach«

11»Lieber zehntausend Noten als einen Buchstaben«

12»Je größer der Bach, je tiefer der Ton«

13»Hebel der Furcht, des Entsetzens, des Schmerzes«

14»Mein Engel, mein alles, mein Ich«

15»Banner der Zeit«

16»Mensch, hilf dir selbst!«

17»Seid umschlungen, Millionen!«

18»Unser musikalischer Jean Paul«

19»Glorreicher Augenblick«

20»Tönende Sprachlosigkeit«

21»Pilgerfahrt zu Beethoven«

22»Tempo und Charakter«

23»Zusammengestohlen aus verschiedenem Diesem und Jenem«

24»Musik über Musik«

25»Roll over Beethoven«

26»Altes Kind unter guten Menschen«

Werkregister

»WARUM WIR VON BEETHOVEN SO ERSCHÜTTERT WERDEN«

Die Musik Ludwig van Beethovens hat schon das Publikum zu dessen Lebzeiten erschüttert, verstört und entzweit. Sie polarisierte die Öffentlichkeit, wie es bis dahin noch keinem Komponisten mit seinen Werken hatte gelingen können. Seither macht sich jede Generation ihren eignen Reim darauf – oder sie versucht es, zumindest. Bis heute geht das so. Beethoven lebt. Seine Kunst greift uns immer noch ins Gemüt.

Der Fußabdruck des Genies findet sich überall, selbst dort, wo wir ihn nicht mehr zur Kenntnis nehmen, weil er verwischt erscheint oder übermalt ist. Viele der Melodien, die Beethoven erfand, sind zu Evergreens geworden. Auch kurze Schnipsel, wenige Takte, haben Signalcharakter. Für Elise klingelt auf dem Handy. Die Mondscheinsonate klimpert in der Hotelbar. Eroica oder Appassionata kurbeln die Werbung an. Die »Arietta« jagt uns Schauder über den Rücken. Ernst Bloch, der Philosoph, sagte es einmal so: »Beethoven ist Luzifers guter Sohn, er ist der führende Dämon zu den letzten Dingen.«

Zumal die Neunte mit ihrer finalen Botschaft der Menschheitsverbrüderung hat eine verzweigte, zwiespältige Wirkungsgeschichte. Sie gilt als deutsche Schicksalsmusik vom Dienst, spätestens seit Bismarcks Zeiten. Ist inzwischen nicht nur als obligate Staatsaktgarnitur in Gebrauch, wurde vielmehr im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte zigfach zerpflückt, weiterverarbeitet und zur Erkennungsmelodie verkleinert, arrangiert für Klavier zwei- oder vierhändig, für Blaskapelle oder Harmoniemusik, für Schlagersänger, Pop- oder Rockbesetzung. Auch die übrigen acht Symphonien Beethovens wurden fleißig transkribiert, häufig zitiert und ideologisiert, jedoch nicht in gleichem Maße. Weihnachten 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, dirigierte Leonard Bernstein Beethovens Neunte Symphonie d-moll op. 125 in Berlin. Er hatte dazu eigens den Text des Finales aktualisiert und Schillers »Freude, schöner Götterfunken« umgedichtet in: »Freiheit, schöner Götterfunken!«, außerdem lud er sich für dieses emphatisch umjubelte Wiedervereinigungskonzert Orchestermusiker aus Ost und West aufs Podium ein, sie reisten an aus Dresden und aus München, aus London, Paris, New York und Sankt Petersburg. Der Mitschnitt dieses Konzerts wurde ein Bestseller. Es gibt bessere, schärfere Aufnahmen von diesem sich aufbäumenden, nach den Sternen greifenden letzten Satz aus Beethovens Neunter. Was den »Erschütterungsfaktor« anbelangt, die Intensität des Musizierens, wirkt diese Gelegenheitsinterpretation des alten, bereits von Krankheit gezeichneten Bernstein eher pastos und zahm, sehr viel netter und lahmer als jene andere, die Wilhelm Furtwängler im Frühling des vierten Kriegsjahres 1942 ablieferte, als er das Werk mit Furor und Wut zu Führers Geburtstag dirigierte.

Anno 2014, zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls, war dann abermals das Chorfinale fällig, Daniel Barenboim dirigierte open-air am Brandenburger Tor, Hunderttausende hörten zu. Aus »Freiheit« war zwar wieder »Freude« geworden. Aber auch diesmal trieb die Musik unzähligen Menschen die Tränen in die Augen. Stellvertretend für alle bekannte es der Schauspieler Jan Josef Liefers, der diese Einheitsparty zu moderieren hatte, im Anschluss daran in der Sendung Günther Jauch. Er habe, sagte Liefers, als Barenboim Beethoven dirigierte, während die Luftballons an der ehemaligen Demarkationslinie einer nach dem anderen in den Himmel stiegen, in der Kulisse herumgestanden und sei froh gewesen, dass gerade keine Kamera auf ihn gerichtet war, weil er hilflos habe flennen müssen. Vor solchen Bekenntnissen muss jedes kritische Wort verstummen. Es liegt ja etwas Wahres darin, das schwer zu fassen ist.

In dem vorliegenden Buch wird es nicht um letzte Wahrheiten gehen. Auch nicht um Aufklärung über die Wirkungsmacht des »Mythos Beethoven«, wie die legendäre Beethoven-Ausstellung im September 1986 in der Bonner Beethovenhalle betitelt war. Zu Ersterem beizutragen, das war, ich mag es nicht leugnen, der Anspruch, als ich damals, vor über dreißig Jahren, am Institut für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin an meiner Dissertation über frühe Beethovenrezeption schrieb, die dann unter dem Titel Wie Beethoven auf den Sockel kam (im Metzler Verlag, 1992) erschien. Damals war der Begriff »Beethoven-Mythos« neu, streitbar und viel diskutiert, viele Forschungsarbeiten schlossen sich dem an, etwa Christina M. Stahls Arbeit über die politische Instrumentalisierung der Neunten in der jüngeren deutsch-deutschen Geschichte (im Schott Verlag, 2009). Heute ist der Begriff ein bisschen zu einem Schlagwort geworden, mit dem sich sogar Beethoven-Souvenirs verkaufen lassen.

Im Folgenden soll es vor allem um einige der Beethovenschen Werke gehen. Erzählt wird von den Umständen und Voraussetzungen ihrer Entstehung, aber auch jeweils von Erfolg, Misserfolg und Spätwirkung. Welche Stücke dies sind, in welchem Kontext, das lässt sich aus dem Register erschließen. Viel geliebte Schlüsselwerke sind darunter, wie die großen Symphonien oder die späten Klaviersonaten, aber auch weniger populäre, wie die frühen Kurfürsten-Sonaten, einige Lieder oder Beethovens unvollendete Oper »Vestas Feuer«. Daneben geht es natürlich auch um die wichtigsten Stationen aus Beethovens Leben, von der Wiege bis zur Bahre. Und es geht um Fragen wie: Was hat Beethoven von Mozart gelernt? Was lernten Schubert und Schumann von Beethoven? Wer war die »Unsterbliche Geliebte«? Wie taub war Beethoven wirklich? Konnte Beethoven kochen?

Die sechsundzwanzig Kapitel dieses Buches gehen zurück auf eine sechsundzwanzigteilige Sendereihe, die im Jahr 2015 vom Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) ausgestrahlt wurde. Sie hieß schlicht Beethoven. Ich danke von Herzen der rbb-Redakteurin Dorothea Diekmann, die mich zu diesem Abenteuer überredet hat. Ich danke ihr, aber auch Kaspar Wollheim und Bettina Mikulla vom rbb für die scharfen Ohren und den konstruktiven Spaß während der Arbeit im Studio. Ich danke ebenso herzlich Fritz Jensch, dem die Aufgabe zufiel, das Sendemanuskript in ein Lesemanuskript zu verwandeln, dem man nur mehr, wenn man um diesen Entstehungsprozess weiß, anmerken kann, dass etwas sehr Wichtiges fehlt, nämlich das Eigentliche: die Musik.

1

»HEILIGER BODEN«

Lange vor dem »öffentlichen« Beethoven gab es den »privaten« Beethoven, das Wunderkind, das im beschaulichen Bonn daheim auf dem Clavichord übte. Vor, aber auch nach den großen Symphonien, bestimmt für den Konzertsaal, entstanden Sonaten für nur zwei Hände, zehn Finger und vier bis fünf Oktaven – Werke, die Beethoven vor allem selbst gespielt hat.

Seine ersten drei Klaviersonaten komponierte Beethoven im Alter von zwölf Jahren, seine letzte mit zweiundfünfzig. Dieses häusliche Musikformat hat ihn sein Leben lang begleitet. Schon ganz früh, in den Kindersonaten, lodert ein ganz spezielles Feuer. Zum Beispiel: in der Sonate f-moll WoO 47,2. Langsame Einleitungen zu schnellen Sätzen, das war damals, 1782, als Beethoven diese Sonate komponierte, zwar nichts Besonderes. Aber dass das stolze, finstere f-moll-Maestoso vom Anfang dann überraschend später noch mal wiederkehrt, das ist schon echt Beethovensch, und der Allegro-Tornado, der nach dieser Einleitung losbricht, klingt wie ein Vorschein der Pathétique.

Diese Sonate gehört zu den drei Kurfürstensonaten, die Beethoven, zu diesem Zeitpunkt noch Schüler des Bonner Hofkapellmeisters Christian Gottlob Neefe, dem Bonner Erzbischof und Kurfürsten Maximilian Friedrich widmete. Ein Jahr später, dreizehnjährig, wird er als Mitglied in die kurfürstliche Kapelle aufgenommen, mit festem Sold: das erste Geld, das er verdient mit seiner Musik.

Klaviersonaten aus dieser Zeit werden heute häufig auf historischen Hammerflügeln gespielt. Wir wissen, dass Beethoven 1787, als Siebzehnjähriger, einen Hammerflügel der Augsburger Firma Johann Andreas Stein geschenkt bekam von seinem Bonner Gönner, dem Grafen Waldstein. Vielleicht hat Beethoven danach selbst irgendwann einmal seine Jugendsonaten auf diesem Steinschen Hammerflügel gespielt. Jedoch: Als er mit zwölf die Kurfürstensonaten komponierte, spielte und übte er auf bereits erwähntem zartbrüstigen, obertonreichen Clavichord, das maximal fünf Oktaven hatte, dafür aber Bebungen erlaubte. Der Klang dieses Instruments unterscheidet sich gewaltig von dem eines Hammerflügels oder gar eines modernen Flügels – selbst langweilige Begleitfiguren wie Schusterflecken bekommen im tiefen Register des Clavichords eine eigene Farbe.

In Aufbau und Stil orientiert sich der zwölfjährige Beethoven weitgehend am Vorbild seines Lehrers Neefe, der seinerseits eine Serie von zwölf Klaviersonaten in empfindsamem Stil geschrieben hatte, einander ähnlich wie ein Ei dem anderen. Interessanterweise findet Neefe das moderne »Clavier« (womit er den Hammerflügel meint) nur passend für Konzerte, Trios, Quartette. Für die Intimität der Klaviersonate, also für die »Liebhaber, welche zu ihrem eigenen Vergnügen nichts mehr als ein Solo interessieren kann«, empfiehlt er mit Nachdruck das Clavichord. Neefe definiert somit die Gattung Sonate als »privat« und das Konzert als »öffentlich«. Vielleicht hätte ihm das YouTube-Video gut gefallen, auf dem der belgische Pianist Wim Winters die gesamte Beethovensche Pathétique auf einem Clavichord vorträgt.

Beethovens Jugendsonaten werden kaum aufgeführt, denn sie gehören noch nicht zum magischen Korpus des »Neuen Testaments«, wie Hans von Bülow später das Gesamtœuvre der zweiunddreißig Klaviersonaten nannte. Sie tragen noch keine Opuszahl. Auch wird in den einschlägigen Beethovenbiographien immer wieder kolportiert, diese Werke seien halt doch etwas fad, konventionell und schablonenhaft, außerdem voller handwerklicher Fehler. Man kann sich leicht davon überzeugen – spielend oder hörend –, dass dem nicht so ist. Sie sind zwar leicht zu spielen, zweistimmig, selten vollgriffig, sie sind kurz, kantabel und richten sich formal nach dem Vorbild Neefes, der sich wiederum an Carl Philipp Emanuel Bach orientiert hat, auch ist der Tonvorrat des Clavichords halber begrenzt. Aber diese Sonaten stecken voll irrer Einfälle, immer wieder nahm sich der junge Komponist kleine Freiheiten von der Regel heraus. Man könnte das »Fehler« schelten. Aber es finden sich solche Einfälle auch in allen späteren Sonaten, ja, einige dieser »Fehler« könnten von niemand anderem stammen als von Beethoven. Hugo Riemann, einer der wenigen Musikwissenschaftler, der sich genauer mit Beethovens Jugendstücken befasst hatte, bemerkte, dass uns in dieser Musik, als »Vorahnung« auf das Kommende, immer wieder »ein Blick aus den Glutaugen des echten, ureigenen Beethoven trifft«.

So sind zum Beispiel die einzelnen Sätze der Bonner Kurfürstensonaten motivisch-thematisch miteinander verwandt. Das ist bereits sehr Beethovensch: dass eines aus dem anderen herauswächst, dass die Zeitkurve sich krümmt und die Musik vorausahnt oder sich zurückerinnert. Bis hin zu seinen letzten drei Klaviersonaten hat Beethoven das weiter perfektioniert.

Im Juli 1822 schreibt aus Paris der Musikverleger Maurice Schlesinger nach Wien, Hauptstraße 60, an die Adresse des verehrten Meisters Louis van Beethoven. Er bestätigt ihm den Empfang der von seinem Verlag bestellten und bezahlten Sonaten. Schlesinger dankt Beethoven aufs Überschwänglichste und erkundigt sich beiläufig, ob nicht, eventuell, »das Alegro zufällig beym Notenschreiber vergessen worden sei«. Da fehle doch etwas. Die Sendung sei nicht vollständig. Und noch einen zweiten Brief in gleicher Sache bekommt Beethoven zehn Tage später, diesmal aus Berlin, wo Schlesinger senior das Stammhaus der Schlesingerschen Musikhandlung leitet. Wieder wird ihm die gleiche Frage gestellt: Ist diese Lieferung wirklich vollständig? Fehlt da nicht eventuell, in der zweisätzigen Klaviersonate c-moll, der übliche dritte Satz? Darf eine Musik so einfach Schluss machen, ohne Schlusssatz?

Neunzig Dukaten hatte der Musikverlag Schlesinger an Beethoven im Voraus gezahlt, als Honorar für alle drei Klaviersonaten op. 109, op. 110 und op. 111. Das entspricht ungefähr dreihundertsechzig Wiener Gulden, und dies wiederum entspräche der heutigen Kaufkraft von circa fünftausend Euro: lächerlich wenig Geld für die Arbeit zweier Jahre, ein Almosen für drei große Musikwerke. Freilich hatten die Schlesingers (hatte vielleicht sogar Beethoven selbst) 1822 noch keinen rechten Begriff von der Aura, die diese Werke alsbald vergolden sollte. Aber es gibt auch nicht den geringsten Hinweis darauf, ob Beethoven auf die beiden Briefe der Schlesingers jemals geantwortet hat. Vielleicht hat er nur kurz gelacht über die Raffgier der Verlegersleute, die meinten, sie hätten zu wenig Musik bekommen für ihr Geld. Vielleicht waren ihm die Fragen nach dem fehlenden dritten Satz aus op. 111 auch einfach zu dumm, schließlich hatte er ja sein letztes Wort bereits gesprochen, und zwar in Tönen.

Der letzte Satz aus Beethovens letzter Klaviersonate op. 111, die »Arietta«, gilt als ein mythenumnebelter Weltabschieds-Satz, der angeblich die Quintessenz aus der Gesamtheit der Beethovenschen Klaviersonaten zieht, vielleicht gar Beethovens gesamten Komponierens – inklusive eines Zitats aus der Neunten Symphonie, das in Takt 79 fast unhörbar in der linken Hand versteckt ist. Der Satz löst sich am Ende auf in Ekstasen von Trillern, schließt: mit einer C-Dur-Kadenz. Schlichter geht’s nicht.

Unter den vielen verschiedenen Möglichkeiten, diese Schlusskadenz zu spielen, bevorzugen die Pianisten heute vor allem zwei. Einige schlagen die allerletzten Töne, die dem Thema hinterherrufen, wie beiläufig an, leiser werdend und ohne Ausdruck. Zum Beispiel: Friedrich Gulda, András Schiff, Artur Schnabel, Wilhelm Backhaus und Maurizio Pollini. Andere laden jede Fortschreitung, jeden einzelnen Tonschritt bis zur allerletzten Sekunde mit Bedeutung auf. Zum Beispiel Glenn Gould, Emil Gilels, Claudio Arrau und Igor Levit. Letzterer besaß fünfundzwanzigjährig, nach Abschluss seines Konzertexamens, den Wagemut oder, wie einige Rezensenten in Anbetracht der »Heiligkeit« dieser Musik meinten, die Unverschämtheit, sein Plattendebüt ausgerechnet mit den späten Beethovenschen Klaviersonaten zu geben, wohingegen sich andere bedeutende Pianisten, in Anbetracht genau ebendessen, ein Leben lang gar nicht erst an die Sache rantrauten. Die Schlusskadenz von op. 111 spielt Levit, ganz im Sinne der russischen Schule, entschieden erschütterungsbetont.

Was ist aber eigentlich das Problem mit diesem Schluss? Diese Kadenz in C-Dur an sich ist, man kann es nicht anders sagen: banal. Vielleicht nicht weniger banal als die Reprisen aus Beethovens frühen Kurfürstensonaten. Aber inzwischen ist doch einiges passiert. Ein ganzes Menschenleben zog vorbei, Belagerungen, Krankheiten und Kriege, und musikalisch, zumal in Beethovens Klaviermusik, eine »Art von kosmischer Weltreise« (so sagte es einmal András Schiff). Diese an Schlichtheit nicht zu überbietende Schlussformel von op. 111 steht am Ende einer gigantischen musikalischen Entwicklung, in der sich die Form auflöst, in der Klang sich ablöst von der Materie, in der sich Melodie auflöst in Pendelklänge, Trillerketten, Ostinatofiguren, in der sich Rhythmik auflöst in synkopische Ekstasen, in der sich die Harmonik zurücksehnt nach Kirchentonarten oder voraussehnt nach der Auflösung der Tonalität, in der tiefstes Bassregister oder höchster Diskant die Grenzen des Instruments sprengen. Nach dieser Entwicklung wirkt so eine einfache Kadenz wie eine Zurücknahme. Oder: wie ein Amen.

»Ein neues Anheben – nach diesem Abschied?«, fragt der Organist und Musiklehrer Wendell Kretzschmar in Thomas Manns Roman Doktor Faustus.

»Ein Wiederkommen – nach dieser Trennung? Unmöglich! Es sei geschehen, dass die Sonate im zweiten Satz, diesem enormen, sich zu Ende geführt habe, zu Ende auf Nimmerwiederkehr. Und wenn er sage: ›Die Sonate‹, so meine er nicht diese nur, in c-moll, sondern er meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt, ihr Ziel erreicht, über das hinaus es nicht gehe, sie hebe und löse sich auf, sie nehme Abschied, – das Abschiedswinken des vom cis melodisch getrösteten d-g-g-Motivs, es sei ein Abschied auch dieses Sinnes, ein Abschied, groß wie das Stück, der Abschied von der Sonate.«

Bis zum Überdruss wurde dieses berühmte Zitat schon herumgereicht. Auch fehlt in keinem Programmheft der Hinweis darauf, dass Thomas Mann das »Arietta«-Thema aus op. 111 (»semplice e cantabile« – einfach und gesanglich) mit Texten unterlegt habe, eine Operation ähnlich jener, die Bernstein später mit der »Freudenode« vornahm. Nur ist, was Mann da in seiner Erschütterung in Beethovens Spätwerk hineindichtete, übrigens mit fachlicher Hilfe von Theodor Wiesengrund Adorno, von weitaus größerer Tragweite. Adornos Analyse und Manns Wortgewalt haben diese zart-private Bekenntnismusik Beethovens schwer überfrachtet. Ja, man kann heute die »Arietta« kaum mehr hören oder spielen, ohne dass man, wenn das Thema erklingt, auch heimlich die Wendell-Kretzmarschen Mantra-Worte »Leb-mir-wohl« oder »Him-mels-blau« oder »Wie-sen-grund« mitklingen hört; und, auf dem letzten Triller, wenn das winzige Vorhalt-Cis die »Arietta«-Melodie erweitert, noch zwei Silben mehr: »Leb’ mir ewig wohl«, dergestalt, schreibt Mann, dass dem Hörer »die Augen übergehen«. Das Ende der Sonate sei da.

Ein großes Wort. Ein Dichterwort. Es ist aber nicht besonders haltbar. Nach op. 111 sind ja noch unzählige weitere Sonaten geschrieben worden, darunter viele schöne und große, von Liszt bis Schostakowitsch. Außerdem besteht op. 111 nicht nur aus der »Arietta«, und diese Sonate steht auch nicht allein auf weiter Flur, als einsames Denkmal.

Das Finale von op. 109 ist ebenfalls ein Variationensatz. Auch hier streift Beethoven an die Grenze des Wortes, textlos, aber ausdrücklich gesanglich: »Gesangvoll, mit innigster Empfindung«. Auch hier ließe sich der Melodie, die am Schluss wiederkehrt, ein Text unterlegen, ein Adieu, für immer. Die erste Variation überführt den Sarabandenrhythmus dieses Themas in einen Walzer, die zweite ist ein durchbrochener Satz, die dritte erinnert an Händel, die vierte dekliniert einen vierstimmigen Kontrapunkt durch, und die fünfte Variation ist unüberhörbar eine Hommage an Johann Sebastian Bach. Dass das Thema am Ende so pur noch einmal auftaucht, fast unverändert, ließe sich auf das Modell der Bachschen Goldbergvariationen beziehen.

Zur Bach-Rezeption des späten Beethoven schrieb der Musikwissenschaftler Martin Zenck, speziell in Bezug auf das Ende dieser Sonate: »Die Rückkehr in den Anfang ließe sich im Sinne der biographisierenden Hermeneutik als Heimkehr ins Bleibende deuten … Sie ließe sich aber auch als komponierte Geschichte deuten. Beethoven durchmisst in op. 109 – darin ist der Satz eine Vorahnung der Diabelli-Variationen – einen Weg durch die Geschichte der Komposition.«

Das ist gut gebrüllt. Kontrapunkt und die Musik der Alten hatten für Beethoven eine große Bedeutung, diese Leidenschaft zieht sich durch sein gesamtes Schaffen, sie kulminiert im Spätwerk. Andererseits verlieren solche Höhenflüge der Deutungskunst manchmal an Bodenhaftung. Es sei, gab András Schiff zu bedenken, noch nicht einmal bewiesen, ob Beethoven die Goldbergvariationen überhaupt gekannt hat.

Schiff ist einer jener Pianisten, die ein halbes Leben lang einen weiten Bogen um Beethovens späte Sonaten gemacht haben, abgeschreckt auch durch die ideengeschichtliche Überfrachtung dieser drei Stücke. Mag sein, es gibt auch ein Zuviel an Erschütterung. Wenn schon ein Kritikerpapst wie Joachim Kaiser verkündet, wer diese späten Beethovensonaten spiele, der betrete »heiligen Boden«, kann sich der Pianist nur in einen Hohepriester verwandeln, der letzte Fragen beantworten muss. Und wer will das schon? Schließlich hat Schiff es dann doch gewagt. Seine Interpretation hat eine spielerische Komponente, sie ist von betörender Leichtigkeit; der Variationensatz aus op. 109 aber sei, sagt Schiff, einer seiner Lieblingssätze, das Thema so innig und gesanglich.

Der erste Satz aus der Sonate op. 110 As-Dur beginnt ebenfalls mit einer solchen Gesangsszene: »Moderato cantabile, molto espressivo« – und dazu schreibt Beethoven, zur Verstärkung: »con amabilità« (sanft) – mit Liebenswürdigkeit. In der As-Dur-Sonate treten einige der Merkmale, die diese drei späten Klaviersonaten zu einer Einheit zusammenbinden, vielleicht am deutlichsten hervor, etwa die thematischen Verwandtschaften, die Gesangsszenen, der Rückgriff auf alte kontrapunktische Techniken, die Zitate und Selbstzitate.

Der zweite Satz, Allegro molto, ein kurzer, frecher Scherzo-Satz, könnte auch in einer frühen Beethovensonate stehen. Mittendrin, im Trio, erinnert Beethoven an ein Wiener Volkslied: »Ich bin liederlich, du bist liederlich«. Der dritte Satz reißt abermals den Himmel des Unaussprechlichen auf: Das beginnt wie eine Opernszene, nur eben ohne Worte. Ein freies Rezitativ, ein »Arioso dolente«. »Es ist vollbracht«, singt das Klavier, und zitiert aus Bachs Johannespassion. Leere Oktaven eröffnen einen neuen Raum, wie Glockengeläut. Folgt die große dreistimmige Fuge, schließlich: die Fugenumkehrung. In dieser Musik steckt viel Geschichte: Gestern, heute und morgen werden von ihr umfangen. Möglicherweise ist das der Grund, warum wir von Beethovens Musik immer noch so erschüttert werden: Zeitübergreifend intendiert, ist ihre Wirkung überzeitlich, dergestalt, dass man sich auch noch hundert oder zweihundert Jahre später darin wiederfinden kann.

Das gilt natürlich nicht nur für op. 110, auch für die beiden anderen letzten Sonaten, ja auch für andere Beethovensche Werke. In diesen späten drei Sonaten scheint es aber am klarsten ausgeprägt zu sein: in den engen thematischen Verwandtschaften unter den ohne Pause ineinander übergehenden Sätzen; den Erinnerungen an alte, strenge, kontrapunktische Techniken; Stilbruch und Auflösung dieser Formen; den vielen Zitaten und Selbstzitaten, die nach vorn und zurückweisen. Eine Boogie-Woogie-Rhythmik findet Igor Strawinsky vorgeprägt in der dritten Variation der »Arietta« von op. 111; die Tonalität löst sich auf in den Trillerketten am Ende von op. 111; in op. 109 wird aus Beethovens eigenem Fidelio zitiert; das Bachzitat in op. 110; der Verweis auf die Goldbergvariationen in op. 109; das Heurigenlied in op. 110; das Zitat aus Mozarts Klaviersonate KV 310 im ersten Satz von op. 111; etc. Man muss den unerhörten Reichtum dieser tonsetzerischen Ideen gar nicht unbedingt bis ins letzte analytische Detail kennen, um als Hörer davon mitgerissen zu werden.

Nicht ausgeschlossen übrigens, dass Beethoven diese späten Sonaten nur für seine unmittelbar eigne Gegenwart oder für sich selbst geschrieben hatte, als eine Versuchsanordnung und die Bilanz eines Komponistenlebens. Er stopfte alles hinein, was ihm lieb und teuer war, wie in das Schließfach bei der Bank. Eine Art Tresor, in dem die kostbarsten Einfälle und Erinnerungen für die Erben aufbewahrt werden. Ja gerade, wenn wir, was leider häufig genug vorkommt, eine unvollkommen gespielte Interpretation im Konzertsaal erleben müssen, wenn der Pianist zum Beispiel prätentiös auf dem Pedal steht oder manieriert überzogene Kontraste herausstellt, dann tröstet uns der Wendell-Kretzmarsche Gedanke, diese letzten drei Sonaten könnten eventuell doch reine Gedankenmusik sein: eine utopische Musik, nicht zum Spielen oder Hören bestimmt.

So sind also diese letzten Beethovensonaten, auch wenn sie pianistisch-technisch nicht unbedingt zu den allerschwierigsten Werken des Repertoires rechnen, doch das Schwerste, was ein Pianist sich vornehmen kann. Abgesehen von dem, was der »Arietta« unmittelbar vorausgeht. Dazu braucht einer mehr als zehn Finger: In diesem Maestoso-Allegro, womit op. 111 beginnt und das gewissermaßen einen hochdramatischen, vom Echo kommender Theaterdonner stürmisch bewegten Vorhang aufzieht, schlägt noch einmal der Wiener Salonlöwe und Virtuose Beethoven zu. Da geht es mit Pathos los, in weiten Sprüngen, vollen Akkorden, und stürmt bis an die Grenze des Noch-Machbaren und darüber hinaus.

Übrigens kamen auch die Achtundsechziger nicht ganz um Beethoven herum. Im Jahr 1978 brachte der Verlag Roter Stern ein Buch mit Beethovenessays heraus, einen Rundumschlag wider die bürgerliche Musikkultur, herausgegeben von Peter Schleuning, mit dem wunderschönen Titel Warum wir von Beethoven erschüttert werden und andere Aufsätze über Musik. Darin heißt es im Vorwort: »Das Verhältnis zu (Beethovens) Musik ist ähnlich kompliziert und widersprüchlich, wie das zu Eltern.« Na dann.

2

»ER WIRD NIE ETWAS ORDENTLICHES MACHEN!«

War Ludwig van Beethoven ein Wunderkind? Hatte er eine schwere Jugend, war er wirklich schwer erziehbar und schon von klein auf genial, einsam, unglücklich? Bei wem ging der kleine Louis in die Lehre? Wer hat ihm was beigebracht?

»Gehn Sie mir mit dem, der hat nichts gelernt, und er wird nie etwas Ordentliches machen!«, sagte der Domkapellmeister zu Sankt Stephan in Wien, Johann Georg Albrechtsberger, als ihm ein befreundeter Musikus, der Geiger Jan Emanuel Doletschalek, ein nagelneues Beethovensches Quartett unter die Nase hielt. Das war um 1800, Beethoven dreißig Jahre alt, und er hatte auch schon viele Erfolge als Komponist vorzuweisen. Aber der Herr Kapellmeister wusste, was er sagte. Albrechtsberger war nämlich eine Koryphäe im Reiche der Prinzipien – ein weltberühmter Kompositionslehrer, der viele Schüler hatte, die teils von weit her anreisten. Der berühmteste, vielleicht widerspenstigste, hieß Beethoven.

Fünfzehn Monate lang ging er ab 1794 dreimal wöchentlich zu Albrechtsberger in den Kontrapunktunterricht, er bezahlte aus eigner Tasche für diese Lektionen, machte immer seine Hausaufgaben und setzte ordentlich Note gegen Note, im strengen Satz. Und dann ging er heim und komponierte etwas »Unordentliches«, zum Beispiel die sechs Ecossaisen WoO 83, winzige schottische Tänze, in Rondoform gebunden, etwas Leichtes, Freches.

Beethoven ließ sich sehr gern etwas beibringen, beflissen und zielstrebig. Allenthalben ist allerdings zu lesen, er sei schon als Kind bockig gewesen und nicht bereit, sich unterzuordnen, Schuld daran trügen die zerrütteten Familienverhältnisse, vor allem dieser Trottel von Vater. Aber das ist nicht ganz richtig. Es scheint eher so, als sei dies schon Teil der Beethovenlegende, denn ein jeder Stern strahlt ja heller, wenn man sich seine Herkunft möglichst dunkel ausmalt.

Die van Beethovens aus Bonn waren eine solide Musikerfamilie, in mehreren Generationen. Sie stammten aus Flandern, daher das »van«. Louis, der Großvater, war Hofkapellmeister des kurkölnischen Erzbischofs Maximilian Friedrich. Auch Johann, der Vater, war bei Hofe angestellt, als Tenor und als Geiger. Er verdiente genug, um seiner Frau und den drei Söhnen moderaten Wohlstand zu bieten, in einer Beletage, mit Dienstboten. Er war gesellig und beliebt bei den Kollegen, vor allem aber war Johann van Beethoven in der Lage, die Hochbegabung seines Ältesten früh zu erkennen und zu fördern.

Nur, leider, hatte er eine extrem schlechte »Presse«: Fast die gesamte Literatur schildert den Vater Beethovens als cholerischen Trunkenbold und fiesen Charakter. Letzteres ist nicht belegbar, die Quellenlage hauchdünn. Man hat wohl einfach rückwirkend hochgerechnet, dass Johann van Beethoven später, als seine Frau starb, psychisch zusammenbrach und zu saufen begann. Aber da war Beethoven bereits siebzehn und flügge, übernahm auch prompt die Verantwortung für seine jüngeren Geschwister, die ihm, einer nach dem anderen, nachzogen, ins ferne Wien. Die Bonner Kindheit der drei Beethovenbrüder aber darf man sich getrost als glücklich und umsorgt vorstellen.

Etwas anderes ist es mit der Wunderkindgeschichte. Nur ein einziges Mal versucht der Vater, ihn als solches herumzureichen, in einem Subskriptionskonzert, da ist Beethoven acht, wird für sechs ausgegeben und spielt, wie es in der Ankündigung heißt, allerhand »Klavierkonzerte«. Nichts Eignes allerdings, denn sein erstes selbst komponiertes Klavierkonzert taucht erst drei Jahre später auf, da ist er schon fast zwölf. Dieses Stück ist nur fragmentarisch überliefert und kein Geniestreich; das Beste daran ist der langsame Satz.

Als Beethoven vier Jahre alt ist, erteilt ihm der Vater den ersten Klavierunterricht. Auch Geige und Bratsche bringt er ihm bei. Befreundete Hofkapellkollegen, ein gewisser Tobias Pfeiffer und ein Herr van den Eeden, werden engagiert, die das Kind im Generalbass- und Orgelspiel unterweisen. Es bekommt einen Schlüssel für die Minoritenkirche, damit es orgeln kann, heute ist dies die Remigiuskirche in der Bonner Brüdergasse, ein paar Fußminuten vom Wohnhaus der Beethovens in der Rheingasse entfernt. Als er zehn wird, darf der Kleine im Gottesdienst spielen, im gleichen Jahr gibt der Vater den Sohn weg in die Lehre, er schickt ihn zur ersten musikalischen Adresse der kurfürstlichen Residenz: zu Hoforganist und Theaterkapellmeister Christian Gottlob Neefe.

Und Neefe rührt, kaum dass er mit seinem neuen Schüler nähere Bekanntschaft gemacht hat, die Trommel, um die musikalische Welt deutschlandweit auf ihn aufmerksam zu machen. »Dieses junge Genie«, verkündet Neefe, »verdiente Unterstützung, dass er reisen könnte. Er würde gewiss ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen!«

Eine klare Ansage! Sie wird veröffentlicht in Cramers Magazin der Musik in Hamburg. Zeitgleich gibt Neefe Kompositionen seines Schülers in Druck. Das erste im Musikhandel beziehbare Werk Beethovens sind neun Variationen – »par un jeune amateur Louis van Beethoven – âgé de dix ans«. Ein nettes Stück! Das Thema, ein Trauermarsch, steht in c-moll, aber in den Variationen marschiert es über ulkige harmonische Umwege nach Dur. Bekannt sind sie unter dem Namen Dressler-Variationen (WoO 63), denn Ernst Christoph Dressler hieß der Sänger, der das Thema erfand. Neefe hatte es Beethoven vorgelegt und das Entstehen des Werks pädagogisch überwacht. Auf dem Titelblatt steht, dass das junge Genie, der Komponist, zehn Jahre alt sei.

Tatsächlich war er zu diesem Zeitpunkt schon fast zwölf. Beethoven selbst war übrigens bis in seine letzten Lebensjahre in Bezug auf sein wahres Alter nachhaltig verwirrt. Er hielt sich für eineinhalb Jahre jünger, als er war. In den meisten Beethovenbiographien liest man, der Vater trage die Schuld. Er habe aus Geldgier, um den Wunderkindbonus zu erhöhen, das Geburtsdatum gefälscht, nach dem Motto: Wer säuft, der lügt auch! Aber ebenso unlogisch ist das Argument selbst, denn wenn es gar keinen Wunderkindrummel um den kleinen Beethoven gab, hatte es auch wenig Sinn, Daten zu fälschen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Eltern ihren Sohn falsch informiert hatten – eine Fehlleistung, für die es einen Grund gab. Von den sieben Kindern der Familie waren nur drei am Leben geblieben. Wie Beethovens Biograph Alexander Wheelock Thayer im Bonner Taufbuch recherchierte, trug das erste Kind, das im Säuglingsalter starb, auch schon den Namen Ludwig. Eineinhalb Jahre später kam wieder ein Knabe zu Welt, wurde wieder Ludwig getauft, und blieb am Leben. Es gab also Ludwig I und Ludwig II, wobei Ludwig I in Ludwig II, dem um anderthalb Jahre jüngeren, weiterlebte. Logisch ist das nicht – aber verständlich. Amtlich belegt ist der 17. Dezember 1770 für Ludwig II im Bonner Taufregister. Mithin war Beethoven, als er seine Dressler-Variationen im Unterricht bei Neefe komponierte, nicht zehn, sondern elfeinhalb Jahre alt.

Wer aber war Christian Gottlob Neefe?

Ein musikalischer Quereinsteiger. Ein Alleskönner. Komponist, Pianist, Organist, Kapellmeister, Dichter, Kritiker, Dramaturg, Impresario. Er kam aus ärmlichen Verhältnissen, ein Schneidersohn aus Chemnitz, und war, wegen Mangelernährung in der Kindheit, klein und verwachsen. Aber er arbeitete sich hoch. Promovierte in Jura, studierte Musik und ging alsdann mit diversen Theatertruppen auf Trebe kreuz und quer durch die deutschen Kleinstaaten. Ins kleine katholische Bonn verschlug es diesen weltläufig-kritischen Geist eher zufällig, und es war dies ein Glücksfall für Beethoven. Neefe erschloss ihm ganz neue Horizonte.

Wenn auch nicht unbedingt als Komponist. Als solcher schrieb Neefe vor allem Bühnenmusiken und kleine Opern, etwa eine Türkenoper nach Art von Mozarts Entführung, sowie etliche Singspiele, womit er sehr erfolgreich war: Schlicht, deutsch, bürgerlich, volkstümlich, das entsprach der Mode der Zeit. Längst ist daraus heute Schubladenmusik geworden. In Neefes Singspielliedern, so harmlos sie uns heute auch vorkommen mögen, kündigte sich jedoch bereits der Vorschein kommenden Umsturzes an. Diese eingängige Musik steht in krassem Widerspruch zum manierierten Rokoko-Kunstgeschmack des Ancien Régime. Neefe, der erste Kompositionslehrer Beethovens, trat in Bonn dem aufklärerischen Geheimbund der Illuminaten bei, dem auch andere Bonner Musiker, etwa Nikolaus Simrock oder Franz Anton Ries, angehörten. Als der verboten und aufgelöst wurde, wechselte er in die Bonner Lesegesellschaft, und er begrüßte später, als ein Mann der Aufklärung, entschieden die Französische Revolution.

Man kann sich den Einfluss, den dieser universal gebildete Freigeist auf den zehnjährigen Beethoven ausübte, gut ausmalen. Neefe führte seinen Schützling nicht nur in die Ideenwelt der Aufklärung ein. Er machte ihn auch bekannt mit den Sonaten des Sturm-und-Drang-Komponisten Carl Philipp Emanuel Bach. Und dann legte er ihm noch einen ganz anderen Bach ans Herz und aufs Notenpult: Johann Sebastian. Nach dem Vorbild Bachs lernte Beethoven bei Neefe den Kontrapunkt.

»Er spielt sehr fertig und mit Kraft das Clavier, ließt sehr gut vom Blatt und, um alles in einem zu sagen: er spielt größtentheils das wohltemperierte Clavier von Sebastian Bach, welches ihm Herr Neefe unter die Hände gegeben. Wer diese Sammlung von Präludien und Fugen durch alle Töne kennt (welche man fast das non plus ultra nennen könnte) wird wissen, was das bedeutet.« So heißt es in dem erwähnten Bericht in Cramers Magazin der Musik. Er gibt eine Ahnung davon, wie der Unterricht im Detail aussah. »Größtentheils das wohltemperierte Clavier« – dieses Übungsrepertoire verstand sich damals nicht von selbst. Eine der vielen Früchte der Neefeschen Lektionen sind die Zwei Präludien durch alle Dur-Tonarten, die der fünfzehnjährige Ludwig van Beethoven nach dem Vorbild Bachs komponierte. Er hat sie Jahre später veröffentlicht und mit einer Opuszahl geadelt: als op. 39.

Wieso tut er das? Und wieso ist Beethoven der Kontrapunkt, diese damals längst aus der Mode gekommene Tradition, so wichtig? Es gibt etliche solcher Splitter aus Beethovens Werkstatt, Kanons, Fugen, Präludien. Seltsamerweise hat er wenn nicht alles, so doch offenbar fast alles aufgehoben. Als er starb, 1827 in Wien, fand man in seinem Nachlass all seine alten Generalbass- und Kontrapunktstudien, Berge von Zetteln, ein Konvolut von fünf Paketen Notenpapier, das bei der Versteigerung eine Höchstsumme von vier- undsiebzig Gulden erzielte, weil man meinte, dieser Fund enthalte auch eventuell unbekannte Meisterwerke Beethovens und sei deshalb, so stand es in einer Zeitung, von »welthistorischem Interesse«. Ludwig van Beethovens Studien im Generalbass, Contrapunkt und in der Compositionslehre wurden dann vom Kapellmeister Ignaz Ritter von Seyfried alsbald als Buch veröffentlicht, tausendzweihundert Subskribenten fanden sich für die Erstauflage, die sofort vergriffen war, eine zweite folgte, und erst Jahrzehnte später sickerte die Einsicht durch, dass man aus diesem gewaltigen Zettelhaufen über den eigentlichen Schaffensprozess Beethovens rein gar nichts erfahren konnte. Fünfundzwanzig war Beethoven, als er dann bei Johann Georg Albrechtsberger in Wien immer noch brav die Grundlagen memorierte, Note gegen Note setzte, Halbe gegen Ganze und so weiter. Er tat das freiwillig, er zahlte dafür. Nebenbei komponierte er dann, zum Beispiel, sein erstes und zweites Klavierkonzert, Werke, die er dem Domkapellmeister vermutlich eher nicht zur Korrektur vorgelegt hat.

Diese musikalische Parallelwelt, in der sich Beethoven bewegte, ist schwer zu begreifen. Er hat das schulmäßige Einpauken altmodischer Kompositionstechniken geradezu besessen betrieben, über Jahrzehnte hinweg. Selbst aus seinem Wiener Lehrjahr bei Joseph Haydn ist nichts weiter überliefert als ein Konvolut von Kontrapunktstudien. Spuren dieser Leidenschaft finden sich in vielen seiner Stücke, je älter er wird, desto breiter, deutlicher und eigenwilliger wird die Spur, desto mehr Abweichungen vom Wege gibt es. Und die Frage ist, ob überhaupt noch ein direkter Weg von den objektiv strengen Stilübungen des jungen Beethoven weiterführt zu der subjektiv grundstürzenden Fugenumkehrung beispielsweise in der Klaviersonate op. 110? Oder zur Schlussfuge der Hammerklaviersonate op. 106? Oder zur Großen Fuge op. 133, darin Beethoven den Kontrapunkt endgültig von der Leine lässt?

Die Große Fuge hat ein Extrakapitel verdient. Was die Lehre vom strengen Satz angeht, die Beethoven zuerst als Kind in Bonn bei Christian Gottlob Neefe kennenlernte, muss man wohl von einer Leidenschaft sprechen, einem »Hobby«. Man muss zugeben: ein etwas angestaubtes Hobby. Ein bisschen war das wie Antiquitäten sammeln. Neefe benutzte im Unterricht Johann Philipp Kirnbergers Die Kunst des reinen Satzes in der Musik, ein Lehrbuch, das schon bei seinem Erscheinen 1771 als überholt galt. Als Beethoven dann einundzwanzigjährig, ausgestattet mit einem Stipendium des Kurfürsten Maximilian Franz, bei Haydn in Wien aufkreuzte, legte ihm der Aufgaben aus dem Gradus ad parnassum von Johann Joseph Fux vor, einem Lehrbuch von 1725. Tatsächlich hat Beethoven bei Haydn nur Kontrapunkt gelernt und sonst nichts!

Das kommt uns heutzutage so anachronistisch und widersinnig vor, dass Julia Ronge eines der längsten Kapitel in ihrer Doktorarbeit über Beethovens Lehrzeit den nichtkontrapunktischen Lektionen widmet, die eventuell auch noch bei Haydn stattgefunden haben könnten. Ihre These: Das Allerwichtigste habe Haydn wohl in »mündlicher Unterweisung« abgehandelt. Aber was? Das wissen wir nicht. Wir können es allenfalls in der Musik selbst nachlesen.

Als Beethoven fertig war bei Haydn, nach gut einem Jahr, ging er gleich weiter zur nächsten Kontrapunktinstanz, dem besagten Albrechtsberger, der im Unterricht neben seinem eigenen Lehrbuch ebenfalls den guten alten Fux benutzte. Quasi als Gegengift dazu wollte Beethoven aber auch noch das Geheimnis erlernen, wie man italienische Opern komponiert. Er nahm dreißig oder vielleicht auch vierzig Unterrichtsstunden bei Antonio Salieri und hat unter dessen Aufsicht einunddreißig italienische Gesangsstücke komponier, etwa das No, non turbati WoO 92a auf einen Text von Pietro Metastasio. Für die Deklamation, für Affektbehandlung, Koloratur- und Verzierungsformeln gab es dabei stereotype Regeln. Alles, was der berühmte Hofopernkapellmeister Salieri, weiland einflussreichster Musikus in Wien, seinem Schüler darüber hinaus noch beibringen konnte, war die Erfindung von singbaren Melodien.

Beethoven hat diese Kunst bei Salieri verfeinern und perfektionieren können. Und er blieb diesem Lehrer, obgleich er gewiss niemals vorhatte, sich aufs Komponieren italienischer Opern zu verlegen und Rossini Konkurrenz zu machen, zeitlebens dankbar und freundschaftlich gewogen. Beethoven widmete Salieri drei Violinsonaten, er schrieb Variationen über ein von Salieri erfundenes Thema, und Salieri revanchierte sich, indem er 1813 bei der Uraufführung von Beethovens Schlachtsymphonie op. 91 als Hilfsdirigent die Kanonenschläge und Trommeln koordinierte.

Im Unterricht bei Salieri wurde Beethoven dazu angehalten, unzählige italienische Gesangsszenen anderer Komponisten zu kopieren. Auch das ist eine bewährte Lehrmethode: Abschreiben. Das Alte wird nach der Fibel gelehrt. Das Neue aber, das lässt sich nicht lehren – es sei denn durch Nachahmung und Kopie, in lebendiger Auseinandersetzung mit der kompositorischen Konkurrenz.

Drei Klavierquartette schrieb Beethoven, fünfzehnjährig, im Unterricht bei Neefe. Darin sind einerseits diverse Proben polyphoner Stimmführung zu bemerken, andererseits etliche Allusionen und Quasi-Zitate. Diese Quartette sind: Nachahmung, Kopie, Blaupause, in dichter Anlehnung an drei Violinsonaten Wolfgang Amadeus Mozart gebaut, nämlich KV 296, KV 379 und KV 380. Die Satzfolgen sind gleich, Tempo und Charakter der einzelnen Sätze ähnlich, auch die Themenverarbeitung, sogar einige der Themen selbst, die melodischen »Einfälle«. Die Anfänge von Mozarts Violinsonate KV 379 G-Dur und von Beethovens Klavierquartett in Es-Dur WoO 36,1 sind eng verwandt: Der Vordersatz des Themas ist identisch, den Nachsatz lässt Beethoven weg, er spinnt lieber erst mal weiter. Man kann das nach heutigen Vorstellungen einen Diebstahl geistigen Eigentums nennen, »copy and paste«. Aber damals, im achtzehnten Jahrhundert, war das nichts anderes als eine höfliche Verneigung vor dem Vorbild: Kopie eines meisterhaften Modells, das gehörte in der Musik, wie in allen Künsten, zum Curriculum.

Vielleicht hat Neefe die Mozartschen Violinsonaten mit Beethoven im Unterricht durchgenommen, höchstwahrscheinlich haben sie sie auch gemeinsam gespielt. Und dann lautet die Hausaufgabe: Mach was Eignes daraus! Und Beethoven probiert aus, was er sich von Mozart abgeguckt hat. Was dabei herauskam, ist kein trockenes Übungsstück, vielmehr spielfrohe Kammermusik, mit individuellen Ausreißern. Im Klavierquartett D-Dur WoO 36,2: Da verknüpft Beethoven die Themen aller drei Sätze miteinander. Das hat Mozart so nicht versucht. Auch der langsame Satz, ein fis-moll-Andante, weicht insofern vom Mozartvorbild ab, als die Melancholie durchbrochen wird von einer lustigen Pizzicatostelle. Und wer will, der kann aus dem Finalsatz schon einen zarten Eroica-Vorschein herausleuchten sehen. Der berühmte Stammbuchspruch des Grafen Waldstein, den er Beethoven auf den Weg nach Wien mitgab, er möge »Mozart’s Geist aus Haydens Händen« erhalten, kam also eindeutig ein bisschen zu spät: Beethoven hatte ihn längst aus den Händen Neefes genommen. Nur dieses Rondo-Thema aus dem letzten Satz von WoO 36,2, das tanzt aus der Reihe. Es hat nichts Mozärtliches, es ist beethovensch. Man denkt gleich, wenn man es hört: Aha, kommt mir bekannt vor! Das liegt daran, dass dieses Thema, nicht zuletzt dank der prägnanten Bassfigur, die Keimzelle eines der großen Beethovenschen Lieblingsthemen, des sogenannten Prometheus-Themas, ist, das er Jahre später mehrfach verarbeitet hat: im Prometheus-Ballett, in den Eroica-Variationen, in der Eroica selbst.

Mit dreizehn bekam der junge Herr Beethoven eine Festanstellung am kurkölnischen Hofe, als zweiter Hoforganist und Bratscher der kurfürstlichen Kapelle. Wie sein Freund Anton Reicha, der dort als Flötist engagiert war, berichtet, trat er auch als Pianist mit dem Bonner Orchester auf, um Mozarts Klavierkonzerte zu spielen.

Mozart war eine besondere Größe im Bonner Musikleben. 1784 war dort der musikbegeisterte Maximilian Franz an die kurkölnische Regierung gekommen, der jüngste Sohn von Maria Theresia und jüngste Bruder des habsburgischen Kaisers Josephs II., und er hatte in seinem Tross nicht nur Reicha, Waldstein und andere böhmische und wienerische Musikanten und Musikfreunde mitgebracht, er hatte auch bei Mozart angefragt, ob er mitkommen wolle nach Bonn. Es gibt einen Brief Mozarts an seinen Vater Leopold, vom 23. Januar 1782, darin heißt es über Max Franz: »er streicht mich bei allen gelegenheiten hervor – und ich wollte fast gewiss sagen können, dass wenn er schon Churfürst von kölln wäre, ich auch schon sein kapellmeister wäre«. Aus dem Deal wurde nichts, Mozart sagte ab. So warf Kurfürst Max Franz, als er in der Bonner Kapelle den jungen Beethoven vorfand, seine ganze Musiksponsorenleidenschaft auf dieses junge Genie. Förderte ihn, wo er konnte. Schickte ihn auch alsbald auf Studienreise, damit er in Wien Mozart kennenlerne, woraus freilich nichts wurde, denn Mozart war selbst gerade auf Reisen. Dafür verwienerte unterdessen das Bonner Musikleben nach Kräften. Max Franz sanierte die Staatsfinanzen, er baute ein eignes Opernensemble auf, Konzerte wurden gegeben, Redouten gefeiert. Für eine Fastnachtsversammlung des Teutonischen Ritterordens, veranstaltet vom Vertrauten des Kurfürsten, Graf Waldstein, durfte Beethoven eine komplette Ballettmusik schreiben, mit Trinkliedern, Jagdliedern, Walzern und einem entzückenden Ritornell. Diese Musik zu einem Ritterballett WoO 1 ist perfekte Mimikry, nicht ein einziger Takt klingt auch nur entfernt nach Beethoven. Und das hat seinen Grund: Bestandteil der Vereinbarung war nämlich, dass der Auftraggeber, Graf Waldstein, diese Ballettmusik für die Bonner Ballsaison als seine eigne Komposition ausgeben durfte.

Es gibt einen Schattenriss, der den sechzehnjährigen Beethoven mit höfischer Perücke zeigt, mit Zopf und Spitzenjabot. Ein kindliches Profil. Mund- und Kinnpartie sind so wenig ausgeprägt, dass dieser Schattenriss jeden x-beliebigen jungen Höfling zeigen könnte. Es ist aber auch das einzige Porträt dieser Art. Auf allen anderen Bildern, die überliefert sind, trägt Beethoven die Haare wie ein Bourgeois kurz bis halblang, offen und unsortiert. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von der Generation seiner Lehrer: Neefe, Salieri, Albrechtsberger und Joseph Haydn kennen wir ikonographisch nur in der Tracht des Ancien Régime, mit Zopf, Jabot, Degen, Schnallenschuh – das gehörte nun einmal zur Berufskleidung eines Angehörigen der Musikerzunft vor 1789, selbst wenn er, wie Mozart, nicht mehr auf der Payroll bei Hofe stand.