Roman
Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»Glorious Heresies« bei John Murray, London.
Die vorliegende Übersetzung wurde unterstützt von Literature Ireland.
© Lisa McInerney 2015
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2018
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Alexandre Cappellari / Arcangel
Umschlaggestaltung: Sieveking · Agentur, München
eISBN 978-3-95438-095-4
Dieses Buch ist, wie alles, für John.
DER TOTE MANN
Kapitel 1
Kapitel 2
GROSSE WORTE, KLEINER MANN
Kapitel 3
Kapitel 4
LASERLICHT
Kapitel 5
DER NOVIZE
Kapitel 6
Kapitel 7
FREUNDE
Kapitel 8
Kapitel 9
GOLD DIGGER
Kapitel 10
DAS ECHO
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
AUF DEN BILLIGEN FLÜGEN ZUR WOCHENMITTE
Kapitel 14
Kapitel 15
VERSTECKTE MITTEILUNGEN
ZÜNDELND
Kapitel 16
HEIMKEHR
Kapitel 17
ÜBERS FREMDGEHEN
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
ÜBERS FREMDGEHEN II
ALLE STEINE UMGEDREHT
Kapitel 21
WIRBEL
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
ERBLICH
Kapitel 26
ELEGIE
WAS RYAN GETAN HAT
WAS TARA GETAN HAT
Kapitel 27
ER LIESS DEN JUNGEN DRAUSSEN vor der Tür. Bye und viel Glück auch. Die Rolle lag hinter ihm, von jetzt an hatte er breite Schultern und ein kantiges Kinn, kräftige Arme und setzte sich durch. Er ließ den Jungen hinter sich, der nicht mehr war als ein Haufen geschundener, magerer Knochen. Als Mann, neugeboren, trat er durch die Tür, und der Blick der Fee, die diese Verwandlung bewirkt hatte, brannte leicht auf seiner Haut. Karine D’Arcy hieß sie. Sie war fünfzehn und ein bisschen und seit drei Jahren in seiner Klasse. Außerhalb der Schule war sie immer eins über ihm gewesen, und doch stand sie jetzt da, an einem Montagmittag bei ihm im Flur. Deshalb musste der Junge gehen, was noch von ihm übrig war, was sie nicht schon mit ihren Händen und ihren Küssen zertrümmert hatte.
»Bist du sicher, dass dein Dad nicht nach Hause kommt?«, sagte sie.
»Wird er nicht«, sagte er, obwohl sein Vater völlig unberechenbar war und nicht nach normalen Maßstäben funktionierte. Heute Morgen hatte er seine Kinder gewarnt, dass er zu tun habe und sie sich selbst was zu essen machen müssten, später käme er dann schon. Böse aufgedreht und, wie sie aus Erfahrung wussten, übel gelaunt.
»Und wenn doch?«
Er nahm die Hand aus ihrer und legte den Arm um sie.
»Ich weiß nicht«, sagte er. Oh, die Wahrheit war hart, so hart. Ungeübte Worte aus einer brandneuen Kehle.
Er war fünfzehn, so gerade. Hätte sie ihm die Frage vorher gestellt, bevor sie über die Schwelle getreten waren, hätte er wie üblich die fünfzehnjährige coole Socke markiert, aber mit einem Mal war alles anders, und er wusste plötzlich nicht mehr, wie das ging.
»Dann ist es sowieso mein Fehler«, sagte er. »Nicht deiner.«
Sie sollten in der Schule sein, und selbst sein Dad würde das wissen. Wenn er jetzt hier reinkäme, wenn, angeschlagen, gerädert, weil er getrunken, gepokert und was zum Teufel sonst noch getan hatte, würde er gleich kapieren, dass sein Sohn gerade schwänzte, und das aus einem klaren Grund.
»Für ihn schon«, sagte sie. »Aber wenn er’s meiner Mam und meinem Dad erzählt?«
»Macht er nicht.« Das war so sicher wie der Boden unter ihren Füßen. Sein Vater mochte ja vieles sein, aber bestimmt nicht verantwortungsvoll. Oder mutig. Oder rechtschaffen.
»Bist du sicher?«
»Die einzigen Leute, mit denen mein Dad spricht, leben in diesem Haus«, sagte er. »Sonst will keiner was von ihm wissen.«
»Was machen wir jetzt also?«
Der Name des tapferen neuen Mannes, dem die bevorstehenden Möglichkeiten so ins Fleisch stachen und auf den Schultern lasteten, war Ryan. Tatsächlich war seine erwachsene Version gar nicht so anders als die linkische Leiche draußen vor der Tür, er hatte die gleichen schwarzen Haare, die gleiche blasse Haut und die gleichen tintenschwarzen Augen. »Wie von bösen Geistern besessen«, hatte zitternd eines der Mädchen, das ihm nahe genug gekommen war, um es beurteilen zu können, gesagt und ihm seine Absicht mitgeteilt, ihm den Dämon aus der Zunge saugen zu wollen. In den letzten paar Monaten war er gewachsen. Zu langsam, zu ruhig, hatte seine Nonna geseufzt, als sie das letzte Mal seine Facebook-Fotos gesehen hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass er nie die eins achtzig erreichen würde. Seine Mutter war seit vier Jahren tot und sein Vater ein Wrack, das ebenso oft auf dem Sofa endete wie im eigenen Bett. Ryan war das älteste Kind des Wracks. Er schlich um seinen Vater herum und machte anderswo Lärm.
Da passte was nicht. Natürlich war ein Mann, egal, wie alt er war, berechtigt zu schlafen, wo er mochte, und jedem, der ihn beleidigen zu wollen schien, eins auf die Nase zu geben, jedenfalls machte es das Wrack so: Sein Vater hatte nur heiße, billige Wut in sich und wechselte zwischen Suff und Austrocknungsversuchen in elenden, ewig weit entfernten Entzugskliniken hin und her. Selbst wenn Ryan den Zorn in sich spürte, den der Hohn seiner Lehrer in ihm wachrief oder das, was er von den größeren Jungs abkriegte, wusste er doch um die Leere in deren Aufforderung zu kämpfen. Er suchte nach etwas anderem, das ihn morgens aus dem Bett holte, hätte aber nie gedacht, dass sie das sein könnte.
Sie gehörte zu den Mädchen mit den kürzesten Röcken, die vor dem Unterricht das Wort unter den auf der Heizung hockenden Mitschülerinnen führten und so unverschämt wie zuckersüß mit den Lehrern umgingen. Er hätte nie gedacht, dass sie ihn für mehr als einen Schläger halten könnte, obwohl er sie darum gebeten hatte, stumm, ohne den Mund aufzumachen und mit niedergeschlagenem Blick, und das verdammt schon seit Jahren.
Vor drei Wochen dann, am Abend seines Geburtstags, hatte sie sich von ihm küssen lassen.
Er hatte im Auto eines seiner Freunde gesessen, die älter waren als er, Altersgenossen seines sechzehnjährigen Cousins Joseph, der Ryan gut genug kannte, um nichts auf sein Alter zu geben. Vorm Eingang zur Disco im Gemeindezentrum hatte er sie gesehen, lachend und frierend in einem langen schwarzen Top und weißen Shorts, hatte sich von hinten vorgebeugt und aus dem Beifahrerfenster zu ihr hinübergerufen. Er musste sie nicht mal überreden, zu ihm in den Wagen zu steigen. Was für ein Glück, dass ihr nach einer kleinen Spritztour war. Und ja, sein Herz tat einen Sprung und versuchte ihn glauben zu machen, dass es vielleicht mehr war: Glück und Vertrauen. Sie vertraute ihm. Himmel! Sie mochte ihn.
Sie waren schießen gegangen, und es gab ein paar Dosen Bier und ein paar Joints und einen hübschen, kalten Wind, der sie näher an seine Seite brachte. Als er merkte, dass er seine Nerven nicht beruhigen konnte, gestand er sich ein, was er wirklich für sie empfand, und riskierte es, eine Hand unten auf ihren Rücken zu legen. Er zählte bis zwanzig, dreißig oder achtzig, bevor er zu glauben wagte, dass sie sich nicht wegbewegen würde, bevor er ihre Hand nahm, damit seine nicht mehr so zitterte, und endlich, endlich, über die riesige Entfernung von dreißig Zentimetern hinweg, seinen Mund auf ihren brachte und sie küsste.
In den Tagen danach hatten sie endlos Neuland erobert und beschlossen, es zu probieren. Sie waren ins Kino gegangen, waren Eis essen gewesen und hinterher durch die Straßen zurück zu ihr gewandert. Hand in Hand. Und aus Furcht, das Fundament für ihre Beziehung könnte zu mustergültig geraten, hatten sie nach ungestörten Orten und dunklen Ecken gesucht, um genau das zu zerbröckeln, seine Hände auf ihrem Körper, den Unterschied zwischen der Haut auf ihrem Bauch und der ihrer Brüste erkundend, seinen Leib gegen ihren gedrückt, damit er spürte, wie sich ihrer seinem vollkommen anpasste.
Und jetzt, am Montagmittag bei ihm zu Hause im Flur, antwortete er mit einer Frage.
»Was willst du denn machen?«
Sie trat ins Wohnzimmer, drehte sich auf einem Fuß und betrachtete alles. Er musste den Kopf gar nicht erst durch die Tür strecken, um zu wissen, dass ihr der Anblick kaum gefiel. Die Unfähigkeit seines Vaters hatte das Haus zu einem Museum der haushälterischen Talente seiner Mutter werden lassen, die mit Durcheinander und unnötigem Kram wie ein Windstoß mit Herbstlaub umgegangen war.
»Ich war noch nie bei dir zu Hause«, sagte sie. »Es ist so komisch.«
Sie meinte den Umstand, dass sie hier war, nicht das Haus. Wobei sie auch damit nicht wirklich falschgelegen hätte. Es war schräg. Ohne seine Mutter war das Vier-Zimmer-Reihenhaus so höhlenartig, dass er es kaum aushielt. Es erinnerte ihn an Scheiß, an den er nicht erinnert werden wollte, und Abgründe, die nicht da sein sollten. Es war ein Dach über dem Kopf. Eine Feuergefahr, denn manchmal dachte er daran, es mit Benzin zu tränken, ein Streichholz daran zu halten und zuzusehen, wie es den Nachthimmel erhellte.
Sie wusste, was Sache war. In einem mutigen Schritt hatte er ihr vor ein paar Tagen seine Lage gestanden, voller Angst, dass sie durchdrehen und ihn verlassen könnte, aber er wollte ihr unbedingt sagen, dass nicht jedes Gerücht über seinen Vater stimmte. Auf der Treppe hinter der Schule, als sie dicht nebeneinander auf dem kalten Beton hockten, hatte er zugegeben, ja, es krachte zwischen ihm und seinem Vater, aber nein, nicht so, wie gehässige Gerüchteköche es weismachen wollten. Er ist ein Idiot, Mädchen, er kann sich gerade so auf den Beinen halten, wenn er voll ist, aber er ist nicht … Er ist … Ich habe die Leute schon so einen Scheiß über ihn reden hören, aber er ist nicht irre, Mädchen. Er ist nur … fuck … ich weiß nicht.
Sie war nicht davongelaufen und hatte es auch keinem erzählt. Es hatte ihm richtig was von den Schultern genommen, war gleichzeitig aber auch das Blödeste, was er hatte machen können, denn damit war seine Position ihr zu Füßen festgelegt. Einerseits störte es ihn nicht, weil er wusste, sie war besser als er, superklug und schön wie der Morgen, und jedes Mal, wenn er sie sah, wurde ihm ganz schwindelig, und er spürte, wie das Blut in seinen Adern pulsierte, wie Luft in seine Lunge strömte und ihm das Herz in der Brust schlug. Aber irgendwie pisste es ihn auch an, dass er ihr nicht auf Augenhöhe begegnen konnte. Dass er genauso auf dem Boden herumkroch wie sein Vater, von dem er seine Nutzlosigkeit geerbt hatte.
Jetzt war da allerdings keine Wut mehr. Die hatte er draußen bei seinen welkenden Überresten zurückgelassen.
Sie streckte die Hand nach seiner aus.
»Spielst du etwas für mich?«
Das Klavier seiner Mam stand an der Wand hinter der Tür. Es hätte genauso gut auch seins sein können. Stunden hatte er daran verbracht, während sie mit seinem Dad kämpfte, mit großen beruflichen Veränderungen drohte, oder mit den Nachbarn kämpfte oder drohte, ihn und seine Geschwister mitzunehmen und zurück zu ihren Eltern zu ziehen. Sie hatte Ryan auf den Klavierhocker gesetzt, wann immer sie Raum brauchte, um ihren verrückten Fantasien nachzuhängen, und so hatte er gelernt, beidhändig zu spielen und Noten vom Blatt abzulesen. Nicht viele Leute wussten das – weil es sich niemand vorstellen konnte.
Ja, er konnte für Karine D’Arcy spielen, wenn er wollte. Irgendwas Klassisches, wobei er so tun könnte, als wäre es mehr als nur ein Übungsstück, oder vielleicht auch einen der Popsongs, die seine Mutter ihm beigebracht hatte, wenn sie zwischendurch mal in einer Hochzeitsband oder bei diesen beschissenen kleinen Kunstfestivals in Hotelhallen sang. Vielleicht würde es ja sogar funktionieren. Vielleicht wäre Karine so überwältigt, dass sie sich ausziehen und gleich hier auf dem Wohnzimmerboden von ihm vögeln lassen würde.
Auch irgendwie ein fades Hirngespinst. Fakt war, dass sie an einem Montagmittag in seinem Haus stand und Lichtjahre davon entfernt war, sich in eine notgeile Stripperin zu verwandeln. Das war es, womit er klarzukommen hatte: dass Karine D’Arcy tatsächlich bei ihm zu Hause war.
Er wollte nicht für sie spielen. Er war so nervös, dass seine Fingerspitzen zu harten Knöcheln werden würden.
»Vielleicht später«, sagte er.
»Später?«
Hätte er mehr Zeit gehabt, sich an sein neues Selbst zu gewöhnen, hätte er ihr womöglich tief in die Augen geblickt und mit tiefer Stimme Ja, später gesagt. Aber er lächelte, sah weg und vermischte in seinem Kopf später und hinterher. Vielleicht hinterher. Wir haben das ganze Haus für uns, um was Besseres anzustellen. Es würde ein Hinterher geben, das wusste er.
Sie ging an ihm vorbei in die Küche und sah aus dem Fenster in den Garten, auf das ampferüberwucherte, von einer gedrungenen Betonblockmauer umgebene Gras, dehnte die Hände an der Spüle, drückte den Rücken durch und reckte sich auf die Zehenspitzen.
»Es ist so komisch«, sagte sie wieder. »Dass ich bis jetzt nie hier in diesem Haus war. Du und ich, wir sind schon so lange Freunde, irgendwie.«
Es war eine bange, unsichere Freundschaft gewesen. Es gab Schulprojekte, Partys, Rangeleien und einmal einen richtigen Streit, bei dem er ihr vorgeworfen hatte, nur mit ihm zusammen zu sein, weil sie mit auf Partys wollte. Und während dieses ohnmächtigen Wutausbruchs, zwischen den weiten, weißgrauen Wänden des Schulkorridors, hatte er kapiert, dass sie ihn seit Jahren schon hinter sich herzog, ihn, einen Steinbrocken in ihrem Kometenschweif.
Es traf ihn wie der Klaps einer Hebamme, dass sie – wäre dieses Haus nicht so eine Höhle, streifte sein Dad nicht auf der Suche nach billigem Schnaps und dumpfer Gesellschaft durch die Stadt und scherten sich Jungs wie er ums Schuleschwänzen –, dass sie dann nicht mit ihm hier wäre und ihm die Möglichkeit gäbe, sich von der Last ihrer Freundschaft und zumindest einiger seiner Kleidungsstücke zu befreien. Mit einer Hand auf dem Abtropfbrett sah Karine D’Arcy zu ihm herüber, und wie durch eine chemische Reaktion verwandelte sich die gesamte Küche, die Ödnis verpuffte in ihren butterblonden Haaren und verging wie Seifenschaum am Saum ihres grauen Schulrocks. Das Haus sah anders aus mit ihr, auf seiner Seite. Sie kannte die Geschichte der Zimmer und schartigen Ecken nicht. Die unterste Stufe der Treppe. Den Kaffeetisch, der schon immer da stand, drüben im Wohnzimmer, damit er drüberstolperte, wenn er ins Zimmer gestoßen wurde. Die Küchenwand, den Fleck neben der Hintertür, wo er den Lichtschalter aus zwei Zentimetern Entfernung angestarrt hatte, eine Backe gegen das Eierschalenblau gepresst und auf der linken Schläfe die Hand seines Dads, der ihn mit seinem gesamten Gewicht durch den Putz zu drücken versuchte.
»Du bist so schön«, sagte er, und sie blinzelte und lachte: »Gott, wo kam das jetzt her?«
»Das bist du«, sagte er. »Was machst du hier?«
Sie schmiegte sich an seinen Hals. Erdkunde schwänzen, hätte sie sagen können. Aber sie sagte nichts, und je länger das Schweigen dauerte, desto näher kamen sie der Treppe, seinem Bett, und was immer dann geschehen würde.
Er hasste sein Zimmer nur etwas weniger als das übrige Haus. Er teilte es sich mit seinen Brüdern Cian und Cathal, die unordentlicher waren als er. Der Raum war eine Art Mengendiagramm, und ganz gleich, wie laut er brüllte oder wie behutsam er seine Sachen vor ihren zu schützen versuchte, sie schafften es immer, dass etliches durcheinandergeriet. Sie setzte sich auf sein Bett – wie schön, dass sie es als seines erkannte – und er trat den Boden frei, schickte Spielzeugautos, Lego und auf links gezogene Schlafanzughosen unter die Betten und in die Ecken.
Sie saß auf ihren Händen, und als sie sich küssten, war es, als täten sie es zum ersten Mal und wären nicht ganz sicher, ob sie es mochten. Der zweite Kuss war besser. Sie umfasste zärtlich sein Gesicht. Die Seite eines Fingers strich über sein Ohr. Er schob ihr den Schulpullover über die Brüste, und als sie sich zurücklehnte, um ihn sich ganz auszuziehen, zog er sich auch seinen über den Kopf.
»Vielleicht«, sagte sie nach drei Knöpfen, »sollten wir die Tür zumachen. Nur für den Fall.«
»Ich könnte eines der Betten davorschieben?«
»Okay.«
Er schloss auch die Vorhänge. Sie legten sich auf sein Bett und hielten einander im Arm. Sie küssten sich und zogen noch mehr aus, und die ganze Zeit über dachte er, dass sie gleich einen Rückzieher machen und seine Hände ihm den Dienst versagen würden, wie er es beim Klavier befürchtet hatte.
Sie machte keinen Rückzieher. Sie küsste ihn, drückte sich gegen ihn und half ihm. Und er überlegte: Wenn er das mit ihr in jedem Zimmer machte, würde er damit das Haus von den Sünden, den Echos herausgespuckter Worte und all den üblen, von Tischen, Möbeln und Wänden aufgefangenen Schlägen reinigen können?
Er überlegte, ob er aufhören sollte nachzudenken, schließlich war jeder abschweifende Gedanke eine Verirrung.
»Sei vorsichtig«, flüsterte sie. »Bitte, Ryan, sei vorsichtig.«
Sie legte ihre Hände um seinen Nacken, und er fand seine rechte Hand auf ihrem linken Knie, drückte es sanft nach außen und, oh, fuck, das war’s, verdammte Scheiße.
Cork City nimmt keine Notiz von den ersten mutigen Schritten eines entschlossenen kleinen Mannes. Die Stadt ist mit größeren Zusammenhängen befasst, Verkehrsstaus, Meisterschaftsendspielen, Drogenrazzien und den nächsten Unterhauswahlen. Dem ganzen Scheiß, über den man sich beklagt: die Wirtschaft, das Parlament und was immer von Irlands Eigenheiten sie diese Woche wieder an Europa verhökern.
Aber dieser Montagmittag bedeutete für diesen Mann die Welt, und wahrscheinlich auch für tausend andere. Für Leute, die in diesen Stunden befördert wurden, sich einem Schwangerschaftstest unterzogen oder einfach nur die Schlüssel zu ihrem brandneuen Gebrauchtwagen ausgehändigt bekamen. Manche starben auch. Aber so geht das in einer Stadt: Ein Mann nimmt den Platz eines anderen ein, der auf dem frisch gebohnerten Küchenboden verblutet.
Maureen hatte gerade einen Mann umgebracht.
Sie hatte es nicht gewollt. Das würde sie kaum beweisen müssen, dachte sie. Keiner würde in einem neunundfünfzigjährigen Knochengerüst wie ihr einen Mörder vermuten. Wenn man einen von denen im Fernsehen sah, einen der Kaputten, die alles mit sich in den Abgrund rissen, dann schien der immer ein bisschen daneben zu sein. Zu viel Aufmerksamkeit von grabschenden Onkeln, zu wenig grünes Gemüse. Gesichter wie Tüten voller Dreiecke, mit Augen wie Knöpfe auf Stöcken. Triffst du so einen, oder so eine, auf der Straße, rufst du sofort nach der Gardaí und schlägst denen vor, die oder den dahintaumelnden Irren zu verfolgen, wenn sie mit einer Beförderung nach Hause kommen wollen, zu ihrer Mammy am Arsch der Welt. Also, Maureen sah nicht so aus. Sicher, sie guckte schon mal gerne düster drein, wenn sie nicht gerade bewusst eine andere Miene aufsetzte, aber wie eine mies gelaunte Bohnenstange auszusehen, war noch längst kein Grund für die Gardaí, dich für pervers zu halten. Nicht einen Skandal würde es in der Kirche geben, wenn die Polizei darauf achtgäbe.
Sie betrachtete den Mann, der da mit dem Gesicht auf den Fliesen lag. Unter ihm breitete sich Blut aus. Es rann in die Fugen. Da würde sie Stahlwolle brauchen. Natron. Bleiche. Wahrscheinlich noch was Stärkeres. Sie war da kein Experte. Für gewöhnlich schlich sie nicht auf leisen Sohlen durchs Haus und überraschte Eindringlinge, indem sie ihnen mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf schlug. Der hier war ihr erster.
Putzen war sowieso nicht ihre Stärke. Häusliche Talente waren was für liebe, für nette Mädchen, und es war sicher vierzig Jahre her, dass ihr jemand gesagt hatte, sie sei eins davon.
Wer immer er sein mochte, er war definitiv tot. Er trug einen früher mal schwarzen Pullover und eine glänzende Trainingshose. Sein Hinterkopf war aufgeplatzt, das Haar schwarz verklebt, aber vorher war es rotbraun gewesen. Ein großer Bursche, mager, eine richtige Bohnenstange, und jetzt war er hinüber. Sie hatte ihm nicht ins Gesicht sehen können, bevor sie ihn mit ihrem Heiligen Stein eingeschläfert hatte, und jetzt konnte sie sich nicht dazu überwinden, ihn umzudrehen. Es wäre, wie auf dem Grill ein Kotelett zu wenden. Der Gedanke fuhr ihr in den Magen. Sie würde im Moment keinen Bissen runterkriegen. Was, wenn seine Augen noch auf waren?
Die Polizei zu holen kam nicht infrage. Während sie sich hinunterbeugte, dachte sie daran, dass es ganz witzig sein könnte, einen Priester zu rufen – nur um zu sehen, was Gott und sein Pack von der Sache hielten. Vielleicht würden sie versuchen, den Küchenboden zu reinigen, indem sie ihn segneten. Kraft meines mir verliehenen Amtes … Aber sie glaubte nicht, dass sie einen von diesen Kerlen über ihre Schwelle lassen würde. Zwei Eindringlinge an einem Tag? Das würde sie nicht ertragen.
Sie drehte sich von dem Toten weg und griff nach dem Telefon.
Wie schlechtes Wetter Möwen auf die Kommandobrücke eines Schiffs treibt, hatte Jimmy Priester auf sie niedergehen lassen. Er war die Sünde, der Ärmste, in ihr empfangen und so zu ihr geworden, war heimlich herangewachsen und hatte sie schließlich derartig aus der Form gebracht, dass es keiner mehr übersehen konnte.
Wäre sie selbst zehn Jahre früher geboren, hätte sie ein uneheliches Kind, wie sie annahm, zu den Dienerinnen Gottes hienieden mitgenommen, um ihnen, in chemische Dunstschleier gehüllt, die Wäsche zu waschen und das Nest zu verschönern. In lebenslanger Schwerstarbeit. In den Siebzigern gab es jedoch Möglichkeiten, dem Land den Rücken zu kehren und nach England zu gehen, wo sie mehr oder weniger blieb, bis sie der fürchterliche Fehltritt, den sie James genannt hatte, dort aufspürte und mit seiner eigenen Last bedachte.
Manche Frauen brachten uneheliche Kinder zur Welt, aus denen Buchhalter oder Lehrer wurden oder die beträchtliche Morgen guten Ackerlandes in den Midlands erbten. Bei Maureen war alles anders.
Sie betrachtete das Blut auf dem Boden, zog die Brauen zusammen und wählte seine Nummer. Jimmy würde wissen, was zu tun war. Das war genau diese Art von Angelegenheit, mit der er sich auskannte.
DER MANN AUF DER STRASSE, der Scheißer hinten in der Ecke des Pubs und das ausgebrannte Mädchen am Kai, sie alle sagten das Gleiche: Es sei besser, bei Jimmy Phelan mitzulaufen, als von ihm überrannt zu werden. In kurzen Hosen war er der König des Viertels gewesen, im Iron-Maiden-T-Shirt der Händler, der alles im Sortiment hatte: Er verkaufte Zigaretten, Gras, Dosenbier und schließlich Heroin, Frauen und Waffen. Polizisten und Kriminelle brachte er auf seine Seite oder schaltete sie aus. Er war verheiratet gewesen und hatte Elternabende besucht. Er hatte Geschäfte gemacht, im Knast gesessen und sich auf der halben Welt umgesehen. Es gab nicht viel, womit es Jimmy Phelan noch nicht versucht hatte, und doch war ihm erst vor Kurzem bewusst geworden, dass es eine wunde Stelle in ihm gab, eine Leere, die einem Stammbaum hinterherweinte. Wobei sich herausstellte, dass seine Augen größer waren als sein Magen, was letztlich für alles galt, wonach er sich sehnte: importiertes Fleisch, Cognac, seine lange verschollene Mutter.
Und jetzt hatte das Weibsstück einen Mann umgebracht. Er nahm an, es war durchaus normal für das Holz, aus dem er geschnitzt war, allerdings machte das den Ärger nicht kleiner. Jimmy hielt sich gerne seinen Kalender frei, aber das »Aufräumen-nachdem-deine-Mutter-jemanden-ausgeknipst-hat« war eine weit umfangreichere Aufgabe, als er gedacht hätte.
Er hatte Maureen eine Wohnung am Fluss besorgt. Als Industriekapitän hatte er nie vorgehabt, sie bei sich wohnen zu lassen, auch nicht, bevor sich herausstellte, dass sie verrückter als ein Mülltonnen durchsuchender Fuchs war. Zunächst hatte er sie nicht mal nach Cork holen wollen. Die Idee war nur, sie aufzuspüren und ihr alles über ihre Enkel zu erzählen, doch dann, als er sah, unter welch zwielichtigen Drogenabhängigen und merkwürdigen Junggesellen sie in ihrem Londoner Mietshaus wohnte, musste er noch mal neu ansetzen. Er hatte genug nationalistische Tiraden gehört, um zu wissen, dass England für einen Iren, oder eben eine Irin, die kein Geld hatte, Feindesland darstellte, und er verfügte über die nötigen Mittel, sie nach Hause zu bringen. Maureen wollte nicht, aber Jimmy Phelans ausdrücklichem Wunsch konnte sich niemand widersetzen, ganz gleich, wie viel Stolz oder Gliedmaßen er zu verlieren bereit war.
Das Haus hatte er billig bekommen, weil es ein paar Vietnamesen als Gewächshaus genutzt und die Bullen mehr Löcher in den Wänden hinterlassen hatten, als es Mösen unten in Crosshaven gab. Er hätte es den Vietnamesen womöglich zurückverkauft, wären noch welche da gewesen, aber sie hatten ihren Kram gepackt und waren nach Waterford gezogen, zumindest hatte er das gehört, und so nutzte er das Haus eine Weile als Bordell und würde es vielleicht wieder tun, wenn er etwas weniger Zugiges fand, um seine Mutter unterzubringen. Er hatte sie in der Wohnung unten im Erdgeschoss einquartiert, wo sie sich von ihrer Emigration erholte, während ein paar Teilzeit-Handwerker in den Stockwerken darüber strukturelle Verbesserungen vornahmen. Wobei er natürlich gedacht hatte, dass sie da sicher war. Klar, vielleicht gab es ein paar verloren herumwandernde Freier, aber sie war strikt angewiesen, niemandem die Tür zu öffnen, und die neue Adresse war schon vor einer ganzen Weile ausgegeben worden.
Wie Maureen also einen Eindringling hatte umbringen können, lag jenseits seiner Vorstellungskraft. Wie war dieses Wiesel überhaupt ins Haus gekommen? Hatten die Vietnamesen ihn vergessen? Hatten seine Leute ihn nicht bemerkt, weil er sich oben auf dem Dachboden versteckte? War er ein Freier, dem einer abging, wenn er durchs Dachfenster einstieg?
Wer immer es sein mochte, jetzt war er tot, und wie sich herausstellte, wäre er wahrscheinlich auch, wenn er sein natürliches Verfallsdatum erreicht hätte, kein Fall für einen offenen Sarg gewesen. Sah man ihn an, war er eindeutig jemand, der den Weg dorthin von sich aus angetreten hatte.
»Was zum Teufel hast du mit ihm gemacht?«, fragte Jimmy Maureen, die am Küchentisch saß, in den Rauch ihrer Zigarette starrte und das Gesicht verzog. Sie war eine sture, kleine Person. Da auch er nicht der Größte war, hatte er auf die Möglichkeit zurückgegriffen, nach außen zu wachsen, um die Masse zu erreichen, die man in seinem Beruf brauchte. Selbst noch mit vierzig bestand er hauptsächlich aus Muskeln, auch wenn die zuletzt etwas weicher geworden waren, weil er ständig essen ging und dazu ordentlich trank. Maureen war dürr, wie geschnitzt, und so spitz war auch ihr Blick. Mutter und Sohn sahen einander nicht ähnlich.
»Ich hab ihm eins draufgegeben«, sagte sie. »Mit dem Heiligen Stein. Ich wollte nicht die Oberhand verlieren, nur für den Fall, dass er der Nikolaus gewesen wäre.«
»Mit was für einem Heiligen Stein?«
Sie zeigte zur Spüle hinüber.
Für jedes einzelne Meisterwerk der Renaissance gab es unendlich viel aus Schrottteilen zusammengeschusterten Plunder, aber dieses Ding war selbst nach diesem Maßstab noch fürchterlich. Ein flacher Stein, etwa faustgroß, golden angemalt und auf einem polierten Holzsockel befestigt, darauf ein Bild der Jungfrau Maria mit einem kleinen pausbäckigen Jesus, in grellen keltischen Farben und mit den blutigen Essenzen des toten Mannes auf dem Boden beschmiert.
»Wo verdammt hast du dieses Ding her?« Wenn der Stein nicht auf dem Sockel säße, würde er annehmen, irgendein opportunistischer Spinner hätte ihn für einen Flohmarkt angemalt. Er drehte das Ding in seiner Hand. Die heilige Jungfrau schielte ihn an.
»Den habe ich schon lange.«
»Ich hatte dich nicht für die heilige Josephine gehalten.«
»Solltest du auch nicht. Das bin ich nämlich nicht.«
»Du sammelst einfach nur klobige Devotionalien, um sie als Mordwerkzeug zu benutzen? Niemand verdächtigt die schwere Hand Gottes. Tut Buße, sonst reißt unser Jesus euch womöglich den Kopf ab! Wie hast du mit dem Ding so kräftig zuschlagen können, Maureen? Hast du von der Tür aus Anlauf genommen?«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich«, sagte sie.
»Einige kenne ich ganz gut.« Er spülte den Heiligen Stein unter dem Wasserhahn ab und sah zu dem Toten auf dem Boden hinunter. »Und du hast keine Ahnung, was er wollte?«
»Komisch, ich habe gar nicht daran gedacht, ihn zu fragen.«
Der Mann war schmächtig, und was er anhatte, war schäbig, auch bevor das Blut es an seinen Körper geklebt hatte. Er hatte nichts in den Taschen, bis auf ein zerknülltes Papiertaschentuch und zwei fünfzig in Münzen.
»Vielleicht ein Junkie, der nach Geld suchte. Das Gesicht kenne ich nicht. Scheint Ire zu sein, aber vielleicht auch Engländer. Aus West-Cork, wo sie alle mit dem Kinn wackeln.«
Sie schnaubte. »Ein dreckiger Penner. Klauen wie die Raben, und ich bin genau die Art Opfer, die sie sich aussuchen.«
»Ich kenne ihn nicht, und wenn er eine Ahnung von den Verhältnissen hier in der Gegend gehabt hätte, wäre er nie auch nur in die Nähe dieses Hauses gekommen.«
Er warf den Heiligen Stein von einer Hand in die andere. »Dame Maureen in der Küche, mit dem Stein Gottes. Wir schaffen ihn für dich weg.«
»Der Boden muss geschrubbt werden.«
»… und schicken jemanden zum Schrubben.«
»Die Fliesen müssen neu verfugt werden.«
»Ein neuer Boden also.«
»Hol mich hier raus. Wer will schon in einer Wohnung leben, in der ein Mann gestorben ist?«
»Oh, ja, du wirst dich gegen die Rachegeister wappnen müssen. Er wird dich von jetzt an aus jedem Spiegel ansehen, Maureen, und aus dem Boden steigen, wenn du gerade dabei bist, dir einen Tee zu kochen.«
»Du kannst grinsen, so viel du willst, Junge«, sagte sie, »aber es ist nicht richtig, eine Frau in so einem Haus zu lassen.«
»Du hast es doch dazu gemacht«, sagte er. »Also gut. Ich besorg dir eine Katze.«
Sie blitzte ihn an.
»Aber eins nach dem anderen«, sagte er. »Erst mal schicke ich ein paar Leute her, und danach überlegen wir uns was wegen der Wohnung. Im Moment habe ich nichts anderes für dich. Mir fällt schon was ein, nur nicht gleich für heute Abend.«
»Doch. Hier bleibe ich nicht.«
»Das wirst du aber, bis ich etwas anderes für dich gefunden habe.«
»Werde ich nicht, und wenn ich die Nacht draußen verbringe.«
»Dann erfrierst du, und wir haben zwei Leichen. Und ich sag dir was, Mädchen, ich hab nur Geduld für ein Grab.«
»Du hättest mich in London lassen sollen. Genau genommen interessierst du dich ja kaum für mich.«
»Richtig, Maureen. Kaum. Deswegen stehe auch ich hier anstatt des Gerichtsmediziners und der Jungs aus der Anglesea Street und gehe wahnsinnig großzügig mit meinen Fingerabdrücken um.«
»Ich bleibe nicht hier«, sagte sie.
»Eins nach dem anderen«, wiederholte er. »Bleibst du, bis ich zurück bin? Kannst du wenigstens das für mich tun?«
Sie schnipste Asche auf den Tisch. »Nicht allein mit einer Leiche.«
»Wessen Schuld ist es denn, dass hier eine Leiche liegt?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte sie.
Er stellte sich der Herausforderung, und es ging ihm durch Mark und Bein.
»Also gut«, sagte er. »Gut, gut. Komm, Deirdre wird begeistert sein, dich zu sehen.«
Maureen wohnte nicht offiziell in Jimmy Phelans Haus, wobei es ihm offiziell auch gar nicht gehörte. Trotzdem wollte er weder seine nächsten noch seine liebsten Männer mit dem Job betrauen. Irgendwie stank die Sache. Er war sich nicht sicher, ob der rothaarige Eindringling einfach nur irgendein Arschloch gewesen war, das verzweifelt nach Barem gesucht hatte. Jimmy Phelan hörte auf seinen Bauch, und er spürte, wie der gerade jaulte.
Es half nichts, die Sache musste in Angriff genommen werden. In der Küche seiner Mutter lag ein Toter, und der würde nicht so einfach aufstehen und von sich aus verschwinden. Normalerweise hätte er schnell ein paar passende Leute ausgesucht, auf jeden Fall seine rechte Hand Dougan, dessen gefühllose Gewandtheit und durchtriebener Humor gerade richtig kämen, doch das ließe Maureen womöglich denken, dass er eine feste Putzkolonne hatte, und er war nicht sicher, wie sie das nähme.
Oder wie Dougan und die Jungs sie nehmen würden. Sie kannten nur Bruchstücke der Geschichte: dass er seine leibliche Mutter gefunden und nach Hause geholt hatte. Dass sie eine Nummer war, die kurz entschlossen mal jemandem das Licht ausblasen konnte, wussten sie nicht. Der Respekt für ihn und seine Familie konnte durch ihren kleinen Amoklauf durchaus in Mitleidenschaft gezogen werden. Die Sache ging ihm gegen den Strich. Er war empfindlich, was seine neu geschaffene Vergangenheit anging.
Deirdre Allen war ebenso stur wie taff, was nach einer bewundernswerten Mischung klang, aber soweit Jimmy sagen konnte, bedeutete es einfach nur, dass sie zu dumm war, um zu wissen, wann sie falschlag, und zu langsam, wenn es darum ging, die Folgen abzusehen. Sie färbte sich die Haare immer noch pechschwarz, rauchte zwanzig am Tag und beharrte darauf, wenn er ihren Ausflug ins Immobiliengeschäft finanzierte, würde er sein Geld doppelt zurückbekommen. Sie dachte nach wie vor, dass sich mit dem Euro neue Chancen auftaten, und glaubte, die irische Rezession sei nur ein Durchhänger, es werde nicht weiter runtergehen, sondern jeden Moment wieder in die Höhe schießen.
Ihr Starrsinn war auch der Grund, warum sie so lange gebraucht hatte, um ihn zu verlassen. Fast zehn Jahre schipperte sie in ruhigem Fahrwasser, während er sein Ehegelübde missachten konnte. Bis sie auf Grund gelaufen war. Regelrechte Affären hatte er keine gehabt. Es gab so viele Frauen, die er vögeln konnte, ohne zusätzliche Leistung übernehmen zu müssen. Trotzdem war er so oft über Nacht nicht nach Hause gekommen, so oft wochenlang nicht da gewesen, dass jede andere Frau Lunte gerochen hätte. Als Deirdre es endlich kapierte, war es zu spät, noch Grenzen zu ziehen. Jimmy überließ ihr das Haus und fragte sich, ob sie ihr gemeinsames Scheitern als Erfahrung verbuchen würde. Im Moment beanspruchte sie immer noch für sich, Jimmy Phelans Frau zu sein. In ihrem Bett wollte sie ihn nicht mehr haben, aber sie war zu stur und zu taff das aufzugeben, was für sie die Vergünstigungen seiner Untreue waren.
»Ich will ein Klavier für die Kinder«, sagte sie, schob eine Tasse Tee in Maureens Richtung und zog die Nase kraus. Deirdre hatte nicht gefragt, wie Maureen ihren Tee nahm, obwohl sie sich einbildete, zu Unrecht, eine famose Gastgeberin zu sein. »Ich habe immer bedauert, kein Instrument gelernt zu haben, und ich will nicht, dass sie in zehn Jahren das Gleiche sagen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen, Mädchen? Sie haben genauso wenig Interesse daran, Klavier zu lernen, wie an allem anderen, was du mir für sie aus der Tasche geleiert hast. Du bist diejenige, die ein Klavier will. Eine Attraktion fürs Wohnzimmer. Etwas, wo du eine Vase draufstellen kannst.«
»Du bist manchmal wirklich bescheuert, Jimmy.«
»Vielleicht, weil ich nie gelernt habe, in die Tasten zu greifen. Ich trage keinerlei Kunst in mir.«
»Du verweigerst deinen Kindern also, ein Instrument zu lernen? Nur, weil die Möglichkeit besteht, dass sie nicht dabeibleiben? Hast du Depressionen, oder bist du einfach nur geizig?«
Maureen nahm ihre Tasse und ging nach hinten auf die Veranda.
»Ah, sie ist so begeistert, dass du sie gefunden hast«, höhnte Deirdre.
»Ich bin froh, dass du sie schon so gut kennst, Mädchen, weil sie die Nacht über hierbleibt.«
»Was?«
»Die Wohnung wird gereinigt. Industriemäßig. Da kann sie heute auf keinen Fall bleiben, und ich habe zu viel am Hals, um ihr mein Bett zu überlassen. Lange Rede, kurzer Sinn: Du hast sie bis morgen am Hals.«
»Verdammte Scheiße, Jimmy«, zischte sie. »Du kannst diese Irre nicht einfach hierlassen.«
»Du hast doch ein Gästezimmer, und sie möchte sowieso mehr Zeit mit ihren Enkeln verbringen. Wenigstens, bis sie kapiert, wie verzogen sie sind.«
»Du bist so was von dreist, Junge. Diese Frau, wo immer du sie gefunden hast, mag ja mit dir verwandt sein, aber nicht mit meinen Kindern.«
»Das ist schon rein biologisch Unsinn, Deirdre.«
»Du weißt, was ich meine, Jimmy. Familie ist wesentlich mehr als …«, sie fuhr mit der Hand durch die Luft und verzog das Gesicht, »Flüssigkeiten, Genetik und so. Wie immer du es nennen willst.«
Maureen rührte sich nicht, nur die Zigarette führte sie zum Mund. Gelassen wie eine wiederkäuende Kuh starrte sie auf den Rasen hinaus. Genau das adäquate Verhalten für die neueste Sensenfrau der Stadt, die mit ihrem Karrieresprung bestens klarkam. Jimmy hatte noch nicht viele frischgebackene Mörder erlebt, die sich hinterher nicht wanden und auf die eigenen Schuhe kotzten.
»Hör zu, ich mach dir einen Vorschlag«, sagte er zu Deirdre. »Ich besorg dir ein Klavier, du kannst dir deinen Kummer von der Seele klimpern, und in einem Jahr werd ich nicht fragen, warum Ellie und Conor immer noch Pummelfinger wie Ferkel haben. Und dafür kümmerst du dich eine Nacht lang um meine Mammy.«
»Ah, fairerweise, Jimmy …«
»Du solltest versuchen, mit ihr zu reden. Sie hat die Geschichte deiner Kinder in ihrem Runzelkopf abgespeichert, und die ganz Irlands. Sie ist eine interessante Frau.«
»Ein bisschen zu interessant. Glaubst du nicht, dass ich die Nase schon damit voll habe, wie interessant du sein kannst?«
»Ein Klavier für einen Tag Gastfreundschaft«, sagte er. »Willst du deinen Kindern die Gelegenheit verweigern, ein so wunderbares Instrument zu lernen, nur weil es sein könnte, dass meine liebe Mam ein paar Flecken auf deinen Möbeln hinterlässt? Sei nicht so gemein, Deirdre. Bist du nicht besser als ich und meine Vorfahren?«
Jimmy ging auf die Veranda hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
»Du bleibst heute Nacht bei Deirdre, Maureen. Erzähl ihr nichts von deiner Leiche. Die haben wir schnell zusammengepackt, und wer weiß, vielleicht verliebst du dich ja in deinen neuen Küchenboden.«
»Ich gehe da nicht wieder hin«, sagte sie. »Es ist nicht sicher.«
»Gut, darüber reden wir später.«
Er hatte einiges zu erledigen, nachdem er Maureen in den unwilligen Händen ihrer bis dahin unbekannten Schwiegertochter zurückgelassen hatte, und als der Tag zum Abend wurde, lag immer noch ein toter Mensch auf dem Küchenboden seiner Mutter, jemand mit einer Delle im Hinterkopf, zugefügt durch Irlands künstlerische Ignoranz und Vorliebe für billige religiöse Ikonografie.
Er fragte sich, wo Maureen den Heiligen Stein wohl herhatte. War er ihr aufgeschwatzt worden, als sie sich von seiner Geburt erholen musste? Hatte jemand angenommen, dass ihr ein Abbild der ultimativen alleinerziehenden Mutter, so krude es auch war, in harten Zeiten Trost spenden würde? Waren diese Leute völlig von Sinnen gewesen?
Jimmy Phelan war von seinen Großeltern aufgezogen worden, nicht ungern, aber doch etwas unbeholfen. Einmal waren sie mit ihm nach Knock gefahren und hatten ihm die Mauer der Marien-Erscheinung gezeigt, als greifbares Beispiel ihrer Frömmigkeit. Die Geschichte langweilte ihn zu Tode, aber hinterher hatten sie einen Spaziergang durch die Stadt gemacht, und er erinnerte sich an einen Andenkenladen neben dem anderen, Andenkenläden, so weit das Auge eines Achtjährigen reichte, alle bis unters Dach voll mit Flitter und Tand. Reihenweise Jungfrau-Maria-Barometer, die Muttergottes mit einem Umhang, der je nach Wetter die Farbe wechselte, was sehr wundersam war. Spielzeugkameras mit Bildern des Heiligtums – wenn man so ein billiges Ding ins Licht hielt, konnte man sich durch sie hindurchklicken. Und so viele Heilige Steine, dass sich mit ihnen leicht ein zweites Heiligtum hätte errichten lassen.
Maureens Heiliger Stein hätte durchaus dazu gepasst. Vielleicht hatten seine Großeltern ihn ja gekauft, und vielleicht war er es gewesen, Jimmy, der sie, aufgeputscht von neonrosa Zuckerstangen und viel zu viel Kartoffelchips, durch dieses Wunderland von Glaubenskitsch rennend, von der Bedeutung des Steins überzeugt hatte.
Mal angenommen, der Heilige Stein symbolisierte etwas für Maureen. Buße. Demut. Einen Neuanfang. Angenommen, damit den Schädel eines Einbrechers einzuschlagen hatte sie vierzig Jahre zurückgetragen. Wie viel Heilkraft brauchte eine gefallene Frau, wenn die gesamte verkorkste irische Psyche auf ihr lastete und sie ins Fegefeuer stoßen wollte?
Der Abend senkte sich weiter herab, die Leiche in der Wohnung zog langsam die Fliegen an, und noch war niemand damit beauftragt worden, sie wegzuschaffen.
Er hielt bei einem Centra, kaufte sich ein Wurstsandwich und einen Kaffee und setzte sich zum Essen und Nachdenken zurück hinters Steuer.
Es fühlte sich falsch an, Dougan die Ursache eines Problems zu verheimlichen, das der Mann lösen sollte. Damit schied er aus. Jimmy war diese Art Isolation nicht gewohnt. Seine Mutter, die Frau, die er versuchsweise als seine Mutter betrachtete, um dem Verständnis näherzukommen, was für ein Blut durch seine Adern floss, diese Frau hatte Scheiße gebaut, und zum ersten Mal in seinem Leben spürte Jimmy, dass er einen schwachen Punkt hatte.
Er grübelte vor sich hin, als er plötzlich jemanden sah, drei, vier Meter vom Auto entfernt. Der Mann kam ihm vage bekannt vor. Ein dunkler, über die eigene ausgestreckte Hand gebeugter Wuschelkopf, der mit dem Finger durch ein paar Münzen fuhr, als wollte er eine Parkuhr füttern. Gedrungen, mager, in einem dunkelblauen Kapuzen-Sweatshirt und Jeans, beides schon viel zu oft gewaschen. Jimmy knüllte das Sandwichpapier zusammen, drückte es in den leeren Kaffeebecher und stieg aus dem Wagen. Zwischen dem Abfalleimer und dem Mann probierte er sein Glück: »Cusack?«
Der andere sah auf. Er war es. Mehr als nur ein paar Jahre älter, obwohl Jimmy hätte schwören können, dass es erst ein paar Monate her war, dass sie sich zuletzt unterhalten hatten.
»J.P., Junge«, sagte der Mann, die Hand immer noch vor sich ausgestreckt.
»Cusack. Du siehst gut aus.«
Es war eine unaufrichtige Begrüßung, aber die einzige Alternative wäre brutale Ehrlichkeit gewesen. Was ist mit dir los, Mann? Wenn du bei einer Hure warst, könnte es die Sache wert sein, sie mit Weihwasser zu besprenkeln und zur Hölle fahren zu lassen, weil du wie einer aussiehst, dem alle Flüssigkeit entzogen wurde.
Der Vertrocknete akzeptierte die Begrüßung mit einem schwermütigen Nicken.
»Haben uns ’ne Weile nicht gesehen«, sagte Jimmy.
»Glaub schon.« Seine Stimme klang belegt. Hatte er einen sitzen? Das schien wahrscheinlicher als alles, was Jimmy heute hatte analysieren müssen.
Damals, als Jimmy noch seine Iron-Maiden-T-Shirts getragen hatte, war Tony Cusack eine nützliche Rotznase gewesen, der beweisen wollte, dass er es, mit seinen wachsamen Augen und seiner lockeren Moral, wert war, mit den großen Jungs abzuhängen. Klein und flink, wie er war, hatte Jimmy ihn zu seinem Boten gemacht, und als er größer wurde, hatten sie zusammen gesoffen, sich zugedröhnt und über Frauen und Anarchie geredet. Mit vierundzwanzig dann hatte eine gerinnende Pechsträhne Jimmy davon überzeugt, für eine Weile nach London zu gehen, wo er weitermachen konnte wie zuvor, jedoch in den wunderbaren Mantel der Anonymität gehüllt. Und da er nichts anderes zu tun hatte, war Cusack mitgekommen.
London war gut gewesen für Jimmy. Es hatte ihn dazu gebracht, hoch hinauszuwollen, und London war auch für Tony gut gewesen, aber auf seine eigene Weise. Er hatte eine Frau kennengelernt, sie geschwängert und mit nach Hause genommen, anstatt zu bleiben, wo die Sonne schien.
Seitdem hatte sein Weg den von Jimmy nur selten gekreuzt. An Weihnachten hatten sie sich manchmal im Pub gesehen, Jimmy hatte ihm einen Drink spendiert, gleichzeitig aber dafür gesorgt, nicht zu großzügig zu wirken. Die charmante Bequemlichkeit, die Tony Cusack einst ausgemacht hatte, war zu fader Apathie geworden. Heute, in seinen Dreißigern, war er schwerfällig und mürrisch, eine reanimierte, ausgestopfte Version seines früheren Selbst. Es war kein Geheimnis, dass Cusack versoffen hatte, was London ihm Gutes getan hatte. Schon als seine Frau – hatten sie überhaupt geheiratet? – noch da gewesen war, hatte er systematisch seine Leber und das Wohlwollen jedes einzelnen Weinschenks in der Stadt zerstört.
Es gab nicht viel, was Jimmy nicht über die Weinschenks der Stadt wusste. Die Geldverleiher, Dealer und Buchmacher. Cusack hatte keinerlei Ruf, denn das hätte bedeutet, dass die Leute sich die Mühe machten, über ihn nachzudenken, und wenn sein Verhalten auch keine Investoren abschreckte, gab es doch genug Leute, die in der Lage waren, sie von ihrer Kurzsichtigkeit zu heilen.
Jimmy Phelan hatte einen Ruf, Tony Cusack nur seinen Geruch. Verloren, vergessen, verstoßen …
Absurderweise machte ihn das zu einem guten Mann, wenn es um Geheimnisse ging, denn wer würde ihm schon glauben, wenn er redete? Wer würde ihm zuhören?
»Hast du zu tun?«, fragte Jimmy, der die Antwort bereits kannte und wusste, was er ihm zahlen würde.
Cusack hatte nichts zu tun. Er war es nicht gewohnt, zu tun zu haben, und nahm diesen Umweg als kurzen Urlaub von der Langeweile, die seine Tage bestimmte. Jimmy informierte ihn über das Nötigste: eine verängstigte Frau, ein toter Einbrecher, keine helfende Hand verfügbar, um die Sache zu bereinigen. Cusack zuckte zusammen und machte dicke Backen, als überlegte er, Fersengeld zu geben, doch das störte Jimmy nicht weiter. Angst war eine Tugend, die er bei Teilzeitkräften schätzte, auch wenn es merkwürdig war, sie bei einem Mann zu fördern, den er womöglich einmal seinen Freund genannt hatte, damals, lange war’s her, als Jimmy weder eine Mutter noch das Bedürfnis nach einer gehabt hatte.
Als sie in der Wohnung waren, brauchte Cusack eine Minute, in der Hocke, dem Toten den Rücken zugewandt, aber als er die Rebellion in seinem Magen niedergeschlagen hatte, fand er in einer der oberen Etagen einen schäbigen, im Zuge der Renovierung an die Seite geschobenen Teppich und half Jimmy, die Leiche zu einer übergroßen Zigarre zu verarbeiten. Die Handwerker hatten einiges an Putzutensilien zurückgelassen, und Jimmy und Tony schrubbten Fliesen und Fugen, so gut sie konnten, aber der Fremde hatte reichlich Zeit gehabt, den Boden zu tätowieren. Maureen hatte recht: Es musste ein neuer her. Mit einem Lappen ließ sich das hier nicht beheben.
»Wie gut bist du im Fliesenlegen?«, fragte Jimmy.
»In meiner Bude habe ich das Bad selbst gemacht«, sagte Tony. Er war längst wieder nüchtern. »Vom Boden bis zur Decke. Und die Küche habe ich auch gefliest, ist aber schon ’ne Weile her.«
»Erledige das hier für mich, ich bezahl dich dafür. Aber zieh keinen anderen mit rein. Was machst du morgen?«
»Nichts.«
»Ich habe geahnt, dass du das sagen würdest.«
Da sie kein anderes Auto zur Verfügung hatten, fuhr Jimmy seinen Volvo hinten ans Tor, am Ende einer kleinen verwitterten Ziegelgasse, die er bewusst mit Ranken und Unkraut hatte zuwuchern lassen. Sie legten die Rückbank um und packten den Teppich diagonal hinein: den ehedem atmenden, denkenden Kopf hinter den Beifahrersitz, die ehedem widerrechtlich das Haus betretenden Füße in die gegenüberliegende Ecke. Drum herum arrangierten sie leere Farbeimer, eine Leiter sowie die hässlichen Lappen und Bürsten, mit denen sie das Blut entfernt hatten.
Jimmy gab Tony einen Hausschlüssel und genug Geld, um Fliesen und Bleichmittel zu kaufen.
»Hast du ein Auto?«
»Ja«, sagte Tony.
»Nimm Natursteinplatten.« Und dann, weil es den Gepflogenheiten entsprach: »Was hast du eigentlich die ganze Zeit gemacht, Cusack? Arbeitest du nicht?«
»Mal hier, mal da. Was Besseres gibt’s im Moment nicht, denke ich.«
»Da hast du wahrscheinlich recht, Junge. Selbst wenn das hier eine einmalige Sache ist. Ich muss genug Mäuler stopfen.«
»Ich weiß.« Tony verlagerte das Gewicht aufs andere Bein. »Ich weiß das, Junge.«
»Wo wir von Mäulern reden: Wie viel kleine Cusacks gibt es mittlerweile?«
Für den Bruchteil einer Sekunde umspielte der Geist eines Lächelns Tonys Lippen und verschwand wieder. Es war das erste Mal, dass Jimmy in dem alten Hund so etwas wie Leben aufflammen sah.
»Sechs.«
»Sechs? Willst du ihn nicht lieber zuknoten?«
Sechs waren ein echtes Druckmittel.
Die beiden standen hinter dem Wagen, ruhig genug, damit die Vögel im Grün um sie herum ihre abendlichen Rituale fortsetzen konnten. Sie flogen aus den Büschen rein und raus, warfen dahinschießende Schatten auf die Mauer über Jimmys Kopf.
»Ich hätte da bald noch einen Job«, sagte Jimmy. »Nichts Großes und sicher nicht das wert, was ich dir zahle, aber du hast mir heute geholfen. Ich bin auf der Suche nach einem Klavier. Meine Ex will eins für die Kinder. Wenn ich eins finde, könntest du mir beim Transport unter die Arme greifen.«
»Was für ein Klavier?«
»Hast du Angst um deinen Rücken? Keins von den langen, wenn du das meinst.«
»Nein, ich meine, was für eins suchst du? Ich habe eins, das ich loswerden will.«
»Du? Wie bist du denn an ein Klavier gekommen, Junge?«