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Anna Mende

Eine schreckliche Familie





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Der Brief

 

 

Franz hasste seinen Bruder Willie solange er denken konnte. Willie war fünf Jahre jünger als er, dafür einen Kopf größer und ein wenig schlanker. Bereits in frühester Kindheit konnte Franz den jüngeren Bruder nicht ausstehen. Weitere Geschwister gab es nicht. Warum nur musste es ausgerechnet Willie geben? Auf den hätte die Welt gut und gerne verzichten können. Vor allem Franz, allerdings umso weniger die Eltern. Die hatte Willie bereits am Tage seiner Geburt verhext. Einen Grund dafür gab es nicht, war die Ansicht von Franz, der nie etwas Hässlicheres gesehen hatte als diesen abscheulichen Gnom, den die Eltern vergötterten.

Seine Aversion gegen den Jüngeren hielt auch noch nach mehr als vierzig Jahren an. Fünfzehn Jahre waren es her, seit Franz den verhassten Bruder zuletzt gesehen hatte. Seit dieser Zeit betrug auch der räumliche Abstand mehr als fünfhundert Kilometer. Lediglich ein Mindestabstand, wie Franz stets betonte. Einige hundert Kilometer mehr wären angemessen, weniger ein Desaster.

„Willie kommt.“ Klara hielt Franz den bereits geöffneten Brief entgegen.

„Du bist geschmacklos“, rügte Franz seine Frau und schnappte nach dem Brief. Der Griff ging ins Leere. Klara hatte das Schreiben zurückgezogen und lachte. Franz wurde ärgerlich.

„Gib schon her. Über den Witz kann ich nicht lachen.“

„Es ist kein Witz, Franz“, dementierte Klara, überreichte ihrem Mann das Schriftstück mit gebührendem Ernst und lauerte auf das Donnerwetter, das gleich über sie hereinbrechen würde.

Franz riss den Bogen aus dem Umschlag, ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen und begann zu lesen. Sein Gesicht lief puterrot an und seine Hände zitterten. Er las und schüttelte immer wieder seinen Kopf. Verstört sah er seine Frau an, dann wieder den Brief, den er ein zweites Mal zu lesen begann. Diesmal laut, scheinbar um den Inhalt besser zu verstehen.

„Was will der hier, verflucht, was will der hier bei uns“, wetterte er und zerriss das Papier solange, bis nur noch kleinste Fetzen übrig waren.

„Du kennst den Inhalt?“, wandte er sich an Klara.

„Ich habe den Brief geöffnet und natürlich dann gelesen, schließlich war er an die Familie Fallander, also an uns alle, adressiert.“

„In zwei Wochen will er kommen. Ich soll mich vorher bei ihm melden“, maulte Franz, „einen Teufel werde ich tun. Der kann gehen wohin er will, aber nicht in mein Haus.“

„Unser Haus“, korrigierte Klara.

„Meinetwegen unser Haus, jedenfalls ein Haus ohne meinen Bruder Willie.“ Zur Bekräftigung dieser Aussage schlug Franz mit der Faust auf den Esstisch.

„Warte doch ab, was er von dir will und lass den Tisch in Ruhe.“ Klara fand die Dramatik um ihren Schwager Willie unnötig, „Vielleicht ist er nach all den Jahren ein ganz anderer, als du ihn früher erlebt hast.“

„Der und ein anderer, ha. Allenfalls älter, fett und unansehnlich, aber der Charakter ist immer noch der gleiche. Der ändert sich nie.“

Franz erhob sich von seinem Stuhl, nahm die Schnipsel zusammen, die er aus dem Brief seines Bruder gemacht hatte und warf sie in den Müll.

Die Villa

 

 

Die Familie Fallander lebte in einer alten Villa am Niederrhein, der neuen Heimat von Franz Fallander. Die Fassade des Gebäudes hätte sehr gut einen neuen Putz samt Anstrich vertragen, das Dach wurde nach jedem Sturm geflickt und die Treppe zum Eingang hüllte sich seit Jahren in einen Überzug aus Moos. Der alte Kasten war in die Jahre gekommen und die Alterserscheinungen nahmen von Jahr zu Jahr zu. Trotz diesem kippeligen Zustand liebten Franz und Klara ihre mühevoll erworbene Behausung, die sie vor zehn Jahren bezogen hatten. Die Kinder, Maja und Pitty, waren damals vier und zwei Jahre alt. Die Vorbesitzerin, Gesine Merker, ging aus Altersgründen in ein Seniorenheim und verkaufte das Anwesen an die Fallanders. Weit unter Wert, für die Familie dennoch ein Ritt auf der Rasierklinge. Harten Verhandlungen mit den Geldgebern und schlaflosen Nächten folgte der Entschluss: Wir kaufen! Die Möbel aus der Vier-Zimmer-Wohnung füllten keinesfalls die fünfzehn Räume, die darauf warteten, ausgestattet und bezogen zu werden. Trotz allem schaffte Klara es, das Inventar mit viel Geschick sinnvoll über wenigstens acht Zimmer zu verteilen. Die restlichen sieben blieben leer. Franz und Klara fühlten sich anfangs wie Fürsten in einem Schloss, die Mädchen wanderten pausenlos von einem Raum in den nächsten. Das „Ratet-wo-wir-gerade-sind-Spiel“ nahm kein Ende.

Als die anfängliche Euphorie nachließ und die rosarote Brille verrutschte, wurde den Eheleuten bewusst, welche immense Aufgabe das neue Heim mit sich brachte. Auch der parkähnliche Garten war eine große Herausforderung für seine neuen Besitzer. Die alten Kastanienbäume ließen im Herbst nicht nur ihre Früchte zu Boden fallen, welche die Kinder unermüdlich sammelten und ins Haus schleppten, sondern auch Berge von Laub. Das Budget erlaubte keine fleißigen Helferlein, also mussten die Fallanders selbst Hand anlegen. Nie wurden sie fertig. Sie rackerten und schufteten

in Haus und Garten und vergaßen beinahe, dass das Leben noch mehr zu bieten hat als Arbeit. Musste immer alles so perfekt sein?

„Nein“, meinte Franz, „wem's nicht passt soll nicht hinsehen.“ Klara lachte und schloss sich der Meinung ihres Mannes an.

Die Kinder besuchten mittlerweile die Grundschule und brachten regelmäßig Freunde mit nach Hause. Bei schönem Wetter war der große Garten ein Abenteuerspielplatz, bei schlechtem Wetter tobten alle durch das Haus, wobei die leerstehenden Räume den größten Anklang fanden. Maja hatte zum Geburtstag ein Zimmerzelt bekommen, dass in einem der unbewohnten Gemächer aufgebaut wurde. Puppen und Kuscheltiere siedelten nach und nach in das Zimmer im zweiten Stock um, das somit in den Wohnbereich einbezogen wurde. Es war Zimmer Nummer neun, das neuerdings von der Familie genutzt wurde.

„Nun sind noch sechs Räume übrig, für die noch keine Verwendung in Sicht ist,“ bemerkte Klara, als sie den Staubsauger in der Besenkammer verstaute, nachdem sie in den neun bewohnten Räumen die Böden mit dem Fusselmoped unter größter Anstrengung entstaubt hatte.

Franz hörte nur mit halbem Ohr zu, sagte: „mmh“ und nickte. Er war schon seit einer halben Stunde in die „Kundgaben vom Niederrhein“ vertieft. Ein Student bot im Anzeigenteil Hilfe in Haus und Garten zum Spottpreis an.

„Meinst du, ich sollte da mal anrufen?“, wollte er von seiner Frau wissen.

„Wo solltest du anrufen?“ Klara hatte nicht die leiseste Ahnung, was ihren Mann umtrieb.

„Hier bietet einer Hilfe in Haus und Garten an. Können wir doch dringend brauchen.“ Franz war

hingerissen von dem Gedanken, dass ihm ein 'Boy für alle Fälle' zur Hand ging.

„Dringend brauchen, ja, entlohnen, nein“, raubte Karla ihrem Mann jegliche Illusion, bald einen dienstbaren Geist an seiner Seite zu haben. Karla hatte mit heftigem Widerspruch gerechnet, stattdessen äußerte Franz eine brillante Idee.

„Dass ich da nicht schon längst dran gedacht habe“, schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.

„An was hättest du längst denken sollen?“ Karla war auf Franz' Antwort äußerst gespannt.

„Studenten. Wir vermieten die freien Zimmer an Studenten.“

Die Euphorie ihres Mannes übertrug sich nicht auf Karla.

„Fremde Personen im Haus. Und dann gleich sechs. Ohne Bad und Küche für die Mieter.“

„Na, gut, wir vermieten maximal vier Räume. Die restlichen zwei werden Bad und Küche zur gemeinsamen Nutzung.“

„Sehr schön, Franz, geniale Idee. Aus wessen Rippe sollen wir die Mittel schneiden, die wir brauchen? Oder existiert auf diesem Anwesen ein Goldesel, der die Münzen nur so auswirft?“

Die Bedenken seiner Frau ließen Franz zusammensinken wie einen Luftballon, dem die Luft ausströmt. Ein wenig mehr Begeisterung für seinen Plan hatte er von ihr schon erwartet. Klara hatte ja Recht. Dieser finanzielle Einsatz brachte sie hart an die wirtschaftliche Existenz der Familie Fallander. Es würde eine Weile dauern, bis das Loch im Geldsack wieder halbwegs gestopft ist. Noch ahnte niemand, dass sich genau diese Räumlichkeiten in Kürze für unliebsame Bewohner in eine willkommene Bleibe verwandeln werden.

 

 

 

 

 

Revolte bei Willie

 

 

Die vollgepackten Umzugskartons stapelten sich vor dem Haus. Taschen und Koffer gefüllt mit Kleidung gesellten sich dazu. Willie hatte vom frühen Morgen bis über die Mittagszeit die Kisten zu der Stelle geschleppt, wo der Brummi parken und das Umzugsgut verladen werden konnte. Seine Ehefrau Ruth hatte, so gut es ging, mit angepackt.

„Das war's“, sagte Ruth, als sie die letzten beiden Taschen, die den Töchtern Tela und Lilith gehörten, zu der gewaltigen Anhäufung von Ladegut stellte. Das Haus war bis auf den letzten Nagel leer geräumt. Es sah öde und verlassen aus, als Willie ein letztes Mal einen Blick in die unbewohnten Räume warf. Die drei Töchter, Marit, Tela und Lilith saßen in Marits Zimmer auf dem Boden, hatten sich an den Händen gefasst und heulten. Marit war die einzige der Töchter, die heftig reagierte, als Willie in der Tür stand. Tela und Lilith starrten mit verheulten Augen ins Leere und schwiegen.

„Du bist an allem schuld“, schrie Marit ihren Vater an. „Nur wegen dir müssen wir hier weg. Du bist unfähig, in allem was du machst. Ein Scheißvater und dazu noch ein hundsmiserabler Geschäftemacher.“

Marit hatte sich vom Fußboden erhoben und drohend vor ihrem Vater aufgebaut. Es fehlten nur wenige Zentimeter und sie hatte die Größe ihres Vaters erreicht. Aug in Auge standen sie sich gegenüber und starrten sich überschäumend vor Wut an.

Es hatte in den vergangenen Wochen zahlreiche dieser Auseinandersetzungen gegeben, seit Willie der Familie gebeichtet hatte, dass nicht nur der Fuhrbetrieb mit dem gesamten Inventar sondern auch das Wohnhaus an die Banken übergehen würde. Zu spät hatte Willie die Familie über heraufziehende Schwierigkeiten informiert. Als er Frau und Töchter einweihte, steckte der Karren bereits so tief im Dreck, dass er nicht mehr geborgen werden konnte. Ruth war fassungslos, als sie erfahren musste, wie es um sie alle stand. An dem Abend, als Willie Farbe bekannte, war sie auf ihn losgegangen und hatte ihm mehrmals kräftig ins Gesicht geschlagen. Die drei Töchter waren Zeuge dieses Vorfalls. Nur Lilith, die Jüngste, hatte mit ihren neun Jahren für den Vater Partei ergriffen und die Mutter lautstark aufgefordert, den Papa in Ruhe zu lassen. Dabei zerrte sie verzweifelt am rechten Arm ihrer Mutter, um sie darin zu hindern, weiter auf den Vater einzuschlagen.

Marit und Tela schlossen sich der Mutter an und standen ihr lautstark zur Seite. Es dauerte eine Weile, bis sich der Tumult legte, die Gemüter sich halbwegs beruhigten und die Mädchen schluchzend in ihren Zimmern verschwanden. Ruth verließ aufgebracht das Haus und knallte geräuschvoll die Außentür zu. Willie hörte, wie der Motor des drei Jahre alten 'Franzosen' aufheulte und der Wagen davon rauschte. Ruth hatte verärgert das Weite gesucht, wohin auch immer.

Willie war im Wohnzimmer alleine zurückgeblieben. Er hatte Schmerzen. Ruth hatte ordentlich zugehauen. Die linke Wange tat weh und das Auge schwoll allmählich zu. Der Spiegel im Bad kannte kein Erbarmen und offenbarte das entstellte Antlitz eines geprügelten Mannes.

„Blöde Weiber“, knurrte Willie bei seinem Anblick, „haben keine Ahnung, aber blasen sich auf.“

Er ging zurück ins Wohnzimmer, öffnete die Hausbar und entnahm die letzte Flasche Cognac, die sich noch darin befand. Schnell trank er hintereinander einige Gläser und schlief gut abgefüllt auf dem Sofa ein. Er wurde erst wach, als er Geräusche im Haus vernahm. Marit und Tela waren auf, schmierten in der Küche Pausenbrote für die Schule und verließen ohne Worte das Haus. Von Lilith keine Spur. Sie verschlief und Willie ließ es an diesem Tag zu. Ruth kehrte erst gegen Mittag zurück. Niemand erfuhr, wo sie gewesen war.

„Los“, forderte Willie energisch seine Töchter auf, „erhebt euch, wir fahren.“

Lilith stand auf und folgte dem Befehl, bei Tela dauerte es noch. Sie reagierte zunächst mit Bockigkeit bis Marit sie anwies, mitzukommen, da jeglicher Widerstand sinnlos sei.

 

 

 

 

Der Umzug

 

Der bis auf den letzten Quadratzentimeter vollgepackte Brummi mit dem gesamten Hab und Gut der Familie Willie Fallander war zwischenzeitlich losgefahren. Die fünfköpfige Familie stieg in den fünfzehn Jahre alten Kombi, den Willie vor kurzem erstanden hatte. Besser gesagt, im Austausch gegen den wesentlich neueren 'Franzosen'. Den hatte er noch für gutes Geld verkauft, Geld, das er dringend für diese und jene Dinge brauchte, vor allem, um den Alltag halbwegs vernünftig zu bestreiten. Dazu gehörte auch der Kauf dieses alten Schlachtschiffes.

Die drei Mädchen drängelten sich auf der Rückbank, Willie setzte sich ans Steuer, Ruth auf den Beifahrersitz. Willie war der Chauffeur. Obwohl Ruth eine sehr gute Fahrerin war, was die drei Töchter immer wieder betonten, ließ Willie sie nicht ans Steuer, wenn er im Wagen saß.

„Lass Mama ans Steuer“, forderte Marit, „bei ihr wird mir nicht übel, wenn ich hier hinten schon so gedrängt sitzen muss.“

„Bei mir wird dir auch nicht übel“, wehrte Willie ab, „und jetzt will ich kein Gejammer mehr, verstanden?“

„Du musst es ja wissen“, knurrte Marit und schaute beleidigt aus dem Fenster.

Lilith stieß Marit mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Aua, lass das, du blödes Ding“, fuhr Marit ihre kleine Schwester an.

„Wenn Papa fährt, ist alles gut“, stand Lilith ihrem Vater bei.

„Halt die Klappe und misch dich nicht in Dinge, die du nicht verstehst.“ Marit gab Lilith mit der flachen Hand einen Klaps auf den Hinterkopf. Scheinbar fester als geplant, denn Lilith begann ein Riesengeheul.

„Das ist ja nicht zum Aushalten“, jammerte Tela. „Sind wir bald da?“

„Wir sind gleich auf der Autobahn“, klärte Willie seine Tochter auf, „und dann geht’s nur noch Richtung Süden.“

„Wo ziehen wir überhaupt hin? Darf man das mittlerweile vielleicht auch mal erfahren?“ Tela war in gereizter Stimmung.

„In drei Stunden sind wir da, am Niederrhein. Genauer gesagt in Mördonk. Das ist eine kleine Stadt... ..“ Marit ließ Willie nicht ausreden.

„Was“, brüllte sie, „so weit ziehen wir weg. Ist das die Überraschung, die du uns seit Wochen versprichst? Halt sofort an, ich will aussteigen. Ich gehe aus Vedermarschen nicht weg.“

Willie schwieg. Mit hochrotem Kopf klemmte er hinter dem Steuer. Ruth sah ihn von der Seite an und wartete darauf, dass er gleich explodierte.

„Jetzt haben wir's, aber du wolltest es ja unbedingt so. Nur kein Stress mit den Kindern von vorneherein“, maulte Ruth. „Das, was du machst, hat was von einer Entführung. Wir hätten den Umzug vor Wochen mit allen besprechen sollen.“

„Damit wir wochenlang Heulerei und Theater gehabt hätten“, wehrte Willie ab. „Nee, das hätte mir gerade noch gefehlt. Jetzt sind wir unterwegs und es gibt kein Zurück. Damit wird sich jeder ganz einfach abfinden.“

„Da kennst du deine Töchter aber schlecht“, widersprach Ruth. Auch sie hatte den Töchtern nichts von Willies Plänen, an den Niederrhein zu ziehen, erzählt, da sie immer noch gehofft hatte, in Vedermarschen und Umgebung eine neue bezahlbare Bleibe zu finden. Sie wollte abwarten und nicht schon vorher die Pferde scheu machen. Leider hatte sich nichts Passendes ergeben. Nun waren sie auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft, denn Willie setzte darauf, sich bei seinem älteren Bruder Franz einzuquartieren.

Vor zwei Wochen hatte Willie ihn nach jahrelanger Sendepause angeschrieben und seinem Bruder mitgeteilt, dass er demnächst bei ihm auftaucht. Franz hatte nicht geantwortet, womit Willie auch nicht unbedingt gerechnet hatte.

„Was macht dich so sicher, dass Franz uns aufnimmt?“ Ruth war skeptisch.

„Dem bleibt gar nichts anderes übrig“, lachte Willie. „Es gibt den Wisch, den er unterschrieben hat, um die Eltern zu beruhigen. Darin steht, dass Franz für den jüngeren Sohn da sein muss, falls der ihn braucht. Und genau dieser Fall ist jetzt eingetreten.“

Ruth schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht daran, dass ihr Schwager trotz dieses Schriftstückes gezwungen werden kann, seinen Bruder und dessen Familie in seinem Haus aufzunehmen. Auch wenn es der Wille der Eltern war und Franz sich dem damals fügte. Die Fahrt an den Niederrhein kam ihr wie eine Abenteuerreise vor mit ungewissem Ausgang.

Sie überholten den Brummi, der den kompletten Hausrat geladen hatte und auch auf dem Weg nach Mördonk war. Willie hupte, der Fahrer des Brummis antwortete, Willie gab Gas und hatte bald den Brummi abgehängt.

 

 

 

 

 

 

 

 

Fahrt mit Hindernissen

 

 

„Halt an, ich muss aufs Klo“, forderte Marit mit bestimmendem Ton.

„In zwanzig Minuten kommt eine Tankstelle,“ war Willies Antwort.

„Ich will nicht tanken, ich muss aufs Klo“, schrie Marit in einer Lautstärke, dass allen anderen im Wagen die Ohren vibrierten.

„Aber Papa muss tanken, damit das Auto weiterfahren kann“, belehrte Lilith ihre ältere Schwester.

„Schnauze, du Kröte. Wer hat dich überhaupt gefragt?“ Marit ging ihre jüngste Schwester gehörig auf den Geist. Am liebsten hätte sie kräftig an ihrem Zopf gezogen. Sie ließ es bleiben. Auf das Gezeter konnte sie gut und gerne verzichten. Tela, die mittlere der drei Fallander Mädchen, hatte ihren Kopf an die Scheibe gelehnt und die Augen geschlossen. Für sie war der Umzug in eine andere Gegend ein Alptraum. Sie malte sich aus, heimlich nach Vedermarschen zurückzukehren und bei einer ihrer Freundinnen, ohne die sie sich ein Leben nicht vorstellen wollte, unterzukommen. Sobald die Familie das Ziel erreicht hatte, würde sie Kontakt zu Nora, ihrer besten Freundin, aufnehmen. Wenn dann feststeht, dass sie bei Nora und deren Eltern einziehen durfte, würde sie in einem passenden Moment still und heimlich abhauen, um wieder in Vedermarschen zu sein. Auch ohne die Eltern und den beiden Schwestern, die mit ihren häufigen Streitereien nervten. Immerhin war sie schon vierzehn Jahre alt und durchaus in der Lage, ohne die Familie klar zu kommen. Schließlich war Nora ja auch noch da. Nachdem Tela diesen Plan gefasst hatte, sah sie mit geschlossenen Augen ganz entspannt der Zukunft entgegen.

Als der Hinweis “500 m Raststätte mit Tankstelle“ sichtbar wurde, lenkte Willie den Wagen bald auf die äußerste rechte Spur, um kurz darauf abzubiegen. Neben einer freien Zapfsäule hielt er an.

„Na endlich“, maulte Marit und drängelte darauf auszusteigen. Ruth kletterte aus dem Fahrzeug, klappte die Rückenlehne nach vorne und ließ ihre maulende Tochter aus dem Wagen. Die rannte gleich los und verschwand in dem Gebäude. Willie war bereits dabei, den Tank aufzufüllen.

„Was ist mit euch?“, fragte Ruth die beiden verbliebenen Töchter auf der Rückbank. Tela antwortete nicht und stellte sich schlafend.

„Ich hab Durst, aber auch Hunger“, sagte Lilith.

„Essen und Getränke haben wir dabei“, erklärte Ruth. „Wenn wir getankt haben, suchen wir einen Parkplatz und machen ein Picknick.“

Der Parkplatz für Personenkraftwagen war gut besucht. Willie fuhr langsam an zahlreichen parkenden Wagen vorbei, bis er fast am Ende der Reihe angelangt eine Lücke fand, in die er einbog.

„Juchhu“, rief Lilith, „jetzt gibt’s ein Picknick. Endlich.“

Ruth stieg als erste aus und hielt nach Marit Ausschau, die offensichtlich das Gebäude noch nicht verlassen hatte.

„Ich gehe mal ein Stück Richtung Rasthaus, um Marit zu treffen“, erklärte sie den anderen, „damit Marit uns findet.“

„Von mir aus kann die blöde Kuh bleiben wo sie ist und wir fahren nach dem Picknick ohne sie ab“, schlug Lilith ungerührt vor. „Dann müssen wir nicht mehr die ganze Zeit ihr Gemaule aushalten.“

„Sie ist immer noch deine Schwester und gehört zur Familie.“ Ruth wies ihre jüngste Tochter zurecht, bevor sie sich auf den Weg machte, um die älteste Tochter zu treffen. Sie litt ja selbst unter Marits Launen und dem aufbrausenden Wesen, das sie täglich mehrfach an den Tag legte. Noch hatte Ruth die Hoffnung nicht aufgegeben, dass Marit eines Tages doch noch zur Besinnung kam und umgänglicher wurde.

Ruth hatte den Eingang der Raststätte erreicht ohne Marit begegnet zu sein. Bestimmt waren vor den Toiletten lange Warteschlangen und Marit brauchte eine Weile. Ruth ging durch die Drehtür und betrat den Gastraum. Alle Tische waren besetzt und an den Essensausgaben warteten viele Gäste. Zum Glück waren sie Selbstversorger und hatten die Warterei verbunden mit der Suche nach einem freien Tisch nicht nötig. Außer diesen widrigen Umständen sparten sie außerdem viel Geld. Denn die Speisenangebote längs den Autobahnen waren immens teuer. Immerhin waren sie zu fünft. Da käme ein hübsches Sümmchen zusammen. Das sparen wir uns, freute sich Ruth. Weniger erfreut war sie, als sie Marit an einem Zigarettenautomaten entdeckte, als die sich gerade in aller Seelenruhe mit zwei jungen Burschen unterhielt. Ruth blieb stehen und wartete, ob Marit sich gleich von den beiden verabschiedete und sich Richtung Ausgang begab. Aber nichts dergleichen geschah. Die Typen in sehr salopper Kleidung fuhren scheinbar voll auf Marit ab, die sich große Mühe gab, sich von ihrer Schokoladenseite zu präsentieren. Sie strahlte die Jungs im Wechsel an und war voll in ein Gespräch mit den beiden vertieft. Als Ruth bemerkte, dass Marit nicht daran dachte, sich loszureißen, näherte sie sich der kleinen Gruppe und forderte Marit auf, mit ihr zu kommen.

„Wir haben einen Parkplatz gefunden und warten auf dich. Komm jetzt bitte.“ Ruth fasste nach Martis Arm und wollte sie mit sich ziehen. Die riss sich wütend los.

„Was willst du denn?“, fauchte Marit ihre Mutter an. „Ich komme ja, aber nur, um meine Tasche mit der Kleidung zu holen. Ich fahre mit euch nicht weiter.“

Ruth war fassungslos. Sie war einiges von ihrer Tochter gewöhnt, aber dieser Situation inmitten der vielen fremden Menschen stand sie hilflos gegenüber. Marit schien fest entschlossen, die Reise ohne die Familie fortzusetzen. Ruth sammelte ihre ganze Energie, um zum Gegenschlag auszuholen.

„Du kommst jetzt mit und basta.“ Sie packte Marit fest am Arm und zog sie mit aller Kraft mit sich.

„Aua“, schrie Marit, „bist du völlig verrückt, dass tut weh.“ Sie stemmte sich gegen Ruth, die den Arm ihrer Tochter fest umklammerte.

„Mir egal, ich lass erst los, wenn du zur Vernunft gekommen bist.“

Marits neue Bekanntschaften grinsten. Der Kampf zwischen Mutter und Tochter schien sie zu amüsieren. Auch sie gingen zum Ausgang und betraten nach Ruth und Marit die Drehtür nach draußen. Ruth schob ihre Tochter in die Richtung, wo ihr Auto parkte. Marit blickte sich verzweifelt nach den Jungs um.

„Wir warten auf dich“, rief einer der beiden, „da drüben bei dem roten Schlitten.“

„Bis später“, antwortete Marit, in deren Augen sich mittlerweile Tränen sammelten.

Willie hatte Frau und Tochter entdeckt und eilte ihnen entgegen.

„Was ist mit euch los?“, brüllte er. „Wo bleibt ihr denn?“

„Deine Tochter wollte sich anderweitig orientieren“, klärte Ruth ihren Mann auf, „und die Reise mit den beiden Herren da drüben fortsetzen.“

Sie machte mit dem Kopf eine Bewegung in die Richtung, wo die Burschen neben einem roten Opel älteren Modells warteten.

„Wohl total verrückt geworden“, schrie Willie aufgebracht mit lauter Stimme und griff nach Marits anderem Arm. Eingekeilt zwischen den Eltern wie in einem Schwitzkasten hatte sie keine Chance sich loszureißen und gab schließlich den Kampf auf. Beim Wagen angekommen riss Willie die Tür auf, klappte die Rückenlehne vor und schob Marit gewaltsam auf den Rücksitz.

„Und keine Mätzchen mehr“, fuhr er sie an, „sonst setzt's was.“ Dann knallte er die Wagentür zu.

„Wird ja immer schöner“, schimpfte er vor sich hin, packte den übrigen Proviant in die Box und warf den entstandenen Müll in einen Eimer. Nur er und Lilith hatten sich gestärkt. Ruth war der Appetit vergangen und Tela war gar nicht erst ausgestiegen. Sie döste weiter vor sich hin.

Als alle wieder auf ihren Plätzen saßen, startete Willie den Wagen und verließ den Parkplatz.

„So, jetzt kommt der letzte Teil der Fahrt bis zu unserem Ziel“, informierte er seine Familie und grinste schadenfroh vor sich hin. Tela und Marit nahmen die Information gleichgültig auf. Lilith freute sich auf das neue Zuhause. Nur Ruth hatte ein mulmiges Gefühl.