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Nr. 9

EIN GANGSTER
KILLT DEN
ANDERN

 

Von Grimsby dirigiert

 

von

JOHN BALL

IMPRESSUM

 

DR. MORTON

erscheint im

ERBER+LUTHER VERLAG, Schweiz.

Konvertierung: DigitalART, Bergheim.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise,

gewerbsmäßige Verbreitung in Lesezirkeln,

Verleih, Vervielfältigung/Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung

sind nicht gestattet.

DR. MORTON ist auch als

Printausgabe erhältlich!

 

Bisher erschienen:

 

Band 01: Blaues Blut

Band 02: Das ist Ihr Sarg, Sir!

Band 03: Bad in HCL

Band 04: Biedermann und Rauschgifthändler

Band 05: Mr. Gregory kann nicht sterben

Band 06: Dr. Morton empfiehlt Selbstmord

Band 07: Morton’s totale Operation

Band 08: Sir Henry, der Dritte im Bund

 

 

 

In Vorbereitung:

 

Band 10: Sein erster Mord

Band 11: Gehirnoperation

Band 12: Ein Selbstmord kommt selten allein

Der alte Mann, der tagtäglich mehrmals über die Chelsea Bridge ging, dann durch den Battersea Park, vorbei an Fun Fair, dem den ganzen Sommer über geöffneten Vergnügungspark, über die schöne alte Albert Bridge zurück zum nördlichen Themseufer und dort zu seiner Unterkunft im Veteranenheim – dieser alte Mann also machte einen recht gebrechlichen Eindruck. Der körperliche Verfall war nicht zu übersehen.

Geistig war der Alte jedoch durchaus wach. Als er die Chelsea Bridge an diesem sonnigen Vormittag zum zweiten Mal passierte, blieb er stehen, schnupperte und murmelte:

»Ich sage, es stinkt. Und wenn ich sage, dass es stinkt, dann stinkt es.«

Er lehnte sich gegen die Brüstung und begann, die Vorbeigehenden zu beobachten.

Er wartete darauf, dass anderen der Gestank ebenfalls auffiel. Aber entweder hatte keiner eine so feine Nase wie der Alte, oder jeder war mit seinen eigenen Angelegenheiten hinreichend beschäftigt. Dazu kam, dass der Wind ständig drehte. Und je nachdem, wie er gerade stand, bemerkte man den Gestank oder auch nicht.

Als die nächste Wolke kam, schnupperte der alte Mann mit hoch in die Luft gereckter Nase. Er tat’s absichtlich so auffällig, dass der Bobby, der über die Brücke ging und jetzt ganz in seiner Nähe war, ihm einen fragenden Blick zuwarf.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte der Polizist.

Die Londoner Bobbies sind durchweg von erlesener Höflichkeit. In diesem Fall mischte sich eine Spur echter Sympathie in die Stimme. Denn die Veteranen aus dem Chelsea Hospital gehören zu London wie der Tower und Big Ben und sind allgemein beliebt.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagte der Alte zweifelnd und wackelte mit dem Kopf. Er war froh, die Aufmerksamkeit des Bobbies geweckt zu haben. Andererseits wollte er sich nicht lächerlich machen. »Wie wär’s, wenn Sie sich mal dicht neben mich stellten?«

Der Bobby, obwohl er nicht wusste, wozu das gut sein sollte, kam der Bitte nach.

»Und?«

»Tut mir leid, Sir, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Riechen Sie nichts?«

Der Alte schnupperte ostentativ. Unwillkürlich tat’s ihm der Bobby nach.

»Es stinkt«, sagte er dann sachlich.

»Es stinkt«, bestätigte der Alte und kicherte – vor Freude darüber, dass der Bobby seine Feststellung teilte. »Und wie das stinkt!«

»In der Tat«, murmelte der Bobby.

Er warf dem alten Mann einen raschen, prüfenden Seitenblick zu, aber der wirkte so adrett in seiner scharlachroten Sommeruniform, deren Schnitt aus der Zeit des Herzogs von Marlborough stammte, dass der Gedanke absurd war, der Gestank könne von ihm herrühren.

»Was glauben Sie, Sir, woher dieser Geruch kommen könnte? Von dort drüben?«

Er deutete auf die Battersea Power Station, die ihre vier mächtigen Schornsteine in die Höhe reckte.

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Von dort stinkt’s oft. Aber nicht so.«

»Der Fluss?«, fragte der Bobby und äugte auf die Themse hinab, deren schmutziges Wasser hier ziemlich träge floss. Nur in der Mitte war die Strömung erkennbar stärker.

»So hat das Wasser noch nie gerochen. Außerdem bin ich vorhin über die Albert Bridge gegangen. Keine Spur von Gestank. Sie wissen sicher, dass zwischen Albert Bridge und Chelsea Bridge keine Abwässer in die Themse geleitet werden.«

Der Bobby hatte das nicht gewusst, aber er nickte. Er sah den Alten fragend an. So hinfällig der wirkte – geistig war er jedenfalls außerordentlich wach. Und der Bobby hätte seinen Helm verwettet, dass er eine ganz bestimmte Theorie über die Herkunft des sonderbaren Gestanks hatte. Eben jetzt schwängerte eine neue Duftwoge die Luft. Der Bobby verzog angeekelt das Gesicht, schnupperte aber trotzdem intensiv.

»Es riecht süßlich«, stellte er schließlich fest. »Abscheulich süßlich, Sir, finden Sie nicht?«

Der Alte nickte und sagte: »Leiche.«

»Sie meinen, Sir …?«

»Im ersten Weltkrieg, in der Normandie …« Die Stimme des Alten klang unwirklich. Und er sprach ja auch von einer Zeit, die für den jungen Polizisten etwas von der Unwirklichkeit alles Geschichtlichen hatte. »Wir fanden sieben Kameraden, die schon seit drei Tagen tot waren. Hatten in der Sonne gelegen. Sahen gar nicht schön aus …«

»Und damals – roch es auch so?«, fragte der Bobby.

›Stank‹ hatte er sagen wollen, sich das aber gerade noch verkniffen. Aus Pietät.

»Ja, damals roch es auch so«, sagte der Alte. »Wie wär’s, wenn Sie sich mal um die Tür dort kümmerten?« Er deutete auf die Metalltür des Brückenpfeilers, die dem normalen Spaziergänger kaum auffiel, so sorgfältig war sie eingepasst.

»Sie glauben, Sir …?«

Der Alte kicherte. Die Unbeholfenheit des jungen Polizisten amüsierte ihn. Gewiss, in seiner schicken dunkelblauen Uniform und mit seinem tadellosen Benehmen war er der lebende Beweis dafür, dass es auch heute noch wohlerzogene, adrette junge Leute gab. Aber zu seiner Zeit war’s doch anders gewesen. Er und seine Kameraden waren Draufgänger gewesen. Trotz aller Wohlerzogenheit.

»Ich glaube, Sie sollten versuchen, die Tür zu öffnen«, sagte er.

Der Bobby war schon unterwegs. Er erklomm den Brückenpfeiler und versuchte sich an dem runden Türknauf.

»Abgeschlossen«, rief er dem Alten in der scharlachroten Uniform zu. »Mit einem Yaleschloss.«

»Machen Sie’s auf!«, rief der Alte zurück.

»Wie denn?«

Es war schlimm, fand der Veteran. Ein ausgewachsener Bobby, der kein simples Yaleschloss aufbrachte. Ein Ding, das jedem Einbrecher nur ein müdes Lächeln entlockte.

Der Bobby sprang zurück auf den Gehsteig und war froh, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Er schnupperte.

»Ich rieche nichts mehr«, sagte er. »Aber selbstverständlich werden wir der Sache nachgehen.«

»Selbstverständlich«, sagte der Alte mit mildem Spott.

»Ich werde mich mit der Wache in Verbindung setzen.« Der Bobby zog das kleine Funkgerät aus der Brusttasche, das er seit kurzer Zeit wie alle seine Kollegen trug, egal, ob sie ihren Dienst zu Fuß, per Motorrad oder hoch zu Ross versahen.

Mit schräggelegtem Kopf hörte der Veteran der ein wenig umständlich formulierten Meldung zu. Er nickte mehrmals bestätigend.

»So«, sagte der Bobby, als er fertig war und das Funkgerät in die Brusttasche zurücksteckte. »Gleich kommt jemand, der mit solchen Schlössern umzugehen weiß. Dann werden wir sehen, ob’s wirklich aus der Brücke stinkt.«

 

*

 

Da es Sonntag war, blieb der direkte Zugang von der Underground-Station Westminster zu den Houses of Parlaments, den an Arbeitstagen – vorbei an den beiden Polizisten – Hunderte von Parlaments-Bediensteten benutzten, mit seinem festen Gitter verschlossen.

Es war ein neugieriges Touristen-Pärchen aus Deutschland, das, statt rechts abzubiegen und die Treppe zur Bridge Street hinaufzugehen, vor dem Gitter stehenblieb. Sie stellten Vermutungen über den Zweck des Durchgangs an, der jetzt versperrt war.

»Für die Abgeordneten«, vermutete der Mann. »Da hinten ist doch das Parlamentsgebäude.«

»Glaubst du, die Abgeordneten kommen mit der U-Bahn?«, fragte die Frau.

»Weiß ich’s? – Was liegt denn da?«

»Wo?«

»Dort, an der linken Seite!«

»Ich seh’ nichts.«

»Sieht aus wie ein Mensch.«

»Ach, da! Nein, das ist kein Mensch, das ist ein Sack.«

»Sack?«, fragte der Mann zweifelnd. »Wenn du mich fragst, ist das ein Penner, der da seinen Rausch ausschläft.«

Die Frau suchte sich eine Position, von der aus sie besser sehen konnte.

»Du hast tatsächlich recht«, sagte sie. »Es ist ein Mann, der da liegt. Aber ein Penner? Wie kommt ein Penner da rein, kannst du mir das sagen?«

Die Stimme des Mannes klang plötzlich atemlos: »Mensch, weißt du, was das ist? Eine Leiche ist das! Ein Toter!«

»Nein!«

»Doch!«

Sie starrten sich an, und die Frau begriff, dass ihr Mann recht hatte. Es gab keine andere Erklärung. Ihre Lippen zitterten. Sie fühlte sich plötzlich sehr schwach und fröstelte.

»Was machen wir denn, Rudi?«

»Wir müssen einen Polizisten suchen.«

»Meinst du wirklich …?«

»Klar! Komm mit, wir gehen da hinauf. Oben vor dem Parlamentsgebäude finden wir bestimmt einen Bobby.«

»Es wird Schwierigkeiten geben. Wir bekommen sicher Ärger, Rudi.«

»Vielleicht«, stimmte er zu. »Aber das darf uns nicht beeinflussen.«

Er wirkte sehr entschieden und energisch. Seine Frau bewunderte ihn ein bisschen. Sie folgte ihm die Treppe hinauf, und oben sahen sie sich nach einem Bobby um.

 

*

 

Als der Wagen auf der Chelsea Bridge gehalten hatte und mehrere Beamte ausgestiegen waren, hatten sich prompt einige Neugierige angesammelt, die an diesem Sonntagvormittag auf dem Weg zum Battersea Park waren, um das schöne Wetter dort in den großzügigen Anlagen zu genießen.

Von zwei Bobbies wurden sie immer wieder höflich aufgefordert, weiterzugehen. Es nutzte nicht viel. Ging wirklich der eine oder andere, fand sich rasch Ersatz. Die Bobbies beschränkten sich darauf, den Bezirk unmittelbar am Brückenpfeiler freizuhalten.

Der junge Bobby, der die Wache über Funk verständigt hatte und der Veteran in seiner scharlachroten Uniform nach einem Schnitt aus dem 18. Jahrhundert sprachen mit dem ranghöchsten der Beamten. Es war ein ruhiger Mann mit faltenreichem Gesicht und unendlich geduldigem Blick.

»Ich rieche es jetzt auch«, sagte er. »Der Wind kommt von Osten. Black, wie weit sind Sie?«

»Noch zehn Sekunden, Sir«, sagte der Beamte, der sich an dem Yaleschloss zu schaffen machte, mit dem die eiserne Tür im Brückenpfeiler gesichert war. »Es wird Sie interessieren, dass das Schloss bereits einmal auf die gleiche Weise geöffnet worden ist, Sir. Eindeutige Spuren.«

Der Oberbeamte nickte. Was Black da sagte, überraschte ihn nicht. Und auch das, was man gleich entdecken würde, bedeutete keine Überraschung für ihn. Trotzdem biss er für Augenblicke die Zähne aufeinander und atmete anschließend tief durch. Bestimmt stand ihnen kein angenehmer Anblick bevor.

»Die Tür ist offen, Sir«, sagte Black.

Im gleichen Moment schwang sie mit leichtem Knarren zur Seite. Black warf einen Blick ins Innere des Brückenpfeilers. Sein Gesicht verfärbte sich grünlich. Er hielt sich eine Hand schützend vors Gesicht und glitt zurück auf den Gehsteig. Möglichst unauffällig ging er mit weichen Knien zum Geländer und beugte sich darüber.

Viel fehlte wirklich nicht, dass er sich übergab.

Der Mann mit dem faltenreichen Gesicht und dem unendlich geduldigen Blick schwang sich auf den vorstehenden untersten Absatz des Pfeilers und sah durch die Tür. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Seiner Schätzung nach lag die Leiche etwa fünf bis sechs Tage da drin, vorausgesetzt, er berechnete die Wirkung der Hitze, die während der vergangenen Tage geherrscht und das Innere der stählernen Brückenpfeiler aufgeheizt hatte, einigermaßen richtig.

Mit knappen, ruhigen Worten gab er seine Anweisungen. Er war froh, dass er seinen Leuten die ekelhafteste Arbeit ersparen konnte. Das hier war Sache der Mordkommission, die er über Funk verständigte. Er und seine Männer konnten sich darauf beschränken, die Fundstelle der Leiche zu sichern.

»Ich habe es gerochen!«, sagte der Alte in der scharlachroten Uniform triumphierend. »Ich habe gleich gewusst, dass da was nicht stimmt. So hat es hier nämlich vorher noch nie gestunken.«

 

*

 

Es dauerte einige Zeit, bis ein Beamter zur Stelle war, der so gut Deutsch sprach, dass er die Entdecker der Leiche im Durchgang von Westminster-Station zum Parlamentsgebäude zu Protokoll vernehmen konnte. Denn deren Englisch war mehr als mäßig.

Im Übrigen handelte es sich bei der Anfertigung des Protokolls auch nur um eine Formsache. Unnützer Schreibkram, aber leider unvermeidlich. Das deutsche Ehepaar konnte nichts weiter aussagen, als dass es durch das Gitter geschaut hatte. Dabei war ihm aufgefallen, dass da etwas lag. Sie hatten gleich auf einen Toten getippt, wie sie übereinstimmend aussagten. Und waren auch sofort auf die Idee gekommen, den nächsten Polizisten zu verständigen.

»Wir werden doch keinen Ärger bekommen?«, fragte die Frau ängstlich. »Wissen Sie, es ist nämlich unser Urlaub, und wir wollten übermorgen nach Norwich weiterfahren. Wir haben dort ein Motorboot gemietet und …«

»Sie bekommen bestimmt keinen Ärger, Madam«, sagte der Bobby höflich. »Geben Sie mir bitte noch Ihre Adressen? Hier in London, in Norwich und auch Ihre Heimatanschrift. Eine Formsache, Sie verstehen? Wir werden Sie sicher nicht mehr belästigen müssen.«

»Dort kommt Walker«, raunte ihm ein Kollege zu, der eben vorbeiging.

Superintendent Walker hatte eigentlich gar keinen Dienst. Er war nur in seinem Büro aufgekreuzt, um seine am Vortag vergessene Pfeifentasche mitzunehmen. Zufällig hatte er dabei von den beiden Leichenfunden gehört. Da sie in seinen Zuständigkeitsbereich fielen und Westminster ohnehin auf seinem Weg lag – er war in der Nähe von Trafalgar Square verabredet und wollte an der Themse entlanggehen -, hatte er beschlossen, wenigstens einen der Fundorte kurz in Augenschein zu nehmen.

Er nickte den Beamten zu und wandte sich an den, der die Ermittlungen leitete.

»Nun?«, fragte er knapp und mit aller Unhöflichkeit, deren er fähig war. Sie galt nicht seinem Mitarbeiter, sondern der Tatsache, dass man Scotland Yard ausgerechnet an einem so schönen Sonntag mit zwei Leichen mitten in der Stadt belästigte …

»Völlig undurchsichtig, Sir.«

»Die Toten?«

»Diesen hier konnten wir noch nicht identifizieren. Und bei dem anderen dürfte es sowieso schwierig werden. Er ist schon ziemlich …«

»Ich habe davon gehört«, unterbrach Superintendent Walker ihn. »Sie sind nachmittags im Yard?«

»Jawohl, Sir.«

»Ich rufe später an.«