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Er ist ganz ruhig. Er zittert nicht. Er kann auf der Holzpritsche sitzen und noch einmal über alles nachdenken, ohne in Tränen oder dumpfes Angstgebrüll auszubrechen. Strafsoldat Herbert Klenke weiß, dass er heute erschossen wird – in einer Stunde, vielleicht in zwei oder drei. Die Marschtritte des Exekutionskommandos können aber auch schon in der nächsten Minute im Korridor des Gefängnisses ertönen.

Die Uniform ist abgegeben worden. Behalten durfte er nur den Drillich und die Turnschuhe, alte, morsche Klamotten, die gerade noch gut genug sind, um mit ihm in der Grube zu vermodern.

Klenke hatte gewusst, dass er an den Erschießungspfahl kommen würde, wenn man ihn erwischte. Er hätte seine Flucht anders durchführen müssen. Es war ein Fehler, zu Hilde zu gehen und sich mit ihr in einem Zweibettzimmer eines Straßburger Hotels einzuschließen. Sie waren auch pünktlich gekommen, die Kettenhunde, mit ärgerlichen Mienen und entsicherten Pistolen.

Hilde wollte sich dem Feldwebel vor die Füße werfen, aber der Strafsoldat Klenke hat das nicht geduldet, hat sie angeschrien und ihr dann einen Kuss auf den bebenden, tränennassen Mund gegeben.

»Lass man«, hat er zu ihr gesagt, »weine nicht. Geh heim und vergiss mich.«

Angst? Strafsoldat Herbert Klenke, wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt, schüttelt den Kopf. Nee, das ist vorbei, das mit der Angst. Angst hat er nur gehabt, als sie ihn mit Fußtritten in die Zelle geworfen haben, die Wachposten gekommen sind, ihn angespuckt und geschrien haben: »Du Schwein! Du Verräter! Du Sauhund!« Nur der Geistliche hat »mein lieber Sohn« gesagt.

Er schaut zum vergitterten Fenster empor, hinter dem der Tag graut. Der letzte Tag eines verspielten Lebens. Wie sachlich der Gerichtsoffizier gewesen ist! Hat sich alles angehört, ein paarmal genickt, sich Notizen gemacht und sich mit dem Finger an der von Mensuren zerhackten Wange gekratzt. Dann das Urteil, monoton gesprochen, mechanisch, oft geübt: wegen Fahnenflucht zum Tode durch Erschießen verurteilt …

Klenke hat nur zustimmend genickt. Strafsoldaten sind zum Sterben da. Zu Tausenden, zu Abertausenden! Wie damals, am 7. Oktober 1943, als der alte Minensucher die tausend Mann des IX. Ersatzbataillons 999 hätte von Piräus nach Samos fahren sollen. Es sind nur wenige mit dem Leben davongekommen. Die britischen U-Boote haben ganze Arbeit geleistet. Am 9. Oktober des gleichen Jahres sind noch einmal 450 Strafsoldaten zu den Fischen geschickt worden, und am 11. Oktober des nächsten Jahres sind es dann 800 gewesen, die »etwas gutzumachen« hatten.

Strafsoldat Herbert Klenke hat keine Angst vor dem Tod. Sie ist gestorben, als er sechs Stunden lang im salzigen Wasser geschwommen ist und endlich den Strand erreicht hat, um weiterleben zu dürfen. Wieder in die Heimat verschickt, wieder eingekleidet, wieder in Marsch gesetzt, um den Tod noch einmal herauszufordern, hat Strafsoldat Herbert Klenke beschlossen, nicht mehr mitzumachen und abzuhauen. In Straßburg, in dem zweitrangigen Hotel, nachts um ein Uhr, ist seine militärische Laufbahn endgültig zu Ende gegangen.

Jetzt wartet er. Sie müssen ja bald kommen, um mit einer Salve die Erinnerung an Berlin, KZ Buchenwald und aussichtsloses Heldentum wegzuknallen.

Aber Leutnant Franz Hartwig ist noch nicht fertig. Er schaut in den Spiegel und stellt fest, dass er wieder einmal versoffen aussieht. Tatsächlich hat er die ganze Nacht durchgesoffen, drüben, bei der Uschi in ihrer gemütlichen Bude.

Wo das Ding bloß immer den französischen Kognak her hat, fragt sich der einarmige Leutnant, als er den Wasserhahn aufdreht und den brummenden Schädel ins Becken taucht.

Uschi Brandt, die Stabshelferin, sitzt unterdessen schon längst vor dem Vermittlungsschrank und verbindet mit einem unerschütterlich freundlichen »’n Augenblickchen, bitte …«, die Teilnehmer.

Leutnant Hartwig rasiert sich sehr geschickt mit der Rechten, zieht Grimassen und schielt dann auf die abgelegte Armbanduhr. Um neun Uhr ist wieder eine Exekution. Er muss sich beeilen. Der arme Kerl, der drüben im Stabsgebäude wartet, soll bald erlöst sein.

Wie heißt er doch gleich, der heute dran ist? … Klinke oder so ähnlich. So ein Dummkopf! Haut ab und lässt sich erwischen … Immer dasselbe Lied: die Frauen. Nur wegen des Frauenzimmers ist der … der Dingsda erwischt worden. Das hat er nun davon.

Dar einarmige Leutnant schüttelt den schmalen Schädel, auf dem das Haar schütter wird. Hartwig kann nicht behaupten, dass ihm das Exekutionskommando Spaß macht. Aber Befehl ist Befehl. Ein Leutnant, der bei Smolensk den Arm verloren hat, ist gerade noch gut genug, um den Degen zu heben und »Feuer« zu kommandieren.

Bei der ersten Exekution hat Hartwig für einen Moment die Augen zugemacht. Bei der nächsten musste er sich gewaltsam zwingen, hinzuschauen, wie der Mann am Pfahl zusammenzuckte und den Kopf auf die Brust sinken ließ. Die nächsten Hinrichtungen konnte Leutnant Hartwig nur noch in alkoholisiertem Zustand ertragen. Heute lässt es ihn kalt, wenn einer zum Pfahl wankt. Nur wenn einer zu brüllen beginnt, zu fluchen, zu flehen, dann wird Leutnant Hartwig unruhig und gibt die Kommandos ganz schnell. Diese verdammten Hinrichtungen sind daran schuld, dass er säuft. Jeder Tote bringt ihn dem Delirium tremens näher.

»Lass dich doch versetzen«, hat Uschi gestern Nacht zu ihm gesagt. »Du machst dich hier ja fertig.«

Er lallte in ihren Armen etwas von Mistkrieg, Sauleben, und dann hat er sich aufgerichtet und das Mädchen angeschrien:

»Willst mich wohl loswerden, was?«

»Nein, ich will, dass du nicht so viel trinkst!«

»Ich saufe weiter!«, hatte er geknirscht und dann ein ganzes Mundspülglas voll Kognak ausgetrunken.

Fünf vor neun. Leutnant Hartwig legt die Armprothese an, zwängt sich etwas umständlich in den Uniformrock und schnallt den Degen um.

Draußen stehen die sechs Mann. Ihre Gesichter hängen unter den Stahlhelmen wie steinerne Masken. Koppel und Patronentaschen sind blank gewienert. Die Gewehrläufe funkeln kalt im blauen Morgenlicht.

»Stillgestanden! Rührt euch! Augen geradeeee aus! Im Gleichschritt – marsch!«

Die Kommissstiefel trommeln. Tram, tram, tram, tram … Herbert Klenke hört sie kommen und erhebt sich. Tram, tram, tram, tram …

Er ist blass. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Ein Zittern schleicht sich in die Knie. Die Angst wächst und wächst, das Leben ist mit einem Male begehrenswert, gleich, unter welchen Umständen es gelebt werden soll.

Schlüssel klirren. Die Tür geht auf. Der Pfarrer kommt zuerst herein. Hinter ihm steht Leutnant Hartwig, dahinter die sechs Henkersknechte mit den Stahlhelmen.

»Mein Sohn …«, murmelt der Pfarrer.

Klenke winkt ab. Er hat Tausende verrecken sehen. Er hat ihre Hilfeschreie gehört, ihre verrenkten Arme, ihre kralligen Finger gesehen. Man stirbt nur einmal.

»Geht’s los, endlich?«, fragt er.

Er wird nicht plärren, denkt Leutnant Hartwig. Endlich mal einer, der nicht plärrt und lauter unsinniges Zeug lallt.

Tram, tram, tram, tram.

Die schwarzhaarige Stabshelferin Uschi Brandt aus Stuttgart steht im Waschraum und zieht die Lippen sorgfältig nach. Draußen auf der Lagerstraße ertönen Marschtritte. Uschi stößt das schmale Toilettenfenster auf und schaut hinaus. Leutnant Hartwig marschiert vorbei, zusammen mit seinen sechs Schergen, in der Mitte ein Mensch im Drillichanzug.

Der Erschießungsplatz liegt hinter der Baracke 6, dahinter der Wall, über dem der schwäbische Forst mit dunklen Wipfeln trauert. Der Pfahl ist neu.

Klenkes Lächeln ist leer, als man ihn festbindet.

»Nicht die Augen zu«, sagt er mit brüchiger Stimme zu Hartwig. »Ich will euch sehen, wenn ihr schießt. Und einmal wirst du dir selbst die Kugel durch den Kopf jagen, Leutnant – einmal bist auch du dran.«

Hartwig wendet sich ab, zieht den Degen, hebt ihn. Dann kracht die Salve.

Strafsoldat Herbert Klenke hängt schlaff in den Stricken, die ihn am Pfahl festhalten.

Über dem schwäbischen Forst kreist ein Schwarm aufgescheuchter Krähen und setzt sich irgendwo nieder. Jedesmal, wenn auf dem Schießplatz eine Salve kracht, schrecken die schwarzen Vögel auf. Sie werden sich ebenso wenig an das Krachen gewöhnen, wie sich Leutnant Hartwig daran gewöhnen wird, alle drei oder vier Tage einen Delinquenten zum Tode zu befördern.

Ohne Ende scheint die Fahrt. Zwei Tage schon poltert der Transportzug ins Ungewisse. Im grauen Dunkel der plombierten Viehwaggons kauern die Elendsgestalten auf dem blanken Boden. Je vierzig in einem Waggon. Die Luft ist verpestet. Die Gucklöcher sind mit Stacheldraht verspannt. Ein rollendes Gefängnis.

Taumelnd steht eine hohlwangige, zebragestreifte Gestalt an der Schiebetür und verrichtet ihre Notdurft. In einem Schweinestall kann es nicht schlimmer aussehen und grässlicher stinken.

In München-Stadelheim ist der letzte Schub Zuchthäusler übernommen worden. Ein paar Brote wurden hineingeworfen. Tür zu. Weiter!

Der Sammeltransport entehrter, geschundener, geprügelter, halb verhungerter Menschen rollt die Strecke Tuttlingen-Sigmaringen entlang. Der Zug pfeift. Es klingt wie der Aufschrei der Verzweiflung.

Nicht weniger als dreihundert Jahre Zuchthaus sind in diesen Viehwaggons zusammengepfercht. Am Schluss rollt der Personenwagen mit den Bewachern. Sie dreschen einen Skat, lachen, erzählen Witze, während ein paar Wagen weiter das Elend seufzt und stöhnt.

»Wer hier jammert, hat keine Überzeugung«, sagt der katholische Pfarrer, den man eines Sonntags aus der Sakristei geholt und ins KZ gesteckt hat.

Der Student aus Berlin neben ihm erwacht aus seiner Meditation: »Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss.«

Denn man muss seine Gedanken auf etwas konzentrieren, man muss sich an etwas klammem, um nicht loszubrüllen und mit den Fäusten gegen die wackelnden Wände dieses scheußlichen Gefängnisses zu hämmern.

Die Eisenräder rollen. Die Kälte kriecht an den Beinen hoch. Sie umkrallt das Herz. Die Männer reden, um zu vergessen, sagen etwas, erzählen.

Der Dirnenmörder Emil Schlegel hat wieder einmal seinen festen Zuhörerkreis. Er wühlt im Schmutz der Vergangenheit, malt in Worten ein buntes Bild seiner Schandtaten.

»Also, wie jesacht: der Justav war ooch dabei. Zwee Straßen weita von un’sam Lokal hat die Ziska jewohnt. Die war frieha Puffmutta und hatte sich nu ’n janz hübschen Zaster uff de Seite jeräumt, von ihren Damens aus’m horizontalen Jewerbe, vasteht sich.«

Lüstern funkeln die Augen der Zuhörer. Die Kälte ist vergessen, der Hunger, die Qual dieser nicht enden wollenden Fahrt.

Im finsteren Winkel des Waggons, neben stinkenden Kothaufen, hockt Alfons Schnittgen, der Bibelforscher, und murmelt vor sich hin: »O mein Gott, du strafst uns, weil du uns liebst …«

Brüllendes Gelächter bricht aus. Jemand hat einen Witz erzählt, über den man sich totlachen will.

Helmut Kalmeder, Student der Rechtswissenschaft, wegen defätistischer Gesinnung von der Gestapo verhört, verprügelt und dann zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, weiß, dass es abwärtsgeht. Die große Katastrophe ist nicht mehr fern. Des Führers Tambour hat die Trommel auf den Zuchthaus- und KZ-Höfen gerührt. Die Entehrten, Entrechteten sind plötzlich gut genug, um unter der Fahne versammelt und in die klaffenden Lücken der Fronten geworfen zu werden.

In Paragraph 1, I des Wehrgesetzes heißt es: »Wehrdienst ist Ehrendienst am deutschen Volke.« Und Paragraph 13, I a verkündet: »Wehrunwürdig und damit ausgeschlossen von der Erfüllung der Wehrpflicht ist, wer mit Zuchthaus bestraft ist.«

Die Herren im OKW haben das berichtigt: Es gibt auch eine »bedingte« Wehrwürdigkeit. Der Krieg braucht Opfer. Die Front schreit nach Nachschub. Also auf mit den Zuchthaustoren! Raus mit den Verbrechern! Lasst auch sie bluten, lasst sie buddeln, schießen und verrecken! Wer sich bewährt, kann wieder wehrwürdig werden! Der Führer ist großmütig! Macht etwas gut, ihr Verbrecher, Verschwörer, Miesmacher, Hoch- und Landesverräter!

Der Student Helmut Kalmeder kichert in seinen Mantelkragen hinein. »Pfäfflein, die Not ist da, der Teufel frisst Strafsoldaten!«

125 Schicksale taumeln in der ratternden Dunkelheit durcheinander. Der Zug poltert durch das regengraue Donautal. Man schreibt irgendeinen Tag im November des Kriegsjahres 1943. Zäh hängt der Regennebel über den Höhen der Schwäbischen Alb. Der Wind ist kalt und treibt Sprühregen über das schmutzige Bahnhofsgelände der Station Tiergarten im Donautal.

Neben der Verladerampe wartet seit über zwei Stunden ein Lkw-Konvoi. Zum Kuckuck, wann kommt denn endlich dieser Transportzug?

Der Regen klatscht an die Wagenscheiben. Die Fahrer hocken missvergnügt hinter dem Steuer, schalten ab und zu den Scheibenwischer ein und blinzeln in den tristen Tag.

Endlich! Der Zug kommt und bringt Nachschub für den Heuberg! Zischend und dampfend fährt die Lok ein, rangiert umständlich auf das Nebengleis und schiebt die plombierten Viehwaggons an die Rampe. Aus dem Personenwagen klettern Justizbeamte. Drei Bluthunde hecheln gierig ins Freie und zerren an den Leinen.

»Heil Hitler, Kamerad«, grüßt ein Justizbeamter den Feldwebel.

»Na, wie viele bringt ihr uns heute?«

»125 sind es diesmal.«

»Was Besonderes dabei?«

»Allerhand!«

Der Feldwebel grinst. »Ihr macht uns Spaß. Also, laden wir das Kroppzeug mal aus.«

Aus dem Lkw steigen Soldaten vom Stammpersonal des Heubergs, mit Maschinenpistolen bewaffnet, gähnend, missgestimmt. Keiner freut sich über das, was jetzt mit barschen Rufen aus den Waggons getrieben wird.

»Macht fix, ihr Schweine! Los, los! Dalli, dalli!«

Kolbenstöße helfen nach, Flüche, hohles Geklapper von Holzpantinen.

Der Gefreite Hirtz von der 3. Kompanie schüttelt den Kopf. »Junge, Junge, das is vielleicht ’n Misthaufen. Den sollte man doch gleich zusammenschießen und in die Kalkgrube schmeißen.«

Es ist ein erschreckender Trauerzug, der zwischen Zug und Wagenkolonne so etwas Ähnliches wie Aufstellung nimmt, ein Mummenschanz von klapprigen Gestalten. Die Viehwagen speien Zuchthäusler und KZler aus: Gewohnheitsverbrecher in zebragestreifter Zuchthausuniform, KZ-Häftlinge in schlotternden Mänteln, Diebe, Mörder, Betrüger, verwahrloste Jugendliche mit langen Mähnen und bleichen Hungergesichtern. Da taumeln stoppelbärtige Zivilisten in Holzpantinen, Schwarzhörer und Schleichhändler. Sittenstrolche stehen neben Salonkommunisten oder Zeugen Jehovas, »Rassenschänder« neben überzeugten politischen Gegnern des Hitlerreiches.

Der Regen fällt nieder. Der Himmel weint über das viele Elend, das sich auf der Verladerampe der Bahnstation Tiergarten zusammendrängt und mit Kolbenstößen munter gemacht wird. Die Justizbeamten sind ungeduldig, sie wollen sich ihre brüchige Last so rasch wie möglich quittieren lassen.

Was soll dieser Mummenschanz? Was hat man mit ihnen vor? Die meisten haben keine Ahnung, stehen stumpfsinnig und ergeben im Regen und frieren und hungern.

Droben, im feuchten Grau des Novembertages versteckt, wartet der Heuberg, ein Truppenübungsplatz, berüchtigter Schleifstein aus den Jahren 1914 bis 1918. Der schluckt diese Elendsmassen, der frisst sie, wie sie kommen.

Zuchthäusler und KZler vereinigt die seltene Nummer 999. Der geistige Vater dieser Nummer war ein Spaßvogel und erklärte seinen Vorschlag damit, dass man in London dreimal die Nummer neun wählen muss, um Scotland Yard an die Strippe zu bekommen, jene Polizeidienststelle, die für Mord und Totschlag zuständig ist.

Dreimal die Neun heißt auf dem Heuberg »Ersatzbataillon 999«. Hier will man der knieweichen Zuchthaus- und KZ-Fracht eine Chance geben. Denn der Kanonendonner ist bedenklich nähergerückt. Das einst so glänzende Fanal am deutschen Kriegshimmel verdunkelt sich von Tag zu Tag.

Nicht weniger als 25 000 Mann versammeln sich unter der taktischen Nummer 999. Die, die vorher kamen, sind längst nicht mehr oder existieren nur noch als Einzelexemplare. Das Gros ist in Afrika geblieben, vor Tobruk zusammengeschossen worden, in der Wüste dem Hitzschlag erlegen, im afrikanischen Gefangenenlager »Pont du Fass« von fanatischen Nazis aus regulären Einheiten erschlagen, als Minenräumer in einem Minenfeld zerfetzt worden. Oder sie sind desertiert, irgendwo in der Wüste verschmachtet, zu Tausenden im Mittelmeer abgesoffen.

»In Gruppen zu je dreißig Mann antreten!«, brüllt der Transportführer vom Heuberg und fuchtelt mit der Signalkelle herum.

Die Bluthunde fletschen die Zähne. Der Gestank, den diese Elendsgestaltan verbreiten, reizt die Sinne. Die Tiere hassen diese Menschen in Lumpen. Sie sind auf sie dressiert. Wehe dem, der es wagen würde, auszubrechen, um im Nebel zu verschwinden.

Keiner bricht aus.

Die Rampen der Lkw knallen herunter. »Hopp, ihr Ganoven! Rauf mit euch! Beeilung, Beeilung!«

Feldwebel Helm winkt mit der Kelle. »Abfahren!«

Die Lastwagen rumpeln los. Aus der dampfenden Güterzuglok schauen zwei rußige Gesichter.

»Arme Schweine«, brummt der Lokführer.

»Untermenschen«, berichtigt der Heizer und spuckt dem letzten Lastwagen nach.

Stetten heißt der nächste Ort. Er liegt im Tal, am Fuß das Heubergs. Der Volksmund erzählt, dass an einem Pfingstsonntag anno Schnupftabak auf dem Viehmarkt eine Ziege erfroren und umgefallen sein soll. Die Heubergsoldaten haben den Ort Stetten am kalten Markt in »Stetten am kalten Arsch« umgetauft. Stettens Bürger betrachten den nahen Heuberg als ein Übel, für das sie nichts können. Andere meinen ganz offenkundig, dass er der Schandfleck in der Landschaft sei.

Der Bürgermeister seufzt heimlich unter der ihm auferlegten Last. Er ist verantwortlich dafür, dass kein Ortsbewohner mit einem Strafsoldaten Kontakt aufnimmt. Mitleid ist verboten. Die Standortkommandantur vom Heuberg greift scharf durch, wenn es herauskommt, dass ein mitleidiger Bauer einem Strafsoldaten einen Schnaps geschenkt oder ihm gar irgendeinen barmherzigen Dienst erwiesen hat. Nur das Stammpersonal genießt den Vorzug, am Wirtshaustisch sitzen oder mit einem Mädle flanieren zu dürfen.

Der zusammengepferchte Menschenhaufen schaut stumpfsinnig auf das dampfende Land, und dem Studenten Helmut Kalmeder ist es, als wehe von den abgeernteten Feldern und aus dem regennassen Forst ein Hauch von Freiheit herüber.

»Im Sommer muss es hier schön sein«, sagt Pfarrer Kranz.

Der Student nickt nur. Gefängnis bleibt Gefängnis, auch wenn die Sonne in die Enge scheint.

Die Ortschaft Stetten taucht auf.

»Ein Lied!«, ruft der Posten am hinteren Wagenende.

»Ein Lied …«, murmelte der hin und her schaukelnde Menschenhaufen. »Westerwald … zwo, drei, vier …«

Sie singen mit kraftlosen Lungen in das Brummen der Motoren hinein. Sie singen mit leeren Bäuchen und zitternden Gliedern. Die Bürger von Stetten schauen aus den Fenstern oder stehen vor den Haustüren.

»Ooooh du schöööner We-e-e-sterwald …«

»Lauter, ihr Drecksäcke!«, brüllt der Posten und fuchtelt mit der MP herum.

»… scheint tief ins Herz hinein«, singt die gequälte Last auf den schwankenden Lkw und verschwindet im Nebel der Höhen.

Der Heuberg hat Nachschub bekommen. Im Leben der Sträflinge hat sich nichts geändert. Der Heuberg wird genauso trostlos sein wie jedes andere Straflager. Es wird wieder Stacheldraht geben, es werden Wachtürme da sein, von denen die Posten ohne Anruf schießen, wenn sich jemand dem dreimal verfluchten Drahtzaun nähert, der die Wehrunwürdigen von der großen Gemeinschaft trennt.

Ungefähr zur gleichen Zeit, als auf dem Heuberg vor der Schreibstubenbaracke der dritten Kompanie Hauptfeldwebel Wenzel Schimanek den Haufen mit Flüchen in Empfang nimmt, hat Herr Baurat Wendt in Berlin ganz andere Sorgen.

Das Schulhaus in Berlin-Zehlendorf darf gebaut werden, heißt es in einem eben eingetroffenen Schreiben des Rüstungsministers und Generalinspekteurs Albert Speer, und unterliegt keiner Beschränkung an Baustoffen und Arbeitskräften …

Der Herr mit dem graumelierten Haar hinter dem Schreibtisch erhebt sich und geht mit dem Schreiben ins Nebenzimmer. Inge Grotius blickt von ihrer Schreibmaschine auf.

»Die Baugenehmigung ist da«, erklärt Wendt. »Keine Beschränkung in Baustoffen.« Er legt ihr das Schreiben vor. »Ich weiß bloß nicht, woher wir die Arbeitskräfte nehmen sollen, Fräulein Inge. Wissen Sie einen Rat?«

Das langhaarige, blonde Fräulein mit den Nixenaugen seufzt: »Das heißt also, dass ich wieder einmal mit dem Parteigenossen Brinkmann vom Arbeitsamt verhandeln muss?«

Wendt legt seiner bildhübschen Sekretärin die Hand auf die Schulter. »Ich werde Sie darum bitten müssen, Inge. Ich weiß ja«, fügt er sanft und verständnisvoll hinzu, »dass es Ihnen nicht leichtfällt, mit diesem Nieselpriem zu sprechen, Inge. Aber bedenken Sie, dass sich dreihundert Schulkinder freuen würden, wenn sie ein neues Schulhaus bekämen.«

»Der Zweck soll die Mittel heiligen«, lächelt Wendts Sekretärin. Und nach einem zweiten Seufzer: »Na schön. Ich will es mal probieren.«

Alois Brinkmann ist der Ressortchef für Arbeitsbeschaffung. Inge weiß, dass sie bei dem schwindsüchtig aussehenden Parteigenossen einen Stein im Brett hat. Sie treffen sich gelegentlich am Wannsee. Brinkmann ist ehrenamtlicher Schriftführer des Segelklubs, und Inge entzückt den im Aktenstaub ergrauten Parteigenossen immer wieder mit ihrer attraktiven Figur und ihrem lächelnden Charme – einem Charme, dem sich auch Wendt nur schwer entziehen kann, und aus dem er immer wieder beruflichen Nutzen zieht.

»Brinkmännchen, ich brauche wieder etwas«, flötet Inge zehn Minuten später in den Hörer.

»Ich habe es geahnt«, stöhnt die Stimme am anderen Drahtende.

»Ausschachter, Brinkmännchen, so viele wie möglich. Also, was können Sie uns schicken?«

»Nichts!«

Inge runzelt die Stirn. »Machen Sie mich nicht brotlos, Brinkmännchen. Wir brauchen dringend Arbeitskräfte.«

»Ich habe nichts«, jammert der Parteigenosse Brinkmann.

»Dann zwingen Sie mich dazu, aus dem Jachtklub auszutreten und mich beim weiblichen Arbeitsdienst zu melden. Ich werde in drei Monaten eine dicke Tussi sein und mich nur noch an einsamen Strandwinkeln im Badeanzug blicken lassen dürfen.«

Pause! Brinkmann sitzt mit geschlossenen Augen an seinem Schreibtisch und träumt von warmen Sommertagen und einem Mädchen in weißem Segeldress.

»Sind Sie noch da, Brinkmännchen?«, fragt die helle Mädchenstimme in Wendts Vorzimmer.

»Ja, ja, Inge«, beeilt sich Brinkmann zu versichern.

»Also, wie schaut es aus damit?« Es klingt wie ein Ultimatum.

Brinkmann fährt sich mit der Hand über das schlaffe Beamtengesicht.

»Gut. Ich schicke Ihnen etwas zu. Morgen früh. Sie dürfen aber nicht erschrecken, Inge. Ich kann nur einen Schub Zuchthäusler freimachen. Wenn Sie nichts auf dem Grundstück haben, was die klauen könnten, können Sie es ja mal mit den Kerlen probieren.«

Inge Grotius nagt an der Unterlippe. Sie ist plötzlich sehr nachdenklich geworden. Sie bedankt sich zerstreut und legt auf.

Zuchthäusler! Das Wort schlägt jäh eine Brücke in eine schönere Vergangenheit. Ein Name taucht in ihrer Erinnerung auf: Helmut Kalmeder.

Inge Grotius zündet sich eine Zigarette an, schnippt gedankenvoll das Streichholz aus, stößt mit bebenden Nasenflügeln den Rauch aus, schaut auf die Schreibmaschinentasten nieder und schlägt gedankenverloren den Buchstaben H an. H wie Helmut.

Damals, vor vier Jahren … An einem verregneten Abend ist es gewesen. Helmut Kalmeder hat unter der Normaluhr im Park gewartet. Nass ist sein Gesicht gewesen, aber es hat gestrahlt, als sie gekommen ist.

»Entschuldige bitte«, hat sie gesagt, »ich habe mich um eine Viertelstunde verspätet.«

»Ich warte gern auf dich!« Mit diesen Worten hat er sie in die Arme gezogen und geflüstert: »Ich liebe dich, Inge …«

Sie sind durch den einsamen Park gegangen. Der Regen troff von den Bäumen. Die Bänke waren zu nass, um sich hinzusetzen. Helmut hat erzählt, während sie langsam den Kiesweg entlangspaziert sind, hat ihren Arm gehalten, ihre Hand gestreichelt.

»Komm mit zum Maxe«, hat er gesagt. »Ein paar Kommilitonen sind dort. Ich werde einen Vortrag über Russland halten.«

»Du wirst über Lenin, Marx und Engels sprechen?«, hat sie gefragt.

»Vielleicht«, hat er lächelnd erwidert. »Oder hörst du es nicht gern?«

»Nein.«

Da hat er sie geküsst, und unter diesem Kuss hätte sie beinahe ja gesagt.

Dann ist sie mit zu Maxe gegangen, in ein verqualmtes Kellerlokal. Helmuts Kollegen sind da gewesen, haben Bier getrunken und das Paar mit Hallo begrüßt …

Wendts Sekretärin vergisst, an der Zigarette zu ziehen, schaut zum Fenster hinaus, an das der Regen klopft. Wie lange ist es her, dass sie Helmut aus den Augen verloren hat? Wie lange doch? Drei, vier Jahre. Oder mehr? Damals nachts, in dem engen, verräucherten Lokal: Helmut hat auf dem Tisch gestanden und im Stil von »Seid umschlungen, Millionen« von einer utopischen Weltanschauung geschwärmt.

Sie haben viel getrunken an diesem Abend. Die jungen Männer sind immer lauter geworden. Einer ist aufgestanden und hat gerufen: »Wir verheiraten euch! Los, kniet nieder, fasst euch an den Händen und sprecht mir nach …«

Ein Unfug zu nächtlicher Stunde! Ein Frevel an etwas Heiligem! Eine Nacht voller Sünde. Am Morgen das Erwachen in einem leeren Bett. Helmut ist fort gewesen.

Sie hat erst eine Woche später erfahren, dass man ihn verhaftet hat, dass er einen SD-Mann niedergeschlagen hat und dass er mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft worden ist.

Und dann? Das blonde Mädchen vor der Schreibmaschine schließt die Augen, legt den Kopf in den Nacken und denkt nach.

Dann ist der andere gekommen, ein Offizier. Gleich in den ersten Kriegstagen ist er in Frankreich gefallen. Der nächste hat Bertram geheißen und ist Flieger gewesen. Auch er ist gestorben – gestorben wie die Erinnerung an jene verrückte Nacht in einer verräucherten Kaschemme.

Die Tür geht auf. Wendt kommt herein.

»Na, was ist? Kriegen wir Leute?«, fragt er.

»Ja. Brinkmann schickt uns Zuchthäusler. Wir können in Berlin-Zehlendorf anfangen.«

Wendt reibt sich die Hände. »Fein, fein! Großartig gemacht, Ingelein. Ich werde Sie für einen Orden vorschlagen.«

»Danke«, sagt sie gleichgültig und beginnt das Antwortschreiben an den Generalinspekteur zu tippen.

Am nächsten Morgen trifft der Schub Zuchthäusler ein. Man bringt sie in einem Lkw, bewacht von Justizbeamten.

Um zehn fährt Wendt mit Inge Grotius zur Baustelle hinaus. Es regnet in Strömen. Im Grau des Tages stehen zwölf gestreifte Gestalten und schauen mit stumpfen Mienen herüber.

Inge bleibt im Wagen sitzen. Um Gottes willen, denkt sie beklommen, sieht Helmut inzwischen auch so aus wie diese dort?

An diesem Vormittag erwacht in Inge Grotius der Wunsch, nachzuforschen, was aus jenem Mann geworden ist, mit dem sie einstmals in frevelhafter Ausgelassenheit verbunden war.

»Ich heiße Hauptfeldwebel Schimanek«, stellt er sich mit ausgeschriener Stimme vor. »Und jetzt werde ich euch etwas sagen: Für mich seid ihr alle Sauköpfe! Verstanden?«

»Jawohl«, murmelt der Haufen.

»Ab heute«, fährt Spieß Schimanek fort, »seid ihr bei der 3. Kompanie. Das Bataillon heißt 999. Unser taktisches Zeichen ist ein V mit einem Strich darunter. Das heißt für euch: Strich unter die Vergangenheit. Ist das jedem klar?«

»Jawohl!«

»Hier seid ihr alle gleich«, verkündet Schimanek weiter. Hinter ihm steht das Stammpersonal und nickt der Rangordnung nach. »Wir machen jeden zur Schnecke, der glaubt, hier seine Schweinereien weitermachen zu können. Eine bedingte Wehrwürdigkeit gibt es bei uns nicht. Das ist eine Floskel, die ihr euch gleich aus dem Kopf schlagen müsst. Soldbücher kriegt ihr erst, wenn ihr bewiesen habt, dass ihr Soldaten seid. Im Übrigen verweise ich auf den Aushang am schwarzen Brett. Dort steht alles, was ihr wissen müsst. Eure Ausbildung wird hart, aber gerecht sein! Ich bin dafür verantwortlich, dass …«

Ein kleiner Zwischenfall unterbricht seine Ausführungen. Im hintersten Glied der Sträflinge nieste jemand mit langgezogenem »Hatschiii«.

»Wer war das?«, brüllt Schimanek.

Eine zebragestreifte Gestalt tritt vor, eine ungeschlachte Figur mit dümmlichem Gesicht, abstehenden Ohren und hängenden Gorillaarmen, Xaver Bunser heißt der Mann. Er hat vor vier Jahren zwei Bauernhöfe angezündet, weil er als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr von Kornbach auf Brände gewartet hat, und es einfach nirgendwo hat brennen wollen. Da hat der Xaver selbst Feuer gelegt, ist als Erster an der Brandstätte gewesen und hat sich so fleißig am Löschen beteiligt, dass er eine Belobigung vom Feuerwehrhauptmann bekommen hat. Hernach, im Wirtshaus, als man angefangen hat, den Brand in der Kehle zu löschen, hat der Xaver nach der zwölften Halben angefangen, von seiner Brandstiftung zu erzählen. Man hat ihn ordentlich verdroschen, und vom Gericht ist er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.

Xaver Bunser ist ein Klotz von einem Kerl, und wenn er sein asymmetrisches Grinsen aufsetzt, bringt es kein noch so grober Vollzugsbeamter fertig, ihm den Knüppel überzuziehen.

»Du Saukopp!«, brüllt Schimanek den Brandstifter aus Niederbayern an. »Willst du mich verarschen?«

»Na, na«, wehrt der Xaver kopfschüttelnd ab, »’s war halt so saukalt im Waggon, Herr Major.«

Das Stammpersonal feixt. Spieß Schimanek schielt den Kerl misstrauisch an. Da explodiert ein zweiter Nieser. Schimanek weicht erschrocken zurück. Die Sträflinge brechen in ein wieherndes Gelächter aus, und das macht Schimanek so böse, dass er rot anläuft.

»Aus!«, brüllt er.

Es wird still. Auch der Brandstifter wagt es nicht, sein entwaffnendes Grinsen aufzustecken.

Schimaneks Blick wird schmal. »Das war sehr lustig«, sagte er mit drohender Stimme. »Ich werde euch Zeit geben, euch zu beruhigen. Scher dich weg, du Saukopp!«, blökt er Bunser an.

Bunser rennt los, verliert einen Holzschuh, tritt in den Schmutz, hüpft so komisch herum, dass der Haufen noch einmal zu lachen beginnt.

»Aus!«, brüllt Schimanek zum zweiten Mal und dann: »Stillgestanden!«

Die Sträflinge zucken zusammen. Schimanek dreht sich zum Stammpersonal um: »Bitte wegtreten«.

Mit kurzen, ärgerlichen Schritten geht er in die Baracke zurück.