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Trix Niederhauser

Das Tantenerbe

Roman

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Trix Niederhauser, geboren 1969, wuchs in einem kleinen Dorf in der Schweiz auf. Sie ist gelernte Buchhändlerin, arbeitet heute als Geschäftsführerin einer Buchhandlung und lebt im Emmental. Ihre Leidenschaften gelten der Musik, dem Lesen und Schreiben. Nebst Lebens-, Liebes- und Beziehungsgeschichten denkt sie sich gerne Krimis aus. Ihr erster Roman »Halt mich fest« erschien 2006.

Für Regine

Das Leben meint es unwahrscheinlich gut mit mir!

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

1. Kapitel

Das alte Haus wirkte gespenstisch. Sein schmiedeeisernes Tor schwang im Wind leicht hin und her, das Quietschen klang nach alt und verbraucht. Nervös ging ich vor dem Zaun auf und ab. Ich wünschte mir nichts sehnlicher als eine Zigarette, an der ich mich hätte festhalten können, aber ich war Nichtraucherin, und da war auch weit und breit kein Zigarettenautomat, ganz zu schweigen von einer Person, die mir Feuer hätte geben können.

Eigentlich war fast überhaupt nichts. Erneut holte ich den Brief aus meiner Jackentasche.

»Auf Wunsch Ihrer verstorbenen Tante Gertrud Schwarzenbach soll Ihnen die Liegenschaft Am Landweg 11 vermacht werden.«

Als ich den Brief zum ersten Mal in den Händen gehalten hatte, war mir fast jedes Wort darin ein Rätsel gewesen. Tante Gertrud? Haus? In meinem Kopf tauchten Bilder einer Frau auf, die vor über dreißig Jahren unter unserem Weihnachtsbaum gesessen und mich aufgefordert hatte, ein Gedicht aufzusagen. Ich weigerte mich standhaft, sie schüttelte empört den Kopf.

»Kind, wir haben geübt«, versuchte es damals meine Mutter, »du kannst es! Mach schon!« Als ich trotzig zu Boden starrte und keinen Ton von mir gab, wurde ihre Stimme schärfer. »Das Weihnachtskind nimmt alle Geschenke wieder mit!«

Ein schrecklicher Moment im Leben einer Siebenjährigen, aber ich blieb standhaft. Geschenke gab es trotzdem. Tante Gertrud übergab mir ein weiches Päckchen. Wie war ich enttäuscht, als ich einen selbstgestrickten Pullover auspackte, der kratzte und in hässlichen grünen und roten Streifen daher kam!

Jetzt war ich alles andere als enttäuscht, eher erschlagen. Das Haus erschien mir riesig und der Garten eher wie ein Park. Ich getraute mich nicht, das Grundstück zu betreten. Mit beiden Händen klammerte ich mich an den Gitterzaun und betrachtete alles zwischen den Stäben hindurch, dann drehte ich mich um, ging zum Auto zurück und starrte überwältigt auf das gegenüberliegende Feld. In einiger Entfernung war ein Bauernhof auszumachen, links und rechts davon Weiden und Kühe, deren Glocken bis zu mir her läuteten, weiter hinten tauchten ein paar vereinzelte Häuser auf. Alles wirkte so friedlich. Ich begann mich zu entspannen und lehnte mich an meinen Wagen. Die Maisonne schien mir ins Gesicht.

Vielleicht fand ich hier ein neues Zuhause. Ich sehnte mich nach einem ruhigen Ort, wo ich ungestört arbeiten und Simone sich mit mir wohlfühlen konnte.

Ein Klappern riss mich aus meinen Träumen. Von links näherte sich eine Frau, mühsam in die Pedale tretend, auf einem alten Rad. Ich trat einen Schritt neben das Auto, damit sie mir nicht ausweichen musste, aber sie fuhr direkt auf mich zu, schwenkte kurz vorher ab, stemmte den linken Fuß fest auf den Boden und zog heftig an den Bremsen. »Die Dinger funktionieren nicht mehr richtig«, keuchte sie, während sie das Gefährt an den Zaun lehnte. »Ich bin … ich war … die Haushälterin Ihrer Tante«, sagte sie. Ihr Gesicht war von Falten überzogen, sie musste mindestens siebzig sein.

»Schwärzel mein Name, Sie sind bestimmt Frau Jung, die verschollene Nichte.« Sie blickte mich so streng an, dass ich ins Stottern geriet.

»Fffreut mmmich.« Ich schluckte leer. »Ja, die Nichte bin ich, allerdings nicht verschollen. Meine Tante und ich haben uns nur viele Jahre nicht gesehen.«

Sie nickte. »Ich weiß, dass es Unstimmigkeiten in Ihrer Familie gab.« Ihre Stimme wurde strenger. »Aber beim Erben sind die schnell vergessen.«

Wut kroch in mir hoch. Was wollte die Frau von mir? Meine Mutter hatte sich mit ihrer Schwester zerstritten, als ich ein Kind war, seither war der Name Gertrud nie mehr gefallen.

Einen Tag zuvor hatte Mama angerufen, um mir mitzuteilen, dass meine Tante gestorben sei.

»Welche Tante?«, hatte ich mich müde erkundigt.

»Habe ich dich geweckt?! Es ist zehn Uhr!«

Ich sah ihr empörtes Gesicht vor mir, die Wangen waren bestimmt gerötet. »Ich habe bis morgens um drei gearbeitet«, wehrte ich mich.

»Gearbeitet? Du warst an einem Konzert, oder?!«

»Das ist mein Job, ich schreibe darüber«, verbesserte ich sie. Für sie war es noch immer nicht mehr als ein Hobby, wenn ich für das Heavy Metal-Magazin Artikel verfasste. Sie hatte nie begriffen, dass ich damit Geld verdiente, über Musik oder auch über Bücher zu schreiben. Wenn ich Buchbesprechungen machte, fand sie es sogar schlimm, dass ich fürs Lesen Geld bekam.

»Tante Gertrud ist gestorben«, wiederholte sie hartnäckig und ebenso hartnäckig blieb diese Frau für mich ein gesichtsloses Wesen. »Erinnerst du dich nicht an meine ältere Schwester?« Ich hörte, wie sie leer schluckte. Mit brüchiger Stimme sprach sie weiter: »Wir haben uns zerstritten, als du acht warst.«

Ich erkundigte mich nach dem Grund für das Zerwürfnis.

»Eine Kleinigkeit, wir sind dauernd aneinander geraten. Nur weil sie zwölf Jahre älter war als ich, hatte sie nicht immer recht!« Sie legte eine Pause ein und seufzte, bevor sie fortfuhr. »Offenbar hat es keine Beerdigung gegeben. In meinem Brief steht, dass sie keine Abdankung wünschte. Sie war schon immer ein bisschen seltsam.«

Langsam stellten sich Erinnerungen ein und das Bild einer älteren Frau mit kurzen, grauen Haaren tauchte vor mir auf.

Am nächsten Tag erhielt ich den Brief, der mich zur Alleinerbin machte. Als Erstes rief ich meine Mutter an, die schnippisch reagierte, als sie vom Inhalt erfuhr.

»Hat sie dich eingesetzt! Du kannst es natürlich am besten brauchen. Gertrud wusste nicht, dass du eine Schwester hast, die kam erst nach unserem Streit zur Welt. Eine Geburtsanzeige konnte ich ihr nicht schicken, sie war ja unbekannt verzogen.« Ihre Stimme hatte einen bitteren Beigeschmack.

Ich erkundigte mich nach einem Ehemann und anderen Verwandten, die für das Erbe in Frage kamen.

»Nein, außer uns hatte sie niemanden. Aber sie zog es ja vor, ein Leben ohne uns zu führen.« Meine Mutter klang enttäuscht. »Ich weiß weder von was noch wo sie gelebt hat.«

Ich dachte an meine elf Jahre jüngere Schwester, die mir recht nahe stand.

»Claudia ist zum Glück nicht auf eine Erbschaft angewiesen«, fuhr Mama fort. »Klaus verdient genug. Du könntest das Haus verkaufen und das Geld gut anlegen. Denk daran, dass du im Alter nicht von der Rente deines Mannes leben kannst. Du willst ja keinen.« Jetzt klang sie vorwurfsvoll. Es fiel ihr schwer, mit meinem Lesbischsein umzugehen. Nicht weil sie es für abnormal hielt, sondern sie machte sich Sorgen um meine Zukunft. In ihren Augen brauchte ich jemanden, der im Alter für mich aufkommen und sorgen konnte.

»Vielleicht heirate ich Simone«, fügte ich provokativ hinzu, obwohl ich nicht im Entferntesten daran dachte. Es lief seit langem nicht optimal zwischen uns.

Mama seufzte. »Mach, was du willst. Übrigens«, lenkte sie ab, »Claudia und Klaus wollen heiraten.«

Ich sah Mutter vor mir, wie sie vor Freude strahlte. Meine Schwester beschritt den gleichen Weg wie sie. Seit neun Jahren stand Klaus an ihrer Seite, drei Jahre lebten sie nun schon zusammen. Mein zukünftiger Schwager arbeitete bei einer Bank und war im Begriff, aufzusteigen. Da konnte ich nicht mithalten …

Ein energisches Räuspern holte mich aus meinen Gedanken. Frau Schwärzel stand dicht vor mir und sah mich so empört an, als ob ich Gertrud umgebracht hätte.

»Ich war acht, als meine Tante sich mit Mutter verkrachte. Ich wusste nicht einmal, dass sie noch lebt! Ach, denken Sie, was Sie wollen. Ich warte auf die Anwältin.«

»Ich auch!«, verkündete die Haushälterin und stellte sich mit verschränkten Armen neben mich. Wir blickten beide über die Wiese zum Bauernhof. Frau Schwärzel machte eine verächtliche Kopfbewegung in die Richtung. »Eine Kommune!«, sie spuckte das Wort vor sich aus. »Bioprodukte«, fügte sie abwertend hinzu, als ob die Leute mit Gift handeln würden. »Und keiner weiß, wer mit wem. – Ich hoffe, dass wenigstens Sie wissen, was für ein Erbe Sie antreten. Machen Sie Ihrer Tante keine Schande!«

Mir wurde mulmig. Unruhig sah ich auf die Uhr und hoffte, dass mich die Anwältin bald erlösen würde. Kaum hatte ich den Wunsch zu Ende gedacht, näherte sich in rasanter Fahrt ein Sportwagen. Mit quietschenden Reifen hielt er knapp vor der Stossstange meines eigenen Gefährts. Die Tür schwang auf und eine elegant gekleidete Dame kämpfte sich aus dem tiefergelegten Auto. In der einen Hand hielt sie ein Handy, in der anderen eine große Tasche.

»Entschuldigen Sie die Verspätung, ich hatte noch ein dringendes Gespräch.« Schwungvoll warf sie die Tasche aufs Autodach, verstaute das Handy und reicht uns die Hand. »Frau Jung, ich bin Jutta Blum.« Nervös strich sie sich eine Locke aus der Stirn und wandte sich zu der Haushälterin um. »Und wer sind Sie?«

»Ich bin Rosa Schwärzel«, antwortete diese düster. »Habe viele Jahre hier gearbeitet.«

Die Anwältin öffnete ihre Tasche und nahm einen Haufen Blätter heraus. Sie warf einen kurzen Blick darauf und nickte. »Stimmt, Sie bekommen etwas von dem Vermögen.« Irritiert blickte sie auf die ältere Frau. »Woher wissen Sie, dass heute die Hausübergabe stattfindet? Und was wollen Sie hier?«

Frau Schwärzel stemmte ihre Hände in die Seiten und wuchs auf das Doppelte an. »Ihre Sekretärin hat es mir verraten. Ich will zusehen, dass alles geordnet abläuft. Ich betreue das Haus weiterhin, bis«, sie legte eine Verschnaufpause ein, »bis die junge Frau alles übernimmt. Falls sie das überhaupt will. Heute fehlt den Menschen ja die nötige Zeit für so ein wunderbares Heim.« Wichtig plusterte sie sich auf. »Da steckt viel Arbeit drin!«

Beruhigend legte ihr Frau Blum die Hand auf die Schulter. »Das wird schon, da bin ich sicher.« Sie wandte sich zu mir. »Also, sehen wir uns Ihr Erbe an.« Sie griff erneut in die Tasche und zog einen großen Schlüssel hervor. »Gehen wir.«

Wie selbstverständlich schloss sich Frau Schwärzel uns an. Wir traten durch das quietschende Tor, gingen über den mit Kies bedeckten Weg bis zum Haus und stiegen drei Stufen hoch bis zur großen Eingangstür. Während Frau Blum den Schlüssel ins Schloss schob und öffnete, begann mein Herz wild zu pochen. Gespannt betrat ich das Haus, das nun mir gehören sollte. Im Eingang roch es muffig und nach Staub. Drinnen war es stockdunkel. Zielsicher bewegte sich Frau Schwärzel durch die Diele und drückte auf einen Lichtschalter. Wir standen in einem großen Entree, von wo aus eine Treppe hinaufführte, links und rechts verschlossene Türen.

»Das Haus ist raffiniert gebaut«, verriet die Anwältin, »die Zimmer sind untereinander verbunden. Sie können also den oberen Stock vermieten, der übrigens dieselbe Einteilung hat wie das Erdgeschoss. Zuoberst gibt es einen wunderbaren Dachstock. Wenn Sie den vermieten wollen, müssten Sie aber etwas Geld investieren, der wurde nie zum Wohnen benützt.« Sie nahm mich beim Arm und führte mich durch die Wohnung. Frau Schwärzel eilte voraus, öffnete in jedem Zimmer die Fensterläden und ließ frische Luft herein.

Gleich neben dem Eingang öffnete sich eine Tür in ein großes Badezimmer mit einer riesigen, altmodischen Badewanne. Von dort aus führte eine Verbindungstür ins Büro, das man auch direkt vom Entree aus betreten konnte. Mitten im ehemaligen Arbeitsraum meiner Tante thronte ein gewaltiger Schreibtisch, ihm gegenüber standen zwei Sessel und an den Wänden zogen sich lauter Regale entlang, die vollgestopft waren mit Büchern. Mir blieb keine Zeit, mich staunend umzusehen, denn Frau Blum öffnete bereits die nächste Tür, die ins Wohnzimmer führte. Die Möbel steckten dort unter weißen Laken, es wirkte unheimlich – verlassen. Im darauffolgenden Zimmer befand sich nichts als Büchergestelle. Schuldbewusst schob sich Frau Schwärzel neben die Tür. »Ihre Tante wollte, dass ich ihr Bett bekomme. In den letzten Jahren brauchte sie eine höhenverstellbare Schlafstatt. Und da ich nicht mehr die Jüngste bin … Arthur fand auch, dass es mir zusteht, aber wenn …«

»Davon steht nichts in meinen Unterlagen«, unterbrach die Anwältin die redselige Haushälterin und sah mich unsicher an.

»Das ist in Ordnung«, beruhigte ich sie. »Ich bin sicher, dass es im Sinne meiner Tante ist.«

Erleichtert atmete Frau Blum auf und öffnete die letzte Tür. Wir standen in einer großen, gemütlichen Küche. Ein herrlicher Holztisch mit vier Stühlen lud zum Niederlassen ein. Durch die zweite Tür gelangten wir wieder zurück ins Entree. Die Wohnung war rund um die Treppe gebaut!

Die Zimmer im oberen Stock hatten in der Tat denselben Schnitt, waren aber leer. Leise trat Frau Schwärzel hinter mich. »Hier habe ich gewohnt, bis Ihre Tante ins Krankenhaus kam. Danach hielt ich es alleine nicht mehr aus und zog mit Arthur in eine Wohnung.«

Die Küche war hier etwas kleiner, da gleich daneben die Stufen zum Dachstock hinaufführten. Oben lag ein riesiger Raum vor uns, wunderschön mit seinen Holzbalken. Daraus ließe sich eine tolle Wohnung bauen!

Frau Blum stieg bereits wieder hinunter, sie schien es eilig zu haben. Im Entree blieb sie stehen, während ich keuchend hinter ihr her rannte. Sie zückte eine Visitenkarte, die sie mir in die Hand drückte, und übergab mir den Schlüssel.

»Das Haus ist unterkellert. Allerdings stehen unten viele Gartengeräte und Kisten herum. Sie können sich selber ein Bild davon machen. Schauen Sie sich alles in Ruhe an und melden Sie sich bei mir, damit wir die Formalitäten erledigen können.« Sie sah Frau Schwärzel nach, die in den oberen Stock ging, um die restlichen Fensterläden zu öffnen. »Sie können das Erbe ausschlagen, aber an Ihrer Stelle würde ich annehmen. Mir ist noch nie so ein Fall untergekommen. Das Haus ist bezahlt und gut in Schuss, es sind keine Schulden da. Mit dem Geld, das Sie erhalten, können Sie sich einen Dachstockumbau locker leisten. Unglaublich, aber wahr.«

Ich starrte sie misstrauisch an. »Ich weiß nicht einmal, mit was meine Tante ihr Geld verdient hat.«

Frau Blum blätterte in ihren Papieren. »Irgendwo habe ich … Moment, da war … Genau, Ihre Tante – und jetzt halten Sie sich fest, Ihre Tante war Schriftstellerin. Sie hat unzählige Romane veröffentlich, die verfilmt und vertont wurden – weltweit!«

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Meine Tante schrieb? Bestseller? Filme? Mir wurde schlecht, ich musste mich hinsetzen. Hektisch sah ich mich nach einer Sitzgelegenheit um.

»Ist Ihnen nicht gut?«, erkundigte sich Frau Blum mütterlich, nahm mich am Arm und führte mich in das erste Zimmer, wo sie mich in einen bequemen Sessel bugsierte. »Nehmen Sie Platz, ich hole ein Glas Wasser.« Sie verschwand und ich blieb wie erstarrt sitzen. Das Haus schien auf mich zu fallen, eine große Last wurde mir übertragen. Sollte ich etwa das schriftstellerische Werk meiner Tante fortführen? Wusste sie, dass ich schrieb? Ich war eine passable Schreiberin, aber von Romanen hatte ich mich bisher ferngehalten. Ich arbeitete für Online-Magazine, Zeitschriften und Zeitungen. Natürlich schlummerten Ideen für längere Geschichten in mir, aber bisher fehlte mir die Zeit zum Schreiben.

Frau Blum betrat mit einem Glas Wasser den Raum. Liebevoll hielt sie es mir hin. »Sie wussten es nicht, nehme ich an.« Bewundernd strich sie an den Büchergestellen entlang. Staub rieselte von ihren Fingerspitzen, als sie über die Kanten fuhr. »Sagt Ihnen der Name Jane Blackriver etwas?«

»Natürlich, wer kennt ihn nicht?!«

»Eben. Das war Ihre Tante.« Sie nahm eines der Bücher aus dem Gestell und hielt es mir unter die Nase. Auf dem kitschigen Umschlag stand »Auf Rosen gebettet«. Ein Titel, der vor Jahren monatelang in vielen Ländern auf den Bestsellerlisten gestanden hatte und der eine süßliche, aber spannend und raffiniert erzählte Liebesgeschichte enthielt. Ich hatte ihn geschenkt bekommen und gelesen, als ich einmal eine Woche mit Grippe im Bett lag.

»Sind Sie sicher?«, fragte ich tonlos und klammerte mich an das Buch.

Lachend nahm sie mir den Titel aus der Hand und stellte ihn zurück. »Natürlich, sie war meine Klientin. Und sie wollte ihre Ruhe haben, deshalb das Pseudonym.«

Ich nahm einen kräftigen Schluck Wasser. Mit einem Mal fühlte ich mich, als ob ich den Heiligen Gral entdeckt hätte. »Ich kannte meine Tante kaum. Seit mehr als dreißig Jahren habe ich sie nicht gesehen und einfach vergessen. Ich wusste weder dass, noch wie und wo sie lebte. Keine Ahnung, wer sie wirklich war.« In einem Anfall von Weitsichtigkeit fügte ich an: »Aber ich werde sie wohl noch genauer kennenlernen.«

Nachdem sich die Anwältin verabschiedet hatte, strich ich nochmals durch die unteren Räume. Frau Schwärzel blieb dicht an meiner Seite. Mit dem Handy machte ich einige Fotos, die ich abends Simone vorführen wollte.

»Kommen Sie«, drängte die Haushälterin und packte ungeduldig meinen Arm, »den Garten müssen Sie sich unbedingt noch ansehen.« Sie öffnete die Balkontür im Wohnzimmer und wir betraten eine herrliche Terrasse mit Blick übers Land. Ein großer Tisch und Stühle standen bereit, daneben luden zwei Liegestühle zum Verweilen ein. Der Rasen wirkte gepflegt, es wuchsen kleine Apfelbäume darin und am Rand des Grundstücks sah ich einen wunderschönen Baum.

Frau Schwärzel wies mich an, auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Das Haus schien mehr ihr als mir zu gehören. »Passen Sie gut auf alles auf«, schärfte sie mir ein.

Ich nickte. Ja, das wollte ich.

Widerwillig drückte mir Frau Schwärzel zum Abschied ihren Schlüssel in die Hand: »Ich werde hier alles im Auge behalten!«

Es klang wie eine Drohung.

Ich stieg ins Auto und rief noch von unterwegs meine Mutter an, die aus allen Wolken fiel, als ich ihr erzählte, dass ihre Schwester Bücher veröffentlicht und Bestsellerlisten angeführt hatte. Sie brachte kaum einen ganzen Satz zustande. »Also ich … das kann … bist du sicher?«

In den schönsten Farben erzählte ich ihr vom Haus und dem Garten.

»Ich … also … ich werd verrückt.« Hysterisch schrie sie nach meinem Vater. »Peeeteeeeerrr!«

Ich hörte, wie er angerannt kam.

»Jutta, gib her!« Hastig riss er das Telefon an sich. »Hallo?«, fragte er atemlos.

»Alles in Ordnung«, beruhigte ich ihn und erzählte nochmals dasselbe.

»Bleib dran!«, befahl er und ich hörte, wie er mit dem Telefon ins Wohnzimmer ging, Bücher herumschob und herauszog. Plötzlich erklang ein triumphierender Schrei. »Ha! Ich wusste doch, dass wir Bücher von ihr besitzen!« Dann las er mir sämtliche Titel vor, inklusive einer kleinen Zusammenfassung. Zum Glück hatte ich gerade viel Geld geerbt, so dass mir die nächste Handy-Rechnung kein Problem bereiten würde.

Irgendwann gelang es mir, ihn zu unterbrechen, indem ich versprach, ihnen so bald wie möglich alles zu zeigen.

»Warte lieber ein paar Tage, deine Mutter ist ganz bleich.« Er seufzte. »Gertrud war schon ein verrücktes Huhn! Das hast du von ihr geerbt.«

Meine Kinnlade fuhr nach unten. »Bitte?!«

»Ich meine natürlich, das Talent zum Schreiben«, korrigierte er rasch.

Schon besser!

Kurz darauf stand ich in meiner kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung und sah sie auf einmal mit ganz anderen Augen. Überall stapelten sich Bücher und Zeitungsausschnitte, auf dem Esstisch eine kleine Lücke für einen Teller. Im Schlafzimmer war gerade genügend Platz für ein Bett und ein Büchergestell.

Ich blickte auf die Uhr. In einer Stunde sollte Simone eintrudeln, bis dahin musste ich Ordnung schaffen. Sie hasste jede Art von Chaos. Meine Wohnung mochte sie sowieso nicht. Es war ihr zu eng, zu vollgestopft und unordentlich mit den vielen Büchern, auch wenn sie sortiert im Büchergestell standen. Sie hatte ihre nach Farben geordnet.

Gerade als ich auf den wieder freigelegten Tisch blickte, klingelte das Telefon.

»Schatz, ich bin’s«, schallte mir Simones Stimme entgegen. Ich mochte es nicht, wenn sie mich Schatz nannte.

»Ich kann nicht kommen, ein wichtiges Kundengespräch.« Die späte Absage schien ihr nichts auszumachen. »Ohne Chefin geht es eben nicht.« Es folgte keine Entschuldigung.

»Schade«, erwiderte ich betrübt, »da kann ich wohl nichts tun.«

»Wir sehen uns am Wochenende. Also, ich muss!«

»Warte«, schrie ich verzweifelt in den Hörer, aber sie hatte bereits aufgelegt. Enttäuscht warf ich das Telefon hinüber aufs Bett. Einen Moment blieb ich unschlüssig stehen, dann suchte ich den Apparat, der vom Bett auf den Boden weitergesprungen war, und wählte die Nummer meiner besten Freundin. »Hei, Alex!«, rief ich fröhlich, als sie sich meldete.

»Micha! Und? Ich will alles über dein Erbe wissen!«

»Komm her, es gibt sogar etwas zu essen.«

»Was ist mit Simone? Ich will nicht stören.« Sie mochte meine Freundin nicht besonders. Als ich nicht sofort antwortete, tat sie es selber. »Sie hat dich wieder mal versetzt! Wie lange willst du dir das noch gefallen lassen?«

»Hör auf zu stänkern und komm her!« Mir ging es viel zu gut, um über meine Beziehungsprobleme nachzudenken.

Wenig später klopfte es energisch. Ich eilte zur Tür, vor mir stand Alex. In der Hand hielt sie einen großen Blumenstrauß. »Na, du Erbin? Ich möchte dein Herz erobern.« Theatralisch fiel sie vor mir auf die Knie und hielt mir die Blumen hin. »Werde mein!«

»Ich brauche eine Gutsherrin, die mein Reich verwaltet.« Lachend zog ich sie in meine Arme. »Danke für die Blumen, aber momentan ist mir nicht nach heiraten.«

Neckisch schubste sie mich in die Seite. »Da bin ich aber froh, deine Auserwählte verdient dich nämlich nicht.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. »Lassen wir das Thema. Viel wichtiger: Du ahnst nicht, wer meine Tante war!«

Unwissend zuckte sie mit den Schultern. »Ich denke, sie war die Schwester deiner Mutter. Scheint einen reichen Kerl geheiratet zu haben, der ihr alles vermacht hat.«

Lachend schüttelte ich den Kopf, ging zu meinem Büchergestell, zog »Auf Rosen gebettet« heraus und hielt es ihr hin.

»Was soll ich mit diesem Kitschroman?«

Ich drehte das Buch um, wo ein kleines Foto von Gertrud abgebildet war. Allerdings sah man vor allem die riesengroße Sonnenbrille, die sie trug. Ich drückte Alex das Exemplar in die Hand. »Lies den Namen!«, befahl ich.

»Jane Blackriver, ich weiß. Ich kenne die.«

Stolz stemmte ich die Hände in die Seiten. »Darf ich vorstellen: meine Tante Gertrud!«

Die Augen fielen Alex fast aus dem Kopf. »Neeein!« Kopfschüttelnd hielt sie das Buch in ihren Händen. »O je, jetzt schreibst du Kitschromane! Bestimmt hast du ihr Talent geerbt«, kicherte sie wie eine Irre. Sie wurde wieder ernst. »Stimmt das wirklich?«

Ich nickte, hielt ihr das Handy hin und ließ sie einen Blick auf mein Haus werfen. Erwartungsvoll blieb ich neben ihr stehen. Ich hatte mir die Fotos schon x-mal angesehen und konnte kaum glauben, dass dies alles schon bald meins wäre. Alex’ Augen wurden von Bild zu Bild größer, am Schluss starrte sie mich mit offenem Mund an. Freudig umarmte ich sie. Zusammen verfielen wir in ein wildes Geschrei, hüpften auf und ab und hielten uns fest umklammert. Nachdem wir uns beruhigt hatten, schenkte ich den seit Tagen kaltgestellten Champagner ein, der eigentlich für Simone gedacht gewesen war.

Während ich kochte, beantwortete ich Alex alle Fragen. Sie konnte es kaum fassen, dass ich nun eine reiche Frau war.

»Und was sagt Simone dazu?«

Ich stellte die heißen Spaghetti auf den Tisch, holte die Soße und den Salat und setzte mich ihr gegenüber hin. »Die weiß von nichts.«

Während ich das Essen austeilte, erzählte ich ihr von unserem Telefongespräch. Stumm hörte Alex zu. Ich begann automatisch Simone zu verteidigen. »Sie musste zu einem wichtigen Kunden. Ihr Job ist anstrengend, sie trägt eine riesige Verantwortung. Vermutlich ist ihr entfallen, dass ich mich mit der Anwältin treffe, vielleicht habe ich es auch zu wenig betont. Bestimmt wird es besser, wenn sie mit mir erst mal in das Haus eingezogen ist und wir mehr Zeit füreinander haben.« Alex’ Miene verdüsterte sich. Ich war mir überhaupt nicht sicher. »Hoffe ich«, fügte ich kläglich hinzu.

Sie ließ die volle Gabel auf den Teller sinken. »Du willst wirklich mit ihr zusammenziehen?« Kopfschüttelnd stopfte sie sich Nudeln in den Mund. Dann fuhr sie schmatzend fort: »Das geht nicht gut. Sieh dir deine und ihre Wohnung an. Unterschiedlicher kann frau nicht leben!«

Sie hatte recht. Bei Simone lag nie etwas herum, alles stand an seinem angestammten Platz, jede Verschiebung wurde von ihr bemerkt. In der Küche herrschte klinische Sauberkeit. Simone wollte nicht kochen, lieber ließ sie sich das Essen bringen. Sie schätzte es zwar, wenn ich mich an den Herd stellte, aber sobald ihr Blick dann in die Küche fiel, zuckten ihre Augenbrauen zusammen. »Wie es hier wieder aussieht«, stöhnte sie, obwohl ich nach jedem Essen alles aufräumte und abwischte – nie gut genug.

»Mal sehen. Ich will ihr am Wochenende das Haus zeigen.« Nachdenklich kaute ich auf den Nudeln.

Alex riss mich aus meinen Gedanken. »Los, ich will es jetzt gleich sehen! Lass uns hinfahren!« Sie packte ihren leeren Teller und legte ihn in die Spüle. »Komm!«

Eilig wickelte ich die letzten Spaghetti auf die Gabel, stopfte sie mir in den Mund und zog mir kauend die Schuhe an.

Wir fuhren mit meinem Wagen. Nach zehn Minuten hatten wir die Stadt hinter uns gelassen und rollten übers Land. Ein wunderschöner Sonnenuntergang begleitete uns.

Kurz darauf hielt ich vor dem Haus. Alex starrte ungläubig aus dem Wagenfenster. Ich stieg eilig aus, rannte auf ihre Seite und öffnete ihr die Tür. »Madame, bitte folgen Sie mir zu meinem Gut.«

Elegant nahm sie meine Hand und ließ sich aus dem Wagen helfen. Stumm folgte sie mir durch den Garten. »Wahnsinn«, murmelte sie, als ich die Eingangstür öffnete, »es ist tatsächlich wahr.« Alex sah mich staunend von der Seite an: »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Also zog ich sie hinein. Einen Moment blieben wir im Entree stehen. Die blauen Augen meiner Begleiterin wurden riesig. Ungeduldig packte ich sie am Arm und führte sie durchs Haus.

»Hier hat sie ihre Bestseller verfasst«, hauchte ich, als wir schließlich im Arbeitszimmer standen, und fuhr mit der Hand über die glatte Schreibtischfläche. Links stand eine elektrische Schreibmaschine, die ich vorsichtig berührte. Alex blieb ergriffen neben mir stehen. »Ja«, raunte sie, »und hier wirst auch du deine Romane schreiben, aber hoffentlich mit dem Computer.«

»Wieso flüstern wir eigentlich?«, erkundigte ich mich leise und wandte mich an meine Freundin, die prüfend einen Blick in eine Schublade warf.

»Keine Ahnung«, wisperte sie, »aber ich habe mal gelesen, dass es in alten Häusern spukt, und wir wollen ja niemanden stören.«

Das Haus wirkte tatsächlich etwas unheimlich. Wir hatten gar nicht bemerkt, dass es draußen dunkler geworden war und nirgends Licht brannte. Ich betätigte den Schalter und wie auf Knopfdruck fühlte ich mich wohler.

Nach dem Hausrundgang setzten wir uns unten auf die Treppe. Verträumt blickte Alex um sich. Während dem Rundgang hatte sie sich begeistert über die schönen Räume, den tollen Garten und die Ruhe draußen geäußert. Ich war froh, dass sie nun hier bei mir in meinem Haus war. Alex war meine allerwichtigste Freundin. Seit vielen Jahren stand sie an meiner Seite, jederzeit bereit, mir zu helfen. Sie hörte an meiner Stimme, wenn es mir schlecht ging. In solchen Momenten ließ sie alles stehen und eilte zu mir. Umgekehrt umsorgte ich sie, wenn sie Liebeskummer hatte, und gewährte ihr in der Not Unterschlupf. Eine Freundschaft, wie sie sein sollte.

Nachdenklich sah ich Alex jetzt von der Seite an. Ihre blonden Haare trug sie wie immer kurz, an ihrem linken Ohr glänzte eine Streitaxt und eine schwere Silberkette zierte ihr rechtes Handgelenk. Die Hände waren meist mit Farbe verschmiert. Seit Jahren arbeitete sie als eigenständige Dekorateurin für verschiedene Geschäfte und als Bühnenausstatterin. Ihre Kreativität kannte keine Grenzen.

Jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. »Warum ziehst du nicht in den oberen Stock?«

Hastig drehte sie den Kopf zu mir. »Ist das dein Ernst?«

»Klar! Natürlich nur, wenn du willst. Du würdest vermutlich die Stadt vermissen, und dann die Kühe mit ihren Glocken und die vielen Räume und …«

Mein Kopf wurde gepackt und sie küsste mich mitten auf den Mund.

»Was war das?«, pustete ich.

»Vermutlich ein Ja-sehr-gerne-vielen-Dank.« Ihre Augen glänzten verdächtig, sie schien gerührt zu sein.

Gedankenversunken blieben wir nebeneinander sitzen. Ein Klingeln riss uns aus der Stille. Mein Handy läutete Sturm. »Schaatz«, schallte es mir entgegen, »ich bin früher mit dem Kunden fertig geworden. Kommst du zu mir?«

Typisch Simone, dachte ich. »Nein, jetzt ist es zu spät«, antwortete ich. »Wir sehen uns morgen. Bin zu müde, um noch zu dir zu fahren.« Ich verschwieg, dass ich gar nicht zu Hause war.

»Okay, schlaf gut.«

Ich konnte nicht mehr antworten, denn sie hatte schon abgestellt.

»Schaatz«, triezte mich Alex, wofür sie einen kräftigen Seitenhieb kassierte.

»Wenn du meine Mieterin sein willst, musst du dich benehmen«, belehrte ich sie.

Hand in Hand verließen wir mein Haus. Draußen empfing uns das leise Bimmeln der Kuhglocken.

2. Kapitel

Am Samstag erledigte Simone meist liegengebliebene Arbeiten in ihrem Büro, während ich zu Hause über meinen Texten brütete. So auch diesmal. Kurz nach 16 Uhr holte ich sie ab.

Ich stand neben der Eingangstür und wartete auf sie. In der Hand hielt ich eine schöne rote Rose.

»Für mich?«, fragte sie freudig. Ohne ein Wort überreichte ich ihr die prächtige Blume. Genießerisch roch sie daran. »Danke, Schatz«, sagte sie mit ihrem gewinnenden Lächeln und hauchte mir einen Kuss auf die Wange.

Dieses »Schatz« fräste sich durch mein Gehirn, es tat mir fast weh. »Nenn mich bitte nicht Schatz! Du weißt, dass ich das nicht mag.« Verständnislos zuckte sie mit den Schultern.

Als ich ihr morgens am Telefon aufgeregt geschildert hatte, wer meine Tante war, war sie erstaunlich ruhig geblieben. »Jane Blackriver? Ja, kenne ich, halte ich aber für überbewertet«, war alles, was sie dazu sagte.

Wir stiegen in meinen Wagen. »Iiih, hast du darin gegessen?« Angeekelt wischte Simone über den Sitz, wo vier Krümel lagen, und nahm seufzend Platz. Sie fuhr nicht gern mit mir. Die Kurven nahm ich ihrer Meinung nach zu zackig, generell raste ich, bei jeder Ampel trat sie mit auf die Bremse, das Auto war zu klein und und und … In ihrem teuren Wagen wäre mehr Platz gewesen, aber für die Fahrt aufs Land wollte sie das Fahrzeug nicht beschmutzen. Während sie stur geradeaus starrte, fuhren die Gefühle Schlitten mit mir.

Simone und ich – eigentlich passten wir nicht zusammen. Durch Zufall hatten wir uns vor drei Jahren in der Frauenbuchhandlung kennengelernt. Ich trug einen Stapel Bücher Richtung Kasse, als ich an einer Tischkante hängen blieb und mir einige Titel entglitten. Gleichzeitig rempelte ich eine Frau an, die einen ähnlich hohen Turm in ihren Händen balancierte. Es gab einen heftigen Knall, als die vielen Bücher zu Boden fielen. Erschrocken starrten wir uns an. Ihre großen dunklen Augen nahmen mich sofort ein.

»Es tut mir leid«, stotterte ich und ging in die Knie, um die Werke aufzuheben. Die Frau blieb reglos neben mir stehen.

»Wir scheinen ähnliche Vorlieben zu haben.« Erstaunt sah ich, dass wir teilweise die gleichen Romane ausgesucht hatten. Inzwischen ging auch die andere neben mir in die Hocke und half beim Aufteilen. Liebevoll errichteten wir zwei Stapel.

Anschließend lud ich sie ins Café ein und während wir uns über Literatur unterhielten, begann ich mich in die Frau, die sich als Simone vorstellte, zu verlieben. In ihren braunen Haaren, die sie halblang trug, entdeckte ich einen leichten Rotstich. Sie gefiel mir.

Sie mochte an mir meine Leichtigkeit und meinen Lebensstil, der in ihren Augen etwas Abenteuerliches, Künstlerisches besaß. Die Bezeichnung Autorin wirkte anziehend und verrucht. Ich trank zwar keine Unmengen Alkohol, meine Wohnung war nicht verqualmt von unzähligen Zigaretten und ich hatte auch keinen Dreitagebart, aber wenn sie mich mitten im Schreiben unterbrach, reagierte ich verwirrt und durcheinander, bis ich wieder in der normalen Welt auftauchte. Sie fand das charmant. Ich verkörperte das Bild der versponnenen Schriftstellerin, die ich nicht war, was Simone aber nicht daran hinderte, diese Illusion aufrechtzuerhalten. Außerdem lebte ich von der Hand in den Mund. Das mag aufregend klingen, kann aber anstrengend sein.

Am Anfang war unsere Beziehung fantastisch. Alles war neu und prickelnd, der Alltag weit weg.

Simone steckte in einer Weiterbildung und verfügte über wenig Zeit. Wir sahen uns mehr oder weniger nur am Wochenende. Für sie zählte der Beruf, sie war im Begriff, aufzusteigen und Karriere zu machen. Freizeit kannte sie kaum und wenn sie einmal welche hatte, wusste sie nichts damit anzufangen.

Meine Arbeit für das Heavy Metal-Magazin stieß sie ab. Sie hasste die harte Musik, die ich leidenschaftlich gern hörte. Oft fuhr ich zu Konzerten, um darüber zu berichten. Sie begleitete mich nie, fühlte sich unter den Kerlen in ihren Lederjacken nicht wohl. Natürlich herrschte dort ein ruppiger Umgangston, aber die Liebe zur Musik verband mich mit ihnen und ich traf immer wieder auf die gleichen Männer, die akzeptiert hatten, dass ich nichts von ihnen wollte, außer zusammen der Musik lauschen und ein Bierchen trinken.

Ich erwartete von Simone gar nicht, dass sie meine Musik mochte. Wenn sie kam, drehte ich das Radio an, während bei ihr zu Hause Modern Jazz aus den Boxen jaulte.

Sie legte viel Wert auf Äußerlichkeiten, trug meist teure Kleidung aus kleinen Boutiquen, obwohl sie sich darin nicht immer wohlfühlte. »Ich muss repräsentieren«, betonte sie, auch wenn es nichts zu repräsentieren gab. Meine Jeans und die T-Shirts waren ihr ein Dorn im Auge. Oft sah sie mich von oben bis unten an und schüttelte leicht den Kopf, vor allem, wenn ich meine Lederjacke trug. »Du siehst so jugendlich aus in deinen Klamotten. Für dich ist das Leben nur ein Spaß.«

Mit dem letzten Satz hatte sie nicht Unrecht, für mich war das Leben in der Tat ein Spaß, den ich mir nicht verderben lassen wollte, auch von ihr nicht.

Und trotzdem ließ ich es zu.

Simone wurde häufig zu Vernissagen eingeladen. Beruflich kümmerte sie sich um die Versicherungen von Galerien, steckte aber auch selber viel Geld in Kunst. Ihre Eltern hatten ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen, welches sie in Gemälde investierte, die sie weiterverkaufte. Sie verstand viel von diesem Geschäft und machte damit ordentlich Gewinn.

Beinahe jedes Wochenende sahen wir uns Bilder an, in jede noch so kleine Galerie wurde ich geschleppt. Am Anfang fand ich es interessant, mich auf eine andere Welt einzulassen, nur verlief die Expedition sehr einseitig. Mein eigenes Umfeld wollte Simone nicht näher kennenlernen. Auch Alex passte ihr nicht. Sie merkte rasch, dass mir meine beste Freundin wichtig war und ich viel wert auf deren Meinung legte. Prompt führte Simone sich wie eine Konkurrentin auf und reagierte eifersüchtig auf Alex. Ich vermied Begegnungen zwischen den beiden und saß zwischen den Stühlen, eine Rolle, die mir gar nicht gefiel. Ich wollte mich nicht für eine von ihnen entscheiden müssen.

Im Lauf der Zeit und mit dem Anstieg von Simones Karriere kamen neue Bekannte hinzu. Es folgten Einladungen zu stilvollen Essen. Am Anfang begleitete ich Simone, saß mit Menschen am Tisch, für die gänzlich andere Dinge wichtig waren als für mich und mit denen ich nicht ins Gespräch kam. Ich fühlte mich fremd, auch in den Klamotten, die ich trug. Simone konnte mich nicht verstehen, sie mochte Einladungen dieser Art, wo jeder sich präsentierte und die teuersten Weine aufgetischt wurden.

Mit der Zeit blieb ich zu Hause und schob die Arbeit vor. Mit ihr darüber diskutieren wollte ich nicht, es führte nirgends hin.

Und jetzt überlegte ich mir tatsächlich, ob ich mit ihr in mein Haus ziehen sollte! Das konnte nicht gut gehen, wie Alex richtig bemerkte. Vielleicht suchte ich nach einem Strohhalm, um unsere Beziehung zu retten. Trotz all der Schwierigkeiten hielt ich an Simone fest. Ich wollte den Menschen nicht loslassen, den ich geliebt hatte und der mir langsam entglitt. Die einst zärtliche, liebevolle Frau verwandelte sich in eine Businesswoman, der ich nicht entsprechen konnte und wollte. Ihre Versuche, mich zu ändern und mir ein neues Image aufzudrücken, passten mir nicht. Ich ließ viel zu, zuviel vielleicht. Wenn ich die Notbremse nicht zog, würde ich mich verlieren.

Je näher wir dem Haus kamen, desto nervöser wurde ich. Mein Herz raste, als ich am Straßenrand hielt. Simone verzog keine Miene. Einen Moment blieb sie vor dem vergitterten Tor stehen, sah durch die Stäbe, dann drehte sie sich um und ließ ihren Blick über das Land schweifen. Beim Bauernhof blieb ihr Kopf stehen. Ich näherte mich von hinten, um sie in die Arme zu nehmen.

»Oh nein, Kühe und Schafe! Vor lauter Glockengebimmel wirst du hier nicht schlafen können. Und bestimmt riechen die eklig!« Sie zuckte mit den Schultern. »Aber das musst du wissen.«

Ich ließ meine Arme sinken. Einmal mehr hatte ich einen unsichtbaren Schlag ins Gesicht erhalten. Am liebsten wäre ich ins Auto gestiegen und weit weggefahren – ohne Simone. Aber die war bereits die Treppen hinaufgeeilt, stand nun bereits vor der Haustür und tippte mit der Fußspitze ungeduldig auf den Boden. Ich nahm mich zusammen, zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die schwere Tür. Kaum stand ich im Haus, überkam mich ein wohliges, warmes Gefühl der Geborgenheit.

Neugierig blickte sich Simone um. Ich öffnete die erste Tür links, packte ihren Arm und zog sie ins große Badezimmer.

»Oje, keine Dusche«, rümpfte sie die Nase und ließ ihren Blick über die altmodischen Kacheln gleiten.

Moderne Architektur sah gewiss anders aus, aber in diesem Haus steckte Herzblut, es atmete – lebte.

Im Arbeitszimmer blieben wir einen Moment stehen. Liebevoll strich ich über die Tischplatte und setzte mich auf den Stuhl davor. »Ich habe mir überlegt, dass ich nur noch für ein Magazin schreibe und endlich meine eigenen Romane verfassen werde. Von dem vielen Geld kann ich locker leben.« Erwartungsvoll sah ich zu Simone hinüber.

Die verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Du bist eben eine Träumerin.« Sie ging zur nächsten Tür, drehte sich aber kurz vorher um. »Mit dem Vermögen kannst du dir Luftschlösser jetzt aber auch leisten.« Die Tür ließ sie halb offen. Ihr Kopf tauchte erneut auf. »Du bleibst hoffentlich bei den Buchbesprechungen und hörst endlich bei diesem fürchterlichen Magazin auf.« Angewidert verzog sie das Gesicht.

Ich blieb die Antwort schuldig und sammelte Kraft, um den Abend friedlich hinter mich zu bringen. Natürlich wollte ich weiterhin für das Metal-Magazin schreiben, CDs besprechen und Konzerte besuchen. Diese Leidenschaft würde ich niemals aufgeben!

Wortlos schritt Simone durch die restlichen Zimmer im Erdgeschoss, stieg die Treppe hoch in die zukünftige Wohnung von Alex und schließlich hinauf zum wunderschönen Dachboden. Mit der linken Hand fuhr sie sich über den Jackenärmel, um den Staub davon abzuwischen. Langsam drehte sie sich um. Ich war gespannt auf ihren Eindruck. Ob sie sich hier wohlfühlen würde?

»Du wirst viel investieren müssen, das Haus ist völlig veraltet, aber mit einem tollen Architekten dürfte das kein Problem sein.«

Enttäuscht setzte ich mich auf eine der herumstehenden Kisten, was Simone aufschreien ließ: »Vorsicht! Du machst dich schmutzig! Es ist hier alles voller Staub und Dreck.« Kopfschüttelnd zog sie mich hoch und klopfte mir auf den Hintern.

»Ich will an den Wohnungen nichts verändern, das Haus ist gut in Schuss. Nur den Dachboden möchte ich umbauen. Was meinst du?«

Beleidigt verzog sie den Mund. »Es ist dein Haus, aber es gibt zu viele Räume, diese Architektur ist veraltet. Und wer soll in die obere Wohnung ziehen?! Die Person muss durch das Entree und kann jederzeit in eines deiner Zimmer platzen, du müsstest immer alle Türen abschließen. Ich an deiner Stelle würde das Ganze abreißen und etwas Neues bauen oder das Land verkaufen, was eigentlich noch schlauer wäre.« Wichtig sah sie mich an. »Ich kenne gute Makler, die das hier für viel Geld verkaufen.«

Entsetzt sah ich sie an und setzte mich wieder hin. Den Seufzer ihrerseits überhörte ich. »Niemals! Es ist das Erbe meiner Tante, ich will es so belassen.« Ich stand wieder auf und schritt durch den riesigen Raum. »Außerdem fühle ich mich wohl hier, es ist bereits mein.« Ich weiß, ich klang etwas theatralisch, aber ich wollte Simone zeigen, wie viel mir alles hier bedeutete. »In die obere Wohnung wird Alex ziehen. Ihr gefällt das Haus genauso gut wie mir.«

»Ach«, sagte Simone spitz und drehte sich beleidigt weg, »dann ist das schon besprochen?! Gut zu wissen.«

Ich ging zu ihr und umschlang sie von hinten. »Aber du willst doch nicht aufs Land, das hast du mehrmals betont. Außerdem ist in der unteren Wohnung genug Platz für zwei. Für uns.« Ich blickte ihr tief in die Augen. »Was meinst du?«

Sie löste sich aus meinen Armen und machte einen Schritt rückwärts. »Danke, aber in so einem altmodischen Haus kann und will ich nicht leben – auch nicht mit dir.« Sie drehte sich auf dem Absatz und ging die Treppe hinunter, während ich mich auf eine der Kisten fallen ließ. Simone und ich würden nie zusammenwohnen, soviel stand in diesem Moment fest. Ihr zickiges Verhalten ließ meine Gefühle hoch- und runterfahren. Hatten wir überhaupt eine gemeinsame Zukunft? Und wenn ja, wollte ich diese Zukunft noch? Verunsichert erhob ich mich, ging langsam die Treppe hinunter, strich durch die oberen Räume, sah aus dem Fenster und dachte nach.

»Kommst du endlich?«, schrie Simone von unten. »Ich will in die Zivilisation zurück!«

Ich schritt nach unten, an ihr vorbei durch die Tür, die sie mir aufhielt, dann verließen wir schweigend das Haus.

Auf der Rückfahrt sprach ich kein einziges Wort, während Simone ohne Unterlass von sich erzählte. Ich bekam wenig mit, zu sehr hing ich meinen Gedanken nach.

Vor ihrer Wohnung hielt ich an. Sie stieg aus und wartete. Als ich keine Anstalten machte, auszusteigen, öffnete sie die Beifahrertür. »Was ist? Kommst du? Ich will schlafen, bin hundemüde.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich muss noch ein paar CD-Besprechungen verfassen, ich bin im Rückstand, Frank braucht sie morgen.«

»Hättest du das nicht vorher erledigen können?« Schulterzuckend stieg sie wieder ein, um mich zum Abschied zu küssen. Eine große Leere breitete sich in mir aus. Ich fühlte nichts, als ich ihr nachsah und zuschaute, wie sie hineinging.

3. Kapitel

Der Sommer wurde zu einer Berg- und Talfahrt. Während an meinem Haus gearbeitet und der Dachstock in eine funktionstüchtige Wohnung umgebaut wurde, lief es mit Simone und mir immer schlechter. Das Haus war ihr ein Dorn im Auge, ebenso, dass Alex dort einziehen würde. Es passte ihr nicht, dass ich mich gegen ihren Willen durchsetzte und tat, was ich für richtig hielt.

Als ich ihr die ersten Umbaupläne hinhielt, warf sie einen kurzen Blick darauf und verfiel in spöttisches Lachen. »Was für eine simple Renovation. Ich kenne einen Architekten, der dir da etwas viel Moderneres reinpackt.« Sie zückte ihr Handy und wollte bereits die Nummer eingeben, als ich ihre Finger festhielt.

»Ich weiß sehr gut, was ich will, und das wird gemacht!«

Meine Architektin war begeistert von meinem Objekt und spürte, was ich wie haben wollte. Sanft und dem Haus entsprechend sollte die Wohnung gebaut werden.

»Dann lass mich mit deinen Plänen in Ruhe. Sicherlich wirst du mit Alex über den Umbau gesprochen haben, der bist du ja hörig.« Simone machte eine kurze Pause, bevor sie fortfuhr: »Immer Alex, Alex, Alex! Die hat überhaupt keine Ahnung von Architektur, so eine kleine Dekorateurin und Bühnenmalerin!«

Das war zuviel. Ich packte meine Jacke und verließ wortlos ihre Wohnung. Die Tür ließ ich ordentlich ins Schloss knallen, wie es sich für einen wirkungsvollen Abgang gehört.

In den nächsten Tagen war ich hin und her gerissen. Simone ließ mir Blumen schicken, rief an, schickte SMSen oder mailte. Sie versprach mir den Himmel auf Erden und überlegte sich sogar, ob sie mit mir aufs Land ziehen wollte.

Nach zehn Tagen trafen wir uns in einem hübschen Lokal, um zu reden. Sie sah umwerfend aus, als sie durch die Tür trat. In diesem Moment war ich zu allem bereit. Erwartungsvoll blickte ich sie an, als sie sich setzte. Während wir auf das Essen warteten, nahm sie meine Hände und strich zärtlich darüber. »Wir packen das! Ich habe in den letzten Tagen viel nachgedacht. Stell dir vor, wir zusammen in einem Haus!« Sie begann unsere Zukunft in den schönsten Farben zu malen, bis plötzlich vor meinen Augen daraus eine Schwarz-weiß-Zeichnung entstand und meine Hände den ihren entglitten.

»Meine Möbel sind neuer als deine und schöner, ist ja Designerware. Ich denke, da werden wir uns einig sein. Und du wirst in deinem Zimmer Ordnung halten müssen, ansonsten ertrage ich es nicht, das weißt du.« Prüfend lächelte sie mich an. Als ich nicht reagierte, fuhr sie fort: »Oder wir schließen einfach immer die Tür. Das Wohnzimmer ist neutral, da will ich nur wenig stehen haben, ich brauche Luft in einem Raum.«

Von da an fehlte mir die Luft.