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Fußnoten

1

Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe [im Folgenden zit. als: KFSA], Bd. 20, hrsg. von Ernst Behler, München [u. a.] 1995, S. 329, Nr. 272.

2

KFSA, Bd. 4, 1959, S. 80.

3

KFSA, Bd. 2, 1967, S. 20.

4

S. 110 in diesem Band.

5

Ebd.

6

KFSA, Bd. 16, 1981, S. 44, Nr. 114.

7

S. 182 in diesem Band.

8

S. 71 in diesem Band.

9

Friedrich von Hardenberg (Novalis), Vermischte Bemerkungen, Nr. 125, in: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, München/Wien 1978, Bd. 2, S. 282.

10

KFSA, Bd. 16, 1981, S. 168 [Nr. 992].

11

S. 191 in diesem Band.

12

S. 65 in diesem Band.

13

S. 20 in diesem Band.

14

KFSA, Bd. 2, 1967, S. 412.

15

S. 211 in diesem Band.

16

S. 71 in diesem Band.

17

Gegen eine (nur) ästhetische Funktionsbestimmung der Kunst polemisiert Schlegel dagegen spätestens seit dem 40Lyceum-Fragment. Vgl. S. 59 in diesem Band.

18

KFSA, Bd. 16, 1981, S. 30 [Nr. 22].

19

Novalis, Das Allgemeine Brouillon, Nr. [782], in: Novalis, Werke, (s. Anm. 9), S. 661.

20

S. 248 in diesem Band.

21

KFSA, Bd. 12, 1964, S. 9 [u. ö.].

22

Vgl. KFSA, Bd. 2, 1967, S. 409.

23

Vgl. Friedrich Schlegel’s sämmtliche Werke, 10 Bde., Wien 182225.

24

Albrecht Schöne, in: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse, hrsg. von A. Sch., München 1988, S. XVII.

25

Vgl. Erlinghagen, Das Universum der Poesie, S. 18.

26

S. 12 in diesem Band.

27

KFSA, Bd. 18, 1963, S. 85 [Nr. 668].

28

S. 10 in diesem Band.

29

S. 11 und 16 in diesem Band.

30

Vgl. Erlinghagen, Das Universum der Poesie, S. 64–71. Bei der Manuskriptabschrift handelt es sich nicht um eine Druckvorlage.

31

KFSA, Bd. 2, 1967, S. XXXVI.

32

S. 92 in diesem Band.

33

Vgl. Friedrich Schiller (mit Johann Wolfgang Goethe), Xenien, Nr. 320, in: F. Sch., Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1987, Bd. 1, S. 292.

34

Gerhard Neumann, Ideen-Paradiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe, München 1976, S. 417.

35

Vgl. Bubner, »Zur dialektischen Bedeutung romantischer Ironie«.

36

KFSA, Bd. 2, 1967, S. XLVI.

37

August Wilhelm und Friedrich Schlegel, »Vorerinnerung«, in: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Ersten Bandes Erstes Stück, Berlin 1798, S. III.

38

Vgl. KFSA, Bd. 18, 1963, S. XIV.

39

Vgl. Manfred Engel, Der Roman der Goethezeit, Bd. 1: Anfänge in Klassik und Romantik: Transzendentale Geschichten, Stuttgart [u. a.] 1993.

40

Vgl. Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister. Gespräch über die Poesie, mit einer Einl. hrsg. von Hans Eichner, Paderborn [u. a.] 1985, S. 61.

41

S. 227 in diesem Band.

42

S. 228 in diesem Band.

[7]Vom ästhetischen Werthe der Griechischen Komödie

<485> Nichts ist seltner, als eine schöne Komödie. Das komische Genie ist nicht mehr frei, es schämt sich seiner Fröhlichkeit, und fürchtet durch seine Kraft zu beleidigen. Es erzeugt daher kein vollständiges und reines Werk aus sich selbst, sondern begnügt sich, ernsthafte dramatische Handlungen aus dem häuslichen Leben mit seinen Reizen zu schmücken. Aber damit hört die eigentliche Komödie auf; komische Energie wird unvermeidlich durch tragische Energie ersetzt: und es entsteht eine neue Gattung, eine Mischung des komischen und des tragischen Drama, welche sich gewöhnlich mit bescheidnem Stolz den ersten Platz über beide anmaaßt. Was ihre Ansprüche gelten, ist eine andre Frage; aber die Natur des Komischen kann man nur in der unvermischten reinen Gattung kennen lernen: und nichts entspricht so ganz dem Ideal des reinen Komischen, als die alte Griechische Komödie. Sie ist eins der wichtigsten Dokumente für die Theorie der Kunst; denn in der ganzen Geschichte der Kunst sind ihre Schönheiten einzig, und vielleicht eben deswegen allgemein verkannt. Es ist <486> schwer, nicht ungerecht gegen sie zu sein; sie nur zu verstehen, erfordert eine vollendete Kentniß der Griechen; und mit unbestechlicher Strenge ihre wirklichen Vergehungen von dem abzusondern, was nur uns beleidigt, erfordert einen Geschmack, der, über alle fremde Einflüsse erhaben, auf das Schöne allein gerichtet ist.

Die Griechen hielten die Freude für heilig, wie die Lebenskraft; nach ihrem Glauben liebten auch die Götter den Scherz. Ihre Komödie ist ein Rausch der Fröhlichkeit, und zugleich ein Erguß heiliger Begeisterung: ursprünglich nichts anders als eine öffentliche religiöse Handlung, ein Theil von dem Feste [8]des Bakchus, welcher Gott ein Bild der Lebenskraft und des Genusses war. Diese Vermählung des Leichtesten mit dem Höchsten, des Fröhlichen mit dem Göttlichen, enthält eine große Wahrheit. Die Freude ist an sich gut, auch die sinnlichste enthält einen unmittelbaren Genuß höhern menschlichen Daseins. Sie ist der eigenthümliche, natürliche und ursprüngliche Zustand der höhern Natur des Menschen; der Schmerz erreicht ihn nur durch den geringeren Theil seines Wesens. Rein-sittlicher Schmerz ist nichts als entbehrte Freude, und rein-sinnliche Freude nichts als gestillter Schmerz; denn der Grund des thie-<487>rischen Daseins ist Schmerz. Aber Beides sind nur Begriffe; in der Wirklichkeit, bilden beide heterogene Naturen in durchgängiger Gemeinschaft ein Ganzes – den Menschen, verschmelzen in einen Trieb – den menschlichen; der Schmerz wird sittlich, und die Freude wird sinnlich.

Weil reine menschliche Kraft sich in Freude äußert, so ist sie ein Symbol des Guten, eine Schönheit der Natur. Sie verkündigt nicht bloß Leben, sondern auch Seele. Leben und unbeschränkte Freude bedeuten Liebe. Denn alles Leben deutet auf seine Wurzel und auf die Frucht seiner Vollendung; und der höchste Moment der Lebenskraft ist seine Verdoppelung, der Genuß eines homogenen Lebens. Leben und Geist aber sind im Menschen unzertrennlich, und die Bande des Lebens vereinigen die Geister. Nur der Schmerz trennt und vereinzelt; in der Freude verlieren sich alle Gränzen. Mit der Hofnung ungehinderter Vereinigung, scheint die letzte Hülle der Thierheit zu verschwinden; der Mensch erräth den völligen Genuß, nach welchem er nur streben kann ohne ihn zu besitzen. Es giebt für jedes empfindende Wesen eine Freude, welche keinen Zusatz zu leiden scheint, weil sie keine Gränzen hat, als die beschränkte Empfänglichkeit des Subjekts. In <488> dem Höchsten, was er fassen kann, erscheint dem Menschen das Unbedingt-Höchste; seine höchste Freude ist ihm ein Bild von dem Genusse des [9]unendlichen Wesens. – Der Schmerz kann ein höchst wirksames Medium des Schönen sein; aber die Freude ist schon an sich schön. Schöne Freude ist der höchste Gegenstand der schönen Kunst.

Die Poesie kann diese Freude auf zweierlei Art behandeln; sie ist entweder Äußerung eines schönen Zustandes im Subjekte, in der lyrischen Darstellung; oder sie ist eine vollendete selbstständige Nachahmung in der dramatischen Darstellung. Schöne lyrische Freude muß edel und natürlich sein: die Äußerung einer unedlen Freude würde häßlich, die einer erkünstelten würde unwirksam sein. Was wäre eine Freude, die nicht von selbst schön wäre, sondern wie einem Gesetze, der Schönheit aus Pflicht gehorchte? Sie darf sich nicht einmal selbst zwingen; fremder Zwang aber vernichtet sie unvermeidlich. Schöne Freude muß frei sein, unbedingt frei. Auch die kleinste Beschränkung raubt der Freude ihre hohe Bedeutung, und damit ihre Schönheit; Zwang der Freude ist immer häßlich, ein Bild der Vernichtung und der Schlechtheit. Eine bloße Äußerung des Gefühls, die lyrische Darstellung der Freude, <489> kommt nicht so leicht in Gefahr ihre äußre Freiheit zu verlieren, – desto mehr die dramatische. Sie nimmt den Stof zu ihren Schöpfungen aus der Wirklichkeit, ihre Bestimmung ist eine öffentliche laute Darstellung des Lächerlichen, und ihre Freiheit ist dem Laster, der Thorheit, dem geheiligten Irrthume fürchterlich. Aber eben dadurch wird sie einer neuen hohen Bedeutung, einer neuen Schönheit fähig; wenn die Freude, wo wir Schranken erwarteten, uns mit Freiheit überrascht, so wird sie das schönste Symbol der bürgerlichen Freiheit.

Überhaupt wird Freiheit durch das Hinwegnehmen aller Schranken dargestellt. Eine Person also, die sich bloß durch ihren eignen Willen bestimmt, und die es offenbar macht daß sie weder innern noch äußern Schranken unterworfen ist, stellt die vollkommne innre und äußre persönliche Freiheit dar. Dadurch daß sie im frohen Genusse ihrer selbst nur aus reiner Willkür [10]und Laune handelt, absichtlich ohne Grund oder wider Gründe, wird die innre Freiheit sichtbar; die äußre in dem Muthwillen, mit dem sie äußre Schranken verletzt, während das Gesetz großmüthig seinem Rechte entsagt. So stellten sich die Römer in den Saturnalien die Freiheit dar; ein ähnlicher <490> Gedanke lag vielleicht bei dem Karneval zum Grunde. Daß die Verletzung der Schranken nur scheinbar sei, nichts wirklich Schlechtes und Häßliches enthalte, und dennoch die Freiheit unbedingt sei: das ist die eigentliche Aufgabe einer jeden solchen Darstellung, und also auch der alten Griechischen Komödie.

Eine solche gränzenlose Freiheit genoß sie zu Athen. Schon ihr religiöser Ursprung erzog und bildete die komische Muse zur Freiheit, der Dichter und sein Chor waren heilige Personen: aus ihnen redete der Gott der Freude, und unter diesem Schutze waren sie unverletzlich. Aber bald ward aus einem religiösen Institut auch ein politisches, aus dem Feste eine öffentliche Angelegenheit, aus der Unverletzlichkeit des Priesters eine symbolische Darstellung der bürgerlichen Freiheit. Der Chor besonders deutete auf das Athenische Volk, welches in der Schönheit eines Spiels seine eigne Heiligkeit erblickte. Unter dem Deckmantel der Religion und der Politik, erschlich sich die Kunst das, worauf sie ein ewiges Recht hat, und was ihr der unglückliche Scharfsinn der Menschen raubte – unbeschränkte Autonomie. Wie die Wahrheit und die Tugend, ist die Schönheit ein ächtes erstgebornes Kind der menschlichen Natur, <491> und hat mit jenen ein gleiches vollgültiges Recht, Niemand zu gehorchen als sich selbst. Die Poesie kommt leichter in Gefahr dies Recht zu verlieren, als andre Künste; am meisten die komische Muse, welche nur bei einem Volke, und bei diesem einem Volke nur eine kurze Zeit, frei war. – Wenn irgend etwas in menschlichen Werken göttlich genannt werden darf, so ist es die schöne Fröhlichkeit und die erhabne Freiheit in den Werken des Aristophanes. Aber was die Schönheit [11]der alten Griechischen Komödie möglich machte, veranlasste und erzeugte auch ihre Fehler, welche den Verlust ihrer Freiheit und ihrer Schönheit nach sich zogen.

Daß die Freude frei und in ihrer Natürlichkeit schön sei, setzt eine Bildung des Menschen durch Freiheit und Natur voraus, wo alle seine Kräfte ihrem freien Spiel und ihrer eignen Entwicklung ungehemmt überlassen sind. Dann wird der Mensch, seine Bildung und seine Geschichte, ein gemeinschaftliches Resultat seiner beiden heterogenen Naturen; beide sind in unzertrennlicher Gemeinschaft, die Tugend ist reizend, und die Sinnlichkeit schön. Aber freie menschliche Bildung findet in sich selbst ihr Ende, weil früher oder später die Sinnlichkeit das Übergewicht gewinnen muß. Wie alle reine Produkte des freien mensch-<492>lichen Triebes, kann auch die freie Komödie höchstens nur einen Moment vollkommner Schönheit haben; nachher wird aus Freude Ausschweifung, aus Freiheit zügelloser Frevel. Allein auch diesen Moment hat die Griechische Komödie nicht erreicht; dazu hätten zwei Zeitpunkte zusammen treffen müssen: der wo die Sitten noch nicht verderbt, und der wo der komische Geschmack und die komische Kunst schon völlig gebildet waren. Es ging aber zu Athen gerade umgekehrt; die Sitten waren schon sehr verderbt, und der komische Geschmack noch roh. Der Künstler Aristophanes schließt sich an die Geschichte vom Anfange der Kunst, der Mensch Aristophanes findet seinen Platz in der Geschichte vom Verfalle. Dies ist aus zwei Gründen sehr begreiflich; die komische Kunst bildet sich später als die tragische, und das Publikum der Komödie verdirbt früher. Weil sie mehr die Empfänglichkeit beschäftigt, als die Selbstthätigkeit in Anspruch nimmt, und weil sie in Athen nicht die gebildetere Erziehung voraussetzte wie die Tragödie, so war ihr Publikum schlechter als das tragische, wie die öffentliche Meinung der Alten und die Lehren der Philosophen ausdrücklich bestätigen. Die Tragödie spannt und erhebt [12]ihr Publikum, hält also das Verderben des Geschmacks <493> so lange als möglich ab. Die Komödie hingegen verführt ihr Publikum, beschleunigt das Verderben des Geschmacks. Denn die Freude ist überhaupt etwas Verführerisches; sie macht leicht die Kraft nachläßig, die Sinnlichkeit berauscht und überwiegend. Die komische Kunst der Griechen ward später gebildet als die tragische: diese fand ihren Stof in den epischen und lyrischen Dichtern schon höchst gebildet und poetisirt; jene musste einen ganz neuen Stof erst zur Poesie erheben, das wirkliche gesellige Leben, welches sich selbst sehr spät ausbildete, nach ihrem Ideal poetisiren. Überhaupt scheint das tragische Genie früher rege zu werden, als das komische; das erste erfordert nur die großen Hauptmassen und Grundzüge der menschlichen Bildung und des menschlichen Schicksals; zu dem letztern muß der menschliche Geist und das menschliche Leben, wenn ich mich so ausdrücken darf, schon bis in die kleinsten Details ausgeführt sein.

Aus der Natur des freien Komischen überhaupt, und aus dem Ursprunge und Charakter der alten Griechischen Komödie, erklären sich sehr leicht ihre vorzüglichen Fehler: Rohigkeit, ehe der öffentliche Geschmack gebildet; Verderbtheit, nachdem die öffentliche Sittlichkeit schon entartet <494> war. Beides findet sich im Aristophanes; aber es ist weit weniger zu befürchten, daß wir uns an seinen Fehlern, welche unsre Sitten noch weit mehr beleidigen als die Gesetze der Kunst, den Geschmack verderben, als daß wir seine einzigen und göttlichen Schönheiten über jene verkennen möchten.

Nichts verdient den Tadel in einem Kunstwerke als Vergehungen wider die Schönheit und wider die Darstellung: das Häßliche und das Fehlerhafte. Was nur konvenzionellen Begriffen und Forderungen gewisser Stände Nazionen und Zeitalter widerspricht, ist darum nicht schlechthin verwerflich. Wir insbesondre müssen unsre ästhetischen Vorurtheile in [13]diesem Punkte vergessen; wir müssen uns erinnern daß die schöne Kunst mehr ist als die Geschicklichkeit, einer verzärtelten Sinnlichkeit zu schmeicheln; wir müssen aufhören, eine Beleidigung der physischen Delikatesse für strafbarer zu halten als eine Verletzung der Schönheit und der Kunst. Gewiß ist diese übertriebne physische Reizbarkeit, der Kunst weit nachtheiliger als Rohigkeit; diese erzeugt nur einzelne Fehler, jene macht aller Kunst ein Ende und würdigt sie zu einem Kitzel der Sinnlichkeit herab. Es ist uns anstößig, daß die Griechische Komödie zu dem Volke <495> in seiner Sprache redet; wir verlangen daß die Kunst vornehm sei. Aber die Freude und die Schönheit ist kein Privilegium der Gelehrten der Adlichen und der Reichen; sie ist ein heiliges Eigenthum der Menschheit. Die Griechen ehrten das Volk; und es ist nicht die kleinste Vortreflichkeit der Griechischen Muse, daß sie auch dem ungebildeten Verstande, dem gemeinen Manne die höchste Schönheit verständlich zu machen wußte. Freilich übertraf auch der gemeine Mann zu Athen, nicht bloß an natürlichem Geist und geselliger Bildung, sondern noch weit mehr an Freiheit und Energie des sittlichen Gefühls, alle seines Gleichen. Das beweis’t uns unter andern eben der Aristophanes, welcher uns oft so deutlich überführt daß es auch zu Athen Pöbel gab. Das Komische richtet sich, weit mehr als das Tragische, nach dem Grade der Reizbarkeit und der Fassungskraft seines Publikums; und diese hängen wieder von dem Maaße der geselligen Ausbildung und aller Seelenkräfte ab: daher der Unterschied unter dem Niedern und Edlen Komischen. Um eine nicht so reizbare Empfänglichkeit zu beleben, werden stärkere Reize, heftigere Erschütterungen erfordert; die Widersprüche und Kontraste, überhaupt die Verhältnisse, welche der ungebildete Verstand fassen <496> soll, müssen gröber und faßlicher sein. Wie wandelbar überhaupt diese Verhältnisse sind, erläutert das Beispiel der Kinder, der Wilden, des gemeinen Mannes. [14]Der rohere Mensch ist gegen das Widrige, welches das Komische oft enthält, nicht so empfindlich: ihn kann auch wohl das Komische eines leidenden oder schlechten Gegenstandes ergötzen. Es ist die eigentliche Aufgabe der Komödie, das Unvollkommne, welches allein der Freude dramatische Energie verleihen kann, so viel als möglich zu entfernen, zu vergüten oder zu mildern, ohne jedoch die Energie zu vernichten, oder den Mangel der komischen durch tragische Energie zu ersetzen – eine Forderung, die noch nie ganz befriedigt ist. An Energie fehlt es der komischen Kunst im Anfange nicht, aber sie ist beleidigend: von dem einem wesentlichen Element des Komischen, dem Unvollkommnen und Unangenehmen, enthält sie weit mehr, und doch nicht mehr von dem andern, der Freude. Für ihr roheres Publikum muß freilich das Schöne in ihrem Werke über das Häßliche das Übergewicht haben, sonst könnte es ihm nicht gefallen. Aber wenn der öffentliche Geschmack sich bildet, wenn der Verstand und die Reizbarkeit des Publikums sich verfeinern, so wird es die Werke, die es ehedem schön fand, belei-<497>digend finden. – Die Rohigkeit, welche oft auch unsittlich ist, muß man sich hüten mit der ästhetischen Unsittlichkeit zu verwechseln: diese ist nichts als Mangel an Harmonie, Zügellosigkeit der einzelnen Kräfte aus Übergewicht der Sinnlichkeit.

 

Man darf nicht glauben, daß die Griechische Komödie dadurch daß sie, wie ich vorhin erwähnte, die Sprache ihre Publikums redete, ihre Objektivität verloren habe, und zu einer individuellen Geschicklichkeit herabgesunken sei. Überhaupt widersprechen sich vollkommne Allgemeingültigkeit und höchste Individualität der Kunst nicht: sie muß beide vereinigen. Als Organ der Natur und der Schönheit, hat sie kein andres Publikum als die Menschheit; mag ihr sichtbares Publikum noch so bestimmt und beschränkt sein, sie hat es in ihm nur mit dem Menschlichen, mit dem Unveränderlichen [15]zu thun. Aber die Materie, die Sprache der Kunst, kann nicht zu individuell sein, weil sie dadurch immer an Verständlichkeit und Energie gewinnt: die komische Muse insbesondre kann ihre Schöpfungen nur in das Detail eines wirklichen Lebens bilden; der Grund ihrer Gemälde, der Schauplatz auf dem ihre Personen handeln sollen, muß Wirklichkeit, höchste Individualität sein. <498> Noch ein andrer Fehler des Aristophanes, nicht wider die Schönheit, sondern wider Reinheit der Kunst, erklärt sich ganz natürlich aus den politischen Verhältnissen der Griechischen Komödie. Bis die Rechte der Kunst vielleicht bei einem spätern Geschlechte einmal freiwillig anerkannt werden, kann der Komödie die Freiheit nur durch ein Institut gesichert werden. So war es bei den Griechen; aber noch ehe sie sich aus ihrem fremdartigen Ursprunge zu reiner Poesie entwickelte und völlig bildete, entartete sie schon in persönliche und politische Nebenabsichten. Die Satire des Aristophanes ist sehr oft nicht poetisch sondern persönlich, und eben so demagogisch als die Art mit der er den Wünschen und den Meinungen des Volks schmeichelt. – Zügellosigkeit hat zur natürlichen Folge, Erschlaffung; Mißbrauch der Freiheit, den Verlust derselben. Nach diesem, welcher sehr bald erfolgte, war der Griechischen Komödie noch weit weniger möglich, was sie selbst während ihrer schönsten Blüthe und freisten Regsamkeit nicht erreicht hat – das höchste komische Schöne. Hätte die Griechische Kunst es auch erreicht, so hätte sie es nicht bewahren können, hätte es bald verlieren müssen, wie das höchste Schöne im Tragischen, welches sie wirklich erreicht hat. Denn <499> sie war ein Produkt des freien Genies; und im freien Laufe der sich selbst überlass’nen menschlichen Natur, ist die Vollkommenheit nur ein Moment. Wenn aber nicht freie Natur, sondern Absicht, das Prinzip der menschlichen Bildung ist, wie unter uns; so wird ganz natürlich der Anfang damit gemacht, den [16]Menschen zu zerspalten, seine höhere Natur zu isoliren. Die Sinnlichkeit ist alsdann im Stande der Unterdrückung oder der Empörung; das Natürliche ist ohne Bildung nicht schön, die Freude darf nicht frei sein.

In andern Kunstwerken ist das Genie von seiner äußern Lage unabhängig: seine innere Freiheit kann ihm niemand rauben. Aber das komische Genie verlangt auch äußre Freiheit, kann ohne diese sich nur bis zur Grazie, nie bis zum höchsten Schönen erheben. Sie wird es erreichen, wenn die Absicht vielleicht in einer späten Zukunft ihr Geschäft vollendet und mit Natur endigt, wenn aus Gesetzmäßigkeit Freiheit wird, wenn die Würde und die Freiheit der Kunst ohne Schutz sicher, wenn jede Kraft des Menschen frei und jeder Mißbrauch der Freiheit unmöglich sein wird. Alsdann würde auch die reine Freude, ohne den Zusatz des Schlechten, welcher itzt dem Komischen nothwendig ist, an sich genug dramatische Energie <500> haben; die Komödie würde das vollkommenste aller poetischen Kunstwerke sein: oder vielmehr an die Stelle des Komischen würde das Entzückende treten, und wenn es einmal vorhanden wäre, ewig beharren. Die Poesie kann dies gemeinschaftliche Ziel nicht allein erreichen, aber sie kann ohne fremde Hülfe sich ihrem Ideal nähern. Das Schauspiel muß so viel als möglich mit der dramatischen Vollkommenheit die alte Fröhlichkeit vereinigen, zur Natürlichkeit zurückkehren und sich der Freiheit nähern. Wenn auf einem solchen Wege nur einige Schritte gethan sind, so läßt sich alles hoffen; und auf diesem Wege giebt es keinen bessern Wegweiser, kein vollkommneres Vorbild, als die alte Griechische Komödie. Sie ist ein unübertrefliches Muster schöner Fröhlichkeit, erhabener Freiheit, und komischer Kraft, bei allen Fehlern.

Aber noch außer denen, die ich schon entwickelt habe, wirft man dem Aristophanes vor: seine Stücke seien ohne dramatischen Zusammenhang und Einheit, seine Darstellungen in [17]Karrikatur und unwahr, er unterbreche oft die Täuschung. – Der letzte Tadel ist nicht ohne allen Grund: nicht bloß in dem politischen Intermezzo, der Parekbase, wo der Chor mit dem Volke redete, sondern auch außerdem kommen in häufigen Anspielungen der <501> Dichter und das Publikum zum Vorschein. Der Anlaß liegt in den politischen Verhältnissen der Komödie, aber eine Art von Rechtfertigung scheint mir auch in der Natur der komischen Begeisterung zu liegen. Diese Verletzung ist nicht Ungeschicklichkeit, sondern besonnener Muthwille, überschäumende Lebensfülle, und thut oft gar keine üble Wirkung, erhöht sie vielmehr, denn vernichten kann sie die Täuschung doch nicht. Die höchste Regsamkeit des Lebens muß wirken, muß zerstören; findet sie nichts außer sich, so wendet sie sich zurück auf einen geliebten Gegenstand, auf sich selbst, ihr eigen Werk; sie verletzt dann, um zu reizen, ohne zu zerstören. Dieser charakteristische Zug des Lebens und der Freude wird in der Komödie noch überdem bedeutend durch die Beziehung auf die Freiheit.

Dramatische Vollständigkeit ist in der reinen Komödie, deren Bestimmung öffentliche Darstellung und deren Prinzip der öffentliche Geschmack ist, nicht möglich; wenigstens so lange nicht möglich, bis sich das Verhältniß der Empfänglichkeit zur Selbstthätigkeit im Menschen ganz ändert, bis reine Freude, ohne allen Zusatz von Schmerz, hinreicht, seinen Trieb aufs höchste zu spannen. Bis dahin wird die komische Kunst, um die Energie <502> zu erreichen, ohne welche alle dramatische Darstellung unnatürlich und unwirksam ist, das Schlechte und den Schmerz zu Hülfe nehmen müssen: bis dahin bleibt also auch die Erbsünde der komischen Energie die nothwendige Lust am Schlechten. Die reine Lust ist selten lächerlich, aber das Lächerliche (sehr oft nichts anders als die Lust am Schlechten) ist weit wirksamer und lebendiger. Die eigentliche Aufgabe der Komödie ist: mit dem kleinsten Schmerz das höchste [18]Leben zu bewirken; ihr bestes Mittel dazu ist die Stellung, z. B. in einer überraschenden Plötzlichkeit der Kontraste. Ohne Nachtheil der Energie, hat sie noch nicht allen Zusatz des Häßlichen entbehren können; wie denn auch, nach der Meinung fast aller Philosophen, Unvollkommenheit ein wesentliches Ingrediens des Lächerlichen in der Natur ist, welchem das Komische in der Kunst entspricht. Geistige Freude ist rein und ruhig; eine Freude aber, die so heftig, unruhig, vermischt ist, wie die, welche das Komische bewirkt, ist höchst sinnlich. Sie erzeugt einen Rausch des Lebens welcher den Geist mit sich fortreißt; und Schönheiten welche die Selbststhätigkeit zu sehr in Anspruch nehmen, gehen verloren. Die vollkommne Kausalverknüpfung, die innere dramatische Nothwendigkeit und <503> Vollständigkeit, sind viel zu schwerfällig für einen leichten zerstreuenden Rausch; und der Genuß der Harmonie erfordert Besonnenheit, Beisammensein der ganzen Seele. Vollkommne tragische Ganze, oder auch wohl epische und philosophische Ganze im dramatischen Gewande, welche mit allen Reizen des Komischen geschmückt sind, sind gar nicht selten; aber ich zweifle, daß sich ein vollkommnes dramatisches Kunstwerk findet, in welchem die Einheit des Ganzen poetisch, und zwar nicht tragisch, sondern reinkomisch wäre.

Nachdem die Griechische Komödie nicht mehr frei, die komische Kraft des Genies erloschen (wäre sie noch vorhanden gewesen, so würde sie nur den zärtlicheren Geschmack beleidigt haben), aus Sittenlosigkeit Erschlaffung entstanden war, nachdem ferner die dramatische Kunst, die Sprache der Poesie der Philosophie und des geselligen Lebens, auch das gesellige Leben selbst den höchsten Grad der Ausbildung erreicht hatte; da entstand die neuere Griechische Komödie. Sie hatte die Schönheiten, welche die Komödie ohne Freiheit und ohne komische Kraft haben kann: Grazie im Stil, Humanität in den Charakteren, Anmuth der Dikzion, und Feinheit des Dialogs. [19]Der Mangel der komischen Energie ward (wie es über-<504>haupt unvermeidlich geschieht) durch tragische Energie ersetzt; die Tragödie war auch verfallen, und die neue Mischung mußte beide ersetzen. Von der Tragödie entlehnte sie: die sanfte Wärme der Leidenschaft welche sich oft dem tragischen Ernst nähert, und den eigenthümlichen Zauber der dramatischen Kunst, das Interesse durch die leichte Entwicklung einer schöngeordneten vollständigen Handlung zu spannen. Der Ausbildung und Verschönerung dieser neuen Gattung war vieles sehr günstig: die Attische Urbanität und Dikzion, die Vorbilder der alten Komödie und Tragödie, die Reminiscenzen der ehemaligen Freiheit; aber auf der andern Seite setzte der öffentliche Geschmack, welcher schon sehr verderbt war, der Kunst enge Gränzen. Er war nur noch für Grazie und Eleganz empfänglich. Bei einem Volke, wo der öffentliche Geschmack noch nicht so erschlafft ist, oder wo er überhaupt die Kunst nicht leitet, kann das Genie im gemischten Drama sich ohne Zweifel weit höher schwingen. Im Stof der neuern Griechischen Komödie herrscht nicht weniger Monotonie, als im Ideal. Die moralische Grazie des Menander war das höchste was der öffentliche Geschmack noch zu fassen fähig war. Aber dieser Dichter liebte die Philosophie, und war eine Aus-<505>nahme; seine Zeitgenossen selbst zogen ihm ja andre Dichter vor, in welchen sie ihre eigne erschlafte Sinnlichkeit im anmuthigsten Gewande wiederfanden.

Die Natur dieser Mischung der Tragödie und der Komödie selbst zu untersuchen, sie mit den Gesetzen der Schönheit und der Kunst zu vergleichen, und die Frage zu entscheiden, ob die Reinheit des Tragischen und des Komischen eine Bedingung ihrer Vollkommenheit ist oder nicht: das ist eine rein-theoretische Aufgabe, und liegt außer den Gränzen dieses Aufsatzes.

 

Dresden. Friedrich Schlegel.

[20]Über Lessing

<76> Lessings schriftstellerische Verdienste sind schon mehr als einmal der Gegenstand eigner beredter Aufsätze gewesen. Ein paar dieser Aufsätze, welche viele treffende und feine Bemerkungen enthalten, rühren von zwei der achtungswürdigsten Veteranen der deutschen Litteratur her. Ein Bruder, der Lessingen aufrichtig liebte, und ihn lange mit der Treue der Bewunderung beobachtet hatte, widmete der Beschreibung seiner Schicksale, Verhältnisse und Eigenthümlichkeiten ein umständliches Werk. Wenige Schriftsteller nennt und lobt man so gern, als ihn: ja es ist eine fast allgemeine Liebhaberei, gelegentlich etwas bedeutendes über Lessing zu sagen. Wie natürlich: da er, der eigentliche Autor der Nazion und des Zeitalters, so vielseitig und so durchgreifend wirkte, zugleich laut und glänzend <77> für Alle, und auf einige tief. Daher ist denn auch vielleicht über kein deutsches Genie so viel Merkwürdiges gesagt worden; oft aus sehr verschiednen, ja entgegengesetzten Standpunkten, zum Theil von Schriftstellern, welche selbst zu den geistvollsten oder zu den berühmtesten gehören.

Dennoch darf ein Versuch, Lessings Geist im Ganzen zu charakterisiren, nicht für überflüssig gehalten werden. Eine so reiche und umfassende Natur kann nicht vielseitig genug betrachtet werden, und ist durchaus unerschöpflich. So lange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Theil, und gewiß nicht der unwesentlichste, unsers Fortschreitens eben darin, daß wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es werth sind, zurückkehren, und alles Neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen, und uns neue Aussichten eröffnen. Der gewöhnlichen Behauptung: es sei schon Alles gesagt; die so scheinbar ist, daß sie von sich selbst gilt (denn so wie Voltaire sie ausdrückt, wird sie schon beim Terenz gefunden) muß man [21]daher in Rücksicht auf Gegenstände dieser Art vorzüglich, ja vielleicht in Rücksicht auf alle, von denen immer die Rede sein wird, die gerade widersprechende Behauptung entge-<78>gensetzen: Es sei eigentlich noch Nichts gesagt; nämlich so, daß es nicht nöthig wäre, mehr, und nicht möglich, etwas besseres zu sagen.

Was Lessingen insbesondere betrift: so sind überdem erst seit Kurzem die Akten vollständig geworden, nachdem man nun alles, was zur nähern Bekanntschaft mit dem großen Manne irgend nützlich sein mag, hat drucken lassen. Jene, welche gleich im ersten Schmerz über seinen Verlust schrieben, entbehrten viele wesentliche Dokumente, unter andern die unendlich wichtige Briefsammlung. Beide beschränkten ihre Betrachtungen nur auf einige Zweige seiner vielseitigen Thätigkeit: der eine richtete seine Absicht auf ein bestimmtes, nicht auf das ganze Publikum; der andre schwieg geflissentlich über Manches, oder verweilte nicht lange dabei. Gewiß nicht ohne Grund: aber Rücksichten, welche damals nothwendig waren, sind es vielleicht jetzt nicht mehr.

Lessing endlich war einer von den revolutionären Geistern, die überall wohin sie sich auch im Gebiet der Meinungen wenden, gleich einem scharfen Scheidungsmittel, die heftigsten Gährungen und gewaltigsten Erschütterungen allgemein verbreiten. In der Theologie wie auf der Bühne und in der Kritik hat er nicht blos <79> Epoche gemacht, sondern eine allgemeine und daurende Revolution allein hervorgebracht, oder doch vorzüglich veranlaßt. Revolutionäre Gegenstände werden selten kritisch betrachtet. Die Nähe einer so glänzenden Erscheinung blendet auch sonst starke Augen, selbst bei leidenschaftsloser Beobachtung. Wie sollte also die Menge fähig sein, sich dem stürmischen Eindruck nicht ganz hinzugeben, sondern ihn mit der geistigen Gegenwirkung aneignend aufzunehmen, wodurch allein er sich zum Urtheil bilden kann? Der erste [22]Eindruck litterarischer Erscheinungen aber ist nicht bloß unbestimmt: er ist auch selten reine Wirkung der Sache selbst, sondern gemeinschaftliches Resultat vieler mitwirkenden Einflüsse und zusammentreffenden Umstände. Dennoch pflegt man ihn ganz auf die Rechnung des Autors zu setzen, wodurch dieser nicht selten in ein durchaus falsches Licht gestellt wird. Der allgemeine Eindruck wird auch bald der herrschende; es bildet sich ein blinder Glauben, eine gedankenlose Gewohnheit, welche bald heilige Überlieferung und endlich beinah unverbrüchliches Gesetz wird. Die Macht einer öffentlichen und alten Meinung zeigt ihren Einfluß auch auf solche Männer, welche selbstständig urtheilen könnten; der Strom zieht auch sie mit fort, <80> oft ohne daß sie es nur gewahr werden. Oder wenn sie sich widersetzen, so gerathen sie dann in das andere Extrem, alles unbedingt zu verwerfen. Der Glaube wächst mit dem Fortgang, der Irrthum wird fest durch die Zeit und irrt immer weiter, die Spuren des Besseren verschwinden, Vieles und vielleicht das Wichtigste sinkt ganz in Vergessenheit. So bedarf es oft nur eines geringen Zeitraums, um das Bild von seinem Originale bis zur Unkenntlichkeit zu entfernen, und um zwischen der herrschenden Meinung über einen Schriftsteller, und dem was ganz offenbar in seinem Leben und in seinen Werken da liegt, dem was er selbst über sich urtheilte und der Art, wie er überhaupt die Dinge der litterarischen Welt ansah und maß, den schneidendsten Widerspruch zu erzeugen. Die, welche, wenn auch nicht in der Religion, doch in der Litteratur den alleinseligmachenden Glauben zu besitzen wähnen, wird dieser Widerspruch zwar selten in ihrer behäglichen Ruhe stören: aber jeder Unbefangne, dem er sich plötzlich zeigt, muß billig darüber erstaunen.

Überraschung und Erstaunen waren, das muß ich gestehen, jedesmal meine Empfindungen, wenn ich eine Zeitlang ganz in Lessings Schrif-<81>ten gelebt hatte, und nun absichtlich [23]oder zufällig wieder auf irgend etwas gerieth, wobei ich mich alles dessen erinnerte, was ich etwa schon über die Art, wie man Lessing gewöhnlich bewundert und nachahmt, oder zu bewundern und nachzuahmen unterläßt, gesammelt und beobachtet hatte.

Ja gewiß, auch Lessing würde wo nicht überrascht doch etwas befremdet werden, und nicht ganz ohne Unwillen lächeln, wenn er wiederkehrte und sähe, wie man nur die Vortreflichkeiten nicht müde wird an ihm zu preisen, die er immer streng und ernst von sich ablehnte, nur diejenigen unter seinen zahlreichen Bemühungen und Versuchen mit einseitiger und ungerechter Vorliebe fast allein zu zergliedern und zu loben, von denen er selbst am wenigsten hielt, und von denen wohl eigentlich vergleichungsweise am wenigsten zu sagen ist, während man das Eigenste und das Größte in seinen Äußerungen, wie es scheint, gar nicht einmal gewahr werden will und kann! Er würde doch erstaunen, daß gerade die poetischen Mediocristen, litterarischen Moderantisten und Anbeter der Halbheit, welche er, so lange er lebte, nie aufhörte eifrigst zu hassen und zu verfolgen, es haben wagen dürfen, ihn als einen Virtuosen der goldnen <82> Mittelmäßigeit zu vergöttern, und ihn sich ausschließend gleichsam zuzueignen, als sei er einer der ihrigen! Daß sein Ruhm nicht ein ermunternder und leitender Stern für das werdende Verdienst ist, sondern als Ägide gegen jeden misbraucht wird, der etwa in allem, was gut ist und schön, zu weit vorwärts gehn zu wollen droht! Daß träger Dünkel, Plattheit und Vorurtheil unter der Sankzion seines Namens Schutz suchen und finden! Daß man ihn und einen Addison, von dessen Zahmheit, wie ers nennt, er so verächtlich redet (wie er denn überhaupt nüchterne Correktheit ohne Genie beinah noch mehr geringschätzt, als billig ist) zusammenpaaren mag und darf, wie man etwa Miß Sara Sampson und Emilia Galotti und Nathan den Weisen in einem Athem [24]und aus einem Tone bewundert weil es doch sämmtlich dramatische Werke sind!

Auch Er würde, wenn sein Geist in neuer Gestalt erschiene, von seinen eifrigsten Anhängern verkannt und verläugnet werden, und könnte ihnen gar leicht großes Ärgerniß geben. Denn wenn der heilige Glauben nicht wäre, und der noch heiligere Namen, so dürfte Lessing doch wohl für manchen, der jezt auf seiner Autorität vornehm ausruht, an seine Einfälle <83> glaubt, die Größe seines Geistes für das Maß des menschlichen Vermögens, und die Gränzen seiner Einsicht für die wissenschaftlichen Säulen des Herkules hält, welche überschreiten zu wollen eben so gottlos als thöricht sei, nichts weiter sein, als ein ausgemachter Mystiker, ein sophistischer Grübler und ein kleinlicher Pedant.

Es ist nicht uninteressant, der allmähligen Entstehung und Ausbildung der herrschenden Meinung über Lessing nachzuforschen, und sie bis in ihre kleinsten Nebenzweige zu verfolgen. Die Darstellung derselben in ihrem ganzen Umfange, mit andern Worten, die Geschichte der Wirkungen, welche Lessings Schriften auf die deutsche Litteratur gehabt haben, wäre hinreichender Stoff für eine eigene Abhandlung. Hier wird es genug und zweckmäßiger sein, nur das Resultat einer solchen Untersuchung aufzustellen, und die im Ganzen herrschende Meinung, nebst den wesentlichsten Abweichungen einzelner Gattungen mit der Genauigkeit, die ein mittlerer Durchschnitt erlaubt, im Allgemeinen positiv und negativ zu bestimmen, und durch kurz angedeutete Gegensätze in ein helleres Licht zu setzen.

Völlig ausgemacht ist es nach dem einmüthigen Urtheil Aller, daß Lessing ein sehr großer Dichter sei. Seine dramatische Poesie hat <84> man unter allen seinen Geistesprodukten am weitläuftigsten und detaillirtesten zergliedert, und auf Alles, was sie betrift, legt man den wichtigsten Akzent. Läse man [25]nicht die Werke selbst, sondern nur was über sie gesagt worden ist: so dürfte man leicht verführt werden zu glauben, die Erziehung des Menschengeschlechts und die Freymäurergespräche stehen an Bedeutung, Werth, Kunst und Genialität der Miß Sara Sampson weit nach.

Auch das ist ausgemacht, daß Lessing ein unübertreflich einziger, ja beinah vollkommener Kunstkenner der Poesie war. Hier scheinen das Ideal und der Begriff des Individuums fast in einander verschmolzen zu sein. Beide werden nicht selten verwechselt, als völlig identisch. Man sagt oft nur: Ein Lessing, um einen vollendeten poetischen Kritiker zu bezeichnen. So redet nicht blos Jedermann, so drückt sich aus ein Kant, ein Wolf aus; Häupter der philosophischen und der philologischen Kritik, welchen man daher den Sinn für Virtuosität in jeder Art von Kritik nicht absprechen wird; beide an Liebe und Kunst, der Wahrheit auch in ihren verborgensten Schlupfwinkeln nachzuspüren, an schneidender Strenge der Prüfung bei biegsamer Vielseitigkeit Lessingen nicht unähnlich.

<85> Auch darin ist man einig, daß man seine Universalität bewundert, welche dem Größten gewachsen war, und es doch auch nicht verschmähte, selbst das Kleinste durch Kunst und Geist zu adeln. Einige, vorzüglich unter seinen nächsten Bewunderern und Freunden, halten ihn desfalls für ein Universalgenie, dem es zu gering gewesen wäre, nur in Einer Kunst oder Wissenschaft groß, vollendet und einzig zu sein, erklärt, ohne sich diesen Begriff recht genau zu bestimmen, oder über die Möglichkeit dessen, was sie behaupteten, strenge Rechenschaft zu geben. Sie machen ihn nicht ohne einige Vergötterung gleichsam zu einem Eins und Alles, und scheinen oft zu glauben, sein Geist habe wirklich keine Schranken gehabt.

Witz und Prosa sind Dinge für die nur sehr wenige Menschen Sinn haben, ungleich weniger vielleicht, als für kunstmäßige Vollendung und für Poesie. Daher ist denn auch von [26]Lessings Witz und von Lessings Prosa gar wenig die Rede, ungeachtet doch sein Witz vorzugsweise klassisch genannt zu werden verdient, und eine pragmatische Theorie der Deutschen Prosa wohl mit der Charakteristik seines Styls gleichsam würde anfangen und endigen müssen.

Noch weniger ist natürlich bei dem allge-<86>meinen Mangel an Sinn für sittliche Bildung und sittliche Größe, bei der modischen nichts unterscheidenden Verachtung der Ästhetiker gegen alles, was moralisch heißen will oder wirklich ist, der schwächlichen Schlaffheit, der eigensinnigen Willkührlichkeit, drükenden Kleinlichkeit und konsequenten Unvernunft der konvenzionellen und in der Gesellschaft wirklich geltenden Moral auf der einen Seite, und dem Bornirtismus abstrakter und buchstäbelnder Tugendpedanten und Maximisten auf der andern, von Lessings Charakter die Rede; von den würdigen männlichen Grundsätzen, von dem großen freien Styl seines Lebens, welches vielleicht die beste praktische Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten sein dürfte; von der dreisten Selbstständigkeit, von der derben Festigkeit seines ganzen Wesens, von seinem edeln vornehmen Cynismus, von seiner heiligen Liberalität; von jener biedern Herzlichkeit, die der sonst nicht empfindsame Mann in allem was Kindespflicht, Brudertreue, Vaterliebe, und überhaupt die ersten Bande der Natur und die innigsten Verhältnisse der Gesellschaft betrifft, stets offenbart, und die sich auch hie und da in Werken, welche sonst nur der Verstand gedichtet zu haben scheint, so anziehend und durch <87> ihre Seltenheit selbst rührender äußert; von jenem tugendhaften Haß der halben und der ganzen Lüge, der knechtischen und der herrschsüchtigen Geistesfaulheit; von jener Scheu vor der geringsten Verletzung der Rechte und Freiheiten jedes Selbstdenkers; von seiner warmen, thätigen Ehrfurcht vor allem was er als Mittel zur Erweiterung der Erkenntniß und in sofern als Eigenthum der Menschheit [27]betrachtete; von seinem reinen Eifer in Bemühungen, von denen er selbst am besten wußte, daß sie nach der gemeinen Ansicht, fehlschlagen und nichts fruchten würden, die aber in diesem Sinne gethan, mehr werth sind, wie jeder Zweck; von jener göttlichen Unruhe, die überall und immer nicht bloß wirken, sondern aus Instinkt der Größe handeln muß, und die auf alles, was sie nur berührt, von selbst, ohne daß sie es weiß und will, zu allem Guten und Schönen so mächtig wirket.

Und doch sind es grade diese Eigenschaften und so viele andre ihnen ähnliche noch weit mehr als seine Universalität und Genialität, um derentwillen man es nicht misbilligen mag, daß ein Freund die erhabene Schilderung, welche Cassius beim Shakespear vom Cäsar macht, auf ihn anwandte:

<88> Ja, er beschreitet, Freund, die enge Welt

Wie ein Kolossus, und wir kleinen Leute,

Wir wandeln unter seinen Riesenbeinen

Und schaun umher nach einem schnöden Grab.

Denn diese Eigenschaften kann nur ein großer Mann besitzen, der ein Gemüth hat, das heißt, jene lebendige Regsamkeit und Stärke des innersten, tiefsten Geistes, des Gottes im Menschen. Man hätte daher nicht so weit gehn sollen, zu behaupten, es fehle ihm an Gemüth, wie sie’s nennen, weil er keine Liebe hatte. Ist, denn Lessings Haß der Unvernunft nicht so göttlich wie die ächteste, die geistigste Liebe? Kann man so hassen ohne Gemüth? Zu geschweigen, daß so mancher, der ein Individuum oder eine Kunst zu lieben glaubt, nur eine erhitzte Einbildungskraft hat. Ich fürchte, daß jene unbillige Meinung um so weiter verbreitet ist, je weniger man sie laut gesagt hat. Einige Fantasten von der bornirten und illiberalen Art, welche gegen Lessing natürlich so gesinnt sein müssen, wie etwa der Patriarch gegen einen Alhafi oder gegen einen [28]Nathan gesinnt sein würde, scheinen ihm wegen jenes Mangels sogar die Genialität absprechen zu wollen. – Es ist hinreichend, diese Meinung nur zu erwähnen.

Die bibliothekarische und antiquarische Mi-<89>krologie des wunderlichen Mannes und seine seltsame Orthodoxie weiß man nur anzustaunen. Seine böse Polemik beklagt man fast einmüthig recht sehr, so wie auch, daß der Mann sogar fragmentarisch schrieb, und trotz alles Anmahnens nicht immer lauter Meisterwerke vollenden wollte. –

Seine Polemik insonderheit ist, ungeachtet sie überall den Sieg davon getragen hat, und man es auch da, wo es allerdings einer tiefern historischen Untersuchung, und kritischen Würdigung bedurft hätte, vorzüglich in Sachen des Geschmacks, bei seiner blos polemischen Entscheidung hat bewenden lassen, dennoch selbst so völlig vergessen, daß es vielleicht für Viele, welche Verehrer Lessings zu sein glauben, ein Paradoxon sein würde, wenn man behauptete, der Anti-Götze verdiene nicht etwa bloß in Rücksicht auf zermalmende Kraft der Beredsamkeit, überraschende Gewandheit und glänzenden Ausdruck, sondern an Genialität, Philosophie, selbst an poetischem Geiste und sittlicher Erhabenheit einzelner Stellen, unter allen seinen Schriften den ersten Rang. Denn nie hat er so aus dem tiefsten Selbst geschrieben, als in diesen Explosionen, die ihm die Hitze des Kampfs entriß, und in denen der Adel seines Gemüths <90> im reinsten Glanz so unzweideutig hervorstrahlt. Was könnten und würden auch wohl die Verehrer der von Lessing immer so bitter verachteten und verspotteten Höflichkeit und Decenz, »für welche die Polemik überhaupt wohl weder Kunst noch Wissenschaft sein mag,« zu einer Polemik sagen, gegen welche sie selbst Fichte’s Denkart friedlich und seine Schreibart milde nennen müßten? Und das in einem Zeitalter, wo man nächst der Mystik nichts so sehr scheut als Polemik, wo es herrschender Grundsatz ist, fünf grade sein zu [29]lassen, und die Sache ja nicht so genau zu nehmen, wo man alles dulden, beschönigen und vergessen kann, nur strenge rücksichtslose Rechtlichkeit nicht? Wenn diese Lessingsche Polemik nicht glücklicherweise so vergessen, viele seiner besten Schriften nicht so unbekannt wären, daß unter hundert Lesern vielleicht kaum Einer bemerken wird, wie ähnlich die Fichtische Polemik der Lessingschen sei, nicht etwa in etwas Zufälligem, im Kolorit oder Styl, sondern grade in dem, was das wichtigste ist, in den Hauptgrundsätzen, und in dem was am meisten auffält, in einzelnen schneidenden und harten Wendungen.

Lessings Philosophie, welche freilich wohl unter allen Fragmenten, die er in die <91> Welt warf, am meisten Fragment geblieben ist, da sie in einzelnen Winken und Andeutungen, oft an dem unscheinbarsten Ort andrer Bruchstücke, über alle seine Werke der letztern, und einige der mittlern und ersten Epoche seines geistigen Lebens zerstreut liegt; seine Philosophie, welche für den Kritiker, der ein philosophischer Künstler werden will, dennoch sein sollte, was der Torso für den bildenden Künstler; Lessings Philosophie scheint man nur als Veranlassung der Jakobischen, oder gar nur als Anhang der Mendelsohnschen zu kennen! Man weiß nichts davon zu sagen, als daß er die Wahrheit und Untersuchung liebte, gern stritt und widersprach, sehr gern Paradoxen sagte, gewaltig viel Scharfsinn besaß, Dummköpfe mit unter ein wenig zum Besten hatte, an Universalität der Kenntnisse und Vielseitigkeit des Geistes Leibnitzen auffallend ähnelte, und gegen das Ende seines Lebens leider ein Spinosist wurde!

Von seiner Philologie erwähnt man, daß er in der Conjekturalkritik, welche der Gipfel der philologischen Kunst sei, ungleich weniger Stärke besitze, als man wohl erwarten möge, da er doch in der That einige der zu dieser Wissenschaft erforderlichen und ersprießlichen Geistesgaben von der Natur erhalten hätte.

[30]<92> Was die Mediocristen sich von der nachahmungswürdigen Universalcorrectheit des weisen nüchternen Lessing eingebildet haben, ist schon erwähnt worden. Diese haben denn auch natürlich seine dramaturgischen und sonst zur Poetik und Theorie der Dichtarten gehörigen Fragmente und Fermente, die er wohl selbst so nannte, fixirt, und zu heiligen Schriften und symbolischen Büchern der Kunstlehre erkieset.

Dies sind wohl ungefähr die hauptsächlichsten Gesichtspunkte und Rubriken, nach welchen man von Lessing überhaupt etwas geurtheilt oder gemeint hat. Wie alles das, was er in jedem dieser Fächer sein soll oder wirklich war, wohl zusammen hängen mag, welcher gemeinsame Geist Alles beseelt, was er denn eigentlich im Ganzen war, sein wollte, und werden mußte; darüber scheint man gar nichts zu urtheilen und zu meinen. Geht man sonst bei seiner Charakteristik ins Einzelne: so geschieht dies nicht etwa nach den verschiedenen Stufen seiner litterarischen Bildung, den Epochen seines Geistes, und mit der Unterscheidung des eignen Styls und Tons eines jeden, noch nach den vorherrschenden Richtungen und Neigungen seines Wesens, nach den verschiedenen <93> Zweigen seiner Thätigkeit und Einsicht: sondern nach den Titeln seiner einzelnen Schriften, die man nicht selten, (oft mit Übergehung der wichtigsten und bei weitläuftiger Zergliederung der dramatischen Jugendversuche) nach nichtsbedeutenden Gattungsnahmen registermäßig zusammenpaart; da doch jedes seiner meisten und besten Werke, ein litterarisches Individuum für sich, ein Wesen eigner Art ist, »was aller Gränzscheidungen der Kritik spottet,« und oft weder Vorgänger noch Nachfolger hat, womit es in eine Rubrik gebracht werden könnte.

Da ich, was Lessing betrifft, Lessingen und seinen Werken mehr glaube, als seinen Beurtheilern und Lobrednern: so kann ich nicht umhin, diese Ansichten und Meinungen, in so fern [31]