Mit den Augen des Westens

Joseph Conrad


Teil 1

Zunächst möchte ich feststellen, daß ich in keiner Weise die starke Einbildungskraft und Ausdrucksfähigkeit besitze, die es mir ermöglicht hätte, dem Leser die Gestalt des Mannes anschaulich zu machen, der sich, der russischen Sitte gemäß, Kyrill Sohn des Isidor – Kyrill Sidorowitsch – Rasumoff nannte.

Hätte ich diese Gaben überhaupt jemals in irgendeiner Weise besessen, so wären sie doch schon längst in einem Wust von Worten untergegangen. Worte sind ja bekanntlich die geschworenen Feinde der Wirklichkeit. Ich war jahrelang Sprachlehrer. Diese Beschäftigung räumt auf die Dauer mit allem auf, was ein Durchschnittsmensch an Einbildungskraft, Beobachtungsgabe oder Einsicht besitzen könnte. Für einen Sprachlehrer kommt die Zeit, wo ihm die Welt nichts ist als die Heimat vieler Worte und der Mensch lediglich ein sprechendes Tier, nicht viel wunderbarer als ein Papagei.

Unter solchen Umständen wäre es mir unmöglich gewesen, der Geschichte Rasumoffs einen Schein von Lebendigkeit zu geben oder gar sie frei zu gestalten. Selbst die freie Erfindung der nackten Tatsachen seines Lebens hätte meine Kraft weit überstiegen. Doch ich glaube, daß auch ohne diese Erklärung die Leser dieser Geschichte darin die unverkennbaren Zeichen des tatsächlichen Geschehens entdecken werden; und wirklich liegt ihr ein Dokument zugrunde. Mein ganzer Anteil besteht in meinen Kenntnissen der russischen Sprache, die für meinen Zweck genügten. Das Dokument ist natürlich eine Art Tagebuch und doch wieder nicht das, was man gemeinhin darunter versteht. So wurde zum Beispiel der größere Teil der Eintragungen nicht von Tag zu Tag gemacht, wenn sie auch alle datiert sind. Manche dieser Eintragungen umfassen Monate und erstrecken sich über Dutzende von Seiten. Der ganze erste Teil ist ein Rückblick in erzählender Form und bezieht sich auf ein Ereignis, das sich ungefähr ein Jahr vorher zutrug.

Ich muß erwähnen, daß ich lange Zeit in Genf lebte. Ein ganzer Bezirk dieser Stadt wird mit Rücksicht auf .die vielen Russen, die darin wohnen, »La Petite Russie« genannt – das kleine Rußland. Zu jener Zeit hatte ich recht ausgedehnte Beziehungen zu diesem »kleinen Rußland«, doch gestehe ich, daß mir das Verständnis für den russischen Charakter fehlt. Die Unlogik ihres Gehabens, die Willkür ihrer Schlüsse, die vielen Ausnahmen sollten für jemand, der viele Grammatiken studiert hat, keine Schwierigkeiten bieten. Es muß aber noch etwas anderes vorliegen, ein besonderer menschlicher Zug, einer jener feinen Unterschiede, die sich dem Auge des bloßen Lehrers entziehen. Was einen Sprachlehrer immer packen muß, das ist die außerordentliche Vorliebe der Russen für Worte; sie häufen sie an, sie pflegen sie, behalten sie aber nicht für sich, sondern sind im Gegenteil Tag und Nacht bereit, sie in reichem Fluß von sich zu geben, und oft mit so treffender Schärfe, daß man sich, wie bei besonders hochstehenden Papageien, manchmal der Vermutung nicht erwehren kann, daß sie wirklich verstehen, was sie sagen. In allen ihren wortreichen Ausführungen liegt ein Feuer, das sie über bloße Geschwätzigkeit weit hinaushebt, und doch sind sie wieder nicht in sich geschlossen genug, um als Beredsamkeit gelten zu können. – Doch muß ich wegen dieser Abschweifungen um Entschuldigung bitten.

Es wäre müßig, nachforschen zu wollen, warum Rasumoff diese Erinnerungen hinterlassen hat. Es scheint schwer glaublich, daß es sein Wunsch gewesen sein könnte, sie möchten irgendeinem Menschen vor Augen kommen. Hier spielt, glaube ich, ein geheimnisvoller Trieb der menschlichen Natur herein. Abgesehen von Samuel Pepys, der sich auf diese Weise das Tor der Unsterblichkeit erschlossen hat, haben ungezählte andere – Verbrecher, Heilige, Philosophen, junge Mädchen, Staatsmänner und glatte Dummköpfe – offenherzige Tagebücher geführt, aus Eitelkeit zweifellos, doch gewiß auch aus anderen Gründen. Es muß eine wunderbar beruhigende Kraft in bloßen Worten liegen, da so viele Leute sie gebrauchen, wenn sie Einkehr in sich selbst halten wollen. Da ich selbst ein ruhiger Mensch bin, so nehme ich an, daß es irgendeine Art von Frieden ist oder vielleicht nur eine Formel dafür, was alle suchen. Jedenfalls ist der Ruf danach heutzutage laut genug. Inwiefern aber Kyrill Sidorowitsch Rasumoff erwarten konnte, in der Aufzeichnung seiner Erinnerungen Frieden zu finden, das übersteigt meine Fassungsgabe.

Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen, daß er sie aufgezeichnet hat.

Rasumoff war ein schlanker, wohlgebauter junger Mann, ganz ungewöhnlich dunkel für einen Russen aus den zentralen Provinzen. Seine Schönheit wäre unbestreitbar gewesen, ohne einen merkwürdigen Mangel von Feinheit in seinen Zügen. Es war, als hätte man ein kräftig in Wachs modelliertes Gesicht (von einer fast ans Klassische grenzenden Ebenmäßigkeit) nahe ans Feuer gehalten, bis mit der Erweichung des Materials alle Schärfe der Linienführung verlorengegangen wäre. Doch auch so sah er gut genug aus. Auch seine Manieren waren gut. In Diskussionen beugte er sich gern vor Argumenten und Autoritäten, jüngeren Landsleuten gegenüber nahm er die Pose des undurchdringlichen Zuhörers an, eines Menschen von der Art, die einen aufmerksam bis zu Ende anhören und dann – einfach das Thema wechseln.

Dieser Kniff, der in geistiger Unzulänglichkeit seine Ursache haben kann oder auch in einem mangelhaften Vertrauen in die eigene Überzeugung, brachte Rasumoff in den Ruf von Gedankentiefe. Unter einer Schar begeisterter Sprecher, deren Gewohnheit es ist, sich täglich in feurigen Diskussionen auszugeben, muß natürlich ein verhältnismäßig schweigsamer. Mensch den Anschein von Verschlossenheit erwecken. Seine Kameraden von der St. Petersburger Universität blickten auf Kyrill Sidorowitsch Rasumoff, der im sechsten philosophischen Semester stand, als auf einen starken Charakter – einen durchaus zuverlässigen Mann. In einem Lande, in dem eine Überzeugung ein Verbrechen sein kann, auf dem Tod steht oder manchmal ein schlimmeres Schicksal als bloßer Tod, hieß das, daß man ihm verbotene Überzeugungen zutrauen und anvertrauen konnte. Er war aber auch beliebt wegen seiner Liebenswürdigkeit und seiner ruhigen Art, jemand gefällig zu sein, selbst auf Kosten seiner persönlichen Bequemlichkeit.

Rasumoff galt als der Sohn eines Erzpriesters, und es hieß, daß er von einem Hocharistokraten – vielleicht aus seiner eigenen entfernten Provinz – protegiert werde. Seine äußere Erscheinung aber stimmte schlecht zu einer so einfachen Herkunft. Diese Abstammung schien nicht glaublich. Tatsächlich ging das Gerücht, daß Rasumoffs Mutter die hübsche Tochter eines Erzpriesters gewesen sei, was natürlich die ganze Frage in anderem Lichte erscheinen ließ. Diese Vermutung machte auch die Protektion des Aristokraten verständlich. Doch hatte man all dem niemals boshaft oder sonstwie nachgeforscht. Niemand wußte es oder kümmerte sich darum, wer der fragliche Aristokrat war. Rasumoff erhielt einen bescheidenen, doch durchaus ausreichenden Monatswechsel von einem ziemlich bekannten Sachwalter ausgezahlt, der in gewisser Beziehung als sein Vormund zu fungieren schien. Dann und wann erschien er bei Privatempfängen irgendeines Professors. Davon abgesehen, wußte niemand andere gesellschaftliche Beziehungen Rasumoffs in der Stadt anzugeben. Er besuchte die vorgeschriebenen Vorlesungen regelmäßig und galt an der Universität als vielversprechender Student. Er arbeitete zu Hause nach Art eines Menschen, der es vorwärtssbringen will, schloß sich deswegen aber nicht asketisch ab. Er war immer zugänglich, und sein Leben erschien weder geheimnisvoll noch zurückgezogen.

Kapitel 1

Der Anfang von Rasumoffs Erinnerungen ist mit einem Ereignis verknüpft, wie es für das moderne Rußland charakteristisch ist: mit der Ermordung eines hervorragenden Staatsmannes und noch charakteristischer für die moralische Korruption einer unterdrückten Gesellschaft, in der die edelsten Triebe des Menschen, der Freiheitsdrang, glühende Vaterlands- und Gerechtigkeitsliebe, das Mitleid und sogar die feste Treue schlichter Gemüter der Willkür von Haß und Furcht preisgegeben sind, den unzertrennlichen Begleitern eines nicht hinreichend gefestigten Despotismus.

Das erwähnte Ereignis ist das gelungene Attentat auf Herrn von P., den Präsidenten der berüchtigten Unterdrückungskommmission, die vor einigen Jahren vom Staatsminister eingesetzt und mit außerordentlicher Macht bekleidet worden war. Die Zeitungen schrieben mehr als genug über jene fanatische schmalbrüstige Erscheinung in goldverschnürter Uniform, mit einem Gesicht wie altes Pergament, ausdruckslosen, bebrillten Augen und dem Großkreuz des Prokopius-Ordens um den faltigen Hals. Eine Zeitlang verging, wie man sich erinnern wird, kein Monat, ohne daß sein Bild in irgendeiner der illustrierten Zeitschriften Europas erschienen wäre. Er diente der Monarchie, indem er Männer und Frauen, junge und alte, ins Gefängnis, in die Verbannung oder zum Galgen schickte, mit ewig gleichem, unerschütterlichem Eifer. In seiner mystischen Verehrung des autokratischen Prinzips hatte er es sich zum Ziel gesetzt, im Lande jedwede Spur davon auszutilgen, was an Freiheit im öffentlichen Leben erinnern konnte, und bei seiner rücksichtslosen Verfolgung der neuen Generation schien er es darauf abgesehen zu haben, sogar die Hoffnung auf Freiheit zu vernichten.

Man erzählt sich, daß dieser vielfach verwünschte Mann nicht Einbildungskraft genug hatte, sich über den Haß klar zu werden, den er erweckte. Es klingt kaum glaublich; und doch ist es eine Tatsache, daß er recht wenig Maßnahmen für seine persönliche Sicherheit traf. In dem Leitartikel einer gewissen bekannten Staatszeitung hat er einmal erklärt, daß »der Freiheitsgedanke in dem Werk des Schöpfers niemals existiert habe. Aus einer Vielheit menschlicher Entschlüsse könne immer nur Auflehnung und Unordnung sich ergeben, und diese seien Sünde in einer Welt, die für Gehorsam und Ordnung geschaffen sei. Nicht Vernunft, sondern Autorität sei der Ausdruck der göttlichen Absicht. Gott sei der Selbstherrscher des Weltalls … « Es mag sein, daß der Mann, der diese Erklärung abgab, glaubte, der Himmel selbst müßte ihn in seinem rücksichtslosen Kampf für die Autokratie auf dieser Welt beschützen.

Zweifellos rettete ihn die Wachsamkeit der Polizei zu verschiedenen Malen. Fest steht aber auch, daß die zuständigen Behörden ihm keine Warnung hatten geben können, als das ihm zugedachte Geschick sich erfüllte. Sie hatten keine Kenntnis von irgendeiner Verschwörung gegen des Ministers Leben; durch ihre üblichen Kanäle war keine Kunde davon gesickert, man hatte keine Anzeichen bemerkt, keine verdächtigen Regungen oder gefährliche Personen.

Herr von P. fuhr in einem offenen, zweispännigen Schlitten nach der Bahnstation, mit Lakai und Kutscher auf dem Bock. Es hatte die ganze Nacht geschneit, und die Straße war zu dieser frühen Stunde noch nicht frei gemacht, so daß die Pferde schwer vorwärts kamen. Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken. Doch der Schlitten mußte genau beobachtet worden sein. Als das Gefährt nach links ausbog, um eine Ecke zu nehmen, bemerkte der Lakai einen Bauern, der langsam auf dem Bürgersteig hinschritt, die Hände in den Taschen seines Pelzrockes und die Schultern im Schneegestöber hochgezogen. Als der Schlitten ihn überholte, fuhr der Bauer plötzlich herum und erhob den Arm. Im Augenblick erfolgte ein furchtbarer Schlag, eine Detonation, die durch das Schneetreiben gedämpft wurde. Beide Pferde lagen tot und verstümmelt auf dem Boden, und der Kutscher war mit einem schrillen Aufschrei tödlich verwundet vom Bock gefallen. Der Lakai, der unverletzt blieb, hatte keine Zeit, sich das Gesicht des Mannes in dem Schafpelz einzuprägen. Dieser entfernte sich, nachdem er die Bombe geschleudert hatte. doch vermutet man, daß er es für klüger gehalten habe, zu dem Ort der Explosion zurückzukehren, da er von allen Seiten eine Menge von Leuten durch das Schneetreiben heraneilen sah.

In unglaublich kurzer Zeit hatte sich eine aufgeregte Masse rings um den Schlitten versammelt. Der Ministerpräsident, ebenfalls unverletzt, war in den tiefen Schnee hinausgetreten, stand neben dem sterbenden Kutscher und sprach zu wiederholten Malen den Leuten mit seiner schwachen, farblosen Stimme zu: »Ich bitte euch, bleibt weg. Um der Liebe Gottes willen bitte ich euch, gute Leute, wegzubleiben.«

In diesem Augenblick trat ein schlanker junger Mensch, der bisher regungslos in einem Torweg zwei Häuser weiter gestanden hatte, in die Straße hinaus, ging rasch ein paar Schritte und schleuderte über die Köpfe der Menge weg eine zweite Bombe. Diese traf den Ministerpräsidenten gerade an der Schulter, während er sich über seinen sterbenden Diener beugte, fiel dann zu seinen Füßen nieder, explodierte mit grauenhafter Gewalt und streckte ihn selbst tot zu Boden, gab dem Verwundeten den Rest und vernichtete den leeren Schlitten in einem Umsehen. Mit einem Schrei des Entsetzens stob die Menge nach allen Richtungen auseinander, mit Ausnahme jener, die tot oder sterbend nächst dem Ministerpräsidenten liegen blieben, und einem oder zwei anderen, die erst niederstürzten, nachdem sie eine kurze Strecke gerannt waren. Die erste Explosion hatte wie durch Hexerei eine Menschenmenge zur Stelle gebracht, die zweite ebenso rasch eine völlige Leere in der Straße geschaffen, für Hunderte von Metern nach jeder Seite hin. Durch den fallenden Schnee blickten Leute von ferne auf den kleinen Haufen von Leichen, die übereinander lagen, neben den beiden Pferdekadavern. Niemand wagte sich in die Nähe, bis ein paar Kosaken von einer Straßenpatrouille angaloppierten, absaßen und die Toten umzuwenden begannen. Unter den unschuldigen Opfern der zweiten Explosion, die man auf den Bürgersteig gebettet hatte, war auch ein Mann in einem bäuerlichen Schafpelz, doch das Gesicht war unkenntlich, in den Taschen seiner ärmlichen Kleidung wurde absolut nichts gefunden, und er war der einzige, dessen Identität niemals festgestellt wurde.

An jenem Tage stand Rasumoff zur gewöhnlichen Stunde auf und verbrachte den Vormittag in der Universität, indem er Vorlesungen hörte und eine Zeitlang in der Bibliothek arbeitete. Bei Tisch in der Mensa academica, wo er sein Mittagsmahl zu nehmen pflegte, hatte er die ersten leisen Andeutungen über irgend etwas wie ein Bombenattentat gehört. Doch diese Andeutungen wurden nur geflüstert, und man war in Rußland, wo es nicht immer rätlich war, besonders für einen Studenten, an gewissen Arten von Geflüster zu viel Anteil zu nehmen; Rasumoff war einer jener Leute, die in einer Periode geistiger und politischer Unruhen leben und dabei instinktiv im normalen, praktischen, alltäglichen Leben Halt suchen. Er war sich der hochgradigen Spannung seiner Zeit bewußt. Er reagierte sogar darauf in unbestimmter Weise; sein Hauptaugenmerk aber war auf seine Arbeit, seine Studien und seine eigene Zukunft gerichtet.

Da er offiziell und tatsächlich keine Familie besaß (denn die Tochter des Erzpriesters war längst tot), so hätten keine äußerlichen Einflüsse auf seine Überzeugungen oder Gefühle einwirken können. Er stand in der Welt so allein wie ein Mann, der auf hoher See schwimmt. Das Wort Rasumoff war nichts als die Spitzmarke für eine einsame Persönlichkeit. Nirgendwo gab es Rasumoffs, die zu ihm gehörten. Seine nächsten verwandtschaftlichen Beziehungen waren mit der Feststellung gegeben, daß er ein Russe war, und diese Beziehung allein konnte ihm alles Gute, was er vom Leben erhoffte, geben oder versagen. Diese ungeheure Verwandtschaft litt unter·inneren Zerwürfnissen. Doch er schreckte instinktiv vor dem Getriebe zurück, so wie ein gutmütiger Mensch davor zurückschrecken mag, in einem heftigen Familienzwist Partei zu nehmen.

Auf dem Heimweg überlegte Rasumoff, daß er nun seine ganze Zeit der Preisarbeit widmen könne, da er mit den Vorarbeiten für die nächste Prüfung fertig sei. Er strebte nach der Silbernen Medaille. Das Unterrichtsministerium hatte einen Preis ausgesetzt, die Namen der Bewerber sollten dem Minister selbst vorgelegt werden. Die bloße Beteiligung mußte höheren Ortes als verdienstvoll angesehen werden, und der Erringer des Preises sollte nach Erlangung des Doktorgrades Anspruch auf eine bessere Anstellung bei der Regierung haben. In einer Anwandlung von Stolz vergaß der Student Rasumoff die Gefahren, die den Bestand der Einrichtungen bedrohten, die Belohnungen und Anstellungen zu vergeben hatten; dachte er aber an den Preisträger des Vorjahres, dann fühlte Rasumoff, der junge Mann ohne irgendwelche Verwandte, sich ernüchtert. Er und einige andere waren zufällig im Zimmer ihres Kameraden anwesend, als diesem gerade die offizielle Verständigung von seinem Erfolg zugestellt wurde. Er war ein ruhiger, anspruchsloser junger Mensch. »Verzeiht«, hatte er gesagt, während er mit einem schwachen Lächeln der Entschuldigung nach seiner Pelzmütze griff, »ich gehe fort und lasse Wein heraufschicken. Zuerst aber muß ich meinen Leuten nach Hause telegraphieren. Ich bin sicher, daß die beiden Alten ein Fest deswegen feiern und die Leute zwanzig Meilen in der Runde zu Gaste laden werden.«

Rasumoff dachte, daß es für ihn nichts dergleichen in der Welt gäbe. Über seinen Erfolg würde sich niemand freuen. Dennoch fühlte er keine Bitterkeit gegen seinen hochadeligen Protektor, der übrigens kein Provinzmagnat war, wie man allgemein annahm. Tatsächlich war es niemand Geringeres als Fürst K., der einst eine große und glänzende Rolle in der Welt gespielt hatte und nun, da seine Zeit um war, als Senator und gichtischer Invalide zwar immer noch glänzend, doch mehr in seine Häuslichkeit zurückgezogen lebte. Er hatte ein paar junge Kinder und eine Frau, die ebenso adelsstolz war wie er selbst.

In seinem ganzen Leben war es Rasumoff nur einmal vergönnt gewesen, mit dem Fürsten in persönliche Berührung zu kommen.

Dies eine Mal trug den Anschein eines zufälligen Zusammentreffens in dem Büro des kleinen Sachwalters. Als Rasumoff sich eines Tages auf eine Einladung dort einfand, sah er einen Fremden vor sich stehen, einen schlanken Mann von aristokratischem Äußeren, mit seidigem, grauem Backenbart. Der kahlköpfige, listige kleine Advokat rief mit leicht ironischer Herzlichkeit: »Treten Sie ein, treten Sie ein, Herr Rasumoff!« Dann wandte er sich ehrfurchtsvoll an den großartigen Fremden mit den Worten: »Mein Mündel, Ew. Exzellenz, einer der meistversprechenden Studenten seiner Fakultät an der St. Petersburger Universität.« Zu seiner maßlosen Überraschung sah Rasumoff, wie sich ihm eine weiße, wohlgeformte Hand entgegenstreckte. Er nahm sie in großer Verwirrung (sie war weich und schlaff) und hörte zur gleichen Zeit ein herablassendes Murmeln, von dem er nur die Worte erfaßte: »erfreulich« und »so fortmachen«. Das Erstaunlichste dabei aber war, daß er plötzlich einen deutlichen Druck der weißen wohlgeformten Hand fühlte, knapp bevor sie zurückgezogen wurde, einen leichten Druck wie ein geheimes Zeichen. Rasumoff wurde dadurch unglaublich erregt. Das Herz schien ihm in die Kehle zu springen. Als er die Augen wieder erhob, hatte die aristokratische Persönlichkeit eben den kleinen Sachwalter zur Seite gewinkt, die Türe geöffnet und war im Hinausgehen.

Der Advokat wühlte eine Zeitlang unter den Papieren auf seinem Tisch. »Wissen Sie, wer das war?« fragte er plötzlich.

Rasumoff, dessen Herz noch immer hart pochte, schüttelte schweigend den Kopf.

»Das war Fürst K. Sie wundern sich, was er in der Bude eines armen Aktenschnüfflers, wie ich es bin, zu tun haben könnte, he? Diese grausam hohen Herrschaften kennen die sentimentale Neugier so gut wie gewöhnliche Sünder. Wenn ich aber Sie wäre, Kyrill Sidorowitsch«, fuhr er fort – mit einem scharfen Seitenblick und eigentümlicher Betonung des ersten Vornamens, »dann würde ich mich dieser Vorstellung nicht weiter rühmen. Das wäre nicht schlau, Kyrill Sidorowitsch, bei Gott nicht! Im Gegenteil, es wäre gefährlich für Ihre Zukunft.«

Dem jungen Menschen brannten die Ohren wie Feuer. Sein Blick war umnebelt. »Dieser Mann«, sagte sich Rasumoff, »Er!« Von da ab wurde es Rasumoff zur Gewohnheit, dieses »Er« zu gebrauchen, wenn er an den Fremden mit dem grauen seidigen Backenbart dachte. Von dieser Zeit an achtete er auch mit besonderer Aufmerksamkeit auf die prachtvollen Pferde und Wagen mit den Lakaien des Fürsten K. auf dem Bock, sooft er sie in den Straßen traf. Einmal sah er die Fürstin aussteigen – sie machte Einkäufe –, von zwei Mädchen gefolgt, von denen das eine fast um einen Kopf größer war als das andere. Ihr blondes Haar hing ihnen offen über den Rücken, nach englischer Art; sie hatten frohe Augen, ihre Pelzjacken, Muffe und kleinen Pelzkappen waren vollkommen gleich, und ihre Wangen und Nasenspitzen hatte die Kälte lustig gerötet. Sie kreuzten gerade vor ihm die Straße, und Rasumoff ging seines Weges weiter und lächelte verstohlen vor sich hin. »Seine« Töchter. Sie waren »Ihm« ähnlich. Der junge Mann fühlte eine warme Sympathie für diese Mädchen, die nie von seiner Existenz erfahren sollten. Heute oder morgen würden sie Generale oder Kammerherren heiraten und wieder Mädel und Buben haben, die vielleicht einmal von ihm hören würden, wenn er ein berühmter alter Professor sein würde, mit vielen Orden, vielleicht ein Geheimrat, eine von den Größen Rußlands und nichts mehr.

Doch ein berühmter Professor war immerhin auch etwas. Die Berühmtheit würde die Spitzmarke Rasumoff zu einem geehrten Namen machen. In der Sehnsucht des Studenten Rasumoff nach Berühmtheit lag nichts Außergewöhnliches. Das wahre Leben eines Mannes beginnt ja erst, wenn er in der Begriffssphäre anderer Menschen in Ehrfurcht oder natürlicher Liebe festen Fuß gefaßt hat. Als er am Tage des Attentats an Herrn von P. nach Hause kam, faßte er den Entschluß, seine volle Kraft für die Silberne Medaille einzusetzen. – Während er langsam in dem dunkeln, schmutzigen Stiegenhaus die vier Stockwerke bis zu seiner Wohnung emporklomm, fühlte er eine feste Siegeszuversicht. Der Name des Gewinners sollte am Neujahrstage in den Zeitungen veröffentlicht werden, und bei dem Gedanken, daß »Er« ihn da höchstwahrscheinlich lesen würde, machte Rasumoff auf der Treppe kurz halt und stieg dann mit einem leisen Lächeln über seine eigene Erregung weiter. »Das sind ja nur Träume«, sagte er sich, »die Medaille ist aber doch ein fester Anfang.«

Mit diesen verheißenden Plänen im Kopfe empfand er die Wärme seines Zimmers doppelt angenehm und ermutigend. »Ich will vier Stunden lang fest arbeiten«, sagte er. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da erschrak er furchtbar. Gegen den landesüblichen, hohen weißen Kachelofen, der durch das Dämmer schimmerte, hob sich ganz schwarz eine merkwürdige Gestalt ab, in einem langen, eng anliegenden, braunen Tuchrock mit einem Gürtel um die Taille, in hohen Stiefeln und mit einer kleinen Astrachanmütze auf dem Kopf. Ein leichtes Grauen schien von dem Fremden auszugehen.

Rasumoff war aufs tiefste bestürzt. Erst als die Gestalt zwei Schritte vortrat und ihn mit ruhiger, ernster Stimme fragte, ob die äußere Tür geschlossen sei, gewann er die Sprache zurück.

»Haldin … Viktor Viktorowitsch, sind Sie es … ? Ja, die Außentür ist gut zu. – Doch das hatte ich wirklich nicht erwartet.«

Viktor Haldin, ein Student, der älter war als die meisten seines Jahrganges an der Universität, war keiner von den Fleißigen. Fast nie sah man ihn in den Vorlesungen. Im Rektorat wurde er als »unruhig« und »ungläubig« geführt – eine sehr üble Klassifikation. Unter seinen Kameraden aber erfreute er sich hohen Ansehens und beeinflußte ihre Gedanken stark. Rasumoff war mit ihm nie vertraut gewesen. Von Zeit zu Zeit waren sie in Versammlungen bei anderen Studenten zusammengetroffen. Einmal hatten sie sogar eine Diskussion miteinander geführt, eine jener Diskussionen über grundlegende Prinzipien, wie die heißköpfige Jugend sie liebt.

Rasumoff wünschte, daß der Mann eine andere Zeit für eine Plauderstunde gewählt hätte. Er fühlte sich in der richtigen Verfassung, die Preisarbeit anzugehen. Da er nun aber Haldin nicht kurzweg hinausweisen konnte, so bequemte er sich zu einem gastfreundlichen Ton und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und zu rauchen.

»Kyrill Sidorowitsch«, sagte der andere und warf seine Kappe weg, »wir stehen vielleicht nicht ganz im selben Lager, Ihr Urteil ist mehr philosophisch gefärbt, Sie sind ein Mensch von wenig Worten; ich habe aber niemand getroffen, der die Großmut Ihrer Gefühle anzuzweifeln gewagt hätte. In Ihrem Charakter liegt eine Festigkeit, die ohne Mut nicht denkbar ist.«

Rasumoff fühlte sich geschmeichelt und murmelte verlegen etwas von »sehr erfreut über die gute Meinung«. Da hob Haldin die Hand.

»Das sagte ich zu mir selbst«, fuhr er fort, »während ich mich in dem Holzlager am Fluß unten versteckt hielt; ›er ist ein fester Charakter, dieser junge Mensch‹, sagte ich mir, ›er trägt nicht das Herz auf der Zunge‹. Ihre Zurückhaltung hat mir immer ausgezeichnet gefallen, Kyrill Sidorowitsch. Also versuchte ich, mich Ihrer Adresse zu erinnern, und sehen Sie an, ich hatte Glück. Ihr Dwornik war eben von der Tür fort und sprach mit einem Schlittenkutscher auf der anderen Straßenseite. Ich traf niemand auf den Stiegen, keine Seele. Als ich hier oben ankam, erblickte ich Ihre Wirtin, die aus Ihrem Zimmer kam, doch sie sah mich nicht. Sie ging über den Flur in ihre eigenen Zimmer, und dann schlüpfte ich herein. Ich bin nun seit zwei Stunden hier und erwartete, Sie jeden Augenblick kommen zu hören.«

Rasumoff hatte verwundert zugehört. Bevor er aber den Mund öffnen konnte, fügte Haldin mit langsamer Betonung hinzu: »Ich war es, der heute früh P. beiseite geschafft hat.«

Rasumoff unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Das Gefühl, daß sein Leben zerstört sei durch die Berührung mit einem derartigen Verbrechen, fand seinen gedrängten Ausdruck in dem halb spöttischen Gedanken: »Jetzt ist die Silberne Medaille futsch.«

Haldin fuhr nach einer kurzen Pause fort:

»Sie sagen nichts, Kyrill Sidorowitsch! Ich verstehe Ihr Schweigen. Von Ihrer kalten englischen Art war es ja auch sicherlich nicht zu erwarten, daß Sie mich umarmen würden. Doch lassen wir Ihre Art! Sie haben Herz genug, das Weinen und Zähneknirschen gehört zu haben, das dieser Mann im Lande weckte. Das allein müßte genügen, alle philosophischen Hemmungen zu überwinden. Er wollte die zarte Pflanze entwurzeln. Man mußte ihm Halt gebieten. Er war ein gefährlicher Mann – ein Mann von Überzeugung. Wäre er noch drei Jahre am Werk geblieben, so hätte er uns um fünfzig Jahre in die Knechtschaft zurückgeworfen, und bedenken Sie, wie viele Leben, wie viele Seelen in dieser Zeit zerstört und verlorengegangen wären.«

Seine harte, selbstbewußte Stimme verlor plötzlich allen Klang, und er fügte dumpf hinzu: »Ja, Bruder, ich habe ihn getötet. Harte Arbeit!«

Rasumoff war in einen Stuhl gesunken. Er erwartete jeden Augenblick, einen Haufen Polizisten hereinstürzen zu sehen. Tausende von ihnen mußten jetzt nach dem Mann Umschau halten, der da in seinem Zimmer auf und ab schritt. Haldin sprach wieder, mit beherrschter, fester Stimme; dann und wann schwenkte er einen Arm, langsam und ohne Erregung.

Er erzählte Rasumoff, daß er sich ein Jahr lang mit dem Entschluß getragen, daß er buchstäblich seit Wochen nicht mehr geschlafen habe. Er und »ein anderer« waren von der Ausfahrt des Ministers spät am Vorabend »durch eine gewisse Person« unterrichtet worden. Er und dieser »andere« setzten ihre »Maschinen« instand und beschlossen, nicht zu schlafen, bevor »die Tat« getan wäre. Sie schritten im Schneetreiben durch die Straßen mit ihren »Maschinen« und wechselten kein Wort während der ganzen Nacht, die lang war wie ein Leben. Wenn ihnen eine Polizeipatrouille begegnete, faßten sie sich unter und mimten feuchtfröhliche Bauern. Sie grölten und redeten mit schnapsrauhen Stimmen. Von diesen erzwungenen Ausbrüchen abgesehen, schwiegen sie still und gingen unaufhörlich fort. Ihr Plan war vorher fest besprochen worden. Bei Tagesanbruch begaben sie sich an den Punkt, den der Schlitten, wie sie wußten, passieren mußte. Als der Schlitten in Sicht kam, tauschten sie ein gemurmeltes »Lebe wohl!« und trennten sich. Der »andere« blieb an der Ecke, Haldin faßte ein wenig weiter oben in der Straße Posten …

Nachdem er seine »Maschine« geworfen hatte, rannte er fort und wurde im Augenblick von der Menschenmenge überholt, die in panischem Schrecken nach der zweiten Explosion den Ort floh. Die Leute waren außer sich vor Entsetzen. Ein oder zweimal wurde er niedergerannt. Er duckte sich, so gut es ging, um die Menschenflut vorüberzulassen, und wandte sich dann nach links in ein enges Gäßchen. Dort war er allein.

Er wunderte sich über dieses unmittelbare Entrinnen. Die Arbeit war getan. Er konnte es kaum glauben. Er kämpfte mit dem fast unüberwindlichen Drang, sich auf das Pflaster niederzuwerfen und zu schlafen. Doch diese Schwäche – eine schläfrige Schwäche – ging rasch vorüber. Er schritt schneller aus, einem der ärmeren Stadtteile zu, um nach Siemianitsch zu sehen.

Dieser Siemianitsch war, soviel Rasumoff verstehen konnte, eine Art Stadt-Bauer, der es zu etwas gebracht hatte; Besitzer von ein paar Schlitten und Pferden, die er vermietete. Haldin. unterbrach sich in seiner Erzählung mit dem Ausruf:

»Ein klarer Geist! Eine starke Seele! Der beste Fahrer in St. Petersburg. Er hat da ein Gespann von drei Pferden … oh! er ist ein ganzer Kerl!«

Dieser Mann hatte sich bereit erklärt, zu jeder Zeit eine oder zwei Personen sicher nach der zweiten oder dritten Station an einer der südlichen Bahnlinien zu bringen. Es war aber keine Zeit geblieben, ihn am Abend vorher zu verständigen. Sein gewöhnlicher Unterschlupf schien ein Kosthaus letzter Klasse an der Stadtgrenze zu sein. Als Haldin dorthin kam, war der Mann nicht zu finden. Man glaubte nicht, daß er vor Abend wiederkehren würde. Haldin wanderte ruhelos weiter.

Er fand das Tor eines Holzhofes offen und schritt hinein, um dem Wind zu entgehen, der auf dem offenen Platz schneidend pfiff. Die hohen rechtwinkligen Stöße von geschnittenem Holz, mit Schnee bedeckt, glichen den Hütten eines Dorfes. Während er sich dahinter duckte, fand ihn der Wächter und sprach ihn zunächst freundlich an. Es war ein vertrockneter alter Mann, der zwei verwitterte Soldatenmäntel übereinander trug. Sein runzeliges, kleines Gesicht, in ein schmutziges rotes Taschentuch eingebunden, das Ohren und Wangen bedeckte, sah komisch aus. Bald wurde er aber unwillig und begann schließlich, ohne jeden ersichtlichen Grund wütend zu brüllen:

»Willst du dich wohl bald hier hinauspacken, du Lump! Die Arbeiter von deinem Schlage kennt man schon. Ein großer starker Kerl, nicht einmal besoffen ist er. Was willst du hier? Uns machst du keine Angst. Scher dich fort mit deinen verfluchten Augen.«

Haldin blieb vor dem sitzenden Rasumoff stehen. Seine schlanke Gestalt und die weiße Stirn, über der das blonde Haar wie eine Bürste stand, erweckten den Eindruck von Stolz und Kühnheit.

»Meine Augen gefielen ihm nicht«, sagte er, »und also … hier bin ich.«

Rasumoff bemühte sich, ruhig zu sprechen.

»Aber verzeihen Sie, Viktor Viktorowitsch, wir kennen einander so wenig … , ich sehe nicht ein, warum Sie … «

»Vertrauen«, sagte Haldin.

Dieses Wort schloß Rasumoff die Lippen, als hätte ihm eine Hand auf den Mund geschlagen. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken.

»Und also – hier sind Sie«, murmelte er durch die Zähne. Der andere merkte nicht den Ärger in diesen Worten, vermutete ihn nicht einmal.

»Jawohl, und niemand weiß, daß ich hier bin. Sie sind der letzte, der in Verdacht kommen könnte – wenn man mich fangen sollte. Das ist ein Vorteil, sehen Sie, und dann – einem Mann von überlegenem Geiste, wie Ihnen, kann ich wohl die volle Wahrheit sagen. Es fiel mir ein, daß Sie – daß Sie niemand haben, der zu Ihnen gehört, kein Band irgendwelcher Art, keinen, der leiden würde, wenn dies alles irgendwie herauskäme. Es sind schon genug russische Familien ins Unglück gestürzt worden. Doch ich sehe nicht ein, wie mein Aufenthalt in Ihrer Wohnung je entdeckt werden sollte. Wenn man mich festnimmt, dann werde ich zu schweigen wissen – einerlei, was sie mit mir auch anfangen mögen«, fügte er grimmig hinzu.

Er begann wieder auf und ab zu gehen, während Rasumoff in stummem Entsetzen dasaß.

»Sie dachten, daß –« stotterte er endlich heraus, halbtot vor Wut.

»Ja, Rasumoff, ja, Bruder! Eines Tages werden auch Sie am Bau mithelfen. Sie halten mich nun für einen Terroristen – einen, der das Bestehende zerstören will. Doch bedenken Sie, daß die wahren Zerstörer die sind, welche den Geist des Fortschrittes und der Wahrheit zerstören wollen, nicht die Rächer, welche nichts tun, als die Leiber derer töten, die die menschliche Würde verfolgen. Leute wie ich sind notwendig, um Platz zu schaffen für selbstbeherrschte, denkende Leute wie Sie. Gut, wir haben unser Leben geopfert; und dennoch möchte ich entfliehen, wenn es möglich ist. Es ist nicht mein Leben, was ich retten möchte, sondern meine Tatkraft. Ich will nicht müßig leben, o nein, täuschen Sie sich nicht darüber, Rasumoff. Leute wie ich sind selten, und außerdem ist ein Exempel wie dieses für die Bedrücker viel abschreckender, wenn der Täter spurlos verschwindet. Sie sitzen in ihren Büros und Palästen und zittern. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir verschwinden helfen. Keine große Sache das. Sie brauchen nur hinzugehen und Siemianitsch für mich aufzusuchen, an dem Ort, wohin ich heute morgen ging. Sagen Sie nur, er, den er kennt, wünscht, daß ein gut bespannter Schlitten eine halbe Stunde nach Mitternacht bei dem siebenten Laternenpfahl der Karabelnaya – links vom oberen Ende gezählt – vorfährt. Wenn niemand einsteigt, soll der Schlitten um einen oder zwei Häuserblöcke herumfahren und so zehn Minuten später an derselben Stelle vorüberkommen.«

Rasumoff wunderte sich, warum er das Gespräch nicht längst schon kurz abgeschnitten und diesen Mann hinausgewiesen hatte. War das Schwäche oder was sonst?

Er schloß, daß es ein gesunder Instinkt sei. Haldin mußte gesehen worden sein. Es war undenkbar, daß sich nicht einige Leute das Gesicht und das Äußere des Mannes gemerkt haben sollten, der die zweite Bombe warf. Haldin war eine auffallende Erscheinung. Die Tausende von Polizisten mußten innerhalb einer Stunde seine Beschreibung gehabt haben. Mit jedem Augenblick wurde die Gefahr größer. Schickte man ihn auf die Straße hinaus, so mußte er notwendig schließlich festgenommen werden.

Die Polizei würde sehr schnell alles über ihn in Erfahrung bringen. Sie würden sich dahintersetzen, eine Verschwörung zu entdecken. Alle, die Haldin je gekannt hätte, würden in die größte Gefahr geraten. Unbedachte Äußerungen, kleine, an sich geringfügige Tatsachen würden als Verbrechen angerechnet werden. Rasumoff erinnerte sich an gewisse Worte, die er gesagt hatte, an die Reden, die er angehört, an die harmlosen Zusammenkünfte, denen er beigewohnt hatte – es war fast unmöglich für einen Studenten, sich von allem auszuschließen, ohne von seinen Kameraden verdächtigt zu werden.

Rasumoff sah sich schon in einer Festung eingekerkert, gequält, geplagt, mißhandelt vielleicht. Er sah sich auf Regierungsbefehl deportiert, sein Leben zerbrochen, vernichtet und jeder Hoffnung beraubt. Er sah sich – bestenfalls – ein elendes Leben führen, unter Polizeiaufsicht, in irgendeiner kleinen, weit abgelegenen Provinzstadt, ohne Freunde, wie andere sie hatten, die ihm beistehen oder Schritte tun konnten, um sein Los zu verbessern. Andere hatten Väter, Mütter, Brüder, Verwandte, Verbindungen, die Himmel und Erde ihretwegen in Bewegung setzen würden – er hatte niemand. Die Beamten selbst, die ihn eines Morgens verurteilten, würden seine Existenz vor Sonnenuntergang vergessen haben.

Er sah seine Jugend in Elend und bitterster Not verstreichen, seine Kräfte nachlassen, seinen Geist verflachen. Er sah sich selbst schmierig und heruntergekommen durch die Straßen kriechen und vielleicht plötzlich einmal in einem schmutzigen Loch von Zimmer – oder in dem schmierigen Bett eines Kreisspitales sterben.

Er schauderte. Dann überkam ihn eine verbitterte Ruhe. Es war das beste, diesen Mann von der Straße wegzuhalten, bis man sich seiner mit einiger Aussicht auf Rettung entledigen konnte. Das war das beste, was sich tun ließ. Natürlich fühlte Rasumoff, daß die Sicherheit seines einsamen Lebens ständig gefährdet blieb. Die Ereignisse dieses Abends konnten zu jeder Zeit gegen ihn aufstehen, solange dieser Mann lebte und die gegenwärtigen Einrichtungen zu Recht bestanden. Die letzteren erschienen ihm in diesem Augenblicke vernünftig und unzerstörbar. Sie hatten die ganze Gewalt eines harmonischen Gefüges für sich – im Gegensatz zu dem grellen Mißton, den die Gegenwart dieses Mannes bedeutete. Er haßte den Menschen – und sagte ruhig: »Ja natürlich, ich will gehen. Sie müssen mir genaue Weisungen geben, und im übrigen – verlassen Sie sich auf mich.«

»Oh, Sie sind ein Kerl! Kopf hoch – und kalt wie eine Gurke. Ein richtiger Engländer. Wo haben Sie Ihre Seele her? Es gibt nicht viele wie Sie. Sehen Sie mich an, Bruder! Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen, doch ihre Seelen sind nicht verloren. Keines Mannes Seele ist je verloren. Sie arbeitet für sich weiter – denn wo bliebe sonst der Trieb zur Selbstaufopferung, zum Märtyrertum, zur Überzeugungstreue – diesen edelsten Blüten der Seele? Was soll aus meiner Seele werden, wenn ich den Tod sterbe, der mir bestimmt ist – bald – sehr bald vielleicht? Sie soll nicht zugrunde gehen! Und mißverstehen wir uns nicht, Rasumoff. Dies ist nicht Mord – es ist Krieg, Krieg. Mein Geist soll in dem Körper irgendeines Russen weiterkämpfen, bis alle Falschheit aus der Welt gewichen ist. Die moderne Zivilisation ist falsch, doch aus Rußland soll eine neue Erkenntnis hervorgehen. Ha, Sie sagen nichts. Sie sind ein Skeptiker. Ich achte Ihre philosophische Skepsis, Rasumoff – doch lassen Sie die Seele aus dem Spiel. Die russische Seele, die in uns allen lebt, die hat eine Zukunft. Sie hat eine Mission, sage ich Ihnen! Oder wodurch sonst hätte ich bestimmt werden können, all dies zu tun – rücksichtslos – wie ein Schlächter –, mitten unter alle diese Unschuldigen – den Tod zu schleudern – ich! ich! … ich könnte keiner Fliege was zuleide tun!«

»Nicht so laut«, warnte Rasumoff mit heiserer Stimme.

Haldin setzte sich plötzlich hin, legte den Kopf über die gefalteten Arme und brach in Tränen aus. Er weinte lange. Die Dämmerung in dem Raume hatte sich vertieft. Rasumoff lauschte reglos, in düsterem Staunen, dem Schluchzen des anderen.

Da hob der den Kopf, stand auf und zwang seine Stimme mit Gewalt zur Festigkeit.

»Jawohl, Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen«, wiederholte er in resigniertem Ton. »Zwar habe ich eine Schwester. Sie ist bei meiner alten Mutter. Ich überredete sie, für dieses Jahr zu verreisen – Gott sei Dank. Ein tüchtiges Mädchen soweit, meine Schwester, sie hat treuere Augen als irgendein menschliches Wesen, das je diese Welt betrat. Sie wird gut heiraten, hoffe ich. Sie mag Kinder haben – Söhne vielleicht. Sehen Sie mich an. Mein Vater war Regierungsbeamter in der Provinz, er hatte auch einen kleinen Landbesitz. Ein einfacher, gottesfürchtiger Mann – ein echter Russe in seiner Art. Seine erste Tugend war der Gehorsam. Doch ich bin nicht wie er. Man sagt, ich sei dem ältesten Bruder meiner Mutter ähnlich, einem Offizier. Der wurde im Jahr achtundzwanzig erschossen, unter Nikolaus, Sie wissen. Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß dies Krieg ist, Krieg … Doch beim gerechten Gott, es ist harte Arbeit.«

Rasumoff saß in seinem Stuhl, hatte den Kopf in die Hand gestützt, und seine Stimme klang wie aus der Tiefe eines Abgrundes herauf.

»Sie glauben an Gott, Haldin?«

»Da klammern Sie sich nun wieder an Worte, die einem die Erregung erpreßt. Was tut das zur Sache? Wie sagte doch der Engländer: ›Eine göttliche Seele wohnt in den Dingen … ‹, hol ihn der Teufel, ich erinnere mich jetzt nicht. Aber er sprach die Wahrheit. Wenn einmal der Tag für euch Denker kommt, dann vergeßt nicht, was das Göttliche in der russischen Seele ist: es ist die Ergebung. Die sollt ihr bei aller eurer geistigen Unruhe achten und eurer arroganten Weisheit nicht erlauben, sie zu unterdrücken. Ich spreche da zu Ihnen wie ein Mann, der schon den Strick um den Hals hat. Wofür halten Sie mich? Für einen Empörer? Nein. Ihr Denker seid es, die in ständiger Auflehnung sind. Ich bin einer der Ergebenen. Als die Notwendigkeit dieser schweren Tat an mich herantrat, und als ich begriff, daß sie getan sein mußte – was tat ich da? Jubelte ich? Fühlte ich mich stolz auf mein Vorhaben? Versuchte ich, seinen Wert und seine Folgen abzuwägen? Nein! ich war ergeben. Ich dachte – ›Gottes Wille geschehe‹«.

Er warf sich der Länge nach auf Rasumoffs Bett, legte die Handrücken über die Augen und verharrte vollkommen reglos und schweigend. Man hörte nicht einmal das Geräusch seiner Atemzüge. Die tote Stille des Raumes blieb ungestört, bis Rasumoff in das Dunkel hinein dumpf fragte:

»Haldin?«

»Ja«, antwortete der andere, ohne Zögern, doch ohne sich zu rühren. Er war nun auf dem Bett nicht mehr zu erkennen.

»Ist es nicht Zeit für mich, aufzubrechen?«

»Ja, Bruder«, hörte man den anderen sagen, aus der Dunkelheit heraus, als spräche er im Schlaf, »die Stunde ist da, das Schicksal auf die Probe zu stellen.«

Er machte eine Pause und gab dann wenige, klare Anweisungen mit der ruhigen, unpersönlichen Stimme eines Menschen im Trance. Rasumoff machte sich fertig, ohne ein Wort der Erwiderung. Als er im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, klang die Stimme vom Bett hinter ihm her:

»Geh mit Gott, du schweigsame Seele.«

Im Vorraum angekommen, schloß Rasumoff lautlos die Tür ab und schob den Schlüssel in die Tasche.