Jede Ähnlichkeit der Figuren dieses Romans
mit realen Personen wäre rein zufällig.
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der Kulturabteilung der Stadt Wien.
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ISBN 978-3-7117-2065-8
eISBN 978-3-7117-5372-4
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ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
In der Kunst wie im Leben ist alles möglich, wenn es auf Liebe gegründet ist.
MARC CHAGALL
ERSTER TEIL
ZWEITER TEIL
DRITTER TEIL
VIERTER TEIL
FÜNFTER TEIL
EPILOG
Anatol saß im Garten seiner Großmutter vor der Döblinger Villa unter einem Fliederbusch und sah den Amseln beim Paaren zu, während der Burgschauspieler Josef Meinrad mit der Großmutter Tee trank. Da war er vielleicht fünf Jahre alt. Seine Großmutter reichte zum Tee gerne Anisgebäck. Immer wenn eine kurze Gesprächspause zwischen den beiden entstand, konnte Anatol hören, wie der berühmte Schauspieler in eines der Kekserl biss und sich damit das Anisaroma aus dem Munde Meinrads über den ganzen Garten verteilte. Und obwohl der Flieder einen durchaus starken Geruch verströmte, konnte Anatol zwischen dem schweren Blütenduft winzige Partikel von Anis wahrnehmen. Ja, Meinrad schaffte es, ganz gezielt auf einzelne Anissamen zu beißen, und der Duft dieser einzelnen Samen drang bis zu Anatol vor. Das, so erkannte das Kind, geschah nicht etwa zufällig, im Gegenteil, der große Burgmime schien sowohl die Gesprächspausen der Großmutter, den Duftschweregrad des Flieders als auch die leichte, frühnachmittägliche Brise so perfekt verinnerlicht zu haben, dass er genau wusste, wann er auf den Anissamen zu beißen hatte, damit dessen Duft sich über den Döblinger Garten, ja die ganze Wiener Vorstadt hinweg ausbreiten würde. Das, so schien es Anatol, war perfektes Timing.
Die Einzigen, die von der Aura des großen Schauspielers und seinem untrüglichen Gespür für große und kleine Augenblicke unbeeindruckt blieben, waren die Amseln, und Anatol fand es auf kindliche Art und Weise unanständig, dass diese Vögel nicht voneinander abließen, um dem großen Mann beim Kauen zuzusehen. Stattdessen suchten die Amseln in ihrem eigenen Rhythmus den perfekten Zeitpunkt, um neue Amseln zu produzieren. Das wusste Anatol natürlich nicht, als er unter dem Fliederbusch saß. Nur der spitze Schrei seiner mittleren Schwester und ihr Ausruf »Iiih, die Vögel vögeln ja!« erklärte sich ihm Jahre später, als ihm die Szene in den Sinn kam, während seine Großmutter eine Packung Anisgebäck auf einen Teller leerte und ihn damit in den Garten schickte. »Geh, Schatzerl, bring das mal dem Meinrad.« Dass »der Meinrad« zu diesem Zeitpunkt schon fast zwanzig Jahre tot war, hielt seine Großmutter nicht davon ab, ihm immer noch einen Platz an ihrem Gartentisch frei zu halten und im Gedenken an den großartigen Künstler und Freund nachmittags ein paar Kekse an die Amseln zu verfüttern. Es war ein sehr spezielles Tea for One.
So lernte Anatol nicht nur, dass es einen perfekten Zeitpunkt für so gut wie alles gab, er verortete sein Leben ganz und gar in einer Welt außerhalb des Zufalls. Alles war planbar − wenn die Umstände es zuließen. Natürlich kam auch in Anatols Welt das Unerwartete vor. Aber er hielt es auf Abstand und bemühte sich darum, seinen Tagesablauf zu perfektionieren. Morgens um sieben läutete der Wecker, dann duschen, abtrocknen, kämmen, anziehen und weiter zum Frühstück, das immer und ausschließlich aus irgendeiner Sorte Zerealien bestand, vorwiegend gezuckerten Cornflakes. Um dreiviertel acht verließ Anatol dann das Haus und machte sich auf den kurzen Weg zum Kindergarten, zur Schule, in die Arbeit. Es machte eigentlich keinen Unterschied, welche Institution er im Laufe seines Lebens besuchte, der Ablauf blieb immer derselbe, ebenso die Uhrzeit. Da Kindergarten und Schule in der Nähe lagen, konnte Anatol sie bequem binnen fünf Minuten zu Fuß erreichen. Und seit er im Kunstforum arbeitete, das ebenfalls keine fünf Minuten von seinem Elternhaus entfernt lag, erwies sich sein Tagesablauf während der Zeit des Kindergartens, der Schule und der Universität als perfekte Vorbereitung für sein nunmehriges Leben, denn die Öffnungszeiten des Kunstforums änderten sich nie und somit änderte sich auch nichts an Anatols Alltag, was er sehr zu schätzen wusste. Allerdings öffnete das Kunstforum seine Pforten auch für die Mitarbeiter erst um zehn. Es kostete ihn große Mühe, seinen Alltag um zwei Stunden nach hinten zu verlagern, damit er nur noch zehn Minuten zu früh zur Arbeit erschien. Genügend Zeit zu haben beruhigte ihn, also geizte er nicht damit. Somit war alles in Anatols Leben geplant, organisiert und vorhersehbar, damit das Unvorhergesehene keinen Zutritt erhielt, denn: Es machte ihm Angst.
Seine Großmutter führte dies unter anderem auf Tante Mitzi zurück. Tante Mitzi war der dunkle Fleck in der ansonsten strahlenden Familiengeschichte, denn auf Tante Mitzis kleiner Gestalt lag ein Schatten. Zwar trug dieser Schatten die berühmten Züge des noch viel berühmteren Sigmund Freud, aber immerhin. Tante Mitzi, die eigentlich nicht Anatols Tante, sondern seine Urgroßtante war, sollte eine der letzten Patientinnen des Wiener Seelenarztes werden. Darauf war man mit Recht stolz. Nicht jeder hatte jemanden in seiner Familie, der seinen Wahnsinn auf Sigmund Freuds Couch hatte behandeln lassen. Leider hatte Freud aus Österreich fliehen müssen, bevor Tante Mitzis Wahnsinn ganz auskuriert war, und so erlitt die Arme mit Mitte zwanzig einen Rückfall, der sich darin äußerte, dass sie splitterfasernackt die Treppen zur Kirche Maria am Gestade putzte. Splitterfasernackt deshalb, weil sie zum Putzen ihre eigene Kleidung verwendete. Als ein schnell herbeigerufener Polizist sie fragte, warum sie das denn tue, da habe sie geantwortet: »Ja, soll denn der Herr Jesus nicht auch eine saubere Treppe haben?« Dagegen war wenig einzuwenden und Tante Mitzi kam, gehüllt in eine eilends herbeigeschaffte Wolldecke, auf den Steinhof, von wo man sie ein Jahr später wieder entließ: Ohne Putzzwang, dafür aber immerfort »Ein Jäger aus Kurpfalz« singend. Das hatte ihr offenbar eine deutsche Pflegerin beigebracht. Nun sang es die Tante von früh bis spät, eigentlich ohne Unterbrechung, bis sie vom vielen Singen abends müde ins Bett sank. Noch als die Nazis die Tante abholten, sang sie ihr Lieblingslied ohne Unterbrechung weiter, und man hatte noch drei Straßen entfernt geglaubt, aus dem Lastwagen heraus die Worte »reitet durch den grünen Wald« gehört zu haben. Als Tante Mitzi nach einem Monat, in dem niemand wusste, wo sie war, aufgrund der Intervention eines Hitler treu ergebenen Großonkels wieder auftauchte, quasi aus dem Nichts, hatte sie zu singen aufgehört. Mehr noch, sie war verstummt – ein Zustand, an dem sich bis zu ihrem Tod im Alter von weit über neunzig nichts mehr ändern sollte.
Die Geschichte der Tante Mitzi hatte dazu geführt, dass man in Anatols Familie auf Therapien jedweder Art lange Zeit keinen Wert legte. Vor allem seine Großmutter stand der Psychoanalyse äußerst kritisch gegenüber. Als Anatols Mutter ihr eines Tages unter Tränen mitteilte, da war Anatol vielleicht vier Jahre alt und stand heimlich hinter der Wohnzimmertür und lauschte, dass sie aufgrund seines merkwürdigen Sozialverhaltens äußerst besorgt um Anatol sei und sie glaube, das Kind sei womöglich auf irgendeine Art und Weise gestört, in jedem Fall aber sehr merkwürdig, hatte die Großmutter nur gesagt: »Gestört hin oder her, der Freud ist tot und alles ist besser als der Jäger aus Kurpfalz. Das Kind kommt mir nicht in Therapie!« Ja, aber, habe die Mutter schluchzend geantwortet, irgendwann habe die Tante Mitzi doch aufgehört zu singen. Da hatte die Großmutter ihre Tochter nur streng angesehen, indem sie eine ihrer stark gezupften Augenbrauen hob, und gemeint, eher singe sie selbst die nächsten zehn Jahre, als dass sie ihrem geliebten Enkel ein solches Trauma an den Hals wünsche wie es die Tante erlitten habe und dass man alle Nazis nach dem Krieg hätte aufhängen müssen, nur wäre Österreich dann ein sehr, sehr ödes Land geworden, so ganz ohne Einwohner. Wie schön wäre Wien ohne Wiener gewesen, nur ohne Publikum spielt es sich selbst an der Burg eher schlecht, und so müsse man wohl oder übel die Menschheit in Kauf nehmen. Und damit war dann auch alles gesagt.
Überhaupt war es die Großmutter, die die gesamte Familie einte und gleichzeitig dominierte, mit ihrer bisweilen liebenswürdigen, oft auch cholerischen Art. Der Großvater hatte sich nie gegen seine Frau durchgesetzt, es allerdings auch nie darauf angelegt. Ihm schien es zu gefallen, von ihr beherrscht zu werden.
Anatols Großvater war Ministerialrat gewesen, zu Lebzeiten hatten ihn seine Kollegen wohl hin und wieder um seine schöne wie auch berühmte Ehefrau beneidet. Der Neuendorff, das ist doch der mit der Burgschauspielerin …? Natürlich zerriss man sich hinter dem Rücken der Großeltern das Maul. Aber das war ja Teil des Spiels, das die Großeltern feine Gesellschaft nannten.
»Eine feine Gesellschaft ist das«, sagte die Großmutter oft, und der Großvater antwortete immer mit einem beschwichtigenden »Schsch, Johanna, ist ja schon gut!«
In Wahrheit aber war die Großmutter stolz darauf, dass sie aus diesem Heer an Twinsetperlenkette-Ministerialratsgattinnen herausstach, denn sie war lauter, größer und viel, viel präsenter als ihre gesamte Umgebung. Und auch wenn der Großvater oft eher wie das ruhige Anhängsel seiner Frau wirkte, war sie durchaus stolz auf ihren Mann, der sie wiederum restlos bewunderte. Sie war stolz darauf, dass er das Außergewöhnliche liebte, also sie, und er war voller Bewunderung für sie, die große Theaterdiva, die sich in seine kleine, bürgerliche Welt verirrt hatte.
Als Anatol etwa zehn Jahre alt war, also kurz vor dem Tod des Großvaters, nahm ihn dieser einmal beiseite und sagte leise, sodass nur Anatol es hören konnte: »Ist sie nicht wunderbar?« Dabei deutete er mit dem Kopf in Richtung Großmutter, die, lautstark eine Szene aus »Romeo und Julia« deklamierend, auf dem Westbalkon der Villa in Döbling die Geranien goss.
Anatol hatte geschwiegen, wie er das immer tat, wenn er nicht wusste, was von ihm erwartet wurde, denn die Emotionen seiner Mitmenschen konnte er nur schwer bis gar nicht deuten. Sie waren wandelnde Bücher mit sieben Siegeln und geheimen Schriften. Faszinierend, aber zwecklos, sie zu lesen. Er hatte immerhin begriffen, dass Schweigen manchmal besser war, als das Falsche zu sagen. Und tatsächlich hatte der Großvater sein Schweigen als andächtig verstanden und nicht als ratloses Verstummen, und so betrachteten sie beide die Blumen gießende Großmutter dabei, wie sie die Geranien umbrachte. Sie goss sie eigentlich nie, sondern nur, wenn sie sich zufällig daran erinnerte, dass die Blumen auch noch da waren. Dann aber goss sie sie überschwänglich und mit Leidenschaft, fühlte sich minutenlang eins mit der Natur und dem Universum, und die Haushälterin leerte hinterher die Blumentöpfe aus, auf dass die Geranien, Begonien und Palmengewächse nicht sofort starben und so dem Großvater folgten, der an einem Samstag im Juni plötzlich infolge eines Hirnschlags tot vom Stuhl fiel. Da war er keine achtzig und die Großmutter wiederholte diesen Umstand stets aufs Neue, wenn sie von ihm sprach. »Was hab ich ihn geliebt! Ach, was hab ich ihn geliebt! So ein gescheiter Mann! Aber keine achtzig ist er geworden.« So lernte Anatol, dass auch kluge Leute der Liebe und dem Tod nicht entgehen.
Die Beerdigung des Großvaters geriet allerdings zum Fiasko, als Anatol einen seiner Anfälle bekam, weil die Griffe am Sarg nicht exakt symmetrisch angebracht waren.
»Mama!«
»Scht, nicht jetzt, Anatol.«
»Mama, die Griffe sind falsch.«
»Was? Ja, ist gut. Das regelt sich später. Sei jetzt still.«
»Aber die Griffe! Mama, die Griffe sind schief!«
»Das ist jetzt nicht so wichtig.«
»Doch! Das ist wichtig. Sie sind schiiiiief!«
Seine Mutter musste die Kirche mit ihm verlassen, weil er in seinem Zorn schließlich wild um sich schlug, und verpasste damit den größten Teil der Beerdigung ihres Vaters. Als der Anfall vorbei war, strich sie ihm weinend über den wirren, verschwitzten Kopf und wiederholte mehrfach: »Ist schon gut. Ist vielleicht besser so. Vielleicht ist es besser, ich muss das nicht mitmachen. Scht. Die Erde draufschaufeln und so weiter. Scht, du kriegst gleich einen Lutscher.«
Lutscher waren die Antwort der Mutter auf alles. Wenn sie an die Grenzen ihres Mutterdaseins stieß, und das tat sie mit ihren vier Kindern, drei Mädchen und einem Buben, oft, dann bestach sie ihre Nachkommenschaft gerne mit Zucker. So lernte Anatol die Namen der drei Töchter seines Zahnarztes früh auswendig: Laura, Lisa und Louise. Es kam so weit, dass er diese Namen nur aufzusagen brauchte und schon hatte er das Geräusch eines Zahnarztbohrers im Ohr. Laura, Lisa und Louise: Brrrrrrzzzzzzz. Mit Louise ging er sogar in die Schule. Sie war in der Parallelklasse und hatte Anatol stets mit Missachtung gestraft. Das machte ihm jedoch nichts aus, obwohl Louise schon früh als eine Art Männermagnet galt, um es harmlos auszudrücken, mit ihren kurzen Rockerln, der rau geschmirgelten Stimme und den langen, seidenweichen braunen Haaren. Louise war schon mit vierzehn reichlich frühreif und Anatol war entsprechend von ihr eingeschüchtert. Er hielt sich von der Tochter des Zahnarztes fern.
Das wiederum empfand Louise als Provokation. Dass ihrem Charme jemand widerstand, war eine noch nie dagewesene Kränkung. Also legte sie es darauf an, Anatol eines Tages, als dieser überpünktlich wie immer vor der Schule stand und auf Einlass wartete, einfach an der Hand mit sich zu ziehen und ihn in einer Ecke des Schulhofs wild zu küssen. Er spürte ihre Lippen auf seinen und ihre Zunge, die seine Zähne abtastete, und ihren Atem, der nach Kinderzahnpasta roch. Es war dieselbe Zahnpasta, die in der Praxis ihres Vaters auflag und mit der man sich stets die Zähne zu reinigen hatte, bevor man dem Herrn Doktor gegenübertrat, ganz gleich, ob man sich zuvor schon daheim die Zähne geputzt hatte.
Nach etwa dreißig Sekunden hörte Louise plötzlich auf und rückte von ihm ab.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete Anatol.
»Dann küss mich doch auch mal zurück, du Idiot!«, raunzte sie ihn an. »Oder soll ich hier die ganze Arbeit allein machen?«
»Nein?«
»Dann mach halt!«
Und das tat Anatol. Genauer gesagt tat er exakt das, was Louise zuvor mit ihm gemacht hatte: Lippen aufeinanderpressen und Zunge über Zähne kreisen lassen. Offenbar fand das ihre Zustimmung.
»Fass mir doch mal an den Arsch«, befahl Louise.
»Wieso?«, wollte Anatol wissen.
»Mach schon!«
Anatol legte wie befohlen seine rechte Hand auf Louises Hintern. Ihm war schwindlig. Er hatte beim Küssen vergessen weiterzuatmen und schnappte nun nach Luft.
»Und nun weiter«, forderte sie.
»Was weiter?«, fragte Anatol irritiert und hörte auf, Louise zu küssen.
Da schob sie seine Hand unter ihren Rock und Anatol konnte die Nähte ihrer Unterhose spüren. Er fuhr mit dem Finger an der Naht entlang.
»Iih, das kitzelt«, kicherte sie.
»Pardon«, murmelte Anatol verlegen. Er hörte auf, mit dem Finger am Bund ihrer Unterhose entlangzustreichen.
»Steck ihn rein«, forderte sie jetzt.
»Was reinstecken?«
»Den Finger.«
»Wo rein?«
»Bist du so blöd oder tust du nur so?«, raunzte sie erneut.
Da rückte Anatol von ihr ab. »Ich bin nicht blöd«, sagte er verletzt.
»Schon gut«, beschwichtigte Louise und strich ihren Rock glatt. »Bist eh ein Hübscher. Und küssen bring ich dir noch bei. Wirst schon sehn. Und das andere auch.« Dann richtete sie ihren Pferdeschwanz neu aus, zog den Rotz hoch und sah Anatol prüfend an.
»Morgen um dieselbe Zeit?«
Anatol nickte stumm und Louise marschierte an ihm vorbei in Richtung Schultor, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Den Rest des Schultags ignorierte sie ihn komplett. Doch am nächsten Morgen war sie wieder da und zog ihn diesmal hinter die Mülltonnen, beim Eingang zum Turnsaal, und begann wieder seine Lippen zu bearbeiten, was Anatol, etwas verängstigt, mit sich geschehen ließ. Dann ging Louise dazu über, seine Hände zu nehmen und sie auf die entsprechenden Stellen zu legen. Anatols Atem ging immer schneller. Das Küssen und rhythmische Züngeln verwirrte ihn. Als Louise schließlich in seinen Schritt griff, stieß er sie von sich.
»Tschuldigung«, murmelte Anatol.
Louise kaute beleidigt auf ihrer Oberlippe herum.
»Du hast echt null Erfahrung, stimmt’s?«
»Erfahrung womit?«
»Frauen«, sagte Louise.
»Du bist keine Frau«, antwortete Anatol.
»Bin ich wohl«, sagte Louise erbost.
»Du bist vierzehn. Also bist du streng genommen ein Mädchen.«
»Findest du mich nicht hübsch?«, wollte sie wissen und fingerte eine Zigarette aus ihrer Jackentasche.
»Ich geh jetzt.«
Und dann ging er. Anatol schob die Hände in die Hosentaschen, um seine Hose extra weit auszubeulen, sodass nicht auf den ersten Blick zu erkennen war, wie er sich fühlte, und marschierte auf den Eingang zur Schule zu.
Als Louise ihn am nächsten Morgen jedoch erneut mit sich fortzog, ließ Anatol dies bereitwillig geschehen, auch wenn er nicht wusste, was er davon halten sollte.
»Du bist nicht bei der Sache«, stellte Louise fest.
»Ja, das stimmt«, gab Anatol zu.
»Was ist los?«, wollte sie wissen.
»Ich weiß einfach nicht, was das hier soll. Und was du von mir willst. Und wie ich dich küssen soll. Oder was wo reinstecken. Und das alles.«
Anatol schluckte heftig. Er war wirklich ziemlich durcheinander, was auch Louise nicht entging.
»Ich dachte, wir haben ein bisschen Spaß zusammen«, sagte sie.
»Das hier macht keinen Spaß«, stellte Anatol fest. »Es bringt mich durcheinander. Und durcheinander sein macht keinen Spaß.«
»Was macht dir denn Spaß?«, fragte Louise. »Ich meine, was hast du gern?«
»Zahlen«, antwortete Anatol.
»Zahlen? Du bist ein Mathefreak?«, fragte Louise erstaunt.
»Zahlen sind sehr …«, Anatol suchte nach dem richtigen Wort, »… beruhigend«, sagte er schließlich. »Und das hier«, er deutete auf sich und Louise, »ist es nicht.«
»Das ist die Liebe nie!«, klärte ihn Louise auf.
»Das«, sagte Anatol und schniefte leicht, denn es war recht kalt an diesem Novembermorgen, »ist keine Liebe.«
»So? Was ist es dann?«
»Weiß ich nicht. Jedenfalls nicht Liebe.«
»Dann klär mich auf, du Schlaukopf. Was ist Liebe?«, wollte Louise wissen und verschränkte die Arme vor ihren kleinen Brüsten.
Anatol dachte lange nach, dann sagte er: »Liebe ist Bewunderung, selbst wenn der andere nur die Blumen gießt, und Liebe ist, den anderen zu vermissen, wenn er schon längst tot ist.«
Anatol war sich nicht sicher, ob Louise diese Antwort zufriedenstellen würde, aber etwas Besseres fiel ihm beim besten Willen nicht ein.
»Also«, sagte Louise sehr langsam, »Blumen gießen kann ich gut.«
»Das reicht aber nicht«, stellte Anatol fest.
»Und ich hab gestern ziemlich viel an dich gedacht«, fügte sie hinzu.
»Denken ist aber nicht vermissen.«
»Aber so was Ähnliches.«
»Ja«, gab Anatol zu, »vielleicht.«
Und dann ließ er es geschehen, dass Louise ihn hinter den Mülltonnen beim Gymnastiksaal erst küsste, bevor sie ihm eilig die Hose aufmachte und ihn mit dem Mund befriedigte. Es ging alles sehr schnell.
»Danke«, flüsterte er verwirrt.
»Keine Ursache«, sagte sie leichthin. »Und morgen bin ich dran«, fügte sie hinzu, während Anatol mit zitternden Fingern seine Hose wieder zuknöpfte.
Er hatte keine Ahnung, wie er es anstellen sollte. Dass Louise offenbar von ihm erwartete, dass er sie befriedigte, empfand Anatol als außerordentlich beunruhigend. Allerdings – die Vorstellung, dass sich dann auch die heutige Sache wiederholen könnte, machte das ganze Unternehmen wiederum interessant. Anatol war durchaus bewusst, dass die Chance auf Sex sich mit einem anderen Mädchen nicht allzu schnell wieder ergeben würde, und da er Louise irgendwie mochte, war er gewillt, sein Bestes zu geben. Also tat er, was er für das Beste hielt, und lief, kaum dass er die Haustür betreten hatte, schnurstracks weiter in die Ordination seiner Mutter, um dort nach medizinischen Nachschlagewerken zum Thema »weibliche Sexualität« zu fahnden. Da seine Mutter keine Ärztin war, sondern Stillberatung und professionelle Geburtsbegleitung anbot, konnte Anatol außer »Das große Stillbuch« wenig finden, was auch nur ansatzweise hilfreich gewesen wäre. Lediglich der Absatz über die Kontraktionen der Gebärmutter beim Stillen enthielt auch in einem Nebensatz einen kurzen Hinweis darauf, dass die Stimulation der Brustwarze durch das saugende Neugeborene einen ähnlichen Effekt hatte wie das Saugen des Mannes an den Brüsten seiner Partnerin beim Geschlechtsakt und dass dieser Vorgang von vielen Frauen als stimulierend empfunden wurde.
Als Louise ihn am darauffolgenden Tag erneut hinter die Mülltonnen zog, reagierte Anatol entsprechend anders als bisher und begann, ihren Pullover hochzuschieben und nach ihren Brustwarzen zu fahnden.
»Was machst du denn?«, fragte Louise überrascht.
»Ich werde an deinen Brustwarzen saugen«, gab Anatol zur Antwort.
»Na, lass das jetzt«, bat sie und zog ihren Pullover wieder herunter. »Steck mir lieber den Finger rein.«
Als Anatol zögerte und keine Anstalten machte, Louises Wunsch zu folgen, nahm sie mit einem Augenrollen seine Hand und führte sie unter ihren Rock. Eilig schob sie die Unterhose beiseite und drängte ihn, seine Finger in sie einzuführen, was Anatol mit großem Unbehagen tat. Erst als er sah, dass Louise dies offensichtlich Vergnügen bereitete, begann er sich etwas zu entspannen und seine Finger gemäß ihren Anweisungen rhythmisch zu bewegen.
»Schneller«, wies sie ihn an.
Anatol bewegte seine Finger schneller. Aber weil er aufgeregt war, kam er immer wieder aus dem Takt. Außerdem schmerzten ihn nach kurzer Zeit der Zeige- und Ringfinger aufgrund der ungewohnten Bewegung.
»Was ist?«, fragte Louise.
»Ich weiß nicht«, sagte Anatol.
»Bist du aufgeregt?«, wollte sie wissen.
»Ja«, gab er zu. »Ich hab so was ja noch nie gemacht.«
»Mach halt einfach weiter«, bat sie.
»Ich kann nicht«, sagte er leise.
»Du, lass mich ja nicht im Stich!«, keuchte sie. »So auf halber Strecke.«
»Ja, aber ich kann das nicht«, wiederholte er. Anatol begann vor Aufregung zu zittern.
»Dann zähl«, schlug sie vor.
Anatol war sich nicht sicher, ob das in diesem Fall helfen würde, aber er begann in Gedanken zu zählen, während er gleichzeitig wieder seine Finger rhythmisch bewegte.
»Ja«, stöhnte Louise leise, »gut. Jaja, sehr gut.«
Bei hundertdreiundzwanzig schloss sie die Augen, bei zweihundertacht begann sie zu keuchen, bei dreihundertsiebenunddreißig kam Louise schließlich.
»Puh«, sagte sie, »nicht schlecht.«
Sie schob seine Hand wieder von sich.
»Dreihundertsiebenunddreißig«, sagte Anatol.
»Was?«
»Dreihundertsiebenunddreißig«, klärte Anatol sie auf. »Ich hab langsam gezählt, also im Sekundentakt. Dreihundertsiebenunddreißig Sekunden. Das sind etwas mehr als fünf Minuten.«
Louise feixte.
»Freak.«
Dann steckte sie sich eine Zigarette an und hielt sie auch Anatol hin. Louise sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
»Das lernst du schon noch.«
»Was?«
»Das halt.«
Anatol nickte, nicht wissend, wie er Louises Aussage bewerten sollte. Und dann hatte er eine Eingebung. »Vielleicht schaffen wir es das nächste Mal unter dreihundert?«
Da fing Louise an zu lachen, schmiss die halb gerauchte Zigarette auf den Boden, trat drauf und sagte in das Läuten der Schulglocke hinein: »Abgemacht.«
Und dabei blieb es. Die nächsten sechs Wochen trafen sie sich pünktlich vor der Schule, wobei sie von dem Platz hinter den Mülltonnen im Schulhof in einen nahe gelegenen Hinterhof eines Gemeindebaus wechselten und, als es im Jänner endlich zu schneien begann, in den glücklicherweise unverschlossenen Zugang zum Heizungskeller. Mit der Zeit spielten sie sich immer besser aufeinander ein und so kam nicht nur Anatol binnen weniger Augenblicke zum Höhepunkt, sondern bald auch Louise. Der Rekord lag bei siebenundsechzig Sekunden. Den schafften sie allerdings nur ein einziges Mal und das auch nur an einem Dienstag nach einem besonders langen Wochenende. Allerdings wichen sie auch nie von ihrem bewährten Schema, er oral, sie mittels Finger, ab und Anatol wagte nie zu fragen warum nicht, obwohl er sehr gerne mit Louise geschlafen hätte. Doch Louise entpuppte sich als sehr viel empathischer als gedacht und so beantwortete sie seine unausgesprochene Frage eines Morgens mit dem Satz: »Weißt du, ich will noch Jungfrau bleiben. Und außerdem will ich nicht schwanger werden.«
Es waren sechs wunderbare, verquere, aufgegeilte Wochen. Und dann war es vorbei.
Eines Morgens kam Louise fünf Minuten zu spät und Anatol wartete ungeduldig vor der Schule, während er auf und ab ging. Er hatte schon überlegt, zum Gemeindebau hinüberzuschauen, ob sie nicht etwa dort auf ihn wartete, als Louise um die Ecke bog und quälend langsam auf ihn zuschritt.
»Es ist fünf nach halb«, informierte Anatol sie. »Aber wenn wir uns beeilen, schaffen wir es beide noch rechtzeitig. Vielleicht geht es bei dir heute unter hundert Sekunden. Was meinst du?«
»Anatol«, sagte Louise da, »ich muss mit dir reden.«
»Reden?«, fragte er irritiert.
»Ja, reden. Nur reden.«
Das hatten sie noch nie gemacht. Eigentlich kamen sie immer sofort zur Sache. Es kam sogar vor, dass sie außer »Hallo« nicht ein einziges Wort aneinander richteten, bevor sie sich gegenseitig befriedigten und wieder auseinandergingen.
»Also gut, reden«, echote Anatol. »Über was reden wir denn?«
Louise zog ihn beiseite, weil bereits einige Schüler sich dem Gebäude näherten.
»Das mit uns ist aus«, informierte sie ihn.
»Aus?«, fragte er.
»Schau, ich hab mich verliebt. Und da kann ich doch nicht mit dir, wenn ich eigentlich mit dem Johnny … Also, das verstehst du doch, oder?«
Ja, natürlich, das könne er verstehen, sagte Anatol. Er verstand überhaupt nichts.
»Na also.« Louise schien erleichtert. »Dann ist es ja gut.«
»Das heißt«, stellte Anatol fest, »du liebst mich nicht.«
»Nein, natürlich nicht«, antwortete Louise. »Das mit uns war nur ….« Aber dann schwante ihr Schlimmes und sie fragte: »Liebst du mich etwa?«
Anatol runzelte die Stirn. Er erinnerte sich wieder an seine Großeltern, an die Villa in Döbling, ans Blumengießen, an die Blicke und Gesten der beiden und an das Strahlen in den Augen des Großvaters, wenn die Großmutter einen ihrer Auftritte hingelegt hatte, und er flüsterte: »Ist sie nicht wunderbar?«
»Wer ist wunderbar?«, wollte Louise wissen.
»Ach, nicht so wichtig«, antwortete Anatol. Nein, weder sah er Louise so an wie der Großvater die Großmutter, noch hatte er das Bedürfnis, Louise beim Blumengießen zu betrachten. Aber …
»Wenn du nicht da bist, vermisse ich dich«, sagte Anatol.
»Das ist süß von dir. Aber liebst du mich denn?«
»Nein«, stellte Anatol fest. »Nein, tu ich nicht.«
»Gut«, sagte sie und reichte ihm plötzlich die Hand, die er zögernd ergriff.
»Man sieht sich«, sagte Louise und dann ging sie.
Nach drei Monaten war die Beziehung zwischen Johnny und Louise vorbei. Das merkte Anatol, der die letzten drei Monate äußerst schlecht geschlafen und sich ziemlich oft in sein Kinderzimmer zurückgezogen hatte, daran, dass Louise ihn eines frühen Morgens vor der Schule überfiel und wortlos an der Hand mit sich zog, in Richtung des Gemeindebaus. Kaum waren sie hinter der Tür des Heizungskellers verschwunden, presste sie auch schon ihre Lippen auf die seinen und machte sich am Reißverschluss seiner Hose zu schaffen.
»Komm«, bat sie ihn, »ab jetzt vögeln wir richtig. Ich bin jetzt fünfzehn und Jungfrau bin ich auch keine mehr. Außerdem nehme ich die Pille.«
»Und Johnny?«, wollte Anatol wissen.
»Der ist ein Arschloch und kann scheißen gehen.«
Und dann setzte sie sich auf einen Stromkasten, der im Gang zum Heizungskeller stand und zog Anatol in sich hinein.
Diesmal hielt ihr Arrangement gute zwei Monate lang, in denen sie sich stets um halb acht im Heizungskeller trafen, vögelten und dann getrennt wieder in die Schule gingen, wo sie den Rest des Tages so taten, als würden sie einander nicht kennen. Dass zwischen Anatol und Louise irgendetwas lief, bekamen nicht einmal ihre besten Freundinnen mit. Es waren zwei erfüllte Monate, bis Louise sich erneut in jemand anderen verliebte und Anatol eines Morgens vergebens im Heizungskeller auf sie wartete. Dasselbe tat er am darauffolgenden Tag. Am dritten Tag ohne Louise wagte Anatol es schließlich, sie in der Schule anzusprechen.
»Nicht hier«, zischte sie ihn an.
»Aber du kommst nicht mehr in unseren Keller und da dachte ich …«
»Nach der Schule, bei den Mülltonnen«, sagte sie leise und ließ ihn stehen.
Also wartete Anatol nach der Schule bei den Mülltonnen im Hof auf sie, und tatsächlich sah er Louise aus dem Schulgebäude kommen, doch sie machte keine Anstalten, sich zu ihm zu gesellen. Stattdessen legte sie ihren Arm um die Hüfte eines Jungen aus der siebenten Klasse des Gymnasiums und begann diesen vor allen Leuten zu küssen, woraufhin dieser wiederum vor allen Leuten an Louises Hintern griff, um ihn zu kneten.
Anatol hatte genug gesehen. Er brauchte kein Gespräch mit Louise, um zu wissen, dass ihre morgendlichen Treffen damit ein Ende hatten. Traurig machte er sich auf den Heimweg, wobei er die Pflastersteine zählte, auf die er trat, um sich zu beruhigen. Es waren dreihundertsiebenunddreißig und Anatol spürte plötzlich einen Zorn in sich aufsteigen, wie er ihn nie zuvor gespürt hatte. Daheim schloss er sich in seinem Zimmer ein und zertrümmerte mit den Händen systematisch alle je von ihm zusammengebauten Legosets, die in einem Regal am Fußende seines Betts standen. Das tat weh und Anatol spürte, wie ihn der Schmerz in den Fingern und Handflächen beruhigte. Also zog er sich die Socken aus und trat mit bloßen Füßen auf den spitzen Legosteinchen am Boden herum, bis er die Kontrolle über sich zurück hatte.
Das Seltsame war, dass damit die Geschichte zwischen Anatol und Louise nicht beendet war. Als Anatol ein halbes Jahr später Anfang September morgens nichts ahnend vor dem Schultor stand, griff plötzlich eine kleine, warme Hand nach seiner und zog ihn mit sich. Er brauchte nicht einmal aufzuschauen, um zu wissen, dass sie wieder da war. Louise führte ihn einfach wie ein Hündchen mit sich zum Gemeindebau und hinter die Tür des Kellers. Es war dunkel und Anatol stolperte über einen halb leeren Sack mit Grillholzkohle. Er fing sich, indem er sich an der Wand abstützte, geriet aber gleich wieder ins Schwanken, als Louise begann, seine Hose aufzuknöpfen.
»Komm, mach’s mir!«, forderte sie.
Doch Anatol holte tief Luft und sagte: »Nein.«
»Nein?«, fragte Louise und hielt inne. »Was heißt hier nein?«
»Ich will nicht«, antwortete er. »Ich will nicht mit dir vögeln und nächsten Monat verliebst du dich wieder in jemand anderen und lässt mich einfach stehen.«
Louise ließ von Anatol ab und suchte stattdessen in ihrer Tasche nach einer Zigarette. Das Licht ihres Feuerzeugs erhellte kurz ihr Gesicht, dann umgab sie beide erneut das Dunkel des Heizungskellers.
»Ich hab gedacht … ach, ich weiß auch nicht.«
»Was hast du gedacht?«, fragte Anatol.
»Ich hab gedacht, dir ist das wurscht. Ich mein, du bist ja eh nicht in mich verliebt, oder?«
Anatol dachte nach. Er hatte Louise gern – irgendwie. Das Vögeln gefiel ihm. Ihr Hintern gefiel ihm. Ihre Art zu küssen gefiel ihm, weil er keine andere Art kannte. Er betrachtete sie gerne, fühlte sich aber oft durch das eine oder andere Detail gestört. Manches an Louise war einfach erstaunlich vulgär. Ganz besonders ihre zerkratzte Stimme. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man mit dieser Stimme Shakespeare rezitieren sollte. Oder wie jemand mit so langen künstlichen Fingernägeln Blumen goss.
»Nein«, gab er schließlich zu. »Nein, das wohl nicht.«
»Na also«, sagte Louise, »warum machen wir dann nicht einfach weiter, haben Spaß and that’s it! Also keine Verpflichtungen.«
»Keine Verpflichtungen«, echote Anatol.
»Als Freunde«, schlug Louise vor.
»Freunde«, murmelte Anatol. »Hm, ja, Freunde, das … das geht.«
Dass er Louise nicht liebte, stand wohl fest. Aber bislang hatte Anatol auch keine andere Definition für seine Beziehung zu Louise finden können, denn Anatol hatte zwar ein Zuviel an Familie, aber keinerlei Freunde. Dass Louise ihm jetzt diese Freundschaft anbot, war etwas Überraschendes, Neues, Aufregendes. Nur war es nicht so, dass Anatol Überraschungen sehr schätzte, denn gewöhnlich brachten sie ihn völlig aus der Fassung, weshalb sein Atem auch ziemlich schnell ging und ihm jetzt der Schweiß ausbrach.
»Freunde«, wiederholte er.
»Spezielle Freunde«, stimmte Louise zu. Da fiel Anatol etwas ein.
»Heißt das, wir sind auch außerhalb des Heizungskellers Freunde?«
»Nein«, sagte sie.
Anatol zog die Stirn in Falten. Sein Atemrhythmus verdoppelte sich.
»Okay, ja«, gab Louise nach. »Du darfst mich ansprechen. Aber wehe, du sagst jemandem etwas davon, dass wir vögeln. Dann bring ich dich um.«
»Gut«, antwortete Anatol keuchend.
»Du findest es gut, wenn ich dich umbringe?«, machte sich Louise lustig.
»Nein«, antwortete Anatol. »Ich finde es gut, dich zu v… v… v…« Er stotterte.
»Es heißt vögeln, du Idiot. Und nun komm her. Wir haben nur noch ein paar Minuten bis zur ersten Stunde und ich muss noch die Hausübung für Mathe von der Vroni abschreiben. Sonst krieg ich echt einen Anschiss.«
Das war’s. Mit einem einzigen Wort hatte Louise ihre Beziehung in einen anderen Status überführt und das Ganze besiegelt: Freunde.
Für Anatol war das absolutes Neuland. Weder im Kindergarten noch in der Schule noch auf irgendeinem der langweiligen Spielplätze, auf die ihn seine Mutter zu zerren pflegte, um »dem Kind die Möglichkeit zur Aufnahme von sozialen Bindungen mit Gleichaltrigen« zu geben, wie sie das nannte, hatte er je so etwas wie Freundschaft geschlossen. Die einzige nähere Bekanntschaft, die er dort gemacht hatte, war die eines kleinen, rothaarigen Mädchens in Latzhosen gewesen, das ihm aus einer Laune heraus sein eigenes Matchboxauto über den Schädel gezogen hatte. Das Auto war dabei kaputtgegangen.
Und nun das: eine sexsüchtige Zahnarzttochter als Freund. Das war doch mal ein echter Fortschritt, was soziale Bindungen anbelangte, auch wenn er, auf seine Beziehung zu Louise angesprochen, ziemlich viel weglassen musste. Die Worte »vögeln« und »Heizungskeller« kamen ihm jedenfalls nicht über die Lippen, als ihn ein paar Tage später eine Gruppe von Mitschülern auf dem Gang stellte und auszufragen begann.
»Hey, Fetznschädl, was ist mit dir und der wilden Louise?«
»Freunde«, antwortete Anatol, »wir sind Freunde.«
»Das kannst deiner Großmutter erzählen, Idiot! Du machst doch mit der rum! Gib’s zu.«
»Lasst mich in Ruhe«, hatte Anatol gerufen, aber natürlich hatten sie ihn nicht gelassen, sondern immer weiter gestichelt. »Der Koffer und das Luder! Super Kombi!«
So ging das in einer Tour weiter. Sie stießen ihn, sie beleidigten ihn und vor allem beleidigten sie Louise. Da riss ihm irgendwann der Film und das Nächste, an das sich Anatol erinnern konnte, war, wie er auf der Brust eines Buben saß und ihm mit der Faust ins Gesicht drosch, bis das Blut aus dessen Nase spritzte und rote Flecken auf dem Linoleumboden hinterließ. An die Flecken konnte er sich besonders gut erinnern, weil sie nämlich ein wenig dem Modell des Sonnensystems ähnelten. Dunkelrote Blutflecken auf blauem Linoleum.
Irgendwer zerrte ihn dann mit aller Kraft von seinem bewusstlosen Mitschüler herunter und drückte ihn zu Boden, und Anatol dachte noch, wie gut das tat, wenn man sich so gar nicht mehr rühren konnte, denn das erinnerte ihn an die Zeit, wo ihn seine Mutter stets nach einem seiner Anfälle fest in eine Decke eingewickelt hatte, damit er endlich zur Ruhe kam. Ganz fest hatte sie die Wolldecke um ihn geschlungen und das hatte so unendlich gutgetan, weil er sich dann wieder spüren konnte. Jedes Mal, wenn er einen Anfall hatte, wurde Anatol nämlich ganz schwerelos, so als gehörten Körper und Geist gar nicht mehr zusammen. Erst die Wolldecke brachte beides wieder in Einklang, und je fester sie die Decke um ihn herumzog, desto besser.
Nun lagen etwa fünf andere Buben auf ihm und Anatol hörte ein lautes Knacken in seiner Brust, als ihm unter einem plötzlichen Fußtritt mehrere Rippen brachen. Aber das machte ihm nichts. Nein, tatsächlich, es tat ihm wohl. Er hatte höllische Schmerzen, aber er war wieder er selbst.
»Runter! Sofort runter von ihm! Er bekommt ja keine Luft mehr! Seid ihr wahnsinnig? Wollt ihr ihn umbringen? Runter!«
Er hätte gerne gesagt, dass ihm das nichts ausmache, man solle nur weiter auf ihm liegen, dann gehe es ihm gleich wieder gut, aber er bekam jetzt tatsächlich keine Luft mehr und wurde schließlich ohnmächtig. Als er wenige Augenblicke später wieder zu sich kam, kniete Louise neben ihm und schrie die anderen an, sie sollten gefälligst einen scheißverdammten Rettungswagen rufen. Dabei strich sie ihm unablässig mit nervös zitternden Fingern über den verklebten Haarschopf. War das Blut? Und falls ja, war das sein Blut? Er wusste es nicht. Aber, und das empfand Anatol als äußerst beruhigend, es schlich ihm ein sehr vertrauter Geruch in die Nase. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, woher dieser metallische Geruch stammte. Das war nicht das Blut, das aus seinem Schädel rann. Es war Louises Hand, die so roch. An ihr haftete immer noch der muffige Geruch nach alten, ungelüfteten Mauern. Louise, das stand völlig außer Frage, duftete nach Heizungskeller.
»Josef Meinrad hat sich nie geprügelt!« Die Stimme seiner Großmutter schraubte sich binnen dieser wenigen Worte in hysterische Höhen, stürzte dann aber unversehens wieder ab, als sie hinzufügte: »Ich meine, ja gut, da waren diese schrecklichen Affen. Will sagen, auch Meinrad war zuweilen … Aber prügeln? Niemals. Und schon gar nicht wegen einer Frau!«
»Sie ist keine Frau«, unterbrach sie Helena, Anatols älteste Schwester, »sie ist ein Mädchen.«
Der Familienrat tagte. Und das bedeutete, dass sehr viele Personen im selben Raum waren und sehr viel dummes Zeug redeten, und das taten sie sehr laut und alle durcheinander.
Was Anatol nicht sah, weil er in seinem Zimmer auf dem Bett lag mit drei gebrochenen Rippen und einer blutverkrusteten Nase, war seine Mutter. Sie hatte sich weinend unter eine der übergroßen Zimmerpalmen am Wohnzimmerfenster gesetzt und gab die verzweifelte Mater dolorosa, während sein Vater mit versteinerter Miene, in großen Schritten und mit genagelten Schuhen (das tat er sonst nie, das Parkett war heilig und wurde geschont) den Raum auf und ab schritt. Seine drei Schwestern Elisabeth, Helena und Marie hatten sich auf dem Sofa drapiert und plapperten wild durcheinander. Nur die Großmutter lehnte in überbordender Pose auf einer alten Chaiselongue mitten im Raum, ein großes Glas Cognac in der Hand, und ließ ihren strengen Blick über ihre Nachkommenschaft schweifen.
Der Lärmpegel war unerträglich und er schwoll weiter an, als Anatols Vater (klack, klack) begann, Szenarien zur Klage gegen die Schule, die Täter und den Rest der Welt zu entwerfen. Seine Mutter schluchzte daraufhin immer lauter aus ihrem Sessel und hielt weinend dagegen, dass sie froh sein könnten, wenn man sie umgekehrt nicht verklagte, immerhin habe Anatol den »Strauß« ja angefangen. Derweil machten die Schwestern wahlweise sich, ihrem Bruder, den Eltern oder gleich der ganzen kaputten, kruden, übersättigten, gefühllosen Gesellschaft Vorwürfe. Bis es der Großmutter schließlich zu viel wurde.
»RUHE!«, rief sie und binnen eines Sekundenbruchteils herrschte angespannte Stille im Raum. Alle Augen waren nunmehr auf sie gerichtet. Johanna Neuendorff nahm einen großen Schluck Cognac, sah dann einen nach dem anderen mit strengem Blick an und knurrte schließlich: »Hans, zieh diese grässlichen Schuhe aus! Du zernagelst das Parkett und meine Nerven gleich dazu! Lore, hör auf zu heulen! Das hält ja keiner aus. Und ihr drei Grazien«, und sie sah zu Anatols Schwestern, »benehmt euch! Keiner braucht hier einen Haufen gackernder Hendln.« Dann schüttelte sie ihre immer noch eindrucksvollen silberfarbenen Locken und murmelte: »Man stelle sich das vor: Gerade erst fünfzehn und schlägt sich blutig wegen einer Frau! Na, wen wundert’s? Was nennt ihr das Kind auch Anatol!«
Letztlich kam der Familienrat zu dem Schluss, dass »das Kind« auf eine andere Schule geschickt werden würde, eine für privilegierte Kinder aus privilegierten Familien, wo man adrette Haarschnitte trug und imposante Nachnamen. Kurz: Man steckte Anatol nach Abschwellen der Nase und dem Verschwinden aller Hämatome im Gesicht in seinen schönsten Pullover und lieferte ihn der besseren Gesellschaft aus.
Anatol fand das unnötig, denn auch hier, an seiner neuen Schule, befanden sich Zahnarzttöchter. Allerdings, das musste er sich eingestehen, war keine davon wie Louise. Trotzdem fügte er sich in sein Schicksal und nahm wieder die Außenseiterrolle ein, die er bereits aus seiner alten Schule kannte und die er gut beherrschte. Daran änderte sich auch bis zur Matura nichts mehr.
Louise und er sahen sich nur ein einziges Mal wieder. Ihr war der Umgang mit Anatol verboten worden und sie hatte auch nicht dagegen insistiert. Man schickte das Mädchen kurz nach den Vorfällen für ein Jahr in die USA zu einer Gastfamilie, von wo sie wenige Monate später ungeplant schwanger wieder zurückkehrte. Eine Abtreibung in Wien durchzuführen empfand die Familie als sicherer, denn das Misstrauen gegenüber dem amerikanischen Gesundheitssystem saß tief, seitdem bei einem Floridaurlaub der Zahnarztvater einst eine Blutvergiftung aufgrund eines entzündeten Gelsenstichs bekommen hatte und daran beinahe gestorben wäre. Bei aller Schande – das wollte man Louise nun doch nicht antun. Und billiger war das ganze in Wien auch.
Anatol traf sie also kurz nach Weihnachten wieder, als er in Begleitung seiner Schwestern auf dem Weg zur Großmutter nach Döbling war. In der Station Schottentor ging Louise, sehr blass, zusammen mit einer Freundin an ihm vorüber. Anatol öffnete den Mund, um sie zu begrüßen, doch ein Blick Louises genügte und er klappte ihn wieder zu, ohne etwas gesagt zu haben. Gleichzeitig konnte er das Mädchen, das Louise begleitete, flüstern hören: »War das nicht der Freak aus deiner alten Schule?« Und Louise antwortete: »Scht! Komm bloß weiter.«
Ein Freak. Das war er also. Das, dachte Anatol, war eindeutig etwas anderes als ein Freund. Und so hielt er den Mund, an diesem Tag, dort unten im Jonasreindl, als Louise an ihm vorüberging, und auch in den folgenden Jahren seiner verbleibenden Schulzeit. Er versuchte weder aufzufallen noch Freunde zu gewinnen. Vielmehr bemühte er sich darum, gar nicht vorhanden zu sein, weder physisch, was schwer war, noch geistig, was ihm leichter fiel. Anatol wurde quasi unsichtbar.
Seine Familie gab sich der trügerischen Annahme hin, dass er zur Vernunft gekommen sei. Dasselbe galt für seine Lehrer, die von dem Vorfall in der alten Schule ohnehin nur wenig wussten. Dafür hatte ein Auftritt der Großmutter beim Schuldirektor, einem Verehrer der einstigen Diva, genügt. Lediglich die Großmutter selbst sah Anatol zuweilen von der Seite an und zog die Stirn in tiefe Falten, weil sie ahnte, dass hinter der freundlich stillen Fassade des Enkels noch etwas ganz anderes schlummerte, etwas, das man tunlichst nicht wecken sollte.
Ein paar Wochen nachdem Anatol seine Matura gemacht hatte, brach sich die Großmutter bei dem Versuch, ein gerahmtes Porträt des verstorbenen Großvaters an der Wand gerade zu rücken, den Arm. Sie war von einem Sessel heruntergefallen. Deshalb scharte sie ihre Familie um sich, um ihr Leid mit ihnen zu teilen.
»Ach, Anatol, mein Liebling, reich mir doch bitte die Seidenstola!«
»Anatol, kannst du das Fenster bitte schließen? Es zieht!«
»Mein Gott, wie blöd kann man sein! Den Arm brechen! So etwas Unnötiges!«
»Anatol, mach das Fenster wieder auf. Es ist richtiggehend stickig!«
»Ach, wenn jetzt der Meinrad da wäre! Da könnte man wenigstens geistreich parlieren.«
Und wenn es ganz arg wurde, kam bei der Großmutter immer mal wieder das Mädl aus Simmering durch und dann stöhnte sie schlichtweg: »So deppat!«
Anatol tat eigentlich nichts, außer auf der Vorderkante seines Sessels zu sitzen und auf weitere Befehle zu warten. Das traf sich insofern ganz gut, als er auch sonst nicht viel tat. Er war seinen Eltern zwei langweilige Wochen an den Attersee gefolgt, wo er sich vorwiegend im Schatten des Gartens aufgehalten und auf die Berge gestarrt hatte, stets eine Wanderkarte neben sich, die er allerdings nicht zum Wandern, sondern zum Rechnen benutzte. Am Ende der Ferien hatte er die Höhenmeteranzahl aller aufgeschichteten Berge rund um den See errechnet, die Dauer der Über- sowie der Durchschreitung jedes Bergmassivs im Umkreis von dreißig Kilometern und die annähernde Wassermenge des Sees in Kubiklitern. Dazu noch die Kilometeranzahl sämtlicher Rad- und Wanderwege rund um den See und nicht zuletzt die Anzahl der mutmaßlichen Todesopfer von Badeunfällen ab dem Jahr 1953, dem Jahr, in dem der Großvater das kleine Haus am See erworben hatte. Der See, so viel stand fest, hatte bereits ein kleines Dorf verschluckt. Im Grunde, dachte Anatol, blickte er auf einen Friedhof. Ein guter Grund, um dem Wasser möglichst fernzubleiben.
Das klappte nicht immer, vor allem dank seiner drei großen Schwestern, die, nacheinander und meist in Begleitung von temporären Partnern, den See eroberten. Zwar wussten die drei um das Rückzugsbedürfnis ihres kleinen Bruders, aber das hielt sie nicht davon ab, ihn hin und wieder zu dritt zu packen und ihn vom Badesteg aus ins Wasser zu schmeißen. Er nahm es ihnen nicht übel. Sie hatten das immer schon gemacht, schon als sie ganz klein waren und Anatol noch nicht einmal schwimmen konnte, was er im Übrigen auch jetzt nicht sonderlich gut beherrschte. Eine der Schwestern hatte immer Mitleid und zog den kleinen Bruder aus dem Wasser. Hier war der See nicht besonders tief und Anatol konnte schon bald allein dem kalten Nass entkommen, in das sich die anderen mit Freudenschreien stürzten. Und eben weil dieses In-den-See-Werfen eine gewisse sommerliche Tradition hatte, ließ er es klaglos mit sich geschehen, denn Rituale, welcher Art auch immer, gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit, auch wenn er damit dem eiskalten Wasserfriedhof für sein Empfinden entschieden zu nahe kam.
Anatols Schwestern, so grob sie ihn auch manchmal herumstießen, liebten ihren kleinen Bruder und hätten es niemand anderem gestattet, ihn so zu quälen, wie sie es taten. Das war schon immer so gewesen und das behielten sie auch im Erwachsenenalter bei. Machte also einer der zur Sommerfrische mitgezerrten Freunde auch nur die Andeutung, Hand an Anatol zu legen, fand sich stets eine der Schwestern, die dazwischenging. Und nicht selten so eine Freundschaft beendete. Man hatte schon den einen oder anderen Liebhaber von Vöcklabruck aus in den Zug nach Wien gesetzt, weil er sich nicht zu benehmen wusste. Über das Gerechtigkeitsempfinden der Schwestern setzte man sich nicht hinweg. Ihr Wort galt.
Anders verhielt es sich da mit den Freundinnen der Schwestern, von denen hin und wieder eine auf Sommerfrische eingeladen wurde. Diese durften sich zuweilen auch in die Nähe von Anatol wagen, es wurde dabei jedoch von den Schwestern stets beobachtet, ob sich unter den hübschen Gesichtern womöglich doch eine Art Louise fand. Die Ereignisse von vor drei Jahren waren der Familie immer noch sehr präsent.
Es war also ein langweiliger Sommer, bis die Großmutter anrief und mitteilte, dass sie sich den Arm gebrochen hatte, aber bitte, bitte, deswegen müsse nun wirklich keiner seinen Urlaub abbrechen. Die Familie packte in größter Hektik binnen einer Stunde alle Koffer und ließ den Attersee für diesen Sommer zurück, genau an dem Tag, an dem gleich zwei Touristen in der eiskalten Mitte des Sees einen Herzinfarkt erlitten und untergingen. Aber das erfuhr Anatol nicht mehr und konnte es somit auch nicht in seine Statistik aufnehmen.
»Was hockst du denn da noch auf der Kante vom Sessel herum? Du wirst gleich hinunterfallen!«
»Ja, Großmutter!«
»Wenn doch nur der Meinrad noch lebte! Aber alle müssen sie vor mir sterben. Schrecklich. Sogar der Großvater! Keine achtzig war der Mann und was tut er? Stirbt.« Pause. »So deppat!«
Die Großmutter schaute verdrießlich aus dem Fenster. Und dann fand sie ein Thema, das sie interessierte.
»Was willst du denn jetzt eigentlich machen?«
»Was machen?«, fragte Anatol verwirrt. »Ich dachte, ich sitze hier noch eine Weile und leiste dir ein bisserl Gesell…«
»Nein, was du mit deinem Leben anfangen willst, Kind!«
»Ich weiß nicht«, antwortete Anatol wahrheitsgemäß. »Eigentlich hatte ich gehofft, du könntest mir das sagen.«