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Herausgeber

 

Helmut E. Lück ist emeritierter Professor für Psychologie an der FernUniversität in Hagen, wo er Sozialpsychologie lehrte und u. a. das Psychologiegeschichtliche Forschungsarchiv begründete. Forschungsschwerpunkt ist seit einigen Jahren die Geschichte der Psychologie, besonders der Nazizeit und der frühen Nachkriegszeit. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Fachpublikationen und Lehrbücher zu sozialpsychologischen, forschungsmethodischen und psychologiegeschichtlichen Themen. Sein Buch Geschichte der Psychologie (Kohlhammer Verlag, 7. Aufl., gemeinsam mit Susanne Guski-Leinwand) ist in mehreren Übersetzungen erschienen. Begründet hat Lück die Buchreihen Beiträge zur Geschichte der Psychologie und Schlüsseltexte der Psychologie. Für das Dorsch Lexikon Psychologie ist er Gebietsexperte für die Geschichte der Psychologie.

 

Rudolf Miller war apl. Prof. für Sozialpsychologie an der FernUniversität in Hagen, anschließend fünf Jahre Prorektor für Studium, Lehre und Qualitätsmanagement an der EBZ Business School in Bochum. Er ist Lehrender im Weiterbildungsmaster »Personal und Organisation« an der Universität Wuppertal, Gutachter bei der FIBAA (Foundation for International Business Administration Accreditation); Mitglied der Arbeitsgruppe »Franchise-Studiengänge« beim Wissenschaftsrat; Organisationsberater. Forschung und Publikationen in Psychologiegeschichte, Umweltpsychologie, Fernstudienentwicklung.

 

Gabriela Sewz hat Sozialwissenschaften, Psychologie und Literaturwissenschaft an der FernUniversität in Hagen mit den Schwerpunkten Sozial-, Arbeits- und Organisationspsychologie sowie Wissenschaftsgeschichte und -theorie studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Sozialpsychologie der FernUniversität; Promotion zum Dr. phil. mit dem Thema Zum Selbstverständnis der Psychologie als Wissenschaft. Derzeit ist sie Mitarbeiterin im Weiterbildungs-Masterstudiengang für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Bergischen Universität Wuppertal; Tätigkeit als freie Trainerin, Lehrbeauftragte und Coach; Weiterbildungen: Systemisches Coaching, Klärungsorientierte Psychotherapie. Themenschwerpunkte: Kommunikation, Konfliktmanagement, Coaching, Qualitative Forschungsmethoden.

Helmut E. Lück

Rudolf Miller

Gabriela Sewz (Hrsg.)

Klassiker der Psychologie

Die bedeutenden Werke: Entstehung, Inhalt und Wirkung

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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2., erweiterte und überarbeitete Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-031623-2

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pdf:     ISBN 978-3-17-031624-9

epub:  ISBN 978-3-17-031625-6

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Inhalt

 

 

 

  1. Zur Einführung
  2. Der Weg zur Psychologie
  3. Juan Huarte: Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften (1575)
  4. Juan Carlos Pastor
  5. Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–1778)
  6. Jürgen Jahnke
  7. Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik (1824/25)
  8. Uwe Laucken
  9. Charles Darwin: The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872)
  10. Gabriela Sewz
  11. William James: The Principles of Psychology (1890)
  12. Henning Schmidgen
  13. Von der Physiologie zur experimentellen Psychologie
  14. Jan Evangelista Purkinje: Beobachtungen und Versuche zur Physiologie der Sinne (1819–1825)
  15. Jiří Hoskovec
  16. Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik l/ll (1860)
  17. Horst-Peter Brauns
  18. Wilhelm Wundt: Grundzüge der physiologischen Psychologie (1873/74)
  19. Hermann Feuerhelm und Wolfgang Bringmann
  20. Persönlichkeit, Differentielle Psychologie und Psychodiagnostik
  21. Francis Galton: Inquiries into Human Faculty and its Development (1883)
  22. Douwe Draaisma
  23. Alfred Binet: Les idées modernes sur les enfants (1909)
  24. Ernst F. Plaum
  25. William Stern: Die Differentielle Psychologie (1911)
  26. Wilfred Schmidt
  27. Lernen und Verhalten
  28. Hermann Ebbinghaus: Über das Gedächtnis (1885)
  29. Hans-Jürgen Lander und Matthias Huth
  30. John B. Watson: Psychology from the Standpoint of a Behaviorist (1919)
  31. Angela Schorr
  32. George Herbert Mead: Mind, Self and Society. From the standpoint of a Social Behaviorist (1934)
  33. Rudolf Miller
  34. George A. Miller, Eugene Galanter und Karl H. Pribram: Plans and the Structure of Behavior (1960)
  35. Rolf Oerter
  36. Burrhus Frederic Skinner: The Behavior of Organisms: An Experimental Analysis (1938)
  37. Angela Schorr
  38. Albert Bandura: Social Learning Theory (1977)
  39. Rudolf Miller und Kathrin Budel
  40. Wahrnehmung, Denken und Sprache
  41. Wolfgang Köhler: Gestalt Psychology (1929)
  42. Siegfried Jaeger
  43. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache (1934)
  44. Achim Eschbach und Jens Kapitzky
  45. Kurt Lewin: Principles of Topological Psychology (1936)
  46. Helmut E. Lück
  47. Max Wertheimer: Productive Thinking (1945)
  48. Viktor Sarris und Michael Wertheimer
  49. Entwicklung und Lebenslauf
  50. William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr (1914)
  51. Werner Deutsch
  52. Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem (1933)
  53. Katrin Gaiser und Helmut E. Lück
  54. Martha Muchow und Hans Heinrich Muchow: Der Lebensraum des Großstadtkindes (1935)
  55. Günter Mey
  56. Erik H. Erikson: Childhood and Society (1950)
  57. Günter Mey
  58. Jean Piaget und Bärbel Inhelder: La psychologie de l’enfant (1966)
  59. Sibylle Volkmann-Raue
  60. Lawrence Kohlberg: Zur kognitiven Entwicklung des Kindes (1974)
  61. Horst Heidbrink
  62. John Bowlby: Child Care and the Growth of Love (1965)
  63. Klaus E. Grossmann
  64. Soziale Dimensionen menschlichen Verhaltens
  65. Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie (1900–1920)
  66. Georg Eckardt
  67. Floyd Henry Allport: Social Psychology (1924)
  68. Carl F. Graumann
  69. Leon Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance (1957)
  70. Bernd Six
  71. Fritz Heider: The Psychology of Interpersonal Relations (1958)
  72. Uwe Laucken
  73. Konrad Lorenz: Das sogenannte Böse (1963)
  74. Herbert Selg
  75. Stanley Milgram: Obedience to Authority. An Experimental View (1974)
  76. Helmut E. Lück und Miriam Rothe
  77. Roger G. Barker and Associates: Habitats, Environments, and Human Behavior (1978)
  78. Gerhard Kaminski
  79. Psychoanalyse und deren Wirkungen
  80. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900)
  81. Bernd Nitzschke
  82. Alfred Adler: Über den nervösen Charakter (1912)
  83. Almuth Bruder-Bezzel
  84. Anna Freud: Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936)
  85. Wilhelm Salber und Herbert Fitzek
  86. Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (1941)
  87. Rainer Funk
  88. Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge (1946)
  89. Miriam Rothe und Helmut E. Lück
  90. Ruth C. Cohn: Gelebte Geschichte der Psychotherapie (1984) (zusammen mit Alfred Farau)
  91. Horst Heidbrink
  92. Psychologie in Anwendungsfeldern
  93. Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik (1914)
  94. Helmut E. Lück
  95. Jacob Levy Moreno: Who shall survive? (1934)
  96. Rainer Dollase
  97. Carl Rogers: Client-centered Therapy (1951)
  98. Reinhard Tausch
  99. Martin E. P. Seligman: Learned Optimism (1991)
  100. Tobias Keller
  101. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Zur Einführung

 

 

 

Ohne Zweifel hat die akademische Psychologie ihre Meilensteine aufzuweisen: hervorragende Arbeiten, die auf die Entwicklung des Fachs nachhaltige Wirkung ausgeübt haben. Die Möglichkeiten, sich über solche wegweisenden Arbeiten der Psychologie angemessen zu informieren sind – trotz Internet – begrenzt: Wichtige historische Bücher sind vergriffen oder aus sprachlichen Gründen in unserer Zeit nur noch schwer lesbar. Hinzu kommt, dass die Psychologie kein ausgeprägtes Bewusstsein für die eigene Geschichte entwickelt hat und Darstellungen früher Klassiker manchmal nur knapp und verkürzt erfolgen, oft nur beiläufig. Dieses Buch gibt daher eine Lesehilfe für jene Texte, die man als Klassiker bezeichnen kann, weil sie über lange Zeit immer wieder als Meilensteine zitiert wurden. Manche Bücher haben nach ihrem Erscheinen neue Gebiete erschlossen, wie William Sterns Differentielle Psychologie (1911), andere haben die empirische Forschung enorm beflügelt, wie Leon Festigers Theory of cognitive dissonance (1957), wieder andere haben neue Theorien propagiert und waren über Jahrzehnte in der Ausbildung von Studierenden prägend, wie etwa die Principles of psychology (1890) von William James.

Nach wie vor besteht in der Psychologie keine einheitliche Meinung, welches denn nun die klassischen Bücher des Fachs sind. Dies liegt an wechselnden Strömungen und Schulen in der Psychologie, an den psychologischen Teilgebieten, die ihre eigenen Klassiker haben, und auch daran, dass die Psychologie als vergleichsweise junge Disziplin wenig kanonisiert ist. So erhebt auch die vorliegende Sammlung nicht den Anspruch auf eine quasi fachwissenschaftlich autorisierte Liste der Klassiker. Wir möchten an wichtige Originalarbeiten der letzten 150 Jahre heranführen, wobei die letzten Jahrzehnte ausgespart sind, weil für diese Zeit noch nicht von »Klassikern« gesprochen werden kann. Die Beiträge haben durchweg folgende Struktur:

•  Würdigung des Werkes in Kurzform

•  Autor/Autorin/Autoren in Kurzbiographie(n)

•  Entstehungsbedingungen des Werkes

•  Inhalt des Werkes

•  Zeitgenössische Rezeption und

•  Bedeutung des Werkes aus heutiger Sicht.

Wegen der thematischen Breite werden die Artikel wahrscheinlich selten unmittelbar nacheinander gelesen. Die Beiträge sind in sich abgeschlossen und können deshalb auch für sich stehen. Wir haben die Aufsätze aber so zu Kapiteln zusammengefasst, dass Zusammenhänge, wie die Zuordnung zu Schulen und Forschungsrichtungen, sichtbarer werden.

Häufig hat sich die Bedeutung der Werke sehr bald nach ihrer Veröffentlichung herausgestellt, da diese Bücher die Theorieentwicklung und Forschung des Fachs unmittelbar und intensiv angeregt haben. Aber nicht immer war dies so. Bücher haben bekanntlich ihre Geschichte. Die Bedingungen im 20. Jahrhundert mit zwei Weltkriegen haben auch in der Psychologie ihre Spuren hinterlassen, wenn man z. B. an die späte Würdigung von Martha Muchows Der Lebensraum des Großstadtkindes (1935) oder die fast unglaubliche Entstehungsgeschichte und das späte Erscheinen von Viktor Frankls Ärztliche Seelsorge (1946) denkt. Dieses Buch ist zudem ein Beispiel dafür, dass Buchtitel umständlich oder gar missverständlich sein können. Nicht selten waren Autorinnen und Autoren »der Zeit voraus«. Nachzulesen ist dies unter anderem in zeitgenössischen Rezensionen, in denen die Bedeutung des Werkes gelegentlich noch verkannt wurde. Heute ist es leicht, anhand von Softwareprogrammen Häufigkeiten der Nennungen von Autoren und Buchtiteln in späteren Jahren und Jahrzehnten zu bestimmen und in Grafiken darzustellen. Solchen Auswertungen lassen auch deutlich werden, dass manche Bücher erst nach ihrer Übersetzung in andere Sprachen Bedeutung erlangten. Viele Klassiker sind nachgedruckt worden, aber es gibt auch schwerer zugängliche Werke, d. h. also ältere und fremdsprachige Texte, die heute im Original nur wenig gelesen werden, wie etwa Wilhelm Wundts Völkerpsychologie (1900–1920). Bezüglich dieser älteren Klassiker gibt es immer noch kulturelle Unterschiede: Die Völkerpsychologie ist nicht in englischer Sprache erschienen und eine groß angelegte Untersuchung in den USA zu den 100 bedeutendsten Psychologinnen und Psychologen1 hat gezeigt, dass Ebbinghaus dort nicht zu den bedeutenden 100 gerechnet wurde – vermutlich, weil sein Hauptwerk Über das Gedächtnis in den USA weniger bekannt ist.

Die jeweils kurze Darstellung der Inhalte soll nicht die Lektüre der Originalarbeiten ersetzen, sondern Interesse wecken und den Einstieg erleichtern, d. h. in die Denk- und Argumentationsweise des Autors bzw. der Autorin in der betreffenden Zeit und Kultur einführen. Die Wirkungsgeschichte der Klassiker lässt deutlich werden, wann, wo und warum ein Werk besonders rezipiert wurde. Diese Rezeptionsgeschichte entspricht nicht immer den Absichten und Hoffnungen der Autorinnen und Autoren, so findet man manchmal eine stärkere Rezeption in einer Nachbardisziplin. Umgekehrt gab es Bücher, die für Medizin, Soziologie oder Pädagogik verfasst wurden, aber in der Psychologie ihre Wirkung entfalteten. Der genannte Titel Ärztliche Seelsorge ist solch ein Beispiel. Was heute als Auswirkung über Disziplingrenzen erscheint, wurde in der jeweiligen Zeit anders bewertet. So lässt sich an den Klassikern die komplexe Geschichte der Wissenschaft Psychologie und der Disziplin Psychologie, die in Deutschland eng mit der Philosophie verbunden war, verfolgen. Wissenschaft verläuft nicht kontinuierlich linear im Sinn eines stetigen Fortschritts. Wirksam sind immer auch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen wissenschaftliches Handeln stattfindet.Wer unterschiedliche Zugänge zu Themen kennenlernt, ist eher in der Lage, die Prämissen der aktuellen Forschung zu erkennen und zu bewerten. Gegenwärtige psychologische Untersuchungen und Theorien sind oft gar nicht so neu, wie sie zunächst erscheinen. Auch die Untersuchungstradition, in der sie stehen, prägt ihr heutiges Erscheinungsbild. Die Klassiker geben einen Überblick über die heterogene Landschaft der Psychologie in ihrer Entwicklung und sie zeigen, welche Stränge weiterverfolgt wurden und welche nicht.

Unser primäres Ziel ist es, möglichst viele Leserinnen und Leser anzuregen, den einen oder anderen Klassiker zur Hand zu nehmen und aus heutiger Sicht zu lesen. Diese Kenntnis vertieft nicht nur das Wissen um die geschichtliche Entwicklung von Fach und Anwendungsbereichen, sie hilft auch beim Verständnis und bei der Einordnung neuerer psychologischer Erkenntnisse. Sie kann zusätzlich helfen, sich bewusst für oder gegen Ansätze entscheiden zu können, denn es macht einen Unterschied, ob man vielfältige Zugänge zur Psychologie kennt, auch jene, die derzeit vom Mainstream nicht favorisiert werden.

Unser Dank gilt an erster Stelle allen Autorinnen und Autoren. Wir verdanken ihnen viele hilfreiche Anregungen, gute Zusammenarbeit und auch Geduld. Wir wissen, dass wir es ihnen durch knappe Raumvorgaben nicht leichtgemacht haben. Gegenüber der lange vergriffenen ersten Buchfassung (Lück, Miller, Sewz-Vosshenrich, 2000) ist die vorliegende Ausgabe vollständig überarbeitet und erheblich erweitert worden. Aufgenommen wurden weitere Arbeiten, die inzwischen als Klassiker gelten können; zusätzlich wurde etwas mehr Gewicht auf Arbeiten gelegt, die in der praktisch-psychologischen Arbeit von grundlegender Bedeutung sind. Die Beiträge der ersten Ausgabe wurden von den Autorinnen und Autoren freundlicherweise für diese erweiterte Ausgabe durchgesehen und ergänzt. Dort, wo dies nicht möglich war, haben wir diese Aufgabe übernommen. Eine ganze Reihe weiterer Kapitel konnte aufgenommen werden, so dass Klassiker der Psychologie mit 44 Beiträgen in acht Kapiteln stärker zu einem Handbuch geworden ist.

Wir danken besonders Miriam Rothe, Hagen, für Ihre kritische und sorgfältige Durchsicht der Beiträge. Ulrike Albrecht vom Verlag Kohlhammer sind wir für die Förderung und Begleitung des Buchprojektes dankbar.

Helmut E. Lück

Rudolf Miller

Gabriela Sewz

Januar 2018

1     Haggbloom, S. J., Warnick, R., Warnick, J. E., Jones, V. K. et al. (2002). The 100 most eminent psychologists of the 20th century. Review of General Psychology, 6, 139–152.

 

 

 

 

 

Der Weg zur Psychologie

Juan Huarte Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften (1575)

Juan Carlos Pastor

Dieses mehr als vier Jahrhunderte alte, eigenartige und intuitive Werk ist in vieler Hinsicht ein Wegbereiter der modernen Psychologie. Obwohl die Tradition der akademischen Psychologie in Spanien nicht vor Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, liegen die Wurzeln der modernen psychologischen Ideen im 16. Jahrhundert. Juan Huarte de San Juans (1530?–1588?) Werk Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften ist ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. In der Tat handelt es sich um ein Buch mit innovativem Charakter und wissenschaftlichem Scharfsinn, begleitet von einer praktischen Absicht. Weiterhin geht Huarte mit den Institutionen seiner Zeit kritisch um. Sein Werk fand in seiner Zeit großes Interesse und entfesselte Kontroversen, wie sie für viele große Werke typisch sind; dabei beeinflusste er die unterschiedlichsten Kulturkreise in ganz Europa praktisch bis zum vorletzten Jahrhundert.

Das Werk ist ein Lehrbuch über die menschlichen Fähigkeiten und Begabungen, es zeigt die Grundlagen ihrer Unterschiede und deren Beziehung zu den Berufen und den Studienrichtungen. Deswegen könnte man es als ein erstes Handbuch der Differentiellen Psychologie, der Psychodiagnostik und der beruflichen Auslese- und Beratungsverfahren betrachten. Titel und Untertitel veranschaulichen den Sinn und die Absicht des Buches: »Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, wo sich die Differenz der Begabungen; die in den Menschen ruht, beweist« (Huarte, 1575, Titelblatt). Es weist außerdem auf eine Sozialreform hin, die in der Optimierung der menschlichen Fähigkeiten Ausdruck findet: Die wissenschaftlichen Kenntnisse der menschlichen Natur erlauben eine gezielte Orientierung bei der Wahl des Studiums und der Arbeit, die ein jeder in der Gesellschaft einnehmen soll; Bildung und Erziehung, geleitet von rationalen und wissenschaftlichen Kriterien, erlauben dadurch eine Verbesserung und Fortentwicklung. Ein Klassiker mit modernen Ideen und Zukunftsorientierung.

Zum Autor

Huarte lebte in der Blütezeit der spanischen Krone, die unter der Regierung von Carlos V (1517–1556) begann. Obwohl nur wenige Daten über sein Leben bekannt sind (vgl. u. a. Sanz, 1930; Iriarte, 1948), wissen wir, dass er etwa um 1529 in San Juan del Pie del Puerto geboren wurde. Damals war dies ein Ort im Königreich von Navarra, das an Frankreich grenzte. Um 1530 zog die Familie Huarte nach Kastilien, und noch vor 1940 lebte sie in Baeza. Juan Huarte studierte Geisteswissenschaften in Linares und absolvierte ein Humanistikstudium an der Universität von Baeza, wo er den Titel des Baccalaureus (Philosophie) erhielt. 1553 schrieb er sich in der Universität von Alcalá de Henares ein, um Medizin zu studieren. Dort zählten zu seinen Lehrern einige der angesehensten Vertreter des medizinischen wissenschaftlichen Humanismus, wie Cristobal de Vega, Fernando Mena und Francisco Valles. 1559 erhielt er den Doktor der Medizin. Von 1571 bis zu seinem Tode praktizierte er als Arzt in Baeza, wurde sogar Titulararzt seiner Stadt. Er war verheiratet mit Agueda de Velasco und hatte sieben Kinder: vier Mädchen und drei Jungen.

Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften war Huartes einziges Buch. Er schrieb es 1574 und veröffentlichte es am 23. Februar 1575 in der Druckerei von Juan Bautista de Montoya in Baeza, wobei er die Druckkosten selbst trug. Das Buch hatte großen Erfolg, und Huarte wurde auf den Lehrstuhl der medizinischen Universität San Antonio de Portaceli de Sigüenza berufen. Andererseits wurde sein Buch durch das Inquisitionsgericht 1584 verboten. Deswegen arbeitete er an den Korrekturen, die die Zensur des Ketzergerichts angeordnet hatte; das brachte quasi eine zweite Version des Buches hervor, jedoch kam er zu Lebzeiten nicht mehr dazu, es zu veröffentlichen. Am 25. November 1588 machte er ein Testament zu Gunsten seiner lebenden Kinder. Das Testament lässt vermuten, dass er Ende des Jahres in Baeza starb. 1594 veröffentlichte sein Sohn Luis die korrigierte Ausgabe des Buches.

Zu den Entstehungsbedingungen des Werkes

Die Zeit, in der Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften entsteht, wird in Spanien als das Siglo de Oro bezeichnet. Dieses Goldene Zeitalter war nicht nur eine Epoche, in der Literatur und Kunst ihren höchsten Gipfel erreichten, sondern auch Wissenschaft und Kultur befanden sich an einem Scheitelpunkt. Juan Huarte profitierte einerseits von diesen gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, andererseits trieb er sie auch voran. Er erhielt eine privilegierte Ausbildung und genoss die intellektuellen Einflüsse seiner Zeit und seines Umfeldes. Das Buch wurde in der Renaissance geschrieben, in einer Zeit, in der sich eine neue Weltanschauung mit neuen Auffassungen von Mensch und Natur entwickelte, dieses spiegelt das Werk Huartes wider. In den Kreisen der Philosophie gab es in diesen Jahren eine bedeutende Strömung, Juan Luis Vives (1492–1540) war deren Hauptvertreter. Sein Einfluss auf Huarte sollte nicht außer Acht gelassen werden, da viele Aspekte, die in Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften behandelt werden, schon im Werk von Vives zu finden sind (vgl. u. a. Iriarte, 1948, S. 192), zum Beispiel die naturalistische und wissenschaftliche Perspektive, das Interesse an der menschlichen Natur, an den Befähigungen, den Gefühlen und grundsätzlich durch seinen psychologischen Ansatz, ohne dabei die pädagogischen Gesichtspunkte und das Interesse für die Erziehungsreform zu vergessen.

Weiterhin könnte Huarte zusammen mit Autoren wie Gómez Pereira (1500–1558?), Miguel Sabuco Alvarez (1525?–1558?) oder Francisco Valles (1524–1592) zu einer Denkergruppe gezählt werden, die als die Gruppe der Philosophieärzte bezeichnet wird. Alle studierten an den zwei angesehensten spanischen Universitäten des 16. Jahrhunderts, Salamanca und Alcalá, wo sie direkten Zugang zu den Quellen der Mediziner und Naturphilosophen des Altertums hatten. Dem Renaissancegeist getreu prüften sie kritisch die antike Tradition und die mittelalterliche Scholastik und erarbeiteten daraus ihre eigenen Theorien, in denen der Mensch immer im Mittelpunkt stand. Sie übten außerhalb der akademischen Kreise den medizinischen Beruf aus und gründeten ihre Überlegungen auf ihre klinischen Beobachtungen. Trotz der Bedrohung durch die Inquisition und des Widerspruchs zur offiziellen scholastischen Doktrin zweifelte Huarte nicht daran, sich selbst als Wissenschaftler oder – wie man in der damaligen Epoche sagte – als Naturphilosoph anzusehen: Er definierte seine wissenschaftliche Position im Gegensatz zu der metaphysischen der Theologen. Huarte lehrte die Bedeutung der Kritik und die Notwendigkeit der Erfahrung, und er suchte die natürlichen Ursachen des Gegebenen. Auch in diesem Sinne war er seiner Zeit voraus.

Zum Inhalt des Werkes

Die Erstausgabe des Buches Die Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften besteht aus 15 Kapiteln, dazu zwei Einleitungen, eine dem König gewidmet und eine dem Leser. Obwohl das Buch kein Inhaltsverzeichnis hat, gibt der Autor durch Untertitel in der Einleitung und in den Kapitelüberschriften Hinweise, die es dem Leser erlauben, sich eine Vorstellung von Inhalt und Hauptgedanken seiner Lehre zu bilden. Man kann einen theoretischen Teil und einen praktischen Teil unterscheiden (vgl. Fresco, 1991, S. 11 f.).

Der theoretische Teil umfasst die ersten sieben Kapitel, in denen Huarte seine Thesen mit zahlreichen Beispielen darstellt (Kap. I): »Es gibt bestimmte Begabungen für eine Wissenschaft (…) deshalb ist es angebracht, bevor der Knabe sein Studium anfängt, die Art seiner Begabung zu entdecken um zu sehen, welche Wissenschaft seinen Fähigkeiten entspricht« (S. 59), ohne die Bedeutung von Faktoren, die auch eine Rolle spielen, so wie zum Beispiel das Alter, das Umfeld, den Lehrer, die Methode oder den Fleiß zu vergessen (S. 60 ff.). Huarte postuliert eine Naturgabe für das Erlernen von Wissen, die vom Temperament abhängig ist (Kap. II). Andererseits sieht er das Gehirn als Instrument der Natur und als organische Basis dieser Naturgabe, und er befasst sich mit den Funktionen der Gehirnkammern entsprechend den anatomischen und physiologischen Kenntnissen seiner Zeit. Er lokalisiert in den drei vorderen Gehirnkammern die psychischen Fähigkeiten: Verstand, Gedächtnis und Einbildungskraft. Deswegen herrscht in jedem Individuum ein Teil über die anderen beiden. Die Ursache der Unterschiede in der Begabung oder Tüchtigkeit »ist nichts anderes als das Temperament der vier primären Qualitäten (Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit)« (S. 85 f.): Die Einbildungskraft ist an ein warmes und trockenes Temperament gebunden, das Gedächtnis an ein warmes und feuchtes und der Verstand an ein kaltes und trockenes, während das kalte und feuchte Temperament für jegliches Talent als negativ angenommen wird. Das perfekte Temperament ist durch den Ausgleich jeden Paares charakterisiert. Huarte schließt diesen theoretischen Teil mit einigen möglichen Gegenargumenten zu seiner Lehre und endet mit Überlegungen über die Unsterblichkeit der Seele.

Der praktische Teil umfasst die folgenden sieben Kapitel. Hier beschäftigt Huarte sich mit der Anwendung seiner Theorie auf die Auswahl der Studienrichtungen und Berufe, »damit jeder einzelne mit Deutlichkeit versteht, seiner Natur offenbart, für welche Kunst er eine Naturgabe hat« (S. 149). Huarte klassifiziert die Wissenschaften nach dem Typus der Fähigkeiten, hierfür unterscheidet er, welche das Gedächtnis benötigen, welche den Verstand brauchen und welche die Einbildungskraft erfordern. Er analysiert einige der angesehensten Wissenschaften, Studien und Berufe seiner Zeit in Hinblick auf seine Theorie: die Redekunst und die Sprachbegabung; die Theorie der Theologie und ihre Ausübung im Beruf des Predigers; die Theorie der Gesetze und ihre Ausübung im Beruf des Rechtsanwalts oder die Theorie der Medizin und ihre Ausübung im Beruf des Arztes; die Militärkunst und den Beruf des Königs. Er stellt eine Relation zwischen den verschiedenen Fähigkeiten und den unterschiedlichen Künsten und Berufen her und gibt die Unterscheidungsmerkmale an, mit Hilfe derer man die Eignung des Individuums erkennen kann (z. B.: Haarfarbe, Stimme oder bestimmte Verhaltensweisen).

An verschiedenen Stellen des Buches zeigt Huarte, wie das spätere Temperament vom Moment der Befruchtung abhängt, obwohl es später noch zu Veränderungen kommen kann. Dabei sind Faktoren wie Alter, Krankheiten, Region, Ernährung oder Lebensführung von Bedeutung. Das letzte Kapitel, eugenisch orientiert, handelt von »der Art und Weise in der die Eltern ihre Kinder weise erzeugen müssen (…)« (S. 294 ff.). Huarte stellt hier Regeln auf und gibt Ratschläge, um darauf hinzuweisen, wie viel Aufmerksamkeit notwendig ist, »damit (das Kind) männlichen und nicht weiblichen Geschlechts wird« (S. 314 ff.) und »damit die Kinder klug und weise werden« (S. 326 ff.).

Was die Interessen betrifft, so sind nach Felísa Fresco (1991, S. 16) die Folgenden hervorzuheben: pädagogische Beobachtungen; methodologische Gedanken über die unterschiedlichen Wissenschaften gemäß ihrem Gegenstand, ihrer Reichweite und ihren Beschränkungen; die Verteidigung des moralischen Determinismus; Betrachtungen über die göttliche Vorsehung und die Natur; Beobachtungen über den Zufall und die Voraussicht; die Diskussion über die Natur der Sprache und nicht zuletzt die Rechtfertigung des Gebrauchs der einheimischen Sprachen.

Zur zeitgenössischen Rezeption des Werkes

Das Buch wurde nach fünf spanischen Ausgaben durch die Inquisition zensiert und 1581 in Lissabon und 1583 in Madrid auf den Index gesetzt. Der Index von 1584 nennt die Stellen, die der Autor streichen oder umarbeiten musste. Das sind hauptsächlich die Passagen, in denen die Frage der Erklärung der menschlichen Natur in naturalistischen Bezügen aufgeworfen wird (Fresco, 1991, S. 27). Außer den Streichungen beinhaltet die überarbeitete Ausgabe zusätzliche Nachträge und eine Erweiterung der Einleitung für den Leser. Außerdem gibt es Exkurse (z. B. »Über das Wasser«, »Über das Salz«). Die 356 Seiten der »editio princeps« wurden zu 416 Seiten. Damit ist diese korrigierte Ausgabe fast ein neues Werk, zumal es sich in einigen Aspekten von der ursprünglichen Lehre unterscheidet oder dieser sogar widerspricht.

Huartes Buch hatte bezüglich seiner Rezeption einen außergewöhnlichen Erfolg, was die mehrfachen Neuauflagen, Übersetzungen und die Nachdrucke belegen. Martin Franzbach (1965) zählte insgesamt 79 Ausgaben, wobei man noch die zwei neuesten spanischen hinzufügen müsste. Von den 81 Übersetzungen sind 34 in Spanisch, 25 in Französisch, acht in Englisch, sieben in Italienisch, drei in Deutsch, drei in Latein und eine in Niederländisch. Es gibt nur wenige Werke ähnlicher Art, die so oft neuaufgelegt und übersetzt worden sind. Der Erfolg des Buches war außerdem unmittelbar, was man an der Schnelligkeit feststellen kann, in der die Neuauflagen und Übersetzungen erschienen. Die erste deutsche Übersetzung erschien jedoch erst 1752.

Die Übersetzung und Ausgabe des Buches war ein Werk des Aufklärungsdichters und Philosophen Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781), der sich an der Amsterdamer Ausgabe von 1672 orientierte, ergänzt durch einige Ausgaben in anderen Sprachen. Das Buch wurde in Zerbst durch Johann Georg Zimmermann unter dem Titel Johann Huarte’s Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften veröffentlicht. Im Jahre 1785 erschien eine Neuausgabe durch J. Jakob Ebert, und 1968 kam eine verbesserte Auflage mit einer Einleitung von Franzbach (Lessing, 1752) hinzu. Obwohl Lessings Übersetzung verspätet nach Deutschland kam, zeigt das Erscheinen der deutschen Ausgabe Mitte des 18. Jahrhunderts das Interesse an Huartes Werk in ganz Europa bis hin in die Neuzeit.

Zur Bedeutung des Werkes aus heutiger Sicht

Huartes Lehre und Typologie basieren auf den medizinischen und psychophysiologischen Kenntnissen seiner Zeit. Er erarbeitete sein Buch mit Bezug auf das Alte und Neue Testament, auf Aristoteles, Galen, Hippokrates, Cicero und Plato. Obwohl diese Auffassungen mit den neuen Entwicklungen der modernen Naturwissenschaften überwunden wurden, bestreitet niemand die wegbereitende Rolle des Werkes und auch nicht den Einfluss, den es auf verschiedenste Denker ausübte (vgl. u. a. Marañón, 1956).

Die meisten Studien betonen Huartes Stellung als Pionier der modernen Differentiellen Psychologie, der Berufsberatung und der Eugenik (vgl. u. a. Iriarte, 1948; Sanz, 1930; Vázquez, 1975). Unter den Aspekten, in denen das Buch seiner Zeit voraus ist, sind mindestens fünf wichtige Beiträge hervorzuheben, die seinen Platz in der Geschichte der Psychologie eingenommen haben: 1) seine psychophysiologische Theorie über die Differenzen der menschlichen Fähigkeiten; 2) seine Anweisungen für die Differentialdiagnose der Begabung; 3) die Klassifizierung der Wissenschaften unter psychologischen Gesichtspunkten, 4) die Anweisungen zur Optimierung der menschlichen Fähigkeiten durch die Berufsauswahl und Beratung; und 5) die Beschäftigung mit Eugenischem.

Huarte ist der Patron der Psychologie in Spanien geworden. Zur Erinnerung an das Datum der Publikation seines Buches fallen die Vorlesungen an den psychologischen Instituten am 24. Februar aus, außerdem finden Festlichkeiten statt. Zeitschriften, Seminare, Aulen und Preise tragen seinen Namen mit Stolz. Unter ihnen sticht der Preis Huarte de San Juan hervor, der jährlich von der Spanischen Gesellschaft für Geschichte der Psychologie (SEHP) für die beste Forschungsarbeit in Psychologiegeschichte vergeben wird. Drei Jahrhunderte vor ihrer Institutionalisierung hat Huartes Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften bereits dazu beigetragen, »den Weg zur akademischen Psychologie« zu bahnen. Daher steht das Buch hier in der Reihe der Klassiker der Psychologie.

Literatur

Franzbach, M. (1965). Lessings Huarte-Übersetzung (1752). Die Rezeption und Wirkungsgeschichte des »Examen de Ingenios para las Ciencias« (1575) in Deutschland. Hamburg, Kommissionsverlag: Cram, De Gruyter & Co.

Fresco, F. (1991). Juan Huarte de San Juan. Examen de Ingenios para las ciencias, con introducción, notas y bibliografía. Madrid: Espasa Calpe.

Huarte de San Juan, J. (1575). Examen de Ingenios para las Ciencias (»editio princeps«). Baeza: Juan Bautista de Montoya.

Huarte de San Juan, J. (1594). Examen de Ingenios para las Ciencias (»editio sub-princeps«). Baeza: Juan Bautista de Montoya.

Iriarte, M. (1948). El Doctor Huarte de San Juan y su Examen de Ingenios. Contribución a la Historia de la Psicología Diferencial. Madrid: CSIC.

Lessing, G. E. (1752). Johann Huart’s Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften. Zerbst: Zimmermann. Neu herausgegeben mit Anmerkungen, vorbereitet von J. Jakob Ebert. Zerbst: Zimmermann, 1785. Nachdruck mit einer Einführung versehen von Martin Franzbach. München: Wilhelm Fink, 1968.

Marañón, G. (1956). Juan de Dios Huarte. Examen actual de un examen antiguo. In Tiempo viejo y tiempo nuevo, 115–154. Madrid: Espasa Calpe (7. Aufl.)

Sanz, R. (1930). Examen de Ingeniós para las ciencias. Edición comparada de la príncipe y subpríncipe. Prólogo, Sumarios, Notas y Preparación por Rodrigo Sanz, 2 Vols. Madrid: Biblioteca de Filósofos Espanioles.

Vázquez, A. (1975). Un Tratado de Psicología Diferencial para una selección y orientación profesionales en la Espana del siglo XVI, Cuademos Salmantinos de Filosofía, Universidad Pontificia de Salamanca, II, 1, 185–216.

Johann Caspar Lavater Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–1778)

Jürgen Jahnke

Die vier »schweren und theuren Bände« (Goethe, 1891, S. 143) gehören zu den Merkwürdigkeiten der Buchgeschichte: reich mit Kupferstichen illustriert und sorgfältig in großem Format (25,5 x 29,5 cm) gedruckt, wird das Werk heute von den Bibliotheken zu den »Rara« gezählt und wie ein Schatz gehütet. Interessierte Leser müssen sich daher oft mit Mikrofilmen, Faksimiles oder Auswahlausgaben begnügen.

Die Fülle der Porträts zeitgenössischer und historischer Persönlichkeiten, der Ausschnitte aus Kunstwerken als Profil- oder En-face-Darstellung, als Silhouette oder als Relief fasziniert für sich. Die Lektüre der zugehörigen, deutenden und interpretierenden Texte allerdings dürfte heutige Leser eher befremden, der vorherrschende ebenso exklamatorische wie entschiedene Stil reizt eher zum skeptischen Widerspruch als zur Identifikation. Die intuitiv-genialisch und suggestiv vorgetragene Deutungssicherheit rief allerdings auch schon zeitgenössische Kritiker – und Parodisten! – auf den Plan.

Zum Autor

Johann Caspar Lavater wurde am 15. November 1741 in Zürich als 12. Kind eines Arztes geboren. Nach Schulbesuch und Theologiestudium wird er 1762 »Expektant«, d. h. Anwärter auf eine Pfarrstelle. Wegen der mutigen Aufdeckung einer politischen Affäre gemeinsam mit seinem Freund, dem späteren Maler Johann Heinrich Füssli, öffentlich gerügt, begeben sich beide 1763–1764 auf Reisen; zunächst nach Berlin, wo sie die Exponenten der Aufklärung (Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Johann George Sulzer u. a.) aufsuchen, um sich anschließend in Barth/Vorpommern bei dem Theologen Johann Joachim Spalding fortzubilden. Nach Zürich zurückgekehrt, erwirbt sich Lavater zunächst als Autor erbaulicher Texte und geistlicher und patriotischer Lieder Popularität. 1769 tritt er eine Stelle als Diakon am Waisenhaus an, 1775 wird er dort Pfarrer. 1778 wechselt er in das Diakonat der Stadtkirche St. Peter, wo er schließlich von 1786 bis zu seinem Tod am 2. Januar 1801 als Pfarrer wirkt.

Lavater ist eine zentrale Gestalt im geistigen und literarischen Leben seiner Zeit. Die Vielfalt seiner persönlichen Beziehungen zeigt sich in seiner ausgedehnten Korrespondenz und in den mannigfaltigen Besuchskontakten in Zürich oder auf den in Tagebüchern ausführlich dokumentierten eigenen Reisen (z. B. Lavater, 1997). Zwar den Ideen der Aufklärung in vielem verpflichtet, war er andererseits fasziniert von zweifelhaften Gestalten wie dem Wunderheiler Gassner, dem Scharlatan Cagliostro oder von Geisterseherei und Mesmerismus. Sein zentrales Anliegen blieb jedoch die christliche Verkündigung; der Bekenntnis-Charakter seiner Schriften brachte ihm bei vielen den Ruf eines Schwärmers ein, sein Enthusiasmus führte ihn bis zu öffentlichen Bekehrungsversuchen (zum Beispiel gegenüber Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe). Lavaters Bedeutung für die Psychologiegeschichte liegt nicht nur in seinem Beitrag zur Physiognomik, sondern im weiteren Sinne zur Geschichte der Subjektivität und der Innerlichkeit. Das zunächst gegen seine Absicht veröffentliche Geheime Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst (1771) sowie die autorisierte Fortsetzung Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst (1773) sind beispielhafte Zeugnisse der Selbsterkundung und Selbsterfahrung. Dabei wird nicht nur eine Sprache für Empfindung und Gefühl zu entwickeln versucht, sondern wie auch in den Physiognomischen Fragmenten Lavaters wird hier die Beschreibung individueller Eigenart zum erklärten Ziel.

Zu den Entstehungsbedingungen des Werkes

Schon das Reisetagebuch von 1763/64 enthält physiognomische Notizen:

»In Berlin, Mittwoch, 30. März 1763: (…) Wir erwarteten den König [Friedrich II] und der ganze Morgen verschlich unterm langweiligen Zuschauen entgegengehender Bürger. Der Charakter derselben überhaupt, wenn ihre Physionomie auch nur ein wenig zuverläßig ist, scheint sehr schlecht, unordentlich, sklavisch, wild oder wollüstig-prächtig« (Lavater, 1997, S. 20).

Der Reisende versucht, seine Gesprächspartner zu zeichnen, und charakterisiert sie physiognomisch in seinem Tagebuch. Wenn er nach der Begegnung mit einem Neffen seines Gastgebers Spalding schreibt, dass »deßen Gesichtszüge die schönste Sele zeigen« (S. 286), dann wird bereits die Grundhypothese von der Entsprechung körperlicher und seelischer Schönheit und Vollkommenheit erkennbar, an der Lavater bis zu seinem physiognomischen Hauptwerk festhalten sollte.

Neben diesem in seiner Zeit durchaus nicht außergewöhnlichen Interesse an Menschen- und Selbstbeobachtung war es jedoch vor allem die theologische Frage nach der Gotteserkenntnis, die Lavater mit der Physiognomik verband. Im 16. Brief seiner Aussichten in die Ewigkeit hatte Lavater 1772 die »Sprache im Himmel« zu beschreiben versucht: »Diese unmittelbare Sprache ist physionomisch, pantomimisch, musicalisch« (Lavater, 1943,1, S. 183). Physiognomisch ist Christus das vollkommenste Ebenbild Gottes, und jeder einzelne Mensch ist es. Die Physiognomik ist eine allen Menschen gegebene »Natursprache, die von jedem geöffneten Auge verstanden wird« (ebd., S. 184). Die »Wahrheit und untriegliche Zuverläßigkeit der physiognomischen Sprache« zu bezweifeln und die »natürliche Verbindung und Übereinstimmung des Äußern und Innern« zu leugnen, sei ein »handgreiflicher Beweis von dem unphilosophischen Geist unseres Jahrhunderts« (ebd.).

Schon während der Arbeit an diesem theologischen Werk hatte Lavater 1771 vor der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich einen Vortrag über Physiognomik gehalten, dessen Text von seinem Freund Johann Georg Zimmermann, damals Leibarzt des hannoverschen Königs, unautorisiert 1772 in Druck gegeben wurde (Lavater, 1991). Dieser Text, der – vielleicht im Hinblick auf das ursprüngliche Auditorium – die später in den Physiognomischen Fragmenten dominant hervortretende theologische Dimension ausschließt, beschreibt ein programmatisches Geflecht von Definitionen, Hypothesen und methodischen Ansätzen. Dass Lavater die detaillierte Ausführung dieses Programms dann nicht systematisch, sondern bewusst »fragmentarisch« vornimmt, hängt mit seiner ambivalenten Haltung zum Wissenschaftsbegriff zusammen. Einerseits wird Physiognomik klar als »würkliche Wissenschaft« (ebd., S. 11) postuliert, andererseits ist des jungen Goethes Satz »Wenn Wißenschaft Wißenschaft wird, ist nichts mehr dran« Lavater aus der Seele gesprochen (Lavater an Goethe, 17.11.1773; zit. n. Funk, 1901, S. 7).

»Der blos wissenschaftliche Physiognomist mißt wie Dürer; das physiognomische Genie mißt und fühlt, wie Raphael. Je mehr indes die Beobachtung sich verschärft; die Sprache sich bereichert; die Zeichnungskunst fortschreitet; – der Mensch, das Nächste und Beste dieser Erden, den Menschen studirt – desto wissenschaftlicher, das ist, desto bestimmter, desto lembarer und lehrbarer wird die Physiognomik. – Sie wird werden die Wissenschaft der Wissenschaften, und dann keine Wissenschaft mehr seyn – sondern Empfindung, schnelles Menschengefühl! denn – Thorheit, sie zur Wissenschaft zu machen, damit man drüber reden, schreiben, Collegia halten und hören könne!« (Lavater, 1775, 8. Fragm.)

Lavater, das »Beziehungsgenie« (Weigelt, 1991, S. 120), beteiligte viele andere an seinem physiognomischen Projekt, sie lieferten Anregungen, Porträts und zugehörige Deutungen. Goethe, der wohl prominenteste Mitarbeiter, steuerte nicht nur Texte und Bildvorlagen bei, sondern übernahm auch die Endredaktion (vgl. Funk, 1901).

Zum Inhalt des Werkes

Die vier Bände der Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe bieten ein recht unübersichtliches Bild. Der »Erste Versuch« führt von der Darlegung persönlicher Zugänge des Autors zum Thema über grundsätzliche Bekenntnisse und Erörterungen zu Wahrheit, Nutzen/Schaden, Schwierigkeit/Leichtigkeit und Voraussetzungen der Physiognomik bis hin zu »Physiognomischen Uebungen« für den Leser/Betrachter und abschließend zur Physiognomie des Autors selbst – »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!« wird warnend hinzugesetzt (Lavater, 1775, S. 271).

Der »Zweite Versuch« (1776) erschien dem Rezensenten Johann Gottfried Herder »außerordentlich reicher und lehrvoller« gegenüber dem ersten. »Jener räumte meistens nur den Platz auf, wo das Gebäude stehen sollte« (zitiert nach Düntzer, 1879, S. 293). Die 36 Fragmente gehen Einzelfragen und Einwendungen gegen die Physiognomik nach, diskutieren Methode und Möglichkeit der Silhouetten-Deutung und demonstrieren zahlreiche Beispiele. Die Deutung eines Isaak-Newton-Porträts sei hier zitiert: »Antikisirt! Unwahr, aber groß! Ein Mann von Wissen und That. Die Stirn, wie gedrängt in Erinnerung von Würkungen! Ahndung künftiger Seelennoth in gegenwärtiger Kraft! (…) Die Augenbrauen – des Schöpfers neuer Systeme! Das Auge, bloß Aussprache innerer Festigkeit, ohne Falsch, ohne Verlangen. Die Nase im Ganzen – lauter Kraft, Entschlossenheit, Klugheit; doch um die Spitze und Flügel etwas wenig – Ungehöriges. Die Lippe Widerhalt – innere Kraft.« (Lavater, 1776, Fragm. 34).

Die lange und oft recht ungeordnet erscheinende Reihe der Fragmente des etwa 1500 Seiten umfassenden Werkes hier aufzuzählen, ist nicht möglich. Einige Stichworte mögen die Vielfalt der Aspekte andeuten: Die Geschichte der Physiognomik wird, zum Beispiel mit Aristoteles und Giovanni della Porta, eingehend behandelt; Tierphysiognomik wird diskutiert, verschiedene Menschengruppen, zum Beispiel »Künstler«, »Dichter«, »Gelehrte«, »Thoren«, verschiedene Temperamente und »Relgiose Physiognomien« werden exemplarisch vorgeführt, und im »Vierten Versuch« (1778) sollen schließlich zahlreiche Christus-Darstellungen den »physiognomischen Gottesbeweis« (Huizing in: Pestalozzi & Weigelt, 1994, S. 61 f.) belegen.

Zur zeitgenössischen Rezeption des Werkes

»An die Käufer meiner Schriften« schrieb Lavater 1784 Folgendes:

»Alles, was ich über Physiognomik geschrieben, Großes oder Kleines, Deutsches oder Französisches, ist schlechterdings nur für reiche Weltleute, begüterte Gelehrte und Künstler, allzeit aber nur für gutmüthige, feinfühlende, forschende Verehrer der Menschheit geschrieben. Ich warne, so sehr ich warnen kann, daß nichts davon von irgend einem nicht wohlbemittelten, nicht forschungsfähigen, nicht gutherzigen Menschen gekauft werde« (Lavater, 1860; 3. Bd., S. 13 f.).

Offenbar wurde nicht nur diese »Zielgruppe« erreicht, denn zum einen erschienen neben Übersetzungen auch bald gekürzte preiswertere Ausgaben, die für eine weite Verbreitung in ganz Europa sorgten (vgl. Graham, 1979), ausführliche Rezensionen von namhaften Autoren wie zum Beispiel Christoph Martin Wieland und Herder machten Lavaters Werk bekannt. Zum anderen waren aber nicht alle Leser bereit, das Unternehmen wohlwollend und »gutmüthig« zu rezipieren. Mehr Gehör fanden kritische Einwände wie die von Georg Christoph Lichtenberg im Göttinger Taschen Calender vom Jahr 1778. Lichtenberg mahnte eine klare Unterscheidung von Physiognomik und Pathognomik an und riet zur Vorsicht bei physiognomischen Deutungen; von körperlicher Schönheit auf seelische Vollkommenheit zu schließen, sei fragwürdig: »Soll das Fleisch Richter sein vom Geist?« Bestätigungen physiognomischer Deutungen, wie sie vielfach berichtet wurden, würden bei näherem Hinsehen meist auf unzulänglicher Prüfung beruhen. »Physiognomik ist also äußerst trüglich« ist Lichtenbergs Fazit (Lichtenberg, 1973, S. 256 f.). Lichtenberg gab auch der Versuchung nach, Lavater zu parodieren: in seinem Fragment von Schwänzen – Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten (1783) wandte er Lavaters genial-empfindsamen Deutungsstil auf Silhouetten von Schweine-, Doggen- und »Purschen«-Schwänzen an (Lichtenberg, 1972, S. 533 f.).

Wenn der Herausgeber der ersten Physiognomik-Schrift Lavaters meinte, »eine Physiognomanie ist durch die Bekanntmachung dieser Blätter nicht leicht zu befürchten« (Zimmermann in Lavater, 1991, S. 9), so lösten die Physiognomischen Fragmente zweifellos so etwas wie eine Mode aus; Lichtenberg konstatiert 1777 in Niedersachsen »eine Raserei für Physiognomik« (vgl. Ohage in: Pestalozzi & Weigelt, 1994, S. 233 f.). Physiognomik wurde zur verbreiteten Beschäftigung und zum Diskussionsthema nicht nur der Gebildeten. Lavater selbst berichtet ausführlich über eine längere Unterredung zum Thema, zu der ihn Kaiser Joseph II. am 26.7.1777 nach Waldshut einlud (Lavater, 1943, Bd. 2, S. 237 f.). Der frühere engagierte Mitarbeiter und Freund Goethe zieht im autobiographischen Rückblick eine sehr kritische Bilanz:

»Eben jenes Werk (die Physiognomischen Fragmente) zeigt uns zum Bedauern, wie ein so scharfsinniger Mann in der gemeinsten Erfahrung umhertappt, alle lebenden Künstler und Pfuscher anruft, für charakterlose Zeichnungen und Kupfer ein unglaubliches Geld ausgiebt, um hinterher im Buche zu sagen, daß diese und jene Platte mehr oder weniger mißlungen, unbedeutend und unnütz sei. (… Die Resultate) bestanden aus einer Sammlung von gewissen Linien und Zügen, ja Warzen und Leberflecken, mit denen er bestimmte sittliche, öfters unsittliche Eigenschaften verbunden gesehn. Es waren darunter Bemerkungen zum Entsetzen; allein es machte keine Reihe, alles stand vielmehr zufällig durch einander, nirgends war eine Anleitung zu sehen oder eine Rückweisung zu finden« (Goethe, 1891; S. 145 f.).

Zur Bedeutung des Werkes aus heutiger Sicht

Lavaters physiognomisches Werk als »Klassiker« der Psychologie zu bezeichnen, ist zweifellos problematisch. So sehr es für die Entwicklung bürgerlicher Subjektivität und der individualistischen anthropologischen Perspektive steht, so ist es doch weder ein im engeren Sinne psychologisches noch ein die Disziplinentwicklung prägendes Werk gewesen. Karl Bühler hat Goethes und Lichtenbergs Beiträge zur Entwicklung von Ausdruckstheorie und -psychologie gegenüber denen Lavaters als wesentlich gewichtiger eingeschätzt (vgl. Bühler, 1933, S. 20 f.). Ist Lavaters Werk deshalb nur noch als Literaturdokument der Sturm-und-Drang-Epoche und als kunstreiches Bilderbuch von Bedeutung? Wissenschaftshistorisch sind die Physiognomischen Fragmente vor allem ein bedeutsames Beispiel für die Entwicklung einer körper- und subjektbezogenen Semantik (vgl. Käuser, 1993). Über das antiquarische und psychohistorische Interesse hinaus ergeben sich jedoch auch in heutigen Kontexten sozialpsychologischer Fragestellungen, wie zum Beispiel physische Attraktivität, nonverbale Kommunikation, Eindrucksbildung, Alltagspsychologie u. a., reizvolle Beziehungen.

Literatur

Bühler, K. (1933). Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt. Jena: Fischer.

Funk, H. (Hrsg.). (1901). Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Weimar: Goethe-Ges. (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 16).

Goethe, J. W. (1891). Goethes Werke. Dichtung und Wahrheit. Vierter Theil. (Weimarer Ausgabe. Abt. I, Bd. 29). Weimar: Böhlau.

Graham, J. (1979). Lavater’s Essay on Physiognomy: a study in the history of ideas. Bern: Lang. (Europ. Hochschulschriften, Reihe 18, Bd. 18).

Düntzer, H. (Hrsg.). (1879). Herder’s Werke. Bd. 23. Berlin: Hempel.

Leib-Zeichen: Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert