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Verena Mermer

AUTOBUS ULTIMA SPERANZA

Roman

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Die Recherchen und das Verfassen des Romans wurden gefördert durch:
START-Stipendium 2014, BMUKK
Reisestipendium 2016, BKA
Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin 2017, LCB und BKA
Aufenthaltsstipendium in der Casa Litterarum 2018, ÖGL und BKA

Dieses Buch wurde mit Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt Wien
und der Kulturabteilung des Landes Salzburg gedruckt.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

© 2018 Residenz Verlag GmbH
Salzburg – Wien

Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!

Umschlaggestaltung: Christina Heimsoth
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Jessica Beer

ISBN ePub:
978 3 7017 4583 8

ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1699 9

INHALT

Schneewarnungen

Stundenkilometer

Cellophanpapier

Japanrosen

Geflügelhälften

Fleischbrühe

Kraftproben

Freiminuten

Schiffbruch

Filmstreifen

Nachweis

Danksagungen

SCHNEEWARNUNGEN

Der Busbahnhof: ein verstecktes Areal hinter Plakatflächen und Maschendrahtzaun. Neben dem Display für Abfahrten, Ankünfte und Verspätungen ist eine Tafel mit einer sternförmigen Grafik montiert. Vom roten Hintergrund heben sich ultramarinblaue Pfeile ab, die in alle Himmelsrichtungen weisen. Für eine Fahrt in den Süden ist es allerdings zu spät; in den Bussen nach Italien sind seit einer Woche alle Plätze reserviert, und auch wer heute spontan nach Kroatien oder Serbien will, wird kein Glück haben, außer per Autostopp. Dann eben auf und davon Richtung Westen oder Norden? Destinationen wie Paris und Berlin: ausgebucht! Eventuell sind noch ein paar Tickets nach Brünn, Dresden oder München erhältlich. Aber wieso nicht auf die Werbeanzeige hören, die Unentschlossenen rät: ENTDECKEN SIE DEN OSTEN! Diejenigen, die im Lauf der nächsten Stunden ostwärts reisen, haben allerdings anderes vor als eine Entdeckungsreise in die ihnen ohnehin wohlbekannten Städte und Dörfer Polens, Ungarns oder Rumäniens. Sofern sie überhaupt ankommen – schließlich geben Internetportale wie autogari.ro die ersten Schneewarnungen des Jahres aus.

Am Rand von Abfahrtsplatz Nummer 12 steht ein Busfahrer und zieht an seiner Zigarette. Er heißt Ioan; die Ringe unter seinen Augen und die Bartstoppeln im Gesicht verraten, dass er in letzter Zeit zu viel gearbeitet hat. Auf der schlecht sitzenden blauen Uniformjacke ist ein pinkes Logo angebracht: SPERANZA, so heißt die rumänische Buslinie, für die er unterwegs ist. Heute ist er verantwortlich für den pinken Bus mit dem Schild VIENA – ORADEA – CLUJ. Er fügt sich routiniert ein in das System aus Abfahrten, Ankünften, Verspätungen, Fahrzeugwartungen und Wetterbedingungen. Trotzdem nimmt er an Orten wie Berlin ZOB, Vienna International Busterminal oder München Ost die Rolle eines Zaungasts ein. Als Volksschulkind hatte Ioan geglaubt, dass die Welt an den Grenzen der Volksrepublik Rumänien aufhörte; dass hinter den Ausläufern des Apuseni-Gebirges die große Tiefebene und hinter dieser nur ein riesiges schwarzes Loch wäre. Und wenn er je einen Schritt darüber hinaus machen sollte, würde er ins Nichts fallen, sich in Luft auflösen vielleicht. Welch schöne Vorstellung von Sterben, dachte er, später, als er erfuhr, dass Flüchtende zwischen zwei Güterwaggons auf die Gleise gefallen, in der Donau ertrunken oder dicht hinter der jugoslawischen Grenze von einer Kugel getroffen worden waren. Der Drang herauszufinden, was sich tatsächlich jenseits der Volksrepublik befand, ließ sich dennoch nicht abstellen. Er wuchs wie von alleine, genauso wie Ioans Gliedmaßen und seine Verantwortung für die kleineren Geschwister. Als er diesem diffusen Gemisch aus Neugierde und Sehnsucht folgte, war er knapp zwanzig Jahre alt. Er fiel nicht in ein schwarzes Loch und er löste sich nicht in Luft auf. Statt eines Abgrunds erwarteten ihn versteckte Dornen und Distelgestrüpp zwischen Hecken und hüfthohem Gras, statt Zerfallserscheinungen Hunger und Durst. Seine wunden Füße trugen ihn über die grüne Grenze, die Angst vor der Miliz ließ ihn weitermarschieren, anstatt sich hinzulegen und kurz zu ruhen. Oder war es die Angst vor den Schleusern? Die hätten ihm unsanft zu verstehen gegeben, dass er den Weg bis ans Ende gehen müsse, einen Schritt nach dem anderen, und noch einen und – bis zur Entwarnung, ab hier sei er in Sicherheit. Er kann sich nicht mehr erinnern an die anderen aus der Gruppe, die nach drüben wollten, nach Ungarn oder weiter westwärts, koste es, was es wolle, mit oder ohne Kontaktdaten von Bekannten oder Verwandten. Nur das Bild einer Frau hat er noch im Kopf: kurze, schwarze Haare, niedrige Stirn und ein Leberfleck auf der Wange. Sie war kleiner als die anderen, aber zäh. Beschwerte sich nicht, zitterte nicht. Während er seinen Nerven befahl durchzuhalten, ohne zu wissen, ob sie ihm gehorchen würden. Heutzutage passiert er den Grenzübergang zwei- bis viermal pro Woche, ganz unspektakulär, knapp hundert Kilometer südlich der Stelle, an der sie damals hinüberwechselten. Mit zehn bis sechzig Menschen an Bord, die er vorsichtig und unter Einhaltung von Verkehrsregeln und Einreisebestimmungen aus dem Land befördert, das seit bald dreißig Jahren nicht mehr Volksrepublik heißt. An ihr Ziel oder bis zur nächsten Zwischenstation. Durch Ungarn. Nach Österreich. Deutschland. Italien. Großbritannien. Irland. Oder zurück nach Rumänien.

Ioan verscheucht die Erinnerung, als wäre sie eine Fliege – lästig, aber harmlos. Er kratzt sich am Kopf. Haare waschen wäre wieder einmal angebracht – zu Hause dann. Geht durch die verglaste Tür mit dem weißen Rahmen, beobachtet zwei Kinder in Skioveralls beim Fangen spielen und späht einer jungen Frau über die Schulter. Sie ist ihm vorher bereits aufgefallen. Ihr Haar ist hellbraun, sie hat ein jugendliches Gesicht und trägt betont erwachsene Kleidung: einen knielangen, dunkel gemusterten Webmantel und auf dem Kopf eine graublaue Haube. Sie löst ein Kreuzworträtsel. 15 waagrecht, neun Buchstaben: »Durchreisende haben keine Lobby, sondern Sitz und Stimme worin?« Lisa lächelt, schreibt WARTESAAL in die freien Kästchen und klappt das Buch zu. Es ist ihr gelungen, den Blick des Busfahrers zu ignorieren – das Wochenende in Linz war anstrengend genug, sie verspürt keinerlei Lust auf Konversation. In der Ecke stehen zwei Automaten: einer für kalte, einer für heiße Getränke. Ioan steuert auf den zweiten zu. Richtiger Kaffee wäre gut, aber zur Not tut es auch Chococino, Caramel Cappuccino oder ähnliches. Der Kaffeeautomat spuckt eine hellbraune Flüssigkeit aus. Zu viel Milchpulver und zu wenig Zucker. Für den Genuss wird eine Zigarette herhalten müssen, also: wieder hinaus ins Freie. Die beiden polnischen Fahrer, die gleich unterwegs sein werden Richtung Deutschland, haben sich ebenfalls eine angezündet. Glosende Punkte in ihren Mundwinkeln, am Himmel ein Flugzeug im Landeanflug und hinter den Pfeilern aus Beton ein paar Männer, die nicht zum Verreisen, sondern zum Biertrinken hergekommen sind. Kurz ist es ruhig, dann schreit ein Kind, gleich darauf läutet ein Handy. Klingelton: Weihnachtsmusik. Jingle bells, jingle bells / Jingle all the way / Oh what fun it is to ride / In a one-horse open sleigh … Die U3 dürfte gerade angekommen sein. Aus wenigen Wartenden sind viele geworden, sie halten dampfende Plastikbecher in der Hand, telefonieren oder spielen mit ihren Handys. Der Klingelton von vorhin ist erneut zu hören: Jingle bells, jingle bells / Jingle all the way / Oh what fun it is to ride / In a one-horse open sleigh …

Adrian hockt auf dem Beifahrersitz des pinken Busses, in der gleichen Uniformjacke wie Ioan, nur, dass sie ihm mit seinem hageren Oberkörper noch schlechter passt. Er hat eben noch kein Fett angesetzt – und sieht sich auch sonst als die bessere Variante des älteren Kollegen. Schlank und groß gewachsen, flexibler mit den Dienstzeiten und lockerer im Umgang mit den Passagieren. Adrian steht auf, sucht den Besen, kehrt den Boden des Passagierraums, entfernt liegen gelassene Verpackungen, wischt mit dem Handrücken Krümel und anderen Dreck von den Sitzen. Stellt die Lehnen gerade, überprüft die Deckenlichter. Die Kilometer der Strecke CLUJ – ORADEA – VIENA teilt er sich mit Ioan. Hin und retour. Heute sind sie vor der Morgendämmerung aus Cluj aufgebrochen, fast leer war der Bus; bis zur Raststätte sind sie pünktlich gewesen, danach: zäher Verkehr und Fahrt ohne Unterbrechung. In einer knappen Stunde werden sie wieder zurückfahren. Adrian sperrt den Bus ab und sucht die Toilette auf. Kontrolliert den Fahrplan, um zu sehen, ob noch eine zweite Linie in die gleiche Richtung fährt. Normalerweise ist es tröstlich, wenn auch andere zu einer Unzeit aufgestanden sind und sich durch den zähen Verkehr kämpfen müssen. Mit einer Ausnahme, und das ist die Linie eines ungarischen Scheinunternehmens, dessen Busse niemand in seiner Nähe haben will. Das Display mit den Abfahrtszeiten verrät jedoch, dass einer der sogenannten Geisterbusse dieselbe Strecke fährt wie sie – fast zeitgleich, mit zehn Minuten Vorsprung. Auf Abfahrtsplatz Nummer 13 wartet bereits ein weiß lackiertes Vehikel; ohne Firmenlogo, aber mit einem deutlich lesbaren Schild hinter der Frontscheibe: VIENA – ORADEA – CLUJ. Wenigstens verfügt es über intakte Fenster. Dumitru hat erzählt, dass letzten Spätherbst ein Bus derselben Firma ohne Windschutzscheibe hätte abfahren sollen, aus Cluj – oder war es Sibiu? Die eine Hälfte der Passagiere habe den Fahrpreis zurückgefordert. Die andere Hälfte sei eingestiegen, nicht ohne sich lautstark zu beschweren. Was, wenn Insekten, eine Taube, ein Greifvogel? Oder ein Gewitter? Fliegende Fracht von einem der vielen Laster, Holzscheite oder ein Hühnerkäfig? Bevor der Zank beigelegt oder ein anderes Transportmittel bereitgestellt worden sei, habe Dumitru sich entfernt, um pünktlich abzufahren Richtung Firenze.

Zwischen Aschenbecher, Ticketschalter und abfahrbereiten Bussen warten: Arbeitsmigrantinnen, Touristen, Pendlerinnen. Eine Passagierin dämpft ihre Zigarette aus, ein anderer eilt aufs WC. Auch Adrians Pause vergeht zu schnell. Er wird sich für die verbleibende Dreiviertelstunde in der Schlafkoje abkapseln. Die meisten Reisenden, die er nur aus dem Augenwinkel wahrnimmt, warten weder auf seinen Bus noch auf das unselige weiße Gefährt, an dem er auf dem Weg zur Schlafkoje anstreift. Er kann nicht umhin, es kurz zu mustern. Auf diesen abgeriebenen Reifen soll es durch den angekündigten Schneesturm kommen? Ob auf den Motor Verlass ist, lässt sich von außen nicht erkennen, aber auch diesbezüglich ist er skeptisch. Zwei junge Frauen unterhalten sich, lachen. Von weiter hinten Schnäuzgeräusche. Das Handy von vorhin klingelt erneut: Jingle bells, jingle bells – kurz Stille. Ioan und er haben mit der Nummer 12 einen unvorteilhaften Abfahrtsplatz erwischt – es wird Verwechslungen mit dem Bus auf Nummer 13 geben, Adrian wird mehrmals falsche Tickets gezeigt bekommen. Solange es keine Pannen gibt, gehen ihn fremde Passagiere nichts an. Es ist trotzdem wahrscheinlich, dass er sie dann irgendwo in Ungarn wird aufklauben müssen. Schließlich bleibt fast täglich einer dieser Geisterbusse in der Einöde hängen – die meisten ihrer Passagiere wissen ohnehin, dass Ankunft Glückssache ist. Sie steigen trotzdem immer wieder aufs Neue ein, weil der Fahrpreis die Hälfte von dem beträgt, was für Langstrecken üblich ist. Er öffnet die Schlafkoje, legt sich hinein, lässt die Tür einen Spalt weit offen und schließt die Augen. Lustige Musik dringt ihm ins Ohr. He’s Orange / He has a lot of friends / They live together in a fruit stand / They have adventures all across the land / And even play in a rock ’n’ roll band / He’s Orange, Annoying Orange … An einem Novembermorgen vor vier, fünf Jahren, kurz nachdem die Geisterfirma das Monopol für die Strecke verloren hatte, musste Adrian gut zwanzig durchfrorene Reisende aus dem ostungarischen Niemandsland mitnehmen bis Budapest. Weißer Bus mit Getriebeschaden, wieder einmal. Der pinke Bus mit dem SPERANZA-Logo war der einzige weit und breit, Adrian ließ alle einsteigen und fuhr mit vollem Passagierraum weiter. Ein Kind, das hinter dem Fahrersitz Platz gefunden hatte, hörte nicht mehr auf zu husten; eine fünfköpfige Familie beweinte kollektiv das Flugzeug, das ohne sie starten und sie nicht zu den Verwandten nach London bringen würde. Ohne Pausen lenkte Adrian bis nach Hause, wo er mit zwei Stunden Verspätung auch ankam. Für gewöhnlich ist es ihm egal, wenn ein Dienst nicht reibungslos verläuft. Am Ende jener Nachtschicht allerdings wollte er kein Busfahrer mehr sein.

Ioan spürt die Müdigkeit, trotz des Kaffees. Er lässt seinen Blick schweifen, weil er nichts Besseres zu tun hat. Was sollte er sonst machen? Sich mit Musikvideos vom Warten ablenken, wie der Bub neben ihm? Hop in a cannon / With no seat belt / Get put in a fire / Just to melt / Annoying ways to die / Annoying ways to do-ho-ho / So many / Annoying ways to die / Get cut – eine ältere Frau nimmt dem Buben das Handy weg, dessen Gesichtsausdruck wechselt von verzückt auf beleidigt, und Ioan kann wieder in Ruhe die Touristinnen und Arbeitsmigranten, die Kinder und Pensionistinnen vor dem Wartesaal beobachten. Der 15-Uhr-30-Bus, neben dem sich eine Menschentraube gebildet hat, wird das Tschechisch sprechende Paar nach Prag und die vier Jugendlichen, die enge Jeans und Parkas tragen, nach Berlin bringen. Bei manchen macht sich etwas Vorfreude bemerkbar, als sie in den zweistöckigen Bus einsteigen. Unter den Jugendlichen am ehesten noch bei den Burschen; für Mädchen scheint es in Mode zu sein, selbst den Blick zu einem kühlen Idealbild erstarren zu lassen, lasziv und gelangweilt zugleich. Kurz lichtet sich der Nebel, die letzte Sonne des Tages – zuvor nur ein kaltweiß verschwommener Fleck am Himmel – zeigt ihre Strahlen und streift die Nase eines Kindes, das gemeinsam mit dem Vater – oder ist es der große Bruder? – aufs Einsteigen wartet; die Mutter des anderen, das eben noch geschrien hat, ist wohl erleichtert darüber, dass ihres jetzt schläft. Der Mann mit dem blauen Rucksack wirkt müde, als hätte er das Bedürfnis nach Schlaf angespart für die Reise. Im Schnitt bleiben drei von vier Gesichtern ausdruckslos.

Für Ioan sind Gesichter sowieso ersetzbar; wie Geschichten, die unterwegs an ihn – und zwar nur an ihn – herangetragen werden. Sieht er so aus wie einer, bei dem alle ihre Lebensgeschichten abladen können? Er hat kurze Haare, die einmal schwarz waren und nun dunkelgrau meliert sind – in ein paar Jahren werden sie friedhofsblond sein, so ist das Leben. Seine Körpergröße: absolutes Mittelmaß, Bauchspeck: nicht mehr oder weniger als die meisten seiner Kollegen, grüne Augen mit braunen Sprenkeln: auch keine Besonderheit. Es kann also nicht am Aussehen liegen, dass sich ihm bei fast jeder Pausenstation Passagiere, Kellnerinnen und Tankwarte nähern und zu reden anfangen, während seine Kollegen unter sich bleiben können. Die Geschichten begannen sich zu wiederholen, in dem Jahr, als er die ersten grauen Haare auf seinem Kopf entdeckte: Eheprobleme samt diverser Eifersuchtsszenarien; Kinder, die nicht gut allein zu lassen waren, sich aber auch nicht ins Ausland mitnehmen ließen; Streit mit den Schwiegereltern, den eigenen Eltern, den Kollegen oder dem Vorgesetzten. Ein klein wenig ist ihm das Erzählte Ersatz dafür, dass sich die eigene Familie bereits an seine Abwesenheit gewöhnt hat, dass er die Geschichten von Frau und Sohn versäumt, während er fremde Menschen und deren Geschichten ins Ausland oder nach Hause bringt, Tankwarten und Kellnerinnen sporadisch beim Tanken oder im Restaurant begegnet, wenn sich ihre Dienstpläne mit dem Zeitpunkt seiner Durchreise überschneiden. Seine Zigarette ist abgebrannt, es riecht nach angesengtem Filter. Hinter ihm erhält irgendjemand eine SMS. Beep! Beep! Beep! Von weiter weg Hundekläffen; Chihuahua, Zwergpudel oder ähnliches. Er versucht, die Störgeräusche im Rücken zu ignorieren. Kramt Schachtel und Feuerzeug aus seiner Brusttasche und zündet sich eine weitere Zigarette an.

Neben den Türen zum Wartesaal und zum Klo gibt es eine dritte Tür, hinter dieser befindet sich der Ticketschalter. Von der Straße her nähert sich eine Gestalt dem Busbahnhof, passiert die Schwelle, steuert auf die drei Türen zu. Sie kommt Ioan bekannt vor. Ein Mann mit gewöhnlichem Gesicht und durchschnittlichem Körperbau, vielleicht etwas kleiner und untersetzter als die meisten, aber nicht wesentlich. Rumäne vermutlich, aber er könnte auch Ungar sein. Eher schäbig gekleidet, doch das sind andere auch. Zwei dicke Pullover trägt er und eine sandfarbene Weste statt einer brauchbaren Jacke. Rasieren hätte er sich können, aber wer rasiert sich schon auf Reisen? Auf dem Kopf eine vergilbte Baseballkappe mit dem Logo einer insolventen Firma und schmutzigen Rändern. Er wirkt leicht betrunken. Auch diesbezüglich wird er eine Ausnahme darstellen, wenn auch nicht die einzige. Der Mann öffnet die Tür zum Ticketschalter – mit einer Seelenruhe, obwohl der Schalter in fünf Minuten schließt –, und Ioan erinnert sich, wie er einmal Richtung Radauţi (oder war es Bukarest?) gefahren ist, der zweite Fahrer (Adrian? – oder Dumitru?) lag unten in der Schlafkoje, hinter ihm nahm dieser Mann Platz, auch damals mit zwei Pullovern und einer Weste, obwohl es schon Frühling war oder fast Sommer. (Es war Adrian, der unten schlief, jetzt weiß er es wieder.) Ioan rauchte bei offenem Fenster – sein Vorgesetzter würde die eine Zigarette niemals riechen. Das animierte jedoch den verdammten Fahrgast, sich ebenfalls eine anzuzünden. Ioan hätte sich fast umgedreht vor Ärger. Der Gegenverkehr muss ihn davon abgehalten haben. (Später meinte Adrian, bei einem Unfall träfe es ohnehin fast immer den, der hinter dem Fahrer sitzt – und der hätte sich somit selbst ins Grab getschickt.) Ioan fluchte laut nach hinten, der Mann löschte die Glut, anscheinend mit Wasser, Ioan hörte es tropfen und dann den Müllsack rascheln. Der Unbekannte hustete und begann zu erzählen – redete in einer Tour, hörte nicht mehr auf. Machte keine Pausen zwischen den Sätzen. Erzählte alles, vom Heimatdorf und der Küche seiner Mutter über die verführerische Catiţa, deren Körper er detailreich beschrieb, bis zu dem Bekannten, der auch bei einer Autobusfirma arbeitete, aber 3000 Euro im Monat verdiente – drei-tausend Euro, drei-tausend! Er selbst machte dies und jenes … Ioan hat einen schalen Geschmack im Mund, vom Rauchen und vom Kaffee, und einen unangenehmen Verdacht: Es ist gut möglich, dass die Nervensäge sich jetzt noch schnell ein Ticket kauft und dann bei ihm einsteigt; anzunehmen, dass er Weihnachten mit seiner Catiţa oder weiß der Teufel welcher Frau, die einen wie ihn aushält, verbringen möchte!

Adrian gähnt. Er hätte die Schlafkoje verlassen können, sich einen Hot Dog holen vom Stand neben dem Eingang, oder nur einen Automatenkaffee, er hätte ebenfalls in der Kälte herumstehen und eine Zigarette rauchen können. Wird er nicht noch genug stehen? Sobald er in Turda angekommen ist, wird er sich der halb renovierten Wohnung widmen, dort weitermachen, wo er gestern Mittag aufgehört hat. Zu Weihnachten sollte das Eigenheim nicht mehr nach Baustelle aussehen! Er wird den Spülkasten montieren, sich um den Waschmaschinenanschluss kümmern. Auch die Küchenplatte wird sich nicht von selbst schleifen, und er zweifelt stark an, dass Silvana das erledigt, während er abwechselnd fährt und schläft. Kurz will er noch dösen, das Einladen hat schließlich Zeit. Er schließt die Augen und sieht Silvana vor sich stehen, in Leggings und Trägertop – kein seltener Anblick, die nicht regulierbare Heizung lässt sie von Anfang Oktober bis Ende Februar halb nackt durch die Wohnung laufen. Die Vorstellung erregt ihn (seltsamerweise mehr, als wenn sie tatsächlich leicht bekleidet vor ihm stünde). Letzten Mittwoch oder Donnerstag Abend hatten sie ausnahmsweise beide frei – das reichte, um Erwartungshaltungen wachzurufen. Sie saßen auf der Couch, aßen Bratkartoffeln und Fleisch, sie schaltete den Fernseher ein und lehnte den Kopf an seine Schulter. Er massierte ihren Nacken, die paar Quadratzentimeter Dauerschmerz, die sie gelegentlich daran erinnern, den Kellnerjob zu kündigen und sich etwas Leichteres zu suchen. Sie lächelte, fast so, wie sie früher gelächelt hatte, verlockend und herausfordernd – nur diesmal war es ein Lächeln, das bereits im Ansatz misslang. Leicht gequält und eine Spur zu routiniert. Als ob der Knoten aus ihrem Nacken hinauf ins Gesicht gewandert wäre oder eine Verunsicherung sich in ihre Mimik verirrt und in Folge auf ihn übertragen hätte. Er fuhr ihr mit der Hand unters T-Shirt, fummelte an ihrem Hosenbund, sah zu, wie sie Kleidungsstück für Kleidungsstück ablegte. Sie bemerkte die Scheu seiner Berührungen, nahm seine Hände, führte sie an die Stellen, an denen sie berührt werden wollte. Nachdem sie mit ihm geschlafen hatte, betrachtete er lange ihr Gesicht: kein Knoten war zu sehen.

In Adrians Ohr dringt das Geräusch von Schuhen auf Kies und Streusalz, indessen geht Silvana im Trägertop auf und ab – die Schlafkoje muss zum Zimmer angewachsen sein, sonst hätte sie schließlich keinen Platz hier. An der Wand hängt eine Uhr, die darauf hinweist, dass die Zeit stehen geblieben ist. Er wird also nicht aufstehen müssen, und wenn, dann soll Ioan ihn doch wecken! Silvana öffnet das Zimmerfenster und Adrian sieht hinunter auf den Vienna International Busterminal. Die Abfahrtsplätze sind leer, der pinke Bus, den er lenken sollte, ist verschwunden, der giftgrüne mit den zwei Stockwerken ebenso. Da steht nur der weiße Geisterbus, und Silvana ruft, dass der nach Rumänien fahre. (Die genaue Destination interessiere sie nicht, genauso wenig, welche Strecke er nehme. Notfalls kämen sie im falschen Ort an und bei Verwandten unter.) Adrian zieht die Uniform an und fragt sich, ob er den Geisterbus lenken oder ihr die Bitte abschlagen soll. Hat sie ihn überhaupt gebeten – oder hat er das falsch verstanden? Er geht zum Fenster. Keine Spur von Silvana, und auch der weiße Bus ist fort. Stattdessen sieht er den, der Ioan und ihm zugeteilt wurde; sieht fünf Gestalten, die wie Menschen aussehen, aber ganz bestimmt keine Menschen sind, mit blutverschmierten Gesichtern – sie klopfen an die Scheiben, einer hebt wie ferngesteuert den Kopf nach oben, starrt ihn an und ruft: »Sie hat dich nicht gebeten!« Adrian läuft die Stiegen hinunter, öffnet das Haustor – vier Körper fliehen mit roboterartigen Bewegungen, den fünften erschlägt Ioan mit dem Nothammer. Silvana kommt hinter ihm hergelaufen, mit seiner Tasche und der Tageszeitung unter dem Arm: Sie sagt, in Craiova werde ein Kind vermisst; zwischen Debrecen und der Grenze habe ein Spaziergänger die Leiche einer Frau entdeckt, die Polizeisprecherin habe gemeint, es stehe nicht fest, wer sie gewesen sei und wo die Tat stattgefunden habe; in Cluj habe jemand ein Pensionistenpaar ausgeraubt und sei anschließend geflohen. Vom Fahrersitz ruft Ioan, Adrian müsse ihm helfen, sie einzufangen: die Bestien, die Unmenschen, die Verbrecher. Hektisch umarmt er Silvana, bewegt sich auf Ioan zu. Spürt etwas Hartes unter seinem Fuß, eine Erhebung, die keine Unebenheit im Asphalt ist. Sieht herab, will schreien. Er ist auf den fünften aus der Horde getreten, dem der Nothammer im Auge steckt. Ioan ruft Adrian zu: »Macht nichts, der ist sowieso schon tot!«

In der Kälte des Busbahnhofs steht Petru, der bereits eine Tagesreise hinter und noch eine Nachtfahrt vor sich hat. Von London nach Bukarest, mit viermal Umsteigen. Petru vergräbt die Hände in den Taschen seines Parkas. Trotz dunkler Bartstoppeln und Schlaffalten hat er ein schönes Gesicht: volle Lippen, markante Wangenknochen und einen wachen Blick. Er beobachtet, wie einer der beiden Fahrer – der etwas ältere mit den kurzen schwarz-grauen Haaren – an der Schlafkoje klopft, wartet, klopft, mit den Schultern zuckt und sich entfernt. Die Szene erinnert ihn an ein früheres Geschehen, das er nicht sofort zuordnen kann. Ihm kommt in den Sinn, wie er auf einem Parkplatz zwischen London und Leicester in der Führerkabine seines LKWs eingenickt war und erst aufwachte, als zwei Kinder Steinchen an die Scheibe warfen und ihn auf Rumänisch nach ein paar Pounds fragten. Es war Petrus erste Abreise gewesen, die ihn dorthin geführt hatte. Nach einer familiären Zusammenkunft; gemeinsamem Rechnen, Überlegungen, wie mit dem finanziellen Engpass umzugehen wäre; wer im In- oder Ausland eine Arbeit fände, sein Bruder oder er. Schlussendlich war es zu Petrus Aufgabe geworden, nach England auszuwandern, um als Fahrer anständig zu verdienen. Oh Long Johnson / Oh Long Johnson miaow Johnson miaow / Oh Long Johnson miaow / Oh Long chaiochchrrr Oh lo lo … Jemand steht neben Ioan, vertreibt sich die Langeweile mit Katzenvideos. Die Sonne ist inzwischen untergegangen. Ioan denkt an Marina. Sie wird ihn abholen, wenn er einige Stunden vor Sonnenaufgang in Cluj ankommt. Wird warten, bis die Passagiere ausgestiegen sind, die Pakete abgegeben, der Bus gereinigt und versperrt auf dem Parkplatz zurückbleiben kann. Ob Cosmin dabei sein wird? Cosmin, sein Sohn – vor vier, fünf Jahren noch ein Kind und mittlerweile ein unberechenbarer Teenager. Eigentlich hatten sie geplant, die Tage vor Weihnachten zusammen zu verbringen. Eislaufen zu gehen, aus dem Wald einen Christbaum zu holen. Letztes Jahr wollte Cosmin keinen anderen Baum mitnehmen als die mickrige Fichte mit den herabhängenden Ästen, als ob sie ihm leidgetan hätte zwischen den hohen Tannen. Marina plagte sich, das Bäumchen einigermaßen aufzuputzen. Heuer wird sie vermutlich ihren Bruder gebeten haben, einen anständigen Baum zu besorgen. Ioan hätte sich Cosmins neue Sachen zeigen lassen wollen – vor allem die Computerspiele. Die Überstunden haben zusätzliches Geld für ihn und eine Spielkonsole für seinen Sohn abgeworfen. Den einen Diensttausch dürfte dieser ihm allerdings übel genommen haben, zumindest hat er auf die letzte SMS geantwortet: »Wieso bleibst du nicht gleich dort???« Kein Hallo, kein Tschau. Ioan wirft den leeren Kaffeebecher in den dafür vorgesehenen Behälter, dreht eine Runde um den Busbahnhof. Er fragt sich, ob ihm die Schneewarnung Sorgen bereiten soll und ob der Mann mit den zwei Pullovern und der Weste immer lügt – auch dann, wenn er nach der Uhrzeit oder nach dem Sieger des letzten Schirennens gefragt wird.

Bevor Ioan sich Gedanken um die Passagiere oder gar um seine Ankunft machen darf, sind jedoch die Pakete an der Reihe. Zwei Tage vor Weihnachten sind die nämlich die eigentliche Schwerstarbeit. Wer nicht zu seiner Familie kommen kann, schickt Waren als Ersatz. Ioan ist lang genug im Geschäft, um zu wissen, was ihm bevorsteht; Jahr für Jahr rechnet er ab Ende November damit, dass sein knallpinker Bus bald wieder mit einem violetten Anhänger ausgestattet wird. Auf dem Anhänger steht SPERANZA – wie auf dem Bus, nur etwas kleiner. Heute könnte sich die Plackerei in Grenzen halten: Er sieht nur ein gutes Dutzend Menschen ohne Koffer, dafür mit Fracht. Kaum hat er den Motor eingeschaltet, kommt eine Familie auf ihn zu – vermutlich Vater, Mutter, Sohn und Tochter, vielleicht aber auch irgendeine Patchwork-Konstellation. Sie sind gemeinsam gekommen, um ein Paket aufzugeben, das nach Oradea soll. Die Familie wird stehen bleiben, bis der Bus mit dem Geschenk abfährt. Eine ältere Frau bringt einen kleinen Karton, der schwerer ist, als er aussieht, und leicht nach Essen riecht. Dann ist ein Paar an der Reihe, mit der Information, das Paket gehe an die gemeinsame Tochter, aber entgegennehmen werde es die Tante. Es scheint, als hätten die beiden ihre ganze mütterliche und väterliche Liebe zusammen mit den Konsumgütern in Geschenkpapier gewickelt und eingepackt – wie viel von der Liebe ankommt und wie viel sich auf dem Weg verflüchtigt, traut sich Ioan nicht zu sagen. Das Erste, was die Tochter entfernen wird, ist jedenfalls kein goldenes Ringelband und auch keine bunte Schleife, sondern ein aufgeklebtes Papier, mit Name, Anschrift, Telefonnummer, und mehrere Bahnen braunes Klebeband. Statt Lametta oder heruntergefallenen Tannennadeln wird sie den Straßenstaub vom Paket wischen, bevor sie es unter den Christbaum legt. Bald stehen zwanzig, dreißig Menschen Schlange. Ioan nimmt Geld entgegen und schlichtet in den Anhänger: einen Koffer, der Zerbrechliches enthält, angeblich gut verpackt in Luftpolsterfolie und Zeitungspapier; eine gelbe Packtasche, die oben vernäht ist; gefühlte dreißig Umzugskisten und kleinere Schachteln; ein in Plastik verpacktes Ding, das sich beim Einladen als Babybadewanne herausstellt. Mittlerweile ist Adrian aufgewacht, kommt ihm augenreibend entgegen. Ioan sagt knapp, dass er selbst genug gestemmt habe und fortan nur das Kassieren übernehme.

Adrian meint: Kein Problem, er wollte ihm ohnehin noch schnell mit den letzten Paketen helfen. Jetzt muss er heben und stapeln; Ioan ordnet ihm an, die Waage hervorzuholen. Adrian dreht sich um, verzieht das Gesicht und fragt sich, womit Ioans verbissene Genauigkeit zusammenhängt. Ist es sein Hass auf Pakete – oder ist er wütend wegen Adrians verlängerter Schlafpause? Er selbst wäre großzügig mit der Gewichtsbeschränkung, er hat schließlich nichts davon, wenn er dem Chef mehr Geld abgeben muss, und die Provision ist so klein, dass es sich nicht lohnt, für Fracht über zwanzig Kilo doppelt so viel zu verlangen. Mehr einzuladen als anzugeben und den Differenzbetrag einzustreichen wäre zwar verlockend, aber: Erstens vertraut er Ioan nicht so ganz. Er schätzt ihn eher als einen dieser heimlichen Nostalgiker ein, die streng nach Vorschrift arbeiten, als könnten sie dadurch den Kommunismus zurückholen. Zweitens fällt bei inoffiziellen Transporten die Versicherung weg, was gerade bei zerbrechlicher Fracht ein Risiko darstellt. Drittens hat auch er schon die Nase voll von der kleinen und großen Korruption, die ihm in Rumänien an jeder Straßenecke begegnet und in Westeuropa an jeder zweiten. Viertens … hat er vergessen, die Heizung einzuschalten, weil ihn die verdammten Gedanken zu viel umtreiben! Den Bus umrunden, aufsperren, Heizung einschalten, Radiosender suchen … Rauschen. Gitarren- und Keyboardklänge. Draußen am Fenster, die Flocken im Wind / I möcht gern daheim sein, wär gern wieder Kind – die Art von Musik, die Adrian auf Dauer nicht aushält. Den USB suchen. Im Handschuhfach ist er nicht. Da sind nur Taschentücher, Zigaretten, Kaugummis und diverse Zettel. In den Kühlschrank wird Ioan ihn nicht gelegt haben. A Weihnacht wie’s früher war, an Christbaum mit Engelhaar / mit am Kripperl an Stern, ja des hätt i so gern … Der USB liegt am Boden. Adrian hebt ihn auf, wischt ihn an der Hose ab und steckt ihn an. Wählt Best Driving Music #50. Shuffle, immer die gleiche Reihenfolge gäbe ihm das Gefühl, alles wäre eine einzige Wiederholung. But even if the sky is falling down falling down / I will search for you / Even if the sky is falling down …

Ioan übernimmt die Ticketkontrolle am vorderen Eingang, Adrian die Koffer. Das erste Gepäckstück gehört einem Mann mit Brille und hellbraunen Haaren, die von einer Maschine bearbeitet wurden statt von einem Friseur. Er sagt leise: »Nach Oradea« – so leise, als wäre Oradea ein Grund, sich zu schämen –, zeigt Ioan das Ticket, steigt ein, steuert auf die erste Sitzreihe zu. Hinter ihm kommen die Stufen hinauf: eine Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Ein Mann Mitte zwanzig – er spricht Rumänisch, aber mit deutschem Akzent. Ioan denkt: »Seine Haare sind zu lang, beim anderen sind sie zu kurz«; und: »Wer rechtzeitig heimkommt zur Familie, hat Glück. Pakete sind kein Ersatz.« Eine ältere Frau steigt ein, mit kurzen Locken und adrett gekleidet, Kostüm und Mantel mit Pelzkragen – als stünde ihr keine zwölfstündige Busfahrt bevor, sondern ein Nachmittag im Kaffeehaus! Die junge Frau, die Ioan zuvor im Wartesaal beobachtet hat. Eine Familie mit Fahrkarten für den Geisterbus darf nicht einsteigen. Ein Mann. Noch ein Mann. Dann Petru, der Ioan kritisch mustert, ohne dass dieser sich den Grund dafür denken kann. Petru versucht einzuschätzen, ob Ioan ein brauchbarer Fahrer ist oder eine Katastrophe am Steuer; er überlegt, warum sich die Hoffnung, SPERANZA, mit Z schreibt, in einem Bus, der nach Rumänien fährt. Und wer glaubt denn daran, dass Hoffnung sich noch lohnt? Hinter ihm eine groß gewachsene Frau, für die SPERANZA lediglich eine Erwartungshaltung ist, die immer enttäuscht werden kann. Sie hat glatte, hellbraune Haare, ist schlicht, aber nicht unelegant gekleidet und heißt Daiana. Sie will auf etwas bauen können, anstatt nur darauf zu hoffen. Trotz ihrer durchwegs pragmatischen Haltung regt sich die ganze Zeit schon eine leichte Freude in ihr beim Anblick des Busbahnhofs: Überfüllte Wartehallen und gedrängte Abfahrtsplätze machen glücklich, vor allem, seit sie Wien kennt – leere Straßen und Plätze, die besonders an Wochenenden wirken wie ausgestorben. Eine weitere Frau, die hastig atmet, als wäre sie gelaufen, um den Bus zu erwischen. Noch drei Reisende, die aber den weißen Bus nehmen werden. Ein Jugendlicher, der bei Ioan einsteigen wird. Männer. Frauen. Adrian hebt den Koffer der letzten Passagierin in den Gepäckraum, sie sagt: »Oradea!«, in einem Tonfall, als wäre Oradea der großartigste Ort der Welt. Der Koffer ist schwer. Er fragt: »Fräulein, reisen Sie mit Steinen?« Sie lächelt und antwortet: »Nein, mit Goldbarren.«

STUNDENKILOMETER

Alexandru hat als Erster Platz genommen, ganz vorne links, gleich hinter dem Fahrer. Wenn er sitzt, nimmt er eine leicht gebückte Haltung ein, die ihn kleiner macht, als er tatsächlich ist. Die Heizwärme lässt ihn müde werden. Er sucht nach seinem Smartphone, zieht es aus der Tasche seines Parkas. Schreibt Iulia eine Chatnachricht und stellt eingehende Anrufe auf lautlos. So macht sie sich keine Sorgen und er kann bis zur ersten Pause ungestört schlafen. Codruţa, die nach ihm eingestiegen ist, geht mit ihrer sechsjährigen Tochter Susana weiter bis zur Mitte des Busses. Sie setzen sich hinter den zweiten Ausgang, Codruţas Mann Matei in dieselbe Reihe auf die andere Seite des Mittelgangs. Susana stellt sich auf die Sitzfläche, um einen Überblick zu gewinnen. Drei der achtundzwanzig Fensterplätze sind besetzt, dann vier, fünf … bald sind es fünfundzwanzig. Drei bleiben frei. Eins: hinter ihrem Vater. Zwei: vor ihrem Vater. Drei: hinter Susana. Vor ihr und der Mutter ist keine Sitzreihe, da ist nur die Treppe. Susana kann noch nicht bis achtundzwanzig zählen, aber sie weiß, dass sich Menschen oft plötzlich entfernen oder gar nicht erst in ihre Nähe kommen, wenn sie mit der Mutter und dem Vater in die Straßenbahn 2 steigt oder in die U3. In Wien sind sie Rumäninnen. Die Mutter bläut ihr ein, sie dürfe ihre Kleidung nicht dreckig machen. Taschentücher nicht zum Spielen verwenden, sondern um sich die Nase zu putzen, wenn sie rinnt. Und sie möge Deutsch sprechen in der Öffentlichkeit, was sie dann auch versucht. Hier sprechen aber alle Rumänisch. Ein großer blonder Mann mit schwarzem Parka hat sich auf den Platz vor ihrem Vater gesetzt, dreht sich zufällig um, ändert den Gesichtsausdruck, mustert ihn auf eine Art, die Susana missfällt. Kramt in seinem Jutesack, steht auf, tut so, als würde er etwas in seiner Hosentasche suchen, schaut nach vorne und zurück, setzt sich weg. Die Frau, die nicht viel älter ist als ihre Mutter, aber eben mit einem iPhone hantiert hat und einen edlen Schal trägt, stellt ihre Tasche auf demselben Sitz ab, lässt den Blick wandern, sucht ebenfalls Abstand, den sie drei Reihen weiter hinten auch findet. Hier sind sie Romnija, der Vater ist Rom. Einem, der für Susana aussieht wie ein Bauer, mit Stiefeln und dicker Wollmütze über dem Gesicht, das bestimmt viel Sonne, Wind und Regen abbekommen hat, scheint das nichts auszumachen – er bleibt auf dem Platz vor Matei sitzen. Irgendwann sitzt auch einer hinter dem Vater, und eine liegt, mit dem Wintermantel zugedeckt, hinter ihr und der Mutter.

Die Ankunft ist leichter anzukündigen als die Abfahrt, denkt Alexandru – er schickt Iulia noch ein Musikvideo hinterher: In a bulletproof vest / With the windows all closed / I’ll be doing my best / I’ll see you soon – Das Voneinandergehen begannen sie zu planen, da sie die ersten Male nicht gewusst hatten, wie sich verabschieden und wie lange stehen bleiben – Iulias Devise war gewesen: »Dreh dich um und geh!« Er hätte ihr am liebsten nachgewinkt, bis ihr Bus davonfuhr. Damals hatte sie noch bei dieser Familie in Tulln gearbeitet und er in Oradea. Dann die Schwangerschaft. Sie fädelte den Übergang geschickt ein: Fragte bei der Familie nach und bei der Agentur. Ließ Alexandru bei der Agentur vorsprechen. Von nun an war sie es, die blieb, während er in regelmäßigen Abständen aufbrach Richtung Österreich. Zurückkehrte für einen Monat, wieder wegging für den nächsten. Die Abschiedsrituale und -worte wurden routinierter: »Bis ganz bald!«, eine Umarmung, I’ll see you soon