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WIDMUNGEN

Meinem verstorbenen Mann Georg in Liebe und Dankbarkeit gewidmet.

Meinem Mann Peter in Liebe gewidmet.

„Das Glück kann man verdoppeln, indem man es teilt.“

DANKSAGUNG

Ich bedanke mich bei den ehemaligen Studenten und Studentinnen der Deutschen Sporthochschule Köln, die sich für die Fotoaufnahmen zur Verfügung gestellt haben. Stellvertretend für alle Ungenannten bedanke ich mich bei Jörg Schwaiger, Jochen Remark, Katrin Steinberg (Röttger), Anne Pörschmann, Sylvie Schneider und Tina-Nadine Hain (Seifried). Herzlich bedanken möchte ich mich bei Dr. Anna-Maria Liphardt, die nicht nur für die Fotoaufnahmen zur Verfügung stand, sondern auch kritisch das Ur-Manuskript und den Fahnenabzug der ersten Ausgabe durchgearbeitet hatte.

Für die Neuausgabe bedanke ich mich ganz herzlich bei Prof. Dr. Thomas Heinen, bei Dr. Pia Vinken, Dr. Alexandra Pizerra und vor allem bei meiner Kollegin Maria Becker, die sich nicht nur als Trainerin mit ihren Turnerinnen für zahlreiche Fotos zur Verfügung stellte und wertvolle Hinweise gab, sondern auch selbst am Schwebebalken viele Elemente für die Fotoaufnahmen turnte. Vielen Dank liebe Eszter Èzsiàs für die Expertinnengespräche! Bedanken möchte ich mich bei Pia Tolle, Juliane Veit, meinem Kollegen Jonas Rohleder und Fabian Hambüchen für ihre privaten Fotos und nicht zuletzt bei Prof. Jürgen Dieckert, der mir von seinem Brasilienaufenthalt Fotos von den Canela-Indianern zur Verfügung gestellt hat.

Vielen Dank auch an Tina Brandsch-Böhm, die die letzten Fotos für das Buch mit den Kaderturnerinnen des Turnzentrums Deutsche Sporthochschule Köln e. V. aufnahm.

Allen abgebildeten großen und kleinen Turnerinnen und Turnern ein herzliches Dankeschön für euer Mitmachen!

HINWEISE

Auf Bitten des Verlags wurde zur besseren Lesbarkeit in der Regel die männliche Form in das Manuskript eingearbeitet. Da auf dem Schwebebalken hinsichtlich des hier angesprochenen Fertigkeitsniveaus nur Turnerinnen turnen, wurde die weibliche Form für die Aktiven gewählt. In den anderen Fällen bitte ich Übungsleiterinnen, Sportlehrerinnen und Turnerinnen, sich von der männlichen Schreibweise mit angesprochen zu fühlen.

Die Methodik wurde nach bestem Wissen und jahrelanger Erprobung und im Austausch auf Kongressen, Fachtagungen und in Workshops erstellt und hiermit dokumentiert. Es entlastet nicht den Unterrichtenden, alle Übungsangebote auf Durchführbarkeit für seine Adressatengruppe hin zu überprüfen. Die Autorin und der Verlag übernehmen keinerlei Haftung für Schäden, die durch Übernahme von Übungsvorschlägen des vorliegenden Bandes entstehen.

WO SPORT SPASS MACHT

Ilona E. Gerling

Gerätturnen für Fortgeschrittene

Band 1: Boden und Schwebebalken

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Gerätturnen für Fortgeschrittene

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Details sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2008 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

3. überarbeitete Auflage 2018

Auckland, Beirut, Dubai, Hägendorf, Hongkong, Indianapolis, Kairo, Kapstadt, Manila, Maidenhead, Neu-Delhi, Singapur, Sydney, Teheran, Wien

image Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)

ISBN 978-3-8403-3081-0

E-Mail: verlag@m-m-sports.com

www.dersportverlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1Turnen als Bewegungserlebnis und als Traum vom Überschlagen und Fliegen

2Geschichtliche Wurzeln und Entwicklungen

3Wettkämpfe und Pflichtübungen im Deutschen Turner-Bund

4Fertigkeitsorientiertes Turnen in der Schule?

TEIL A
Theoretische und praktische Grundlagen

1Erlernen von Turnfertigkeiten

1.1Bewegungstechnik als methodischer Ausgangspunkt

1.2Damit Gerätturnen Spaß macht: Rahmenbedingungen für die Unterrichts- und Trainingsgestaltung

2Voraussetzungen schaffen

2.1Die Turnstunde beginnt: Aufwärmen im Turnen

2.1.1Warum sich aufwärmen?

2.1.2Gestaltung eines Aufwärmprogramms

2.1.3Grundmuster eines Aufwärmprogramms

2.2Turnspezifische Dehnung und Beweglichmachung

2.2.1Passive und aktive Dehnformen und allgemeine Übungshinweise

2.2.2Dehnung zur Öffnung des Arm-Rumpf-Winkels (Dehnung des großen Brustmuskels und Beweglichmachung der Brustwirbelsäule)

2.2.3Dehnübungen zum Einnehmen der tiefen Hüftbeuge (Dehnung der ischiokruralen Muskelgruppe mit dem zweiköpfigen Kniebeuger)

2.2.4Verbesserung der Spreizfähigkeit (Dehnung der Adduktorengruppe und des zweiköpfigen Kniebeugers, des vierköpfigen Kniestreckers und des Hüftbeugers)

2.2.4.1Das Seitspreizen: Übungen für den „Männerspagat“

2.2.4.2Das Querspreizen: Übungen für den „Frauenspagat“, Standwaagen und Spagatsprünge

2.2.5Beweglichmachung der Füße und Dehnung der Wadenmuskulatur

2.2.6Beweglichmachung der Handgelenke und Dehnung der Unterarmmuskulatur

2.3Turnspezifisches Spannungs- und Krafttraining

2.3.1Körperspannung, Schiffchen, Handstand und Abprellen

2.3.1.1Bewusstmachung der Körperspannung

2.3.1.2Körperspannung unter erschwerten Bedingungen halten

a) Körperspannung und Schwerkraft: Das „Schiffchen“

b) Körperspannung und Dynamik

c) Körperspannung und Gleichgewichtsanforderungen

d) Körperspannung bei Prellsprüngen und -abdrücken

2.3.2Partnerbezogenes, spielerisches Bodenturn-Grundlagenkreistraining

2.3.3Anspruchsvolles, gerätturnspezifisches Stationskrafttraining

2.3.4Hochintensives Intervalltraining: HIIT

2.3.4.1HIIT – wieso – weshalb – warum?

2.3.4.2Trainingsprinzipien, Zusammenstellung eines Programms und Durchführungshinweise

2.3.4.3Zwei turnerische HIIT-Programme

a) Erstes, einfaches turnerisches HIIT-Programm: Ein Vier-Block-Basisprogramm mit einminütigen, intensiven Belastungen und viel Laufarbeit

b) Zweites, anspruchsvolles turnerisches HIIT-Programm mit vorgegebener Durchführungsanzahl in drei Schwierigkeitsstufen

2.4Grundlagen der klassischen Ballettausbildung für gymnastische Elemente am Boden und auf dem Schwebebalken

2.4.1Sinnzuschreibungen des Balletts als ergänzendes Turntraining

2.4.1.1Ballett als Haltungs- und Technikschulung

2.4.1.2Ballett als ergänzendes Krafttraining

2.4.1.3Ballett als Ästhetik- und Ausdrucksschulung

2.4.2Einführung in die Körpergrundhaltung und Grundpositionen

2.4.2.1Körpergrundhaltung

2.4.2.2Hüfte, Beine und Füße

2.4.2.3Armhaltungen: „Port de bras“

2.4.2.4Individuelle und turnspezifische Finger-, Hand- und Armhaltungen

2.5Balkenspezifische Grundlagen

2.5.1Fußsetzung und Bewegungsvariationen im Gehen

2.5.2Grundpositionen als „Drills“

TEIL B
Methodik zu Fertigkeiten an den Geräten Boden und Schwebebalken

IBodenturnen

1Das „Gerät“ Boden: Turnmatten, Bodenläufer und Schwingboden

1.1Zur Gestaltung einer Bodenübung

1.1.1Raumwege

1.1.2Bodenspezifische Anforderung an Raum und Zeit

1.1.3Inhalte einer Bodenübung: Schwierigkeit und Präsentation

1.1.4Bodenmusik der Frauen

1.2Tipps für die Zusammenstellung einer Bodenübung

2Felgrolle in den Handstand

3Langsame Handstützüberschläge vorwärts und rückwärts gespreizt

3.1Langsamer Handstützüberschlag rückwärts gespreizt: Bogengang rückwärts

3.2Sitzbogengang

3.3Langsamer Handstützüberschlag vorwärts gespreizt: Bogengang vorwärts

4Dynamische Handstützüberschläge vorwärts

4.1Handstützüberschlag gestreckt

5Gesprungener Handstützüberschlag rückwärts: Flick-Flack

6Gesprungener, schneller, stützloser Überschlag rückwärts gestreckt: Temposalto rückwärts

7Gesprungener Handstützüberschlag rückwärts gespreizt: „Menichelli“

8Gesprungener Handstützüberschlag rückwärts gespreizt aus der Vorwärtsbewegung: Auerbach-Überschlag

9Einbeinig abgesprungene, freie Überschläge, seitwärts und vorwärts gespreizt

9.1Einbeinig abgesprungener, stützloser Überschlag, seitwärts gespreizt: Freies Rad

9.2Einbeinig abgesprungener, stützloser Überschlag, vorwärts gespreizt: Freier Schrittüberschlag

9.3Einbeinig abgesprungener, stützloser Hockspreizüberschlag, vorwärts zum Hockstrecksitz: Freier Schrittsalto zum Hockstrecksitz

10Beidbeinig abgesprungene, stützlose Überschläge vorwärts: Salti vorwärts

10.1Methodik I: Der „Klassiker“: Vom Salto auf den Mattenberg zum Salto vorwärts vom Sprungbrett

10.2Methodik II: Der „Erlebniskicksalto“ über ein Hindernis

10.3Methodik III: „Japansalto“ vorwärts mit sicherer Drehgriffhilfe

11Beidbeinig abgesprungener, stützloser Überschlag rückwärts: Salto rückwärts

11.1Erster Methodikblock: Schaffen von Voraussetzungen in einer Übungslandschaft

11.2Zweiter Methodikblock: Vom Salto rückwärts mit Absprunghilfen zum Salto rückwärts aus dem Rondat

12Beidbeinig abgesprungener, stützloser Überschlag rückwärts gestreckt mit ganzer Längsachsendrehung: Schraubensalto rückwärts

12.1Der Einstieg: Ganze Längsachsendrehung mit Armführung ohne Breitenachsenrotation

12.2Einstieg über die Frühschraube

12.3Strecksalto mit Spätschraube

13Von der Radwende zum Rondat mit Kurbetbewegung

13.1Technikmerkmale des Rondats als vorgeschaltetes Element zum Abarbeiten

13.2Übungsvorschläge zur Technikoptimierung über die Einarbeitung leistungsbestimmender Bewegungsmerkmale

IISchwebebalken

1Zur Gestaltung einer Balkenübung

1.1Elementegruppen

1.2Schwierigkeitsteile: Die „D-Note“

1.3Die Ausführungs-, Technik- und Gestaltungsnote: Die „E-Note“

1.3.1Balkenspezifische Gestaltungsanforderungen

1.3.2Wettkampfspezifische inhaltliche Anforderungen im Leistungsturnen

2Methodische Hinweise

2.1Balkenspezifische Lern- und Leistungsvoraussetzungen

2.2Allgemeine Tipps für das Üben und Turnen auf dem Balken

2.3„Drills“: Grundsätzliche Körperhaltung, Armbewegungen und Blicksteuerung im leistungssportlichen Balkenturnen

2.4Vier Stufen der Methodik durch Veränderung der Gerätsituationen

3Akrobatische Elemente auf dem Schwebebalken

3.1Vom Scherhandstand zum Rad auf dem Balken

3.1.1Scherhandstand und Handstand

3.1.2Rad (Handstützüberschlag seitwärts mit halber Längsachsendrehung in und gegen die Bewegungsrichtung)

3.2Langsame Überschläge vorwärts und rückwärts

3.2.1Langsamer Handstützüberschlag rückwärts gespreizt: Bogengang rückwärts

3.2.2Der Sitzbogengang

3.2.3Langsamer Handstützüberschlag vorwärts gespreizt: Bogengang vorwärts

3.2.4Handstützüberschlag rückwärts gespreizt mit Flugphase: Der Balken-Flick-Flack gespreizt

3.2.5Stützloser/freier Überschlag rückwärts gehockt: Salto rückwärts

3.2.6Stützloser Überschlag seitwärts: Freies Rad

3.2.7Rondat als vorgeschaltetes Element für Abgänge

3.3Von der Rolle vorwärts zur freien Rolle

3.3.1Rolle vorwärts

3.3.2Freie Rolle

3.3.3Aufrollen auf den Balken aus dem Anlauf und Absprung am Bankenende

4An-/Aufgänge

4.1Aufgänge aus dem Seitstand

4.1.1Sprung in den Stütz, Überspreizen (Vorspreizen) in den Stütz mit Vierteldrehung in den Grätschsitz (Reitsitz)

4.1.2Hockwende auf dem Balken (Dreh-Sprungaufhocken)

4.1.3(Sprung-)Aufhocken mit Stütz der Hände

4.1.4(Sprung-)Aufhocken aus beidbeinigem Absprung mit einem Bein und Aufsetzen des zweiten Beins in Seithalte gestreckt mit Stütz der Hände

4.1.5(Sprung-)Überhocken mit Stütz der Hände zum Seitsitz

4.1.6(Sprung-)Überhocken mit einem Bein zum Spreizsitz mit Stütz der Hände

4.1.7(Sprung-)Aufgrätschen mit Stütz der Hände

4.1.8Diebsprung

4.1.9Sprung/Heben in den Handstand (Schweizer Handstand)

4.1.10Gestützter und freier Überschlag zum Seitsitz auf den Balken

4.2Aufgänge aus dem Querstand

4.2.1Absprung/Heben in den Grätschwinkelstütz

4.2.2Aufhocken mit Stütz der Hände

4.2.3Aufhocken ohne Stütz der Hände

4.2.4Auflaufen

4.2.5Strecksprung zum ein- oder beidbeinigen Querstand

4.2.6Aufrollen

4.3Aufgänge aus dem Schrägstand

4.3.1Hockwende (Dreh-Sprungaufhocken)

4.3.2Auflaufen, mit und ohne Stütz einer Hand

4.3.3Strecksprung zum ein- oder beidbeinigen Querstand

5Abgänge

5.1Translatorische Abgänge: Strecksprung, Hocksprung, Grätschsprünge

5.2Rotatorische Abgänge: Gestützte und freie Überschläge

5.2.1Seithandstand-Abgänge

5.2.2Radwende (Rondat)

5.2.3Handstützüberschlag vorwärts

5.2.4Freie Radwende (freies Rondat)

5.2.5Freier Überschlag gestreckt aus der Schrittstellung

5.2.6Salto vorwärts

5.2.7Salto rückwärts

TEIL C
Anhang

IKleine Gerätturnanatomie

IIDie Turnbibliothek

IIIÜbersichten

III.1Übersicht über nationale Elemente und häufig geturnte A-C-Teile der Männer, zugeordnet in drei Elementegruppen – DTB 2017

III.2DTB Akro-Kondi-Programm 2014 in Stichworten

III.3Zum Nachschlagen: Begriffe aus dem Ballett, gymnastische Elemente und Drillpositionen

IVStichwortverzeichnis/Register

Bildnachweis

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„Turnen ist ein Gefühl!“ – WM- und Weltcupteilnehmerin Pia Tolle

VORWORT

Liebe Leserin, lieber Leser …,

ich freue mich, dass Sie sich für das Gerätturnen interessieren – und für dieses Buch!

Ich bin überzeugt, dass Sie mit dem vorliegenden Band eine wertvolle Hilfe für Ihre Praxisstunden in Schule und Verein in Händen halten, ob für Ihre Wettkampfvorbereitungen, Ihre Zirkusvorführungen, für die unterschiedlichsten Schauvorführungen oder auch für Ergänzungstrainingsstunden anderer Sportarten.

Aufgrund der Stofffülle ergab sich bei der Aufarbeitung der Methodik die Notwendigkeit, das Buch Gerätturnen für Fortgeschrittene in zwei Bänden zu veröffentlichen, um nicht durch eine drastische Kürzung des Textes methodisch an der Oberfläche bleiben zu müssen und durch Streichung von Abbildungen die Anschaulichkeit zu reduzieren.

Band 1 beinhaltet das Boden- und Schwebebalkenturnen, Letzteres als ein „Bodenturnen auf 10-cm-Breite“. Mit diesem Band bekommen auch Leitende von Akrobatik-, Schauturn-, Zirkus- und Karnevalsgruppen etc. einen für sie interessanten „Einzelakrobatik“-Band vorgelegt.

Der zweite Band behandelt die Stütz- und Hanggeräte Reck, Stufen- und Parallelbarren sowie den Sprung.

Die Technikbeschreibungen, die Trainingshinweise und Übungsvorschläge sind eine Dokumentation jahrelanger Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Alters- und Leistungsstufen. Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sogenannte Nichtturner als auch breitensportlich und leistungsorientierte Turner haben die in diesem Buch aufgezeichneten Vorschläge erprobt. Auf unzähligen Workshops, deutschlandweiten Übungsleiterlehrgängen und Lehrerfortbildungen sowie auf internationalen Lizenzlehrgängen wurden die methodischen Schritte ausprobiert und zur Diskussion gestellt. Erfahrungen der „alten“ Turnschule wurden ebenso eingearbeitet wie aktuellste Erkenntnisse aus der Sportwissenschaft und dem Hochleistungsturnen. Letztere beiden Bereiche sind vor allem durch Prof. P. G. Brüggemann von der Deutschen Sporthochschule Köln geprägt worden.

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Jonas Rohleder „On the Top“ … Turnen ist ein Lebensgefühl!

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Foto: privat

Fabian Hambüchen im Valley of Fire/USA: „Turnen macht einfach Spaß – immer und überall.“

Wenn auch der talentierte Nachwuchsbereich im Gerätturnen nützliche Informationen aus diesem Buch erhalten kann, so richtet sich dieses Buch vor allem an die vielen, die die turnerischen Basisfähigkeiten und -fertigkeiten – wie sie im Basisbuch Gerätturnen … für alle (Gerling, 2015) beschrieben sind – bereits kennen bzw. beherrschen und nun MEHR wollen. Der vorliegende Band knüpft somit nahtlos an das Basisbuch Gerätturnen an, bietet somit ein „Mehr“ im fertigkeitsorientierten Turnen für den „normalen“ Turnenden.

Behandelte das Basisbuch Gerätturnen die Fertigkeiten bis zu den Pflichtübungen „P 6“ des Deutschen Turner-Bundes, so setzt der vorliegende Band bei Elementen der „P 7“ (z. B. für Wahlwettkämpfe auf Landesturnfesten und Deutschen Turnfesten) bzw. der Kürübungen mit Pflichtelementen und besonderen Anforderungen ab „P 7“ (z. B. für Landes- und deutsche Mehrkampfmeisterschaften, Landes- und Bundesfinale Einzel und Mannschaft der B-Wettkämpfe) aufwärts an. Dementsprechend werden die Fertigkeiten für die höchste Stufe des Gerätturnabzeichens als auch des Gerätturnwettkampfs der Bundesjugendspiele der Schulen sowie für das Bundesfinale JUGEND TRAINIERT FÜR OLYMPIA im vorliegenden Band methodisch abgehandelt. Auch Bewerber der seit 2000 stattfindenden deutschen Seniorenmeisterschaften können mit diesem Buch Unterstützung für ihr Training finden.

Die Theorie ist aus Gründen des Umfangs zugunsten der praktischen Übungsvorschläge zum Fertigkeitserwerb auf Hinweise zur Erwärmung und Schulung von Voraussetzungen reduziert worden. Neu sind Vorschläge zur Verbesserung der turnerischen Kondition über ein hochintensives Intervalltraining (HIIT).

Das Airtrack® hat inzwischen als eigenständiges und methodisches Gerät Einzug in die Turnhallen gehalten. Neu ist damit die methodische Einbeziehung der luftgefüllten Airtrack®-Matte. Weitere methodische Nutzungshinweise zum Erlernen von Bodenturnelementen auf dem Airtrack® sind dem Band Das Airtrackbuch von 2014 von Gerling, Becker und Mönnikes zu entnehmen.

Der Methodikteil zum Schwebebalkenturnen wurde vollständig neu strukturiert und überarbeitet. Der Leistungsbereich hat neues Basisverhalten für das Schwebebalkenturnen 2015 herausgebracht. Diese Vorgaben für das Blickverhalten und die Körperhaltungen („Drills“) sind neu eingearbeitet worden, da sie auch für das breitensportliche Turnen sehr wertvoll sind.

Für die Darstellung der Methodik wurde eine gleiche Strukturierung wie im Basisbuch Gerätturnen gewählt: Die Fertigkeit wird zunächst jeweils in Reihenabbildung und mit Beschreibung der Bewegungsmerkmale vorgestellt, die konditionellen, koordinativen sowie bewegungstechnischen Lern- und Leistungsvoraussetzungen werden genannt. Danach erfolgen – in der Regel fünf – methodische Lernschritte, teilweise beinhalten diese noch Vorschläge zur Variation, um den Lernprozess auf der jeweiligen Stufe zu vertiefen. Vorschläge zu sinnvollen, lernprozessunterstützenden Bewegungsverbindungen schließen die Methodik ab.

Die Methodik berücksichtigt in besonderem Maße die gegenseitige Hilfegebung, da die Autorin hierin für das neue, moderne Gerätturnen eine wertvolle Bereicherung sieht. Darin unterscheidet sich das Buch auch von anderen Turnmethodikbüchern. Wenn die Turnenden systematisch – parallel zum Erlernen der Fertigkeiten – das gegenseitige Hilfegeben erlernen, hat dies für alle Beteiligten, ob Unterrichtende oder Aktive, einen hohen Gewinn in unterschiedlichsten Bereichen (vgl. Gerling, 2006). Es wird sehr viel intensiver gelernt, sowohl qualitativ als auch quantitativ, der Spaßfaktor über das Miteinanderlernen erhöht sich deutlich und der Unterrichtende ist für spezielle Aufgaben entlastet, um nur einige Aspekte aufzulisten. Schulisch von Interesse ist, dass das soziale Handlungsfeld im Gerätturnen u. a. über das gegenseitige Helfen und Sichern erfahren wird. Dies wird in den Richtlinien aller Bundesländer derzeit verlangt.

Anhand der Gliederung können Sie das Spektrum der behandelten Fertigkeiten ersehen. Am Boden werden neben Handstützüberschlag vorwärts und Flick-Flack auch Überschläge wie Menichelli, Auerbach-Überschläge oder Bogengänge, freier Überschlag vorwärts und seitwärts (freies Rad) und der Salto vorwärts in den Sitz methodisch vorgestellt. Diese Elemente wurden in Turnbüchern und Fachveröffentlichungen nur unzureichend aufgearbeitet und die Techniken werden oft in gesundheitlich nicht gerade unbedenklicher Form (z. B. bei Gauwettkämpfen und zirzensischen Vorführungen) gezeigt. Zudem besitzen diese Bodenturnelemente sowohl für die Erfüllung der gerätspezifischen und besonderen Anforderungen der Kürwettkämpfe als auch für die unterschiedlichsten Schauvorführungen großen Wert.

Die gymnastischen Elemente für das Schwebebalkenturnen wurden bereits im Basisbuch Gerätturnen (vgl. dort S. 267-278) aufgearbeitet. Die akrobatischen Elemente setzen ein Können am Boden und danach auf der Linie am Boden voraus. Da eine fertigkeits- und gleichzeitig balkenspezifische Methodik hierzu bezüglich einer Dokumentation zulasten anderer Inhalte nicht gerechtfertigt wäre, wird lediglich das Grundprinzip des methodischen Vorgehens vorgestellt und es werden exemplarisch am Beispiel der Rolle und dem Aufschwingen in den Handstand Stundenmodelle gegeben.

Sollten Sie „Lust auf noch mehr Wissen“ bekommen haben, so kann die Turnbibliothek (S. 448ff.) weiterhelfen. Interessante Bucherscheinungen zum Themenbereich des Buchs sind hier – auch aus dem Ausland – zusammengestellt.

Liebe Leserinnen und lieber Leser, gleich, ob Sie Unterrichtende oder aktive Turnende sind, ich wünsche allen viel Spaß beim Ausprobieren und Lernen, beim Üben und Trainieren!

Ich hoffe, Sie werden es erleben: Turnen ist ein Abenteuer, ein Erlebnis, tut gut, kurz: rundum ein Spaß!

Fabian Hambüchen würde nun sagen: „Haut rein!“

In diesem Sinne

Ihre

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Foto: privat

Die Autorin Ilona E. Gerling mit Fabian Hambüchen

EINLEITUNG

1Turnen als Bewegungserlebnis und als Traum vom Überschlagen und Fliegen

Wer Körperspannung besitzt und einen Handstand turnen kann, der kann fast alles – mit Hilfen natürlich – aus dem vorliegenden Buch kennenlernen. Er kann stützen, Spannung halten, weiß, über dem Kopf stehend, was der Körper macht, weiß dabei, wo er wie ist. Beste Voraussetzungen also, um ein „Mehr“ mit seinem Körper zu erleben.

Und wer möchte nicht das Überschlagen vorwärts, rückwärts oder seitwärts, vielleicht sogar ein Über-Kopf-Drehen ohne Hände erleben? Fliegen, Drehen, Überschlagen – diese als „Primärbedürfnisse“ (Nickel, 1990), als natürliche „Bewegungsabsichten“ (Laging, 1990), als unverzichtbare „Erfahrungssituationen“ (Baumann & Diener, 1999, S. 109f.) formulierten Bewegungserlebnisse werden von den Menschen gesucht, gleichgültig, in welcher Zeit und auf welchem Teil der Erde sie lebten bzw. leben.

Turnen ist Bewegungslernen und Kunststücke vorführen. Viele möchten das Überschlagen aber nicht nur einmal erleben, sondern diese attraktiven Kunststücke, wie einen Flick-Flack oder Salto, erlernen, um sie einem Publikum – sei es vor Freunden, im Zirkus, auf Schauvorführungen oder auf Wettkämpfen – gekonnt vorzuführen. „Es gibt uns den Hinweis, dass in einem Bereich der Bewegungskultur, zu dem das Turnen gehört, besonderer Wert auf sinnliche Beeindruckung von sich selbst und vor anderen gelegt wird“ (Funke-Wieneke, 1998, S. 20).

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Foto: privat

Fabian Hambüchen: Turnen ist der Traum vom Fliegen.

2Geschichtliche Wurzeln und Entwicklungen

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Abb. 1a: Altägyptisches Reihenbild eines Überschlags vorwärts (Neues Reich)

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Abb. 1b: Reihenbild eines Überschlags in die Brücke einer Akrobatin (Wandzeichnung von Beni Hassan/Oberägypten um 1600 v. Chr.)

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Abb. 1c: Flick-Flack (?) im alten Ägypten: Akrobatinnen in ihren Vorführungen während einer Kultprozession vor ca. 3.500 Jahren (18. Dynastie), eine Malerei auf einem Wandputz an der östlichen Eingangswand im Grab des Nb-jmn (Theben-West)

Vor drei- bis viertausend Jahren wurden schon, vor allem in Ägypten und Griechenland, turnakrobatische Übungen dargestellt (Abb. 1a/b/c). Fast immer waren es Brücken bei Tänzerinnen. Dies ist bereits im 16. bis 14. Jahrhundert v. Chr. auf Wänden und auf Kalksteinscherben nachzuweisen (vgl. Gerling, 2015, S. 19). Die Darstellungen bringen sowohl Beweglichkeit als auch Kraft zum Ausdruck. Interessant ist auch eine antike Abbildung eines Saltos über ein Hindernis (Abb. 2). Es muss schon damals im alten Ägypten eine turnerische und gymnastische Ausbildung für die Berufsgruppen gegeben haben, deren anspruchsvolle Darbietung nur durch ein zielgerichtetes Erarbeiten möglich war.

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Abb. 2: Akrobatik in der Antike: Salto mit Sicherheitsstellung (?) über ein Hindernis

Vor mehr als 2.300 Jahren wurden Akrobatinnen auf keramischen Kelchgefäßen verewigt, wie im archäologischen Regionalmuseum „Museo Archeologico“ auf der Insel Lipari zu sehen ist (Foto 1: Akrobatin vor Dionysos). Häufig sind im 4. Jahrhundert v. Chr. Tänzerinnen in einer Brücke als Deckelgriff zu finden (Foto 2: Etruskischer Deckelgriff). In einem Pariser Museum finden wir aus China ein Gefäß aus der Han-Dynastie (um 209-206 v. Chr.), das ein turnerisches Vorführen von zwei Akrobaten, in einem spielerischen Handstand schwebend, auf der Kante darstellt (Foto 3a).

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Foto 1: Akrobatin vor Dionysos

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Foto 2: Etruskischer Deckelgriff

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Foto 3a: Zwei Akrobaten auf der Kante turnend

Aus dem 14. Jahrhundert, der Zeit der „Goldenen Horde“ der Tataren, stellt eine Schale aus der Tatarenhauptstadt der Insel Krim, Staryi Krym, mit beiger Glasur auf Tonerde eine festliche Szene mit einem überschlagenden Tänzer in einem Granatapfelgarten dar (Foto 3b, St. Petersburg/Russland, Eremitage Museum, Inventar-Nr. SOL 30).

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Foto 3b: Überschlagender Tatar (14 Jahrhundert)

Im Mittelalter wurde das Vorzeigen von schwierigen akrobatischen Übungen zunehmend von Leuten demonstriert, die sich professionell die Kunststücke methodisch aneigneten: den akrobatischen Gauklern. Diese Berufsakrobaten zeigten ihre Künste und ihr Können nicht nur auf Jahrmärkten, sondern auch an Königshöfen. Ein solcher war Archange Tuccaro, geboren 1536 in den Abruzzen Italiens. Als königlicher Hofspringer am Hofe Heinrichs IV. von Frankreich verfasste er in Paris 1599 das außergewöhnliche und erste schriftlich formulierte, sowie mit 88 Holzschnitten illustrierte Methodikbuch der Welt zum Bodenturnen mit dem Titel: Trois dialogues de l’exercise de sauter et voltiger en l’air.

Mit dem Buch Drei Gespräche über die Kunst des Luftspringens legte Archange Tuccaro ein dreibändiges, 400 Seiten umfassendes Werk vor. Ausführlich in Text und Bild beschreibt er seine Lehrweise zu Sprüngen, freien Überschlägen (Salti) am Boden, am Tisch und Sprung- und „Sturmbrett“. Die Abbildungen sind lehrhaft mit Buchstaben und Pfeilen der Rotationsrichtungen versehen. Bewegungsteilphasen werden herausgestellt und methodisch über verschiedene Gerätehilfen zu Kunststücken erarbeitet. Für Tuccaro dürfen erst Jugendliche an die Salti herangeführt werden. Er schreibt jedoch, dass frühzeitig mit der Ausbildung begonnen werden soll. Für die Sieben- bis Achtjährigen verlangt er, zunächst Vorübungen zu machen (Abb. 3a/b, Tuccaro, 1599/1987, S. 62/63).

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Abb. 3a: Brücke, 3b: Überschlagender Tatar (14.Jh)

Die vor fast 500 Jahren in seinem Buch behandelten turnerischen Fertigkeiten sind die gleichen Bodenturnelemente, wie wir sie im heutigen Gerätturnen finden: Rolle, Handstand und Rad, verschiedenste Handstützüberschläge, freie (Salti-)Überschläge vorwärts, rückwärts (auch Auerbach-Salto!) und seitwärts, Hecht- und Schraubensalti (Abb. 4) Das „Brettspringen“ wird als „Trampellin“ bezeichnet.

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Abb. 4: Schraubensalto

Die wohl beiden bekanntesten Abbildungen von Tuccaro zeigen den Sprung vom gepolsterten Sprungbrett über einen Partner (Abb. 6e) und vom schrägen Absprungbrett über 10 reifenhaltende Männer mit gestreckter Flugphase (Abb. 5) und verzögertem Anhocken zum Salto vorwärts gehockt aus dem letzten Reifen heraus zur Landung (Abb. 5).

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Abb. 5: Sprung über 10 reifenhaltende Männer

Beeindruckend sind seine methodischen Vorschläge, die in Abb. 6a-e1 zum Turnen des Saltos vorwärts – aus dem Anlauf oder aus dem Stand von einer Erhöhung (was im vorliegenden Buch in Bezug zum Abgang vom Schwebebalken gesetzt werden könnte) – zum Ausdruck kommt. Exemplarisch hierzu aus seinem Buch von 1599 ein Auszug der Beschreibung zur ersten Abbildung der Lernschrittreihe (Abb. 6a):

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Abb. 6a-e: Lernschrittreihe zum Salto vorwärts

„Le faut en arriere retourné esleué sur les deux tresteaux.

Il faut mettre sur le grand tresteau un autre petit tresteau d’un pied & demy de hauteur, d’un pied de largeur, & de deux pieds de longueur, qui sera fort legier, à ce que plus aisément on le puisse leur, & sera tenue par les pieds de deux personnes qui seront droid, dont l’un sera à l’autre un bout, & l’autre à bout. Et le grand tresteau sur lequel on met le petit, doit estre de largeur un bon pied quatre doigts, & de hauteur trois bons pieds, que deux hommes assis ayants l’une & l’autre jambe au trauers du tresteau, tiendront par les pieds, & puis apres nostre jeune homme au dessus du petite tresteau, & auant que d’esleuer le faut se monstrera droid en ceste forte …“ (Tuccaro, 1599/1987, S. 127)

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Abb. 7a/b: Wandsalto

Als Erhöhung und Absprunghilfe verwendet er auch ein an die Wand gelehntes Brett, unter anderem für den Salto rückwärts. Der Wandsalto, wie er auch mit einer Schrägen im Parkour geübt wird, wurde schon vor über 400 Jahren mit Gerätehilfen und Partnerunterstützung geübt (Abb. 7a/b, Tuccaro, 1599/1987, S. 148).

Die einzige deutsche Übersetzung liegt nur – handgeschrieben (!) – von H. F. Maßmann von 18902 vor und ist für die heutigen Leser leider kaum zu entziffern. Archange Tuccaro starb fast 80-jährig.

100 Jahre nach dem Erscheinen von Tuccaros Bodenturnbuch beschreibt Weigel 1698 in seinem Kupferstich zum „Beruf“ „Der Springer“ (Abb. 83) (Buch, S. 21) das Vorzeigen von Kunststücken, wie sie schon Tuccaro lehrte, als „Eitelkeit“ und leitet hiervon sogar eine „Lebensweisheit“ ab:

„Der Grund, auf dem so groß will scheine, der Lauffe in dem Vorzugs=Streit, ist lächerliche Eitelkeit, die wanckt, wann wir zu stehen meinen: Dann muß die Höh im Fallen messen, wer andern auff dem Kopff gesessen.“

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Abb. 8: „Der Springer“

Die Wettkampfturner entdeckten erst im vorletzten Jahrhundert – nach jahrzehntelang geturnten gymnastischen „Freiübungen“ – das Fliegen, Drehen und Überschlagen eines akrobatischen Bodenturnens. So erregte in München 1923 Martin Gebhardt von der Eintracht Frankfurt großes Aufsehen, als er einen Flick-Flack zeigte. Erst 1964 zeigte als erste Turnerin Erika Zuchold bei einem Wettkampf einen Flick-Flack, einen gesprungenen Handstützüberschlag rückwärts auf dem Schwebebalken. Der Begriff entstand übrigens nach einem französisch lautmalenden Geräusch, das nach „Flic-Flac“ klang und den Hände-, dann Füße-Boden-Kontakt akustisch darstellten sollte.

1939 wurde in Dänemark mit einer Holzgitterkonstruktion erstmals ein federndes „Gerät“ Boden geschaffen. 1951 stellte dann Reuther mit seinem Patent „Doppelschwingboden“ eine Erfindung vor, die mithilfe des Herstellers Spieth revolutionierende Bedeutung erlangen sollte. 1964 feierte bei den Olympischen Spielen in Tokio dieser Boden als 12 x 12-m-Fläche seine internationale Premiere. Das Schwierigkeitsniveau der Bodenturnelemente erhöhte sich dadurch und damit trug diese Bodenturnfläche wesentlich zur Entwicklung der akrobatischen Elemente des Bodenturnens bei (vgl. Götze & Uhr, 1994, S. 54f.).

Heute erobern Airtracks® (Foto 4) die Turnhallen, eine in der Regel 10-15 m lange, 20-30 cm hohe und fast 3 m breite, luftgefüllte Mattenbahn. Mit dieser Matte als Absprunghilfe, federnde Mattenbahn und abfedernde Landefläche haben alle Spaß am Überschlagen und Fliegen (Gerling, Becker & Mönnikes, 2014).

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Foto 4: Airtrack®

Prof. J. Dieckert, langjähriger Präsident des Deutschen Turner-Bundes und emeritierter Professor der Universität Oldenburg, verbrachte Monate bei den Canela-Indianern, einem von der Zivilisation weitab im Urwald lebenden Jäger- und Sammlervolk. Er beobachtete, wie die Kinder auf den Händen liefen (Foto 5a), Räder schlugen und am seichten Flussufer – aus Lust am Spiel, mit dem Körper über gespannte Schnüre und Stäbe sprangen – Salti (Fotos 5b/c), Temposalti (Fotos 5d/e) und Flick-Flacks (Fotos 5f-h) zeigten, ohne schulische oder institutionelle Einflüsse, ohne Trainer, Bücher oder sonstige moderne Einflüsse (vgl. Funke-Wienecke 1998, 29).

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Foto 5a: Canela-Indianer im brasilianischen Urwald im Handstand

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Foto 5b: Salto vorwärts ins flache Wasser über ein Seil

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Foto 5c: Freier Überschlag rückwärts über einen befestigten Stab

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Fotos 5d, e: Freie Überschläge rückwärts (Temposalti) im Fluss

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Sitzphase

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Streckphase

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Flugphase

Fotos 5f-h: Flick-Flack eines Canela-Indianerjungen

Vor allem am Boden erfahren nicht nur Kinder und Jugendliche im Turnen immer neue Bewegungserlebnisse. Diese Erfahrungen konnte ich bei sehr vielen erwachsenen „Nichtturnerinnen und -turnern“ auf Workshops, Lehrgängen und Fortbildungsveranstaltungen sowie bei Studierenden, die mit geringen turnerischen Vorkenntnissen aus ihrer Schulzeit in das Sportstudium einstiegen, in den letzten Jahren machen.

3Wettkämpfe und Pflichtübungen im Deutschen Turner-Bund

Der Deutsche Turner-Bund (DTB) gibt seit 1954 (Abb. 9) für seine Wettkämpfe Aufgabenbücher heraus. Mit der Überarbeitung des Wettkampf- und Wertungssystems und der Pflichtübungen (P) mit ihren Schwierigkeitsstufen 1-9 (kurz als „P 1-P 9“ bezeichnet) gilt seit 2015 für das allgemeine Gerätturnen der Turnerinnen und Turner der 20.000 DTB-Vereine ein nun eigenes Aufgabenbuch (Abb. 10), das sich von dem der Spitzenturnerinnen und -turner wieder unterscheidet.

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Abb. 9: Das Aufgabenbuch von 1954

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Abb. 10: Das Aufgabenbuch 2015

Pflicht- und Kürübungen

Die einfachste Schwierigkeitsstufe ist die „P 1“, die schwierigste die „P 9“. Behandelt das Basisbuch Gerätturnen (Gerling, 2015) die Turnelemente bis zu den Pflichtübungen „P 5“, so setzt der vorliegende Band bei den Turnfertigkeiten der „P 6“ an und behandelt Elemente am Boden und Schwebebalken bis zur Schwierigkeitsstufe 9 für die allgemeinen und leistungsorientierten Turnerinnen und Turner aller Altersstufen. Das bedeutet, dass P-Übungen als solche nicht bestimmten Altersstufen zugeschrieben werden, wie das im kaderorientierten Leistungsturnen der Fall ist. Dort werden die Übungen als „AK“ für Altersklasse plus der Altersangabe genau Jahrgängen zugewiesen. Zum Beispiel ist eine Pflichtübung AK 10 nur für die 10-Jährigen gültig. Diese AK-Übungen richten sich streng nach internationalen Vorgaben. Im allgemeinen Gerätturnen kann der Veranstalter für bestimmte Wettkämpfe den Pflichtübungen Altersstufen zuweisen. Für Wettkämpfe auf nationaler Ebene sind diese Zuordnungen im Aufgabenbuch in einer Tabelle nachzulesen (DTB 2015a, S. 9f.). Bei den „Wahlwettkämpfen“, einer besonderen Angebotsform für jedermann auf Landesturnfesten und Deutschen Turnfesten, können zum Beispiel 16- bis 29-Jährige sich ihre Schwierigkeitsstufe pro Gerät bzw. Disziplin aus den Schwierigkeitsstufen P 5 bis P 9 selbst auswählen und sich damit ihre Wettkampfanforderungen zusammenstellen.

Um den allgemeinen Gerätturnern im Leistungsbereich auch einen Kürwettkampf vergleichbar zu ermöglichen, werden im Aufgabenbuch vier Leistungsklassen (LK 1-4) mit fünf Kompositionsanforderungen (KA) als modifizierte Kürausschreibung (Kür modifiziert = KM) angeboten. Diese gelten zum Beispiel für die deutschen Seniorenmeisterschaften (ab 30 Jahre) oder auch für die deutschen Mehrkampfmeisterschaften, einem gemischten Wettkampf, bestehend aus Turn- und Leichtathletik- und teilweise auch Schwimmdisziplinen. Die im vorliegenden Buch behandelten Turnelemente gelten für alle Wettkampfbereiche des allgemeinen Turnens.

Bewertung von P-Übungen im DTB

Das Wertungssystem hat sich für die Pflichtübungen der P-1- bis P-9-Übungen ebenfalls geändert. Es gibt zwei Bewertungsbereiche, die als Endnote die Turnwertung ergeben: Der erste Bereich gibt die Wertigkeit einer Übung durch die Elemente einer Pflichtübung vor. Eine „P 8“ hat eine Wertigkeit von acht Punkten. Im Aufgabenbuch ist nachzulesen, wann wie viel von dieser Wertigkeit einer Ausführung abgezogen werden kann. Dies wird als D-Note bezeichnet.

Dazu gibt es grundsätzlich für die Ausführung maximal 10 Punkte dazu, wenn keine Technik- oder Haltungsfehler gezeigt werden. Dies wird als E-Note bezeichnet. Eine perfekt geturnte P 9 kann somit maximal 19 Punkte erhalten (vgl. DTB, 2015a, S. 23ff.).

Der Leistungssport mit seinen Kadersichtungen, nationalen und internationalen Wettkämpfen, richtet sein ganzes Training nach den Internationalen Wertungsvorschriften aus, dem „Code de Pointage“ (FIG, 2017). Athletische und technische Normen wie auch Komplexübungen sind Vorgaben, die bei Leistungsturnern und -turnerinnen im Nachwuchsbereich bei Wettkämpfen bewertet werden.

Turnen als lebenslange Wettkampfsportart

Turnen kann eine lebensbegleitende Sportart sein. Die deutschen Seniorenmeisterschaften beweisen dies jedes Jahr. Die beiden 80-jährigen Turnerinnen und mehrfachen deutschen Meisterinnen Rosi (Roswitha) Wahl und Renate Recknagel (Foto 6) treten mit ihren Schwebebalkenübungen immer noch als Synchronturnerinnen in Fernsehshows wie „Show der unglaublichen Helden“ (ARD/Das Erste) auf Turnbänken auf. Beide Freundinnen zeigten dabei perfekt ihre Körperspannung und ihren Spagat(!). Sie turnen schon seit Kindesbeinen und waren natürlich auch auf dem letzten Turnfest 2017 in Berlin aktiv dabei.

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Foto: privat

Foto 6: Rosi Wahl und Renate Recknagel

Die vielfache deutsche Meisterin und älteste Wettkampfturnerin der Welt, Johanna Quaas (Foto 7) (Jahrgang 1926), bereist mit über 90 Jahren die Welt, um auf Schauturnveranstaltungen mit ihrer Bodenübung auf Musik, mit perfekt geturnten Rädern, Handstandabrollen, Rolle rückwärts und gymnastischen Sprüngen, aufzutreten. Zum 90. Geburtstag schenkte sie sich einen Fallschirmsprung mit dem Turnweltmeister Eberhard Gienger. Turnen hält fit!

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Foto 7: Johanna Quaas und Ilona E. Gerling

4Fertigkeitsorientiertes Turnen in der Schule?

„Bezüglich der Sinnlichkeit des Sich-Bewegens lässt sich … feststellen, dass hier Erlebnisse besonderer Art in Bezug auf sich selbst gemacht werden können. Man spürt das Drehen, Fliegen, Springen, Schaukeln, Rollen, Sich-Überschlagen“ (Funke-Wieneke, 1998, S. 20).

Die Richtlinien aller Bundesländer haben aus gutem Grund das Turnen am Boden und an den Geräten verpflichtend in sich verankert. Für die Umsetzung von pädagogischen Perspektiven (nach Kurz, 1997) bietet der Inhalts- bzw. Sportbereich Turnen wichtige Erfahrungen. Die Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe I der Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen schreiben hierzu Folgendes:

„In diesem Inhaltsbereich eröffnen sich den Schülerinnen und Schülern vielfältige, zum Teil außerhalb der Schule kaum gegebene Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Hierzu gehören ungewöhnliche Körperlagen im Raum, z. B. beim … Handstehen, Rollen und Überschlagen, das Spielen mit der Schwerkraft und dem Gleichgewicht, z. B. beim Balancieren oder bei der Akrobatik, das Erfahren der Höhe, … sowie des Fliegens … Somit bietet das Sich-Bewegen an Geräten für Schülerinnen und Schüler besondere Anreize, Bewegungsgefühl und Bewegungserlebnisse zu entdecken und zu erweitern, Risiken abzuwägen, Angst zu äußern und zu bewältigen, sowie bewegungstechnisches Können zu entwickeln und Körperbeherrschung zu erfahren und dabei auch gemeinsam zu handeln (z. B. miteinander turnen, helfen, sichern, korrigieren)“ (MSJK NRW, 2011, S. 36).

Überschlag, Flick-Flack, Salto, alles Elemente, die heute nicht nur im Vereinssport zu den Basiselementen geübter Turner zählen. Auch im Schulbereich haben sie ihren Platz gefunden. Anspruchsvolle Turnfertigkeiten setzen fleißiges Üben voraus, bevor sie als Leistung erlebt werden. Das „beharrliche“ Üben scheint in der Schule im schulischen „Individualsport“ immer mehr zu verschwinden. Liegt es an den Schülern? Wenn man sie beim Skateboardfahren oder bei Parkour beobachtet, wie sie tage- und wochenlang an einem Kunststück feilen, dann sieht man, dass es nicht an der grundsätzlichen Bereitschaft der Heranwachsenden liegt, sich anspruchsvolleres körperliches Können zu erarbeiten.

Turnen und jugendliche Bewegungskulturen

(MSW NRW, 2014, S. 6f.).