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Gaston Leroux

Das Parfüm der Dame in Schwarz

Gaston Leroux

Das Parfüm der Dame in Schwarz

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Anne-Marie Nauheimer
Fußnoten und Übersetzung: Jürgen Schulze
1. Auflage, ISBN 978-3-962814-96-0

null-papier.de/622

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel – Ein An­fang wie ein Ende

Zwei­tes Ka­pi­tel – Das Par­füm der Dame in Schwarz

Drit­tes Ka­pi­tel – Im Ha­fen von Mar­seil­le

Vier­tes Ka­pi­tel – Pa­nik im Schlaf­wa­gen

Fünf­tes Ka­pi­tel – Der Hen­ker des Mee­res

Sechs­tes Ka­pi­tel – Ge­heim­nis­vol­le Vor­be­rei­tun­gen im Château d’Her­cu­le

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Die un­er­war­te­te An­kunft des »al­ten Bob«

Ach­tes Ka­pi­tel – Der Tag des elf­ten April

Neun­tes Ka­pi­tel – Der An­griff auf den vier­e­cki­gen Turm

Zehn­tes Ka­pi­tel – Der ge­heim­nis­vol­le Tote

Elf­tes Ka­pi­tel – Der Mann im Wand­schrank

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Der Kar­tof­fel­sack und ein Seuf­zer in der Nacht

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Die Ent­de­ckung Aus­tra­li­ens und das Aben­teu­er des al­ten Bob

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Kö­nig der Schre­cken

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Über­zäh­li­ge

Nach­wort

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

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Erstes Kapitel

Ein Anfang wie ein Ende

Am 6. April fand in Pa­ris in der Kir­che Saint Ni­co­las du Car­don­net die Trau­ung von Ro­bert Dar­z­ac und Mat­hil­de Stan­ger­son in al­ler Stil­le statt. Es wa­ren kaum zwei Jah­re ver­flos­sen seit den Er­eig­nis­sen, die ich in dem Bu­che: »Das ge­heim­nis­vol­le Zim­mer« er­zählt habe. Um die Trau­ungs­fei­er­lich­kei­ten ge­heim zu hal­ten, hat­te man eine ab­ge­le­ge­ne Kir­che ge­wählt und nur ein paar Freun­de von Ro­bert Dar­z­ac und Pro­fes­sor Stan­ger­son, auf de­ren Ver­schwie­gen­heit man sich ver­las­sen konn­te, ein­ge­la­den.

Als ich die Kir­che be­trat und die An­we­sen­den mus­ter­te, wun­der­te ich mich, dass Jo­seph Rou­le­ta­bil­le noch nicht da war. Aber er muss­te je­den Au­gen­blick kom­men.

In­zwi­schen nä­her­te ich mich den bei­den Rechts­an­wäl­ten – Ro­bert und Hes­se –, die lei­se ihre Erin­ne­run­gen über die merk­wür­di­gen Be­ge­ben­hei­ten bei dem Ver­sail­ler Pro­zess da­mals aus­tausch­ten, die die be­vor­ste­hen­de Fei­er­lich­keit in ih­nen wie­der wachrief. Rechts­an­walt Ro­bert mein­te, dass selbst der güns­ti­ge Aus­gang des Ver­sail­ler Pro­zes­ses ihn noch nicht über das Schick­sal von Ro­bert Dar­z­ac und Mat­hil­de Stan­ger­son be­ru­higt habe. In Si­cher­heit hielt er sie erst seit der of­fi­zi­ell be­stä­tig­ten Nach­richt von dem Tode ih­res furcht­ba­ren Fein­des Frédéric Lar­san.

Ei­ni­ge Mo­na­te nach der Frei­spre­chung Dar­z­acs näm­lich hat­ten die Zei­tun­gen den Un­ter­gang der »Dor­do­gne«, des Post­damp­fers der Li­nie Ha­vre–New York ge­mel­det. Ein Drei­mas­ter war nachts bei der Neu­fund­land­bank im Ne­bel auf die »Dor­do­gne« ge­sto­ßen und mit sei­nem Vor­der­teil in den Ma­schi­nen­raum des Post­damp­fers ge­drun­gen. Wäh­rend der ken­tern­de Drei­mas­ter ab­ge­trie­ben wur­de, war der Post­damp­fer bin­nen zehn Mi­nu­ten ge­sun­ken. Mit knap­per Not hat­ten etwa drei­ßig Pas­sa­gie­re, de­ren Ka­bi­nen sich auf dem Deck be­fan­den, in die Ret­tungs­boo­te sprin­gen kön­nen. Sie wur­den von ei­nem Fi­scher­boot auf­ge­nom­men, das in St. Ja­cot ein­lief. In den nächs­ten Ta­gen warf der Ozean Hun­der­te von Lei­chen ans Land. Un­ter ih­nen be­fand sich Lar­san. Die Do­ku­men­te, die man in den Klei­dern des To­ten fand, be­wie­sen ein­wand­frei, dass Lar­san tot war.

Mat­hil­de Stan­ger­son war also end­lich be­freit von die­sem aben­teu­er­li­chen Gat­ten, den sie als ganz jun­ges, un­er­fah­re­nes, leicht­gläu­bi­ges Mäd­chen un­ter dem Schut­ze der weit­her­zi­gen ame­ri­ka­ni­schen Ge­set­ze heim­lich ge­hei­ra­tet hat­te. Die­ser ge­fähr­li­che Ver­bre­cher, des­sen wah­rer Name Ball­mey­er in den Ge­richts­sta­tis­ti­ken eine be­rüch­tig­te Rol­le spiel­te, und der sie un­ter dem Na­men Jean Rous­sel ge­hei­ra­tet hat­te, konn­te nun nicht mehr zwi­schen Mat­hil­de und den Mann tre­ten, den sie seit vie­len Jah­ren lieb­te.

In mei­nem be­reits ge­nann­ten Buch habe ich alle Ein­zel­hei­ten die­ses Pro­zes­ses er­zählt. Er war wohl ei­ner der ei­gen­ar­tigs­ten in der Ge­schich­te des Schwur­ge­rich­tes, und er hät­te den tra­gischs­ten Aus­gang für die Fa­mi­lie neh­men kön­nen ohne das Ein­grei­fen von Jo­seph Rou­le­ta­bil­le. Die­ser klei­ne acht­zehn­jäh­ri­ge Jour­na­list war der ein­zi­ge, der hin­ter dem be­rühm­ten Be­am­ten der Si­cher­heits­po­li­zei, Frédéric Lar­san, die Züge von Ball­mey­er ent­deck­te.

Der plötz­li­che Tod die­ses Elen­den schi­en nun aber all den trau­ri­gen Er­eig­nis­sen ein Ende ge­macht zu ha­ben, und er hat­te auch die schnel­le Ge­sun­dung von Mat­hil­de Stan­ger­son zur Fol­ge, de­ren Geis­tes­zu­stand durch die Schre­cken schwer er­schüt­tert ge­we­sen war.

»Se­hen Sie, lie­ber Freund«, sag­te Rechts­an­walt Ro­bert zu sei­nem Kol­le­gen Hes­se, des­sen Bli­cke un­ru­hig in der Kir­che um­her­schweif­ten, »se­hen Sie, man muss im­mer op­ti­mis­tisch sein. Al­les wird wie­der gut – selbst das Un­glück von Fräu­lein Stan­ger­son. Aber warum se­hen Sie sich denn die gan­ze Zeit so um? Wen su­chen Sie? Er­war­ten Sie je­man­den?«

»Ja«, er­wi­der­te Hes­se, »ja. Ich er­war­te Frédéric Lar­san!«

Ro­bert muss­te trotz der Wür­de des Or­tes la­chen. Aber mir war durch­aus nicht zum La­chen zu­mu­te, denn ich konn­te Hes­ses Ge­fühl nur all­zu gut nach­emp­fin­den. Al­ler­dings war ich weit da­von ent­fernt, all das Schreck­li­che vor­aus­zu­se­hen, das uns be­droh­te, aber wenn ich mich in die da­ma­li­ge Si­tua­ti­on zu­rück­ver­set­ze, da ich noch nichts von all dem wuss­te, was ich seit­her er­lebt habe, so ist mir noch die­ses ei­gen­ar­ti­ge Ge­fühl ge­gen­wär­tig, das mich da­mals bei der Er­wäh­nung Lars­ans er­griff.

»Nun, nun, Sain­clair«, flüs­ter­te Ro­bert mir zu, der je­den­falls eine un­will­kür­li­che Be­we­gung von mir auf­ge­fan­gen hat­te. »Sie se­hen doch, dass Hes­se Spaß macht.«

»Wer weiß«, sag­te ich.

Und wie vor­her Hes­se, späh­te auch ich jetzt auf­merk­sam um­her. Lar­san wur­de, als er sich noch Ball­mey­er nann­te, so oft tot­ge­sagt – wer weiß, ob er nicht als Lar­san noch ein­mal auf­er­steht?

»Ah, da ist Rou­le­ta­bil­le«, sag­te Ro­bert, »ich wet­te, dass er sich nicht sol­che Ge­dan­ken macht wie Sie.«

»Aber er sieht sehr bleich aus«, be­merk­te Hes­se.

Der jun­ge Jour­na­list nä­her­te sich uns. Zer­streut drück­te er uns die Hand.

»Gu­ten Tag, Sain­clair! Gu­ten Tag, mei­ne Her­ren! Ich kom­me doch nicht zu spät?«

Mir schi­en, als ob sei­ne Stim­me zit­ter­te. Er ver­ließ uns so­fort, und ich sah, wie er in ei­nem Bet­stuhl nie­der­knie­te. Er hielt sein Ge­sicht, das in der Tat au­ßer­or­dent­lich bleich war, in den Hän­den ver­bor­gen und schi­en zu be­ten. Dann sah ich, wie er sich wie­der er­hob und sich in den Schat­ten ei­nes Pfei­lers zu­rück­zog. Ich folg­te ihm nicht, denn ich be­merk­te, dass er al­lein sein woll­te.

In die­sem Au­gen­blick be­trat Mat­hil­de Stan­ger­son am Arm ih­res Va­ters die Kir­che. Ro­bert Dar­z­ac schritt hin­ter ihr. Wie ver­än­dert sie wa­ren! Das Dra­ma von Glan­dier hat­te sie mit all­zu schmerz­haf­tem Griff ge­packt. Wes­sen ich mich ge­nau ent­sin­ne, das ist der selt­sa­me Aus­druck, den ihre Au­gen an­nah­men, als sie den nicht zwi­schen uns sah, den sie such­te. Sie schi­en erst ihre Ruhe und Selbst­be­herr­schung wie­der­zu­fin­den, als sie end­lich Rou­le­ta­bil­le hin­ter ei­nem Pfei­ler ent­deck­te. Sie lä­chel­te ihm zu, dann auch uns.

»Sie hat im­mer noch die­sen irr­sin­ni­gen Blick!«

Ich wand­te mich rasch um. Wer hat­te die­se ab­scheu­li­chen Wor­te ge­sagt? Es war Bri­gnol­les, ein weit­läu­fi­ger Ver­wand­ter Dar­z­acs, ein un­sym­pa­thi­scher Bur­sche, der durch die Für­spra­che Ro­bert Dar­z­acs die Stel­le sei­nes As­sis­ten­ten in dem La­bo­ra­to­ri­um der Sor­bonne er­hal­ten hat­te.

Au­ßer ihm kann­ten wir kei­ne Ver­wand­ten von Ro­bert Dar­z­ac, des­sen Fa­mi­lie aus dem Sü­den stamm­te. Er hat­te schon früh sei­ne El­tern ver­lo­ren, be­saß kei­ne Ge­schwis­ter und hat­te kei­ner­lei Ver­bin­dung mehr mit sei­ner Hei­mat.

Vor ei­nem Jahr etwa hat­te er sei­nen Schü­lern Bri­gnol­les vor­ge­stellt. Er war ge­ra­de­wegs aus Aix ge­kom­men, wo er eine Stel­le als La­bo­ra­to­ri­um­sas­sis­tent in­ne­ge­habt hat­te, aber we­gen ir­gend­ei­nes Dis­zi­pli­nar­ver­ge­hens plötz­lich auf die Stra­ße ge­setzt wor­den war. Da­mals hat­te er sich recht­zei­tig sei­ner Ver­wandt­schaft mit Dar­z­ac er­in­nert. Er war di­rekt nach Pa­ris ge­fah­ren und hat­te es so gut ver­stan­den, das Herz des jun­gen Pro­fes­sors zu rüh­ren und sein Mit­leid zu er­re­gen, dass die­ser sei­ne An­stel­lung durch­setz­te.

Zu je­ner Zeit stand es mit der Ge­sund­heit Dar­z­acs nicht ge­ra­de güns­tig. Die Rück­wir­kun­gen der furcht­ba­ren Auf­re­gun­gen des Pro­zes­ses mach­ten sich gel­tend, aber man hoff­te, dass die von den Ärz­ten in Aus­sicht ge­stell­te Hei­lung Mat­hil­des und die bal­di­ge Hei­rat einen gu­ten Ein­fluss auf sei­nen Zu­stand ha­ben wür­den. Wir muss­ten je­doch lei­der im Ge­gen­teil fest­stel­len, dass seit der An­kunft Bri­gnol­les, von des­sen Hil­fe Dar­z­ac doch eine Ent­las­tung er­hofft hat­te, sei­ne Schwä­che sich noch ver­mehr­te.

Über­haupt schi­en ihm Bri­gnol­les kein Glück zu brin­gen. Zwei­mal hin­ter­ein­an­der gab es beim Ex­pe­ri­men­tie­ren Un­fäl­le. Das ers­te Mal platz­te eine Geiß­ler­sche Röh­re, de­ren Sp­lit­ter Dar­z­ac ernst­lich hät­ten ver­let­zen kön­nen, statt des­sen aber Bri­gnol­les an den Hän­den Ver­wun­dun­gen bei­brach­ten; das nächs­te Mal ex­plo­dier­te eine klei­ne Spi­ri­tus­lam­pe, über die sich Dar­z­ac ge­ra­de ge­beugt hat­te. Die Flam­men hät­ten ihm das Ge­sicht ver­bren­nen kön­nen, glück­li­cher­wei­se ver­seng­ten sie ihm nur die Wim­pern. Es stell­ten sich da­durch aber Seh­stö­run­gen ein, so­dass sei­ne Au­gen das Ta­ges­licht nur mehr schlecht er­tru­gen.

Seit den rät­sel­haf­ten Er­eig­nis­sen von Glan­dier be­fand ich mich in ei­nem Geis­tes­zu­stand, der mich hin­ter den ein­fachs­ten Be­ge­ben­hei­ten et­was Über­na­tür­li­ches ver­mu­ten ließ. Der letz­te Un­fall ge­sch­ah in mei­ner Ge­gen­wart, als ich ge­ra­de Dar­z­ac zur Uni­ver­si­tät ab­ho­len woll­te. Ich brach­te un­sern Freund zu ei­nem Arzt, nach­dem ich Bri­gnol­les’ Beglei­tung, die er uns an­bot, kurz zu­rück­ge­wie­sen hat­te.

Un­ter­wegs frag­te mich Dar­z­ac, warum ich den ar­men Bri­gnol­les so schlecht be­han­delt hät­te. Ich sag­te ihm, dass ich den Bur­schen ers­tens nicht lei­den kön­ne, weil sei­ne Ma­nie­ren mir nicht ge­fie­len, und zwei­tens, weil er mei­ner An­sicht nach an dem Un­fall schuld sei. Dar­z­ac woll­te mei­ne Be­weis­grün­de da­für wis­sen, und als ich ihm kei­ne ge­ben konn­te, lach­te er mich aus. Aber er lach­te nicht mehr, als der Dok­tor ihm sag­te, er hät­te leicht sein Au­gen­licht ein­bü­ßen kön­nen, und es sei ein Wun­der, dass er so gut da­von­ge­kom­men sei.

Die Un­ru­he, die Bri­gnol­les in mir er­weck­te, war si­cher lä­cher­lich, denn die Un­fäl­le wie­der­hol­ten sich nicht. Aber den­noch – ich habe nun ein­mal eine Vor­ein­ge­nom­men­heit ge­gen ihn, und ich schrieb es ihm al­lein zu, dass die Ge­sund­heit Dar­z­acs sich nicht bes­sern woll­te. Zu Be­ginn des Win­ters hus­te­te Dar­z­ac so stark, dass wir alle ihn ba­ten, Ur­laub zu neh­men, um sich im Sü­den gründ­lich zu er­ho­len. Die Ärz­te rie­ten ihm zu ei­nem Auf­ent­halt in San Remo. Er füg­te sich schließ­lich, und acht Tage nach sei­ner Abrei­se schrieb er uns, dass er sich schon viel woh­ler füh­le.

Er blieb vier Mo­na­te dort und kam fast völ­lig ge­heilt zu­rück. Nur sei­ne Au­gen wa­ren noch schwach und be­durf­ten größ­ter Scho­nung. Rou­le­ta­bil­le und ich wa­ren über­ein­ge­kom­men, Bri­gnol­les scharf zu be­ob­ach­ten, und wa­ren da­her sehr froh, als wir hör­ten, dass die Hoch­zeit so­fort statt­fin­den soll­te, und Dar­z­ac mit sei­ner Frau eine große Rei­se ma­chen wür­de, die ihn lan­ge Zeit fern­hal­ten wür­de von Pa­ris und – von Bri­gnol­les.

Und nun war Dar­z­ac end­lich am Ziel! Aber erst hier in der Kir­che hat­ten wir zum ers­ten Male einen rich­ti­gen Ein­druck von sei­nem Glück, denn in der kur­z­en Zeit, die zwi­schen sei­ner Rück­kehr und sei­ner Hoch­zeit lag, hat­ten wir ihn kaum ge­se­hen. Er schi­en wie um­ge­wan­delt. Mit be­rech­tig­tem Stolz trug er sei­ne leicht ge­beug­te Ge­stalt hö­her auf­ge­rich­tet, es war, als ob das Glück ihn grö­ßer und schö­ner er­schei­nen ließ.

»Gott sei Dank, dass wir so­weit sind«, seufz­te Rechts­an­walt Hes­se, als wir die Sa­kris­tei durch­schrit­ten, »ich atme auf.«

»Wa­rum denn?« frag­te Rechts­an­walt Ro­bert.

Und Hes­se ge­stand ihm, dass er bis zur letz­ten Mi­nu­te ge­fürch­tet hät­te, dass der Ver­stor­be­ne doch noch auf­tau­chen wür­de.

»Was wol­len Sie?« sag­te er zu sei­nem Kol­le­gen. »Ich kann mir nun ein­mal nicht vor­stel­len, dass Frédéric Lar­san wirk­lich tot ist.«

Wir wa­ren alle – etwa zehn Per­so­nen – jetzt in der Sa­kris­tei ver­sam­melt. Wäh­rend die Zeu­gen den Trau­akt un­ter­schrie­ben, gra­tu­lier­ten die an­de­ren den Neu­ver­mähl­ten. Die Sa­kris­tei war noch dunk­ler als die Kir­che selbst, und ich glaub­te zu­erst, die­se Dun­kel­heit sei schuld, dass ich Rou­le­ta­bil­le nir­gends sah. Aber der Raum war zu klein, als dass ich ihn hät­te über­se­hen kön­nen. Da Mat­hil­de schon zwei­mal nach ihm ge­fragt hat­te, bat mich Ro­bert Dar­z­ac, ihn zu su­chen. Ich ging, aber ich kehr­te, ohne ihn ge­fun­den zu ha­ben, zur Sa­kris­tei zu­rück.

»Das ist son­der­bar«, mein­te Dar­z­ac, »und un­er­klär­lich. Sind Sie si­cher, sich über­all um­ge­se­hen zu ha­ben? Er sitzt viel­leicht in ir­gend­ei­nem Win­kel und träumt.«

»Ich habe ihn über­all ge­sucht und so­gar ge­ru­fen«, er­wi­der­te ich.

Aber Dar­z­ac gab sich nicht mit mei­ner Aus­kunft zu­frie­den. Er be­gab sich selbst auf die Su­che und hat­te mehr Glück als ich. Von ei­nem an der Kir­chen­tür ste­hen­den Bett­ler er­fuhr er, dass ein jun­ger Mann, der nie­mand an­ders als Rou­le­ta­bil­le sein konn­te, vor ei­ni­gen Mi­nu­ten die Kir­che ver­las­sen hät­te und in ei­ner Drosch­ke fort­ge­fah­ren sei. Sei­ne jun­ge Frau war über die­se Nach­richt un­be­schreib­lich nie­der­ge­schla­gen.

Sie rief mich zu sich: »Sie wis­sen doch, mein lie­ber Herr Sain­clair«, sag­te sie, »dass wir in zwei Stun­den vom Lyo­ner Bahn­hof ab­rei­sen. Su­chen Sie doch un­se­ren jun­gen Freund und brin­gen Sie ihn mir. Sa­gen Sie ihm, wie sehr mich sein son­der­ba­res We­sen be­un­ru­higt.«

»Ver­las­sen Sie sich auf mich«, sag­te ich. Und un­ver­züg­lich mach­te ich mich auf, Rou­le­ta­bil­le zu su­chen. Aber ich kam wie­der un­ver­rich­te­ter Sa­che auf den Bahn­hof. We­der in sei­ner Woh­nung noch in der Zei­tung, noch im Café, das er aus Be­rufs­grün­den um die­se Ta­ges­zeit zu be­su­chen pfleg­te, hat­te ich ihn ent­de­cken kön­nen. Nie­mand wuss­te mir Aus­kunft zu ge­ben, wo er zu fin­den sein könn­te.

Auf dem Bahn­steig traf ich zu­erst Dar­z­ac, der mit der Be­sor­gung des Ge­päcks und der Plät­ze be­schäf­tigt war, Pro­fes­sor Stan­ger­son, der ei­ni­ge Zeit in Nieu­ton bei sei­nem As­sis­ten­ten Ar­thur Ran­ce ver­brin­gen woll­te, soll­te bis Di­jon mit dem jun­gen Ehe­paar fah­ren. Die­ses be­ab­sich­tig­te dann, von dort aus al­lein sei­ne Rei­se über Cu­loz und den Mont Ce­nis fort­zu­set­zen.

Dar­z­ac war sehr be­trübt über mei­ne Nach­richt und bat mich, sie selbst sei­ner Frau zu über­brin­gen. Sie be­gann zu wei­nen, und als ich ihr trös­tend sag­te, Rou­le­ta­bil­le wür­de si­cher noch vor Ab­gang des Zu­ges ein­tref­fen, schüt­tel­te sie den Kopf:

»Nein, nein! Er kommt nicht mehr!«

Und sie stieg in ihr Ab­teil. –

Es wa­ren noch drei Mi­nu­ten bis zur Ab­fahrt des Zu­ges. Ob­wohl wir fast die Hoff­nung auf­ge­ge­ben hat­ten, dass Rou­le­ta­bil­le noch käme, späh­ten wir den­noch prü­fend den Bahn­steig ent­lang, ob nicht doch noch un­ter den her­bei­ei­len­den Nach­züg­lern das Ge­sicht un­se­res jun­gen Freun­des auf­tau­chen wür­de. Schon hör­te man das Knal­len zu­schla­gen­der Tü­ren, die kur­z­en Auf­for­de­run­gen der Bahn­hofs­be­am­ten: »Al­les ein­stei­gen«, das scharf pfei­fen­de Ab­fahrts­si­gnal, das Fau­chen der Lo­ko­mo­ti­ve … und der Zug setz­te sich in Be­we­gung.

Kein Rou­le­ta­bil­le hat­te sich se­hen las­sen. Wir wa­ren so be­trübt und zu­gleich so be­küm­mert, dass wir da­stan­den und Frau Dar­z­ac an­starr­ten, ohne dar­an zu den­ken, uns von ihr zu ver­ab­schie­den. Sie warf noch ein­mal einen lan­gen Blick auf den Bahn­steig, und als der Zug schnel­ler zu fah­ren be­gann und ihr jede Hoff­nung schwand, ih­ren jun­gen Freund vor der Abrei­se noch ein­mal zu se­hen, reich­te sie mir einen Brief durch das Fens­ter.

»Für ihn«, sag­te sie. »Le­ben Sie wohl, lie­ber Freund! Hof­fent­lich auf Wie­der­se­hen!« –

Als ich den Bahn­hof ver­ließ, fühl­te ich mich von ei­ner ei­gen­ar­ti­gen Trau­rig­keit be­fal­len, de­ren Ur­sa­che ich mir nicht recht er­klä­ren konn­te.

All die Lau­nen, Gril­len und Wun­der­lich­kei­ten Rou­le­ta­bil­les im Lau­fe die­ser zwei Jah­re ka­men mir in den Sinn, aber sie ga­ben mir kei­ner­lei Auf­klä­rung über sein ei­gen­ar­ti­ges Be­neh­men von heu­te. Wo steck­te Rou­le­ta­bil­le? Ich nahm den Weg nach sei­ner Woh­nung auf dem Bou­le­vard St. Mi­chel, in­dem ich mir sag­te, dass, wenn ich ihn nicht an­tref­fen wür­de, ich we­nigs­tens den Brief von Frau Dar­z­ac dort las­sen könn­te. Wie groß war aber mei­ne Ver­blüf­fung, als ich im Haus­flur mei­nen Die­ner sah, der mei­nen ei­ge­nen Kof­fer in der Hand trug.

Ich frag­te ihn, was dies zu be­deu­ten habe. Das wis­se er nicht, ant­wor­te­te er, ich müs­se Herrn Rou­le­ta­bil­le fra­gen. Nun stell­te sich her­aus, dass, wäh­rend ich Rou­le­ta­bil­le über­all ge­sucht hat­te – au­ßer na­tür­lich bei mir –, er in mei­ne Woh­nung ge­gan­gen war, sich dort von mei­nem Die­ner einen Kof­fer hat­te ge­ben las­sen, in den er al­les hin­ein­ge­packt hat­te, was ein an­stän­di­ger Mensch auf ei­ner vier- bis fünf­tä­gi­gen Rei­se braucht. Da­rauf hat­te er mei­nem Esel von Die­ner be­foh­len, dies Ge­päck in ei­ner Stun­de in sei­ne Woh­nung zu tra­gen – und da war er nun!

In ei­nem Sprung war ich in Rou­le­ta­bil­les Zim­mer und fand ihn da­mit be­schäf­tigt, sei­nen Kof­fer zu pa­cken. Vor der Been­di­gung die­ser Ar­beit war aus Rou­le­ta­bil­le nichts her­aus­zu­krie­gen, denn in den klei­nen Din­gen des täg­li­chen Le­bens war er un­ge­mein pe­dan­tisch, und trotz sei­ner be­schei­de­nen Ein­künf­te hielt er sehr auf Kor­rekt­heit und hass­te al­les, was an Bo­he­me streif­te.

End­lich ge­ruh­te er, mir zu ver­kün­den, dass wir zu­sam­men »in Fe­ri­en ge­hen wür­den«, und zwar wür­den wir, da ich frei sei und sei­ne Zei­tung L’E­po­que ihm drei Tage Ur­laub ge­ge­ben hät­te, die Os­ter­fei­er­ta­ge »am Meer« ver­brin­gen. Ich gab ihm gar kei­ne Ant­wort, so ent­rüs­tet war ich über sein Be­neh­men. Welch blöd­sin­ni­ge Idee, um die­se Jah­res­zeit ans Meer zu ge­hen, wo die Früh­lings­mo­na­te oft käl­ter und un­freund­li­cher sind als der Win­ter! Aber Rou­le­ta­bil­le schi­en sich über mein Schwei­gen nicht ge­ra­de auf­zu­re­gen. Er nahm mei­nen Kof­fer in die eine Hand, den sei­nen in die an­de­re, lief mir vor­an die Trep­pe hin­un­ter und ließ mich un­ten in eine Drosch­ke ein­stei­gen, die vor dem Hau­se war­te­te. Eine hal­be Stun­de spä­ter be­fan­den wir uns in ei­nem Ab­teil ers­ter Klas­se in dem Zuge, der über Amiens nach Tré­port fährt.

Als wir in den Bahn­hof von Creil ein­fuh­ren, sag­te Rou­le­ta­bil­le end­lich:

»Wa­rum gibst du mir nicht den Brief, den du für mich hast?«

Ich sah ihn an. Er wuss­te also, wie sehr es Frau Dar­z­ac schmerz­te, ihn bei ih­rer Ab­fahrt nicht mehr ge­se­hen zu ha­ben, und dass sie ihm schrei­ben wür­de.

»Weil du ihn nicht ver­dienst«, gab ich ihm zur Ant­wort.

Und ich mach­te ihm bit­te­re Vor­wür­fe, auf die er je­doch nicht acht­gab. Er ver­such­te nicht ein­mal, sich zu ver­tei­di­gen, und das mach­te mich noch zor­ni­ger. Schließ­lich gab ich ihm den Brief. Er nahm ihn, führ­te ihn an sein Ge­sicht und at­me­te sein zar­tes Par­füm ein. Als er sich von mir be­ob­ach­tet sah, run­zel­te er die Brau­en, um hin­ter die­ser Mie­ne sei­ne große Er­re­gung zu ver­ber­gen, und lehn­te sei­ne Stirn an die Fens­ter­schei­be, als sei er in ein gründ­li­ches Stu­di­um der Land­schaft ver­sun­ken.

»Wa­rum liest du ihn denn nicht?« frag­te ich.

»Nein«, sag­te er, »hier nicht, erst wenn wir dort sind.«

Nach ei­ner sechs­stün­di­gen end­lo­sen Fahrt ka­men wir in Tré­port an. Es war stock­fins­te­re Nacht und ein Hun­de­wet­ter. Wir fro­ren und der See­wind feg­te über den ver­öde­ten Bahn­steig. Vor dem Bahn­hof war na­tür­lich kein Wa­gen zu se­hen. Ein paar Lam­pen war­fen ih­ren zit­tern­den Schein über die großen Re­gen­la­chen, in die wir um die Wet­te hin­ein­patsch­ten. Wenn wir nicht in das schwar­ze Loch des Ha­fens fie­len, kam es nur da­her, weil das Geräusch der Flut, das aus der Tie­fe auf­stieg, uns vor der Ge­fahr warn­te.

Ich ging schimp­fend hin­ter Rou­le­ta­bil­le her, der Mühe hat­te, uns durch die feuch­te Dun­kel­heit den Weg zu bah­nen. Den­noch schi­en er den Ort gut zu ken­nen, denn wir er­reich­ten rasch und ohne Um­we­ge das ein­zi­ge zu die­ser Jah­res­zeit ge­öff­ne­te Ho­tel am Strand. Rou­le­ta­bil­le be­stell­te so­fort ein war­mes Abendes­sen, denn wir wa­ren durch­fro­ren und mords­hung­rig.

»Nun also«, be­gann ich, »wirst du end­lich ge­ru­hen, mir mit­zu­tei­len, was wir an die­sem Ort zu su­chen ha­ben au­ßer Rheu­ma­tis­mus und Lun­gen­ent­zün­dung?«

Denn Rou­le­ta­bil­le hus­te­te schon.

»Ich will es dir sa­gen. Wir wol­len das Par­füm der Dame in Schwarz su­chen.« –

Am nächs­ten Mor­gen stand Rou­le­ta­bil­le an mei­nem Bett und weck­te mich. Ich sah in ein ent­setz­tes Ge­sicht. Er reich­te mir ein Te­le­gramm, das von Bourg kam und ihm von Pa­ris hier­her nach­ge­schickt wor­den war. Ich las:

»Kom­met un­ver­züg­lich. Ge­ben un­se­re Ori­ent­rei­se auf. Wol­len Stan­ger­son in Men­to­ne1 wie­der­tref­fen. Hal­tet die­se De­pe­sche ge­heim. Nie­mand be­un­ru­hi­gen! Kom­met un­ter ir­gend­ei­nem Vor­wand – aber schnell!

Dar­z­ac.«


  1. fran­zö­si­sche Küs­ten­stadt, di­rekt an der Gren­ze zu Ita­li­en  <<<

Zweites Kapitel

Das Parfüm der Dame in Schwarz

»Da ha­ben wir’s« rief ich, »das wun­dert mich üb­ri­gens nicht.«

»Du hast also nicht an sei­nen Tod ge­glaubt?« frag­te Rou­le­ta­bil­le auf­ge­regt.

»Nein«, ant­wor­te­te ich. »Er hat­te so viel In­ter­es­se dar­an, für tot zu gel­ten, dass es ihm auf das Op­fer von ein paar Pa­pie­ren bei dem Un­ter­gang der Dor­do­gne nicht an­kom­men durf­te. Aber was hast du, mein Lie­ber, bist du krank?«

Rou­le­ta­bil­le war in einen Stuhl ge­sun­ken. Mit fast zit­tern­der Stim­me ver­trau­te er mir an, dass auch er erst wirk­lich an Lars­ans Tod ge­glaubt habe, als die Trau­ung end­gül­tig voll­zo­gen war. Er glaub­te näm­lich fest, dass, wenn Lar­san am Le­ben wäre, er nie­mals die­se Hei­rat zwi­schen Mat­hil­de und Dar­z­ac zu­ge­las­sen hät­te. Er hät­te sich ja nur zu zei­gen brau­chen, um sie zu hin­ter­trei­ben. Und dies hät­te er auch be­stimmt ge­tan, trotz al­ler Ge­fahr, die ihm da­bei ge­droht hät­te – so si­cher wäre er sei­nes Er­fol­ges ge­we­sen. Denn er kann­te Mat­hil­des re­li­gi­öse Ge­füh­le und wuss­te, dass sie nie ein­ge­wil­ligt hät­te, ihr Schick­sal an das ei­nes an­de­ren Man­nes zu bin­den, so­lan­ge der ers­te noch am Le­ben war – selbst wenn sie durch mensch­li­chen Rich­ter­spruch von die­sem ge­schie­den war. Es wäre ver­geb­lich ge­we­sen, ihr zu be­wei­sen, dass nach dem fran­zö­si­schen Ge­setz die­se ers­te Ehe un­gül­tig war; in ih­ren Au­gen war es nun ein­mal ein hei­li­ges Ge­lüb­de, das sie für im­mer zur Frau ei­nes Ver­bre­chers ge­macht hat­te.

Rou­le­ta­bil­le wisch­te sich den Schweiß von der Stirn. »Und jetzt soll­te er bis nach der Trau­ung ge­war­tet ha­ben, bis ein paar Stun­den nach der Trau­ung, um wie­der auf­zut­au­chen?« rief er. »Denn nicht wahr, Sain­clair, du glaubst doch auch, dass die De­pe­sche von Dar­z­ac nichts an­de­res be­deu­ten kann, als dass der an­de­re wie­der da ist?«

»Es hat den An­schein. Aber Dar­z­ac hat sich viel­leicht ge­irrt.«

»Dar­z­ac ist doch kein Kind, das sich fürch­tet. Im­mer­hin, wir wol­len hof­fen, dass er sich ge­irrt hat. Es wäre ja zu schreck­lich! Nicht wahr, Sain­clair, es ist im­mer­hin mög­lich, dass er sich ge­irrt hat? Es wäre grau­en­haft, zu grau­en­haft!«

Nie­mals, selbst in den schlimms­ten Au­gen­bli­cken in Glan­dier, hat­te ich Rou­le­ta­bil­le so auf­ge­regt ge­se­hen. Ich such­te ihn zu be­ru­hi­gen, in­dem ich ihm vor­stell­te, wie un­ver­nünf­tig es sei, sich so auf­zu­re­gen, nur auf ein Te­le­gramm hin, das doch gar nichts be­wei­se und viel­leicht nur auf ei­ner Ein­bil­dung be­ru­he. Noch dazu jetzt, wo wir alle un­se­re Kalt­blü­tig­keit nö­tig hät­ten, dür­fe man sich doch nicht auf so un­ver­zeih­li­che Wei­se ge­hen las­sen.

»Un­ver­zeih­lich, Sain­clair? Wenn du wüss­test! – Aber du sollst al­les er­fah­ren! – Wa­rum ist er nicht tot?«

»Wer sagt dir denn, dass er es nicht ist?«

»Höre Sain­clair, du sollst al­les er­fah­ren – du sollst al­les wis­sen, was ich weiß, und es wird dich eben­so er­schüt­tern wie mich selbst.«

Aber an­statt zu er­zäh­len, be­schränk­te er sich dar­auf, im Fahr­plan zu blät­tern.

»Wir fah­ren um ein Uhr«, sag­te er, »es gibt jetzt im Win­ter kei­nen di­rek­ten Zug zwi­schen Eu und Pa­ris, wir wer­den also erst um sie­ben Uhr in Pa­ris sein. Dort ha­ben wir reich­lich Zeit, un­se­re Kof­fer zu pa­cken, und neh­men dann auf dem Lyo­ner Bahn­hof den Neun-Uhr-Zug nach Mar­seil­le und Men­to­ne.«

Er frag­te mich nicht ein­mal, ob ich da­mit ein­ver­stan­den sei. Er schlepp­te mich ein­fach nach Men­to­ne, wie er mich nach Tré­port ge­schleppt hat­te. Er wuss­te nur zu gut, dass ich ihm un­ter den ge­ge­be­nen Ver­hält­nis­sen nichts ab­schla­gen konn­te. Üb­ri­gens war er in ei­nem sol­chen Zu­stan­de, dass ich ihn auf kei­nen Fall al­lein ge­las­sen hät­te. Au­ßer­dem wa­ren Ge­richts­fe­ri­en, so­dass ich be­ruf­lich nicht be­hin­dert war.

»Wir fah­ren also nach Eu?« frag­te ich.

»Ja, wir neh­men dann von dort aus den Zug nach Pa­ris. Es ist höchs­tens eine hal­be Stun­de Wa­gen­fahrt von Tré­port nach Eu.«

»Das war kein all­zu lan­ger Auf­ent­halt in die­ser Ge­gend«, sag­te ich.

»Lan­ge ge­nug, hof­fent­lich, für das, was ich hier such­te.«

Ich dach­te an das Par­füm der Dame in Schwarz und schwieg. Hat­te er mir nicht ge­sagt, dass ich al­les er­fah­ren soll­te?

Er führ­te mich auf die Mole. Der Wind blies so stark, dass wir hin­ter dem Leucht­turm Schutz su­chen muss­ten.

»Hier habe ich sie zum letz­ten Mal ge­se­hen«, sag­te er end­lich und deu­te­te auf die Bank von Stein. »Hier sa­ßen wir, und sie hat mich um­armt und ge­küsst. Ich war noch ganz klein, neun Jah­re alt. Sie sag­te mir, ich sol­le auf der Bank sit­zen blei­ben, und dann ist sie fort­ge­gan­gen. Es war Abend, ein Som­mer­abend, am Tage war die Preis­ver­tei­lung ge­we­sen. Sie war nicht da­bei, aber ich wuss­te, dass sie am Abend kom­men wür­de. Ein Abend vol­ler Ster­ne war’s, so hell, dass ich hoff­te, einen Au­gen­blick ihre Ge­sichts­zü­ge un­ter­schei­den zu kön­nen. Aber sie zog ih­ren Schlei­er wie­der dicht zu­sam­men und seufz­te. Dann ist sie fort­ge­gan­gen. Ich habe sie nie wie­der­ge­se­hen.«

»Und du, mein Freund?«

»Ich?«

»Ja, was hast du ge­macht? Bist du noch lan­ge auf der Bank ge­blie­ben?«

»Ich hät­te es ger­ne ge­tan. Aber der Kut­scher kam, um mich ab­zu­ho­len, und ich muss­te heim.«

»Heim? Wo­hin denn?«

»Nun, in die Schu­le na­tür­lich.«

»Ist denn eine Schu­le in Tré­port?«

»Nein, aber in Eu. Ich bin in Eu in die Schu­le ge­gan­gen.« Er mach­te mir ein Zei­chen, ihm zu fol­gen.

»Wir wol­len hin­ge­hen«, sag­te er. –

Eine hal­be Stun­de spä­ter wa­ren wir in Eu. Der Wa­gen roll­te über das holp­ri­ge Pflas­ter des öden Markt­plat­zes. Wir stie­gen aus. Über den Dä­chern des aus­ge­stor­be­nen Städt­chens hör­te man eine Uhr schla­gen. »Die Schul­uhr«, sag­te Rou­le­ta­bil­le. Er zog mich durch eine enge Gas­se, und ich fühl­te sei­ne fie­ber­hei­ße Hand. Bald stan­den wir vor der stei­ner­nen, halb­kreis­för­mi­gen Ein­gangs­pfor­te ei­ner klei­nen Kir­che im je­sui­ti­schen Stil. »Die Ka­pel­le der Schu­le«, sag­te lei­se der jun­ge Mann.

Sie war leer. Wir gin­gen schnell hin­durch. Rou­le­ta­bil­le stieß eine klei­ne Sei­ten­tür auf, die un­ter eine Art von Wet­ter­dach führ­te.

»Das ist gut ge­gan­gen«, sag­te er lei­se, »auf die­se Wei­se kom­men wir ins Ge­bäu­de hin­ein, ohne dass uns der Pfört­ner sieht. Va­ter Si­mon wür­de mich si­cher wie­der­er­ken­nen.«

»Wäre das denn so schlimm?«

In die­sem Au­gen­blick ging ein Mann vorn an dem Wet­ter­dach vor­bei, bar­haupt, einen Bund Schlüs­sel in der Hand. Rou­le­ta­bil­le drück­te sich tiefer in den Schat­ten.

»Da ist Va­ter Si­mon. Wie alt er ge­wor­den ist! Er hat fast kei­ne Haa­re mehr. Gib acht! Um die­se Zeit fegt er den Ar­beits­raum der Klei­nen. Alle sind jetzt in ih­ren Klas­sen. Da wer­den wir un­ge­stört sein. Aber halt, da kommt Va­ter Si­mon zu­rück!«

Als er wie­der vor­bei war, ge­lang es uns, einen klei­nen, gar­ten­ar­ti­gen Hof zu er­rei­chen, wo wir, hin­ter ei­ni­gen Bü­schen ver­steckt, be­quem Um­schau hal­ten konn­ten auf die wei­ten Höfe und die Ge­bäu­de der An­stalt.

Rou­le­ta­bil­le pack­te mich am Arm.

»Siehst du, Sain­clair, dort, das ist die Tür der un­te­ren Klas­se. Wie oft bin ich als Kind dort hin­durch­ge­gan­gen! Aber nie­mals in so se­li­gem Ge­fühl, als wenn Va­ter Si­mon mich in den Empfangs­saal hol­te, wo mich die Dame in Schwarz er­war­te­te. – Wenn man nur den Empfangs­saal nicht ver­än­dert hat.«

Und er streck­te den Kopf vor.

»Nein, nein, sieh, das ist das Empfangs­zim­mer, ne­ben der Wöl­bung, die ers­te Tür rechts, da­hin kam sie. Wir ge­hen hin­ein, so­bald Va­ter Si­mon vor­über ist.

Ich glau­be, ich wer­de ver­rückt, toll, nicht wahr? Aber ich kann nichts da­für. Der Ge­dan­ke, dass ich den Empfangs­saal wie­der­se­hen soll, wo sie mich er­war­te­te. Ich leb­te ja nur in der Hoff­nung, sie zu se­hen, und wenn sie fort war, ver­fiel ich je­des Mal in eine so tie­fe Verzweif­lung, dass man für mei­ne Ge­sund­heit fürch­te­te. Man konn­te mich nur aus mei­ner Stumpf­heit auf­rüt­teln, in­dem man mir vor­stell­te, dass sie mich nicht wie­der­se­hen kön­ne, wenn ich krank wür­de. Bis zu ih­rem nächs­ten Be­such blieb mir nur die Erin­ne­rung an sie und ihr Par­füm. Da ich ihr lie­bes Ge­sicht nie ge­se­hen habe, nur ihr Par­füm, wenn sie mich in die Arme nahm, gie­rig ein­sog, leb­te ich we­ni­ger von ih­rem Bild als von ih­rem Duft. An den Ta­gen nach ih­rem Be­such stahl ich mich wäh­rend der Pau­sen heim­lich in den lee­ren Empfangs­saal und at­me­te an­dachts­voll die Luft ein, und ich ging hin­aus, das Herz voll von Wohl­ge­ruch. Es war das zar­tes­te, das feins­te und da­bei das na­tür­lichs­te Par­füm der Welt. Ich dach­te nicht, dass es mir je im Le­ben wie­der be­geg­nen wür­de – ja, bis da­mals – er­in­nerst du dich noch, Sain­clair, bis zu dem Ball im Elysée.«

»Da­mals, als du Mat­hil­de Stan­ger­son ken­nen­lern­test?«

»Ja«, ant­wor­te­te er mit zit­tern­der Stim­me.

Wenn ich da­mals ge­wusst hät­te, dass die Toch­ter Stan­ger­sons ein Kind aus ers­ter Ehe ge­habt hat­te, einen Kna­ben, der im Al­ter Rou­le­ta­bil­les ge­we­sen wäre, wenn er noch leb­te, so hät­te mir die­se Rei­se Auf­klä­rung ge­ge­ben, und ich hät­te sei­ne Er­re­gung, sei­nen Schmerz, sei­ne selt­sa­me Ver­wir­rung ver­stan­den, und hät­te be­grif­fen, warum er den Na­men Mat­hil­de Stan­ger­son so selt­sam be­ton­te, ge­ra­de in der Schu­le, in der ihn einst die Dame in Schwarz be­such­te.

Wir schwie­gen bei­de. Schließ­lich wag­te ich die Stil­le zu un­ter­bre­chen.

»Und du hast nie­mals er­fah­ren, warum die Dame in Schwarz nicht wie­der­ge­kom­men ist?«

»Oh«, sag­te Rou­le­ta­bil­le, »ich bin über­zeugt, dass sie wie­der­ge­kom­men ist. Aber da war ich nicht mehr dort.«

»Wer hat dich denn ab­ge­holt?«

»Nie­mand! Ich bin fort­ge­lau­fen.«

»Wa­rum? Um sie zu su­chen?«

»Nein, um vor ihr zu flie­hen.«

»Wie un­glück­lich muss sie ge­we­sen sein, als sie dich nicht mehr fand.«

Rou­le­ta­bil­le schüt­tel­te trau­rig den Kopf.

»Wie kann ich das wis­sen? Aber still! Da ist Va­ter Si­mon. So, jetzt ist er vor­bei. Schnell in den Empfangs­saal.«

In drei Schrit­ten wa­ren wir dort.

Es war ein ziem­lich großer, nüch­ter­ner Raum mit ärm­li­chen wei­ßen Vor­hän­gen vor den kah­len Fens­tern. Sechs Rohr­stüh­le, die an den Wän­den stan­den, ein Spie­gel über dem Ka­min und eine Wand­uhr bil­de­ten das gan­ze Mo­bi­li­ar.

Als wir ein­tra­ten, nahm Rou­le­ta­bil­le den Hut ab mit ei­ner Be­we­gung from­mer An­dacht, wie in ei­ner Kir­che. Sein Ge­sicht war rot. Er wen­de­te sich zu mir, und mit er­reg­ter Stim­me, aber lei­se, noch lei­ser als vor­hin in der Ka­pel­le, sag­te er:

»O Sain­clair! Das ist er, der Empfangs­saal. – Fas­se mei­ne Hän­de an, wie sie bren­nen! Ich bin ganz rot, nicht wahr? Ich war im­mer so rot, wenn ich hier her­ein­kam und wuss­te, dass ich sie se­hen wür­de. Na­tür­lich war ich ge­lau­fen und ganz au­ßer Atem, ich hat­te es doch nicht er­war­ten kön­nen. Mein Herz schlägt wie da­mals, als ich klein war. Siehst du, hier an der Tür blieb ich ste­hen, ganz schüch­tern, und ich sah ih­ren schwar­zen Schat­ten dort in der Ecke. Dann streck­te sie mir stumm die Arme ent­ge­gen, ich stürz­te zu ihr, wir um­arm­ten uns und wein­ten. – Sie war mei­ne Mut­ter, Sain­clair! Sie hat es mir aber nicht ge­sagt, im Ge­gen­teil, sie sag­te, mei­ne Mut­ter sei ge­stor­ben, und sie sei ihre Freun­din ge­we­sen. Aber als sie mich bat, sie Ma­ma zu nen­nen, da wuss­te ich, dass sie mei­ne Mut­ter sei! Siehst du, hier saß sie im­mer, in die­sem dunklen Win­kel, und sie kam nur in der Däm­me­rung, wenn das Licht im Empfangs­saal noch nicht an­ge­zün­det war. Und wenn sie kam, leg­te sie im­mer hier auf das Fens­ter­brett ein wei­ßes Pa­ket, ver­schnürt mit ei­nem rosa Bänd­chen. Da wa­ren Wind­beu­tel drin. Ich schwärm­te für Wind­beu­tel, Sain­clair!«

Er ver­ließ den Empfangs­saal, ohne sich noch ein­mal um­zu­se­hen.

Ich folg­te ihm. Wir ka­men auf die ver­öde­te Stra­ße; nie­mand hat­te uns be­merkt. Dort hielt ich ihn an und frag­te ge­spannt:

»Sage, Rou­le­ta­bil­le, hast du das Par­füm der Dame in Schwarz wie­der­ge­fun­den?«

Er muss­te mer­ken, dass mein gan­zes Herz in die­ser Fra­ge lag und der in­ni­ge Wunsch, die­ser Be­such an dem Ort sei­ner Kind­heits­er­in­ne­run­gen möge ihm den Frie­den sei­ner See­le wie­der­ge­ge­ben ha­ben, denn er sag­te sehr ernst:

»Ja, Sain­clair, ich habe es wie­der­ge­fun­den.«

Und er deu­te­te auf den Brief von Mat­hil­de Stan­ger­son.

Da ich nicht wuss­te, was er da­mit sa­gen woll­te und ihn fra­gend an­sah, er­griff er mei­ne bei­den Hän­de, sah mir tief in die Au­gen und sag­te:

»Ich will dir ein großes Ge­heim­nis an­ver­trau­en, Sain­clair, das Ge­heim­nis mei­nes Le­bens und viel­leicht ei­nes Ta­ges das Ge­heim­nis mei­nes To­des. Was auch ge­sche­hen mag, es muss mit mir und mit dir ster­ben. Höre also: Mat­hil­de Stan­ger­son hat­te ein Kind, einen Sohn. Die­ser Sohn ist ge­stor­ben, er ist tot für alle – au­ßer für dich und für mich!«

Be­stürzt wich ich zu­rück, wie be­täubt von ei­ner sol­chen Ent­hül­lung. Rou­le­ta­bil­le – Mat­hil­de Stan­ger­sons Sohn? Und plötz­lich durch­zuck­te es mich noch hef­ti­ger, aber dann, ja, dann war ja Rou­le­ta­bil­le der Sohn von Lar­san!

Jetzt ver­stand ich Rou­le­ta­bil­les See­len­zu­stand, jetzt wuss­te ich, warum er in der Vorah­nung der Wahr­heit heu­te Mor­gen aus­ge­ru­fen hat­te: »Wenn er lebt, dann wün­sche ich, ich wäre tot!«

Rou­le­ta­bil­le las je­den­falls die­se Ge­dan­ken in mei­nen Au­gen, denn er mach­te mir ein Zei­chen, als woll­te er sa­gen: Ja, ja, Sain­clair, so ist es! Nun weißt du es! Und laut sag­te er:

»Schwei­gen, nicht wahr?«

In Pa­ris an­ge­kom­men, trenn­ten wir uns. Als wir uns ein paar Stun­den spä­ter auf dem Bahn­hof wie­der tra­fen, reich­te mir Rou­le­ta­bil­le ein Te­le­gramm, das aus Va­lence kam und von Pro­fes­sor Stan­ger­son un­ter­zeich­net war. Es lau­te­te:

»Dar­z­ac sagt, dass Sie ei­ni­ge Tage Ur­laub ha­ben. Wir wä­ren alle sehr glück­lich, wenn Sie sie mit uns ver­le­ben wür­den. Wir er­war­ten Sie auf den ro­ten Ber­gen bei Ar­thur Ran­ce, der Ih­nen gern sei­ne Frau vor­stel­len möch­te. Auch mei­ne Toch­ter wäre glück­lich, Sie wie­der­zu­se­hen. Sie ver­ei­nigt ihre Bit­te mit der mei­nen.« Kaum wa­ren wir in den Zug ge­stie­gen, als wir den Por­tier des Hau­ses, in dem Rou­le­ta­bil­le wohn­te, den Bahn­steig ent­lang ei­len sa­hen. Er brach­te eine drit­te De­pe­sche. Sie kam aus Men­to­ne und war von Mat­hil­de un­ter­zeich­net. Sie ent­hielt nur die bei­den Wor­te: »Zu Hil­fe.«

Drittes Kapitel

Im Hafen von Marseille

Jetzt wuss­te ich al­les. Rou­le­ta­bil­le hat­te mir die Ge­schich­te sei­ner Kind­heit er­zählt, und ich ver­stand nun, warum er au­gen­blick­lich nichts so sehr fürch­te­te, als dass Mat­hil­de sein Ge­heim­nis er­fah­ren kön­ne. Aber ich konn­te ihm kei­nen Rat ge­ben, dem ar­men Bur­schen!

Auf der Fahrt nach Lyon er­zähl­te er, warum er aus der Schu­le von Eu ge­flo­hen war. Man hat­te ihn des Dieb­stahls be­schul­digt! Und das war so ge­kom­men: Schon mit neun Jah­ren war er au­ßer­or­dent­lich in­tel­li­gent und hat­te vor al­lem die Fä­hig­keit, die schwers­ten und ver­wi­ckelts­ten Auf­ga­ben zu lö­sen. Er ver­blüff­te sei­nen Ma­the­ma­ti­k­leh­rer durch die über­ra­schen­de Lo­gik, die lücken­lo­se Fol­ge­rich­tig­keit sei­nes Den­kens und durch sei­ne un­be­wusst phi­lo­so­phi­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­