image

Carlo Collodi

Pipì, der kleine rosarote Affe

Bearbeitet und behutsam erweitert von
Alessandro Gallenzi

Illustriert von
Axel Scheffler

Aus dem Englischen von
Nicola T Stuart

image

image

PIPÌ, DER KLEINE ROSAROTE AFFE

ZUM AUTOR CARLO COLLODI

ZUM BUCH UND ZU CARLO COLLODIS BRIEF AN SEINE JUNGEN LESER VOM 3. JANUAR 1885

ALESSANDRO GALLENZI ZUR BEARBEITUNG UND BEHUTSAMEN ERWEITERUNG

VITEN

image

image

ES WAR EINMAL, in dem berühmten Land Hullabaluh (was soviel wie „Affenspektakel“ bedeutet), eine kleine Affenfamilie: Mama, Papa und fünf kleine Äffchen, alles Jungen, jeder von ihnen ein Dreikäsehoch. Die Familie wohnte inmitten der Zweige eines riesengroßen Baumes und zahlte im Jahr fünfzehn Pflaumen Miete an einen arroganten alten Gorilla, der behauptete, ihr Vermieter zu sein.

Vier der fünf kleinen Affen hatten dunkles, schokoladenfarbenes Fell, der jüngste jedoch – wer weiß aus welcher Laune der Natur heraus – war von einem Fell bedeckt, das so rosarot war wie die Rosenblütenblätter im Mai. Und deshalb nannten ihn alle, ob Zuhause oder draußen im Wald, Pipì. In der Sprache der Affen bedeutet das „rosarot“.

Pipì sah seinen Brüdern oder den anderen jungen Affen, die in der Nähe des Riesenbaumes lebten, so gar nicht ähnlich. Und das nicht nur, weil er rosarot war.

Er hatte einen munteren, ja klugen Gesichtsausdruck, klare listige Augen, die keine Minute stillstanden, ein stets fröhlich lächelndes Mäulchen und einen schlanken drahtigen Körper, der so beweglich wie eine Gerte war. Um die Wahrheit zu sagen: Er war ein richtig stattlicher kleiner Kerl.

Wer den kleinen Affen so ausgelassen herumtollen sah, hätte ihn sicherlich für einen acht- oder neunjährigen Jungen gehalten haben, denn genau wie andere kleine Jungen jagte er Schmetterlinge und hob Vogelnester aus; genau wie ein Junge kaute er immerzu auf etwas herum und war ganz wild auf unreife Früchte; und ganz wie ein Junge – jedenfalls wie einer ohne Manieren – wischte er sich nach dem Essen erst mit dem Handrücken über seinen Mund und leckte danach jeden einzelnen seiner Finger sorgfältig ab.

Doch Pipìs größte Leidenschaft war es, die Menschen und alles was diese tun nachzuäffen. Eines schönen heißen Sommertages, als er durch den Wald streunte, auf der Jagd nach Grillen, Zikaden und anderen Insekten, sah er am Fuße eines Baumes einen alten Mann sitzen, der genüsslich eine Pfeife schmauchte. Pipì verschlug es fast die Sprache, und er blieb wie angewurzelt stehen.

„Oh“, sprach er zu sich selbst, „hätte ich doch nur auch so eine rauchende Pfeife! Meine Brüder würden grün vor Neid, wenn sie sähen, wie ich Dampfwolken aus dem Mund in die Luft blase.“

Die Nachmittagssonne an diesem Tag war gleißend und die Hitze kaum erträglich. Nach einer Weile gähnte dann auch der alte Mann, legte seine dampfende Pfeife neben sich ins Gras und nickte ein. Ganz vorsichtig und leise kletterte Pipì den Baumstamm hinab. Dann hielt er den Atem an, streckte ganz sachte – Stück für Stück – seinen Arm aus, schnappte sich die Pfeife und machte sich blitzschnell aus dem Staub, gerade, als der alte Mann aufwachte und ihm hinterherschrie, dass er stehenbleiben solle.

Zuhause, in seinem Baumwipfel angekommen, rief er seine Brüder zusammen und machte ihnen vor, wie er Rauch aus seinem Mund blasen konnte. Daraufhin drehten alle fast durch. Dodò, Pipìs älterer Bruder, wollte die Pfeife auch ausprobieren und stibitzte sie ihm, die anderen Brüder wiederum sprangen auf den Ästen auf und ab, schüttelten sich vor Lachen und kreischten vor Aufregung. Babà, eines der kleineren Äffchen, fiel aus dem Baum und musste humpelnd wieder hinauf klettern. Dabei brüllte er sich fast die Lunge aus dem Hals, aber eher aus Enttäuschung denn aus Schmerz. Angelockt von dem Tumult eilten Pipìs Mama und Papa herbei. Und dieses Bild bot sich ihnen: Gugù und Memè stritten sich um die Pfeife, und Dodò hatte sich an dem Rauch, der ihm aus Mund und Nase strömte, verschluckt und hustete wie wild.

Pipìs Vater schüttelte den Kopf. „Wer hat sich das denn wieder ausgedacht?“

Vier schokoladenbraune Finger zeigten auf den kleinen rosaroten Affen.

„Pipì war’s!“, sagte Babà, noch immer tränenüberströmt. „Er hat einem Mann im Wald das rauchende Holz gestohlen.“

Der Vater schüttelte den Kopf erneut. „Du sollst doch nicht stehlen, Pipì“, sagte er in eindringlichem, aber sanftem Ton. „Und du sollst nicht rauchen. Du musst immer bedenken, dass jede Tat Konsequenzen nach sich zieht. Wenn du heute stiehlst, wird es morgen vielleicht böse enden mit dir. Und rauchen mag ja erst einmal Spaß machen, aber auf lange Sicht wird es dir schaden. Du solltest nicht nachäffen, was die Menschen tun. Eines Tages, wenn du groß bist, mein Sohn, wirst du das verstehen. Aber wenn du jetzt nicht aufpasst, ist es dann vielleicht zu spät.“

„Tut mir leid, Papa“, antwortete Pipì und unterdrückte dabei ein freches Grinsen. Da er der Liebling seines Vaters war, wusste er, dass er sich eine ganze Menge Unfug erlauben konnte, und dabei nicht mehr riskierte als ein paar tadelnde Worte. „Ich tu es nicht wieder“, fügte er hinzu, aber der Blick seiner Augen besagte das genaue Gegenteil.

„Also gut“, sagte Pipìs Vater und wand die Pfeife aus den Händen von Memè, der sie mit einem kleinlauten Jammerton freigab. „Lasst mich euch eine Geschichte erzählen.“ Er nickte seiner Frau zu, die sich daraufhin neben ihn setzte. Die fünf kleinen Äffchen sprangen eifrig auf einen gegenüberliegenden Ast und reihten sich dort wie die Orgelpfeifen auf, der größte zuerst und ganz zum Schluss Pipì. „Die Geschichte handelt von einem Menschen – von einem Mann, der sein Leben damit verbrachte, eine Tat zu bereuen, die er als junger Mann begangen hatte.“

„Wer ist es? Wer ist es?“, riefen die kleinen Affen, die den Geschichten ihres Vaters immer mit großer Wonne lauschten.

„Sein Name war Trockenkehle“, fuhr der Vater fort. „Aber das war nicht immer sein Name gewesen. Als er noch ein kleiner Junge war, war er sehr hübsch, so hübsch wie ihr, meine kleinen Äffchen, aber dann …“

„Was dann? Dann was? Erzähl doch weiter, Papa.“

„Dann, wie ich bereits erwähnt habe, dann machte er etwas Falsches. Er hielt nämlich ein Versprechen, das er gegeben hatte, nicht ein – und dafür wurde er bestraft.“

„Was ist passiert, Papa?“, rief Babà.

image

„Er hatte sich in ein wunderschönes Mädchen namens Bella verliebt. Sie wollten bald heiraten, und er hatte ihr versprochen, einige türkisfarbene Blumen für ihr Hochzeitskleid zu besorgen. Als er im Wald die Blumen pflückte, sah er einen alten Mann am Fuße eines Baumes sitzen, der ein Glup-Glup schmauchte – genau so eines wie dieses hier.“ Papa schwenkte die Pfeife ein paar Mal durch die Luft und blickte Pipì in die Augen, der wegguckte. „Trockenkehle hatte nie zuvor ein Glup-Glup gesehen und wollte es ausprobieren, deshalb stahl er es dem Mann und rannte davon. Allerdings wusste Trockenkehle nicht, dass der Mann ein Zauberer war … und dass das Glup-Glup verzaubert war.“

„Au weia!“, sagte Gugù.

„Sobald er begann, die Pfeife auf seinem Weg zu schmauchen, wusste er, dass etwas nicht in Ordnung war, denn der Rauch umhüllte ihn wie ein starker Nebel, und er konnte nicht mehr erkennen, wohin er ging. So verirrte er sich im Wald und wanderte umher, ohne wieder aus dem Wald herauszufinden. Das einzige, das er erkennen konnte, war sein eigener Schatten, der ständig größer und kleiner wurde, während die Tage – ja, Tage – verstrichen. Zumindest dachte er, es seien Tage, doch in Wahrheit handelte es sich um Jahre. Nach langer, langer Zeit, nach langem, langem Umherirren, traf er den alten Mann wieder. „Hier haben Sie Ihr rauchendes Holz zurück“, sagte er schluchzend. „Ich flehe Sie an: Brechen Sie jetzt Ihren Zauberbann, und lassen Sie mich gehen!“ Der alte Mann blickte ihm tief in die Augen. Er sah, dass der Junge nicht böswillig war und ein gutes Herz hatte. Er sah weiterhin, dass es dem Jungen wirklich leid tat, und dass er seine Lektion gelernt hatte. Also brach der alte Mann den Zauberbann und ließ ihn frei.

„Und dann?“, fragte Memè.

„Dann rannte Trockenkehle schnell wie der Blitz heim, weil er sich nichts sehnlicher wünschte, als seine Bella zu sehen. Doch sobald er den Wald hinter sich gelassen hatte, merkte er, dass alles anders war. Dort, wo einst ein Kornfeld war, stand nun ein Häuschen mit Garten; wo ihn die Fähre einst über den Fluss ans andere Ufer gebracht hatte, befand sich nun eine lange steinerne Brücke. Die Menschen, auf die er traf, trugen die eigenartigste Kleidung und wundersamsten Hüte, die er je gesehen hatte, und als er nach dem Weg fragte, konnten sie ihn nicht verstehen und antworteten in einer Sprache, die er nicht kannte.

Endlich erreichte er den Ort, an dem Bellas Haus sich befunden hatte, und ihm blieb die Luft weg – an der Stelle war nur noch eine Ruine zu sehen. Er raufte sich die Haare und erschauderte: Jahrhunderte waren vergangen, seit er sich auf den Weg gemacht hatte, die türkisfarbenen Blumen für ihr Hochzeitskleid zu pflücken und seit sie ihren letzten Atemzug getan hatte.“

„Also haben sie gar nicht geheiratet?“, schluchzte Gugù.

Pipìs Vater schüttelte den Kopf.

„Das ist wirklich eine traurige Geschichte“, sagte Memè. „Alles nur wegen so eines doofen geklauten Stücks Holz.“

„Und eines nicht gehaltenen Versprechens“, fügte Dodò hinzu.

„Und was ist aus Trockenkehle geworden?“, fragte Pipì mit piepsiger Stimme.

Sein Vater betrachtete ihn wieder mit festem Blick. „Er lebt weiterhin sein unglückliches Leben außerhalb des Waldes. Aus ihm ist ein sehr böser Mann geworden, ein Bandit, ein Räuberhauptmann. Er und seine Diebesbande – die Elenden Elstern, wie sie genannt werden – terrorisieren das ganze Land.“

„Rauben sie Menschen aus?“, fragte Babà.

„Ja, mein Lieber, das tun sie“, mischte sich die Mutter plötzlich ein. „Sie rauben und schlagen und entführen andere Menschen – ja, sie töten sie sogar.“

„Und das ist der Grund, warum ihr niemals einen Schritt aus dem Wald setzen dürft“, fuhr Pipìs Vater fort. „Es ist ungemein gefährlich. Verstanden, Jungs?“

Die fünf kleinen Äffchen nickten.

„Und wirst du dies nun seinem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen, Pipì?“

„Selbstverständlich, Papa“, antwortete Pipì ernst, aber als er zur Seite blickte, zeigte sich ein freches kleines Grinsen in seinen Mundwinkeln. „Das mache ich – jetzt sofort.“

Er griff nach der Pfeife und verschwand mit ein paar flinken Sprüngen. Dann suchte er sich ein Plätzchen im Verborgenen, wo er die Pfeife versteckte, damit er sie in einigen Tagen wieder schmauchen konnte.

image

AM NÄCHSTEN MORGEN hüpfte Pipì bei Tagesanbruch den Waldrand entlang und suchte nach dem besten Weg, die Bäume hinter sich zu lassen. Sein Kopf war noch immer vernebelt, und sein Hals brannte ein wenig vom Rauchen am Vortag. Aber da er ein sehr neugieriger kleiner Affe war, konnte ihn nichts – weder Rauchschwaden noch ein brennender Hals oder die Elende-Elstern-Bande – davon abhalten, die gefährliche Welt hinter den heimischen Bäumen zu erforschen.