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So sind sie, die

Deutschen

Stefan Zeidenitz
Ben Barkow

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Inhalt

Nationalität & Identität

Eigenarten & Gewohnheiten

Werte & Wandel

Mitmenschen & Zeitgenossen

Sitten & Bräuche

Freizeit & Vergnügen

Kulte & Rituale

Witz & Humor

Kultur & Medien

Ausgesprochenes & Unausgesprochenes

Essen & Trinken

Feiern & Feste

Körperpflege & Gesundheit

Organisationen & Institutionen

Staat & Verwaltung

Verbrechen & Strafe

Geschäfts- & Arbeitsleben

Sprache & Ideen

Die Autoren

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Deutschland hat eine Bevölkerung von über 82 Millionen Menschen, verglichen mit gut 5 Millionen Dänen, 8,5 Millionen Schweizern, fast 9 Millionen Österreichern, 10 Millionen Tschechen, 11 Millionen Belgiern, 38 Millionen Polen, 65 Millionen Briten, 67 Millionen Franzosen, und 323 Millionen US-Amerikanern.

Deutschland ist beinahe dreimal so groß wie England, würde aber gut eineinhalbmal in Frankreich passen.

Nationalität & Identität

Vorwarnung oder das Wurst-Case-Szenario

Traditionell gelten die Deutschen als eine Nation von Robotern mit quadratischen Schädeln und ebensolchen Unterkiefern, deren Sprache wie etwas aus einem verstopften Abflussrohr klingt, deren Autos mit eingebauter Überholspurreservierung allen anderen davonfahren und deren Fußballmannschaft selten verliert. Sie wirken unangreifbar.

Aber hinter dieser Fassade steckt eine Nation, die sich sehr präzise darüber im Unklaren ist, wo sie sich gerade befindet, wohin sie geht, sogar, wie sie dahin gekommen ist.

In ihrer Suche nach Geborgenheit und Schutz vor den Unsicherheiten des Lebens verlassen sie sich einerseits auf Ordnung und Systeme, den Staat und die Europäische Zentralbank; andererseits ziehen sie sich zurück in die seelischen Tiefen ihrer Angstzustände, psychoanalytische Seelenschau und die höheren Sphären der Kultur.

Über diese Ängste sollte man sich nicht lustig machen; Humor gehört zu einer völlig anderen Kategorie und muss sehr ernst genommen werden. Für die Deutschen besteht das Leben aus zwei Hälften: der öffentlichen und der privaten. Die öffentliche Sphäre der Arbeitswelt, Amtshandlungen, Geschäfte und Bürokratie unterscheidet sich radikal von der privaten der Familie, Freunde, Freizeit und Ferien. Was in der einen angebracht ist, ist in der anderen unmöglich. In der Öffentlichkeit ist grimmige Korrektheit angesagt. Privat schwelgen die Deutschen im gleichen Überfluss von Merkwürdigkeiten und Absonderlichkeiten wie jedes andere Volk unter der Sonne.

Als Ausländer wird man praktisch schon aufgrund der eigenen Position meist nur das öffentliche Gesicht der Deutschen sehen, und vielleicht niemals mehr als das. Das erklärt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil die deutsche Reputation im Ausland. Maßlose Massen von Würstchen und Bier. Nicht zu vergessen die fachlichen Fähigkeiten im Ingenieurwesen. Und im Organisieren.

Jetzt, wo Deutschland eigentlich unerschütterlich dastehen könnte, zeigen sich schon wieder Risse. Auch notorische Fremdenversteher begreifen die Zeichen des Zeitgeistes nicht mehr und fürchten um ihre Zukunft. Die Deutschen selbst haben nicht so sehr Angst vor Ausländern, als vielmehr Angst vor einem schlechten Eindruck, den man im Ausland von ihnen bekommen könnte. Die Macht der deutschen Industrie und Finanzwirtschaft, abhängig von Exportmärkten, entfacht das nationale Gewissen. Werden wir arrogant? Versagt unsere Toleranz? Sind wir auf die schiefe Bahn geraten, die uns zurückführt in die schlechte alte Zeit? Es gibt auf diese Fragen keine eindeutigen Antworten; aber die Deutschen, Europas Neurotiker, begehren genau diese.

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Wenn die Deutschen eine Lektion aus der Geschichte gelernt haben, dann die, dass es keine Zukunft außerhalb der Gemeinschaft der Völker gibt. Kein anderes Land legt mehr Wert auf die internationale Verständigung. Toleranz ist nicht nur eine Tugend, sondern eine Pflicht.

Wie andere sie sehen

Die Gefühle, die die Deutschen bei anderen hervorrufen, schwanken zwischen Bewunderung und Furcht. Sie werden als effizient, selbstbezogen, arrogant und dominant angesehen – und insgesamt ein bisschen zu tüchtig in der Industrie und was die Finanzen betrifft.

Die Briten vermissen bei den Deutschen Selbstbeherrschung und Zurückhaltung. Aber sie haben stets die deutsche Klugheit und Gründlichkeit bewundert, irgendwie verbunden mit der Vorstellung, dass von allen Europäern die Deutschen ihnen am ähnlichsten sind. Diese ulkige Illusion beruht wahrscheinlich auf dem Umstand, dass so viele Deutsche auf dem britischen Thron saßen oder ihm sehr nahe standen. Tatsächlich aber sind die Deutschen überhaupt nicht wie die Briten, sie könnten gar nicht verschiedener sein. Nehmen wir das offensichtlichste Beispiel: Die britische nationale Identität wurde um die Zeit der römischen Invasion herum gebildet und trotz gelegentlicher Kratzer nie wirklich in Frage gestellt. Deutschland wurde hingegen erst in den 1870er Jahren eine Nation, als es von innen durch den preußischen „Eisernen Kanzler“ Bismarck erobert wurde. Die meisten Deutschen legen immer noch mehr Gewicht auf die regionale Identität und sehen sich z. B. zuerst als Schwaben, dann als Europäer und nur an dritter Stelle als Deutsche.

Die Franzosen betrachten die Deutschen mit argwöhnischer Abneigung und versuchen, sie durch freundliche Annäherung auf Distanz zu halten.

Den Italienern ist es unbegreiflich, wie sie ihren Alltag erfolgreich bewältigen, ohne irgend jemanden zu bestechen, aber sie sehen die Deutschen auch als völlig stillos und unelegant an.

Für die Österreicher ist ein guter Deutscher einer, der weit weg ist – möglichst jenseits des Atlantiks oder noch weiter. Während sie anerkennen, dass es eine kulturelle Affinität zwischen Wien und Berlin gibt, haben sie keinerlei Affinität zu ihren unmittelbaren Nachbarn, den Bayern.

Für die Schweizer sind die Deutschen zwar grundsätzlich auf dem richtigen Weg, aber sie müssen sich noch etwas mehr anstrengen. In der Schweiz wird schließlich schon ein Müllbeutel in der falschen Farbe mit einer Geldbuße geahndet, während im „Großen Kanton“ nur die Nichtbenutzung strafbar ist.

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Wie sie die anderen sehen

Die Deutschen lieben die Engländer im Allgemeinen über alles und haben in der Vergangenheit an der unerwiderten Liebe gelitten. England war das ultimative Vorbild mit seinen erstaunlich fortschrittlichen Errungenschaften in Politik, Gesellschaft, Industrie und Technologie. Die Engländer werden als sehr nett und meistenteils harmlos angesehen. Fast schon deutsch.

Die Amerikaner werden von den Deutschen wegen ihres geländegängigen Pragmatismus bewundert, aber ihre himmelstürmende Oberflächlichkeit stößt auf Ablehnung. Für die Deutschen sind die Vereinigten Staaten der Schuldirektor im Klassenzimmer der Nationen und sie werden daher mit Respekt, wenn auch nicht immer mit Zuneigung behandelt. Die Deutschen sind autoritätsgläubig. Nur wer gehorchen kann, kann auch befehlen, lautet ihr Glaubenssatz.

Mit den Italienern verbindet die Deutschen ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl, da sie eine so lange gemeinsame Geschichte haben. Durch Kriege, Invasionen und andere Formen des Tourismus (das deutsche Wort „Reise“ bedeutete ursprünglich „Kriegszug“) wurde eine tiefe und langanhaltende Freundschaft begründet. Italienische Kunstschätze, Speisen und Strände werden hochgeschätzt. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl Italien als auch Deutschland erst im letzten Jahrhundert zu Nationalstaaten konsolidiert wurden und man sich in beiden Ländern nicht mehr ganz sicher ist, ob das wirklich so eine gute Idee war.

Die Franzosen werden als zivilisatorisches Schwergewicht bewundert und wegen ihrer leichtsinnigen Kultur bemitleidet. Denn die Franzosen mögen hochfliegende Geister haben, aber es mangelt ihnen an der Tiefe der Seele. Dennoch ist Frankophilie bei den Deutschen weit verbreitet, besonders in der Nähe der französischen Grenze.

Wie ein Kind, das sehnsüchtig in Nachbars Garten schaut, beneiden die Deutschen die Mittelmeeranrainer wegen ihrer entspannteren Lebensart, ihres Kulturreichtums und des warmen Klimas, aber nur im Urlaub.

Das einzige Volk, dem die Deutschen uneingeschränkte Überlegenheit in allen teutonischen Tugenden zugestehen, sind die Schweizer. Beim eidgenössischen Perfektionismus hinsichtlich Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Gründlichkeit müssen selbst die Deutschen die Waffen strecken. Sie haben folglich auch nie Krieg gegen die Schweizer geführt.

Wie sie sich selbst sehen

Grundsätzlich sehen sich die Deutschen als bescheidene, ziemlich normale Leute. Ein Bier, eine Wurst, ein bisschen Gemütlichkeit und ein anderer Deutscher, mit dem man über Politik streiten oder den Stress bejammern kann, das ist alles, was sie zu ihrem Glück brauchen. Sie sind nicht habgierig, erwarten nichts geschenkt und zahlen ihre Rechnungen pünktlich. Quadratisch, geradlinig, gut.

Die Deutschen träumen gerne, betrachten sich als Romantiker. Nicht im Stil der südländischen Herz-Schmerz-Schnulzerei, sondern in der Art des stürmischen Genies. In jedem Deutschen steckt ein wenig von Beethoven mit seiner wilden Mähne, der durch die Wälder streift und über einen Sonnenuntergang im Gebirge in Tränen ausbricht, darum ringend, das Unausdrückbare auszudrücken. Dies ist die großartige deutsche Seele, die immer dann präsentiert wird, wenn es um Kunst, Gefühl und Wahrheit geht. Die Deutschen haben zwar nicht wirklich die Romantik erfunden (obwohl sie davon fest überzeugt sind), aber sie haben sie zumindest mit einer angemessen bedeutungsschweren und komplizierten philosophischen Ausstattung versehen.

Sie selbst betrachten sich als fleißig, gründlich, ordentlich, zuverlässig, methodisch und umfassend gebildet. Entgegen landläufiger Überzeugung wissen die Deutschen nicht alles, sie wissen nur alles besser.

Besondere Beziehungen: Wie die Deutschen (West) die Deutschen (Ost) sehen – und umgekehrt

Vor 1990 waren die Westdeutschen leidenschaftlich dafür, dass die beiden deutschen Staaten wieder zusammenkommen sollten. So stand es jedenfalls im Grundgesetz. Dem Deutschen, sonst eifrig auf Abgrenzungen aller Art bedacht, war die Mauer dennoch ein Dorn im Auge: Die Deutschen (West) hätten gern einen größeren Absatzmarkt gehabt, die Deutschen (Ost) wären gerne auch mal nach Hamburg oder München gefahren oder im Urlaub nach Mallorca.

Alle waren sich einig, dass die Wiedervereinigung eine geschichtliche Notwendigkeit sei. Dass ein historisches Ereignis mit Marktmechanismen allein nicht zu bewerkstelligen ist, war in der Finanzplanung der Deutschen nicht vorgesehen. Faktoren wie Mentalitätsunterschiede und gesellschaftliche Geborgenheit waren in der Bilanz nicht einkalkuliert. Seit der Wiedervereinigung treten die Unterschiede deutlicher in Erscheinung, als es den Beteiligten lieb ist, und man hat den Eindruck, dass Mauern in Deutschland eine ganz unerwartete metaphysische Existenz haben können.

Alle Wessis wissen, dass alle Ossis faul und wehleidig sind. Alle Ossis wissen, dass alle Wessis zynisch und betrügerisch sind. Das war schon immer so.

Zwei Staaten zusammenzufügen ist nicht billig, vor allem, wenn einer davon (um es in der Sprache der Immobilienmakler zu sagen) mit Begriffen wie „Entwicklungspotential“, „historische Ausstattung“ und „Originalsubstanz“ beschrieben werden kann. Um dies alles zu bewältigen, wurde die Treuhandanstalt gegründet, die über Nacht zum größten Arbeitgeber der Welt wurde, mit 9000 Firmen, fast zwei Millionen Hektar Agrarflächen und zwei Millionen Hektar Wald unter ihrer Obhut. Die Treuhand hatte den Auftrag, soviel wie möglich zu privatisieren und den Rest zu schließen.

Das hat selbstverständlich den Verdacht der Ostdeutschen erregt, die das Gefühl bekamen, dass ihre wirtschaftlichen Errungenschaften zu Dumpingpreisen verkauft wurden und sie am Ende als Bürger zweiter Klasse dastanden. Die Spannung zwischen den beiden deutschen Hemisphären ist immer noch spürbar.