Irrlicht – Staffel 5 – Staffel

Irrlicht
– Staffel 5–

Staffel

E-Book: 42-48; 53-54; 56

Vivian Baker
Anne de Groot
Elisa Raven
Judy Morland
Gabriela Stein
Eve Tarbot
Jennifer Dean
Viola Larsen

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-109-4

Weitere Titel im Angebot:

Die Insel der sieben Gräber

Eines ist für dich bestimmt, schöne Priscilla!

Roman von Vivian Baker

Priscilla stand vor der siebten Graböffnung. Der dumpfe Druck in ihrem Magen nahm zu. Ihr Blick richtete sich auf die siebte Kreuzinschrift, und sie meinte, der Schlag müsse sie treffen. Sie schrie gellend. Ihr Schrei hallte dumpf von der halbzerfallenen Schlossfassade wider. Auf dem Kreuz stand ihr Name!

Priscilla Lloyd betrat das Büro und ging mit langen, federnden Schritten auf ihren Vorgesetzten zu. Ihre braunen Locken wippten im Rhythmus ihres Ganges.

Die blauen Augen blickten nachdenklich. Unwillkürlich presste sie die vollen Lippen, die eine gehörige Portion Leidenschaft verrieten, fest zusammen.

Harold Webster, der stellvertretende Manager der »Relax Computer Company«, neigte leicht den Kopf und sah die junge, attraktive Frau über die Brillenränder hinweg forschend an.

Dann lehnte er sich zurück, während ein gewinnendes Lächeln seine Lippen teilte. Er strich über seinen kurzgestutzten Oberlippenbart, der ihm – nach seiner Meinung – einen Hauch von Verwegenheit gab.

»Na, Kindchen«, sagte er jovial. »Haben Sie sich meinen Vorschlag überlegt? Ich würde Sie wirklich gern mit nach Paris zur Konferenz nehmen. Viel Arbeit fällt dort nicht an. Im Grunde genommen hätten Sie einige Tage Urlaub.«

Webster stand auf und knöpfte die Weste über seinem stattlichen Bauch zu, ehe er um seinen Schreibtisch lief und vor Priscilla Lloyd stehen blieb.

»Das ist eine große Chance, Priscilla«, sagte er eindringlich. »Sie werden es auch nicht bereuen. Das verspreche ich Ihnen.«

Er ignorierte die steile Falte, die sich über Priscillas Nasenwurzel gebildet hatte. Und er schien auch den abweisenden Ausdruck in ihren schönen Augen zu übersehen.

Der ungefähr fünfzigjährige Mann griff nach der jungen Frau und zog sie zu sich heran. Priscilla war im ersten Moment so überrascht, dass sie wie gelähmt stehen blieb. Erst als seine Lippen ihren Mund suchten, stieß sie Harold Webster hart zurück.

Er konnte nur mit Mühe die Balance halten. Seine Hände ruckten in die Höhe, als wollte er einen Schlag abwehren. In seinen Augen lag ein fassungsloser Ausdruck.

Das dümmlich wirkende Lächeln war verschwunden. Er trat einen Schritt auf Priscilla zu, doch die junge Frau wich zurück.

»Wir sollten den Zwischenfall ganz schnell vergessen, Sir«, sagte sie kühl, ja, fast gelassen. »Sie haben sich in mir getäuscht, Mr Webster. Ich bin nicht die dumme Gans, für die Sie mich halten. Da läuft nichts – mit einem verheirateten Mann schon gar nicht, der nur ein flüchtiges Abenteuer sucht. Ich bin Ihnen als Sekretärin zugeteilt worden. Es genügt, wenn ich Ihnen hin und wieder Kaffee koche. Ich habe kein Interesse daran, mit Ihnen auch Kopfkissen und Frühstücksei zu teilen. Natürlich ist mir bewusst, dass meine Probezeit noch nicht beendet ist. Unter diesen Umständen ist es wohl am besten, wenn ich von mir aus kündige.«

»Aber, aber …«, würgte Harold Webster hervor und ließ sich schwer in seinen Schreibtischsessel fallen, der unter seinem Gewicht bedenklich ächzte.

Er fuhr über seine gerötete Stirn, auf der sich feine Schweißperlen bildeten. Noch immer sah er Priscilla Lloyd entgeistert an. Anscheinend hatte er nur selten in den letzten Jahren eine derartige Abfuhr erlebt.

»Sie … Sie … haben mich falsch … verstanden, Miss Lloyd«, stammelte er. »Ich … wollte …, äh …, ich meine …«

»Sparen Sie sich Ihre Ausreden, Sir. Schließlich sind Sie für derartige ›Missverständnisse‹ bekannt. Das wäre es wohl gewesen, Mr Webster.

Ich kündige hiermit. Leben Sie wohl!«

Harold Websters Gesicht rötete sich unheilverkündend. Zorn blitzte in seinen Augen auf. Die Finger der rechten Hand trommelten Unheil verkündend auf der Schreibtischplatte.

»Sie sollten vergessen, was hier …«

Priscilla Lloyd lächelte.

»Gewiss, Sir, gewiss.«

Priscilla wandte sich nach diesen Worten um und verließ das geräumige und großzügig eingerichtete Büro. Draußen atmete sie tief durch und trat zu ihrem Schreibtisch.

Dort begann sie, ihre wenigen privaten Dinge in ihre Handtasche einzupacken.

»Was ist denn los?«, fragte Jane Simmson, Priscillas Arbeitskollegin in Harold Websters Vorzimmer. Sie sah die junge Frau forschend an.

»Ich habe gekündigt. Das ist alles.

Ich suche mir einen anderen Job.

Mr Webster und ich sind in einigen Dingen grundsätzlich verschiedener Meinung.«

Die um ungefähr zehn Jahre ältere Kollegin nickte mehrmals, als wisse sie genau, was sich vor wenigen Minuten im Chefzimmer abgespielt hatte.

»Er kann’s einfach nicht lassen«, meinte sie. »Mich lässt er zum Glück in Frieden. Anscheinend bin ich ihm nicht attraktiv genug.«

Sie zuckte mit den Schultern. Fast schien es, als bedauere sie, dass sie ihrem Chef nicht gefiel.

»Was werden Sie tun, Priscilla?«

»Das alles zuerst einmal überschlafen und mich dann nach einem neuen Job umsehen, obwohl ich weiß, dass es damit nicht gerade rosig aussieht. Der Bedarf an Sekretärinnen ist nicht besonders groß.«

Priscilla Lloyd reichte ihrer Kollegin die Hand.

»Viel Glück«, wünschte Jane Simmson.

Priscilla nickte und verließ das Büro. Kurze Zeit später stand sie vor dem großen Verwaltungsgebäude. Sie warf keinen Blick mehr zurück, sondern beeilte sich sehr, um die U-Bahn-Station zu erreichen.

*

Priscilla Lloyd wohnte zur Untermiete bei Mrs Collins, der ein kleines Haus in einem Londoner Vorort gehörte. Das Zimmer war nicht groß, doch sehr gemütlich und vor allem mit viel persönlichem Geschmack eingerichtet.

Hier fühlte sich Priscilla wohl. Ihre Eltern waren vor drei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Geschwister besaß die junge Frau keine. Und auch sonst gab es keine nähere Verwandtschaft.

Der Brief, den Priscilla auf dem Tisch vorfand, sah irgendwie sehr amtlich aus. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Priscillas Magen aus.

Sollte schon wieder eine unangenehme Neuigkeit auf sie warten?

Ihr Bedarf war für heute gedeckt.

Priscilla duschte und machte sich eine Tasse Tee, ehe sie entschlossen nach dem Brief griff und sich den Absender ansah.

»Rechtsanwalt Percy A. May, London.«

Das sagte Priscilla Lloyd überhaupt nichts.

Sie las die wenigen Zeilen:

Dear Miss Lloyd. In der Erbschaftsangelegenheit Ihres Onkels Samuel Henry Lloyd bitte ich Sie, mich in den nächsten Tagen in meiner Kanzlei aufzusuchen. Ich würde eine vorherige Terminabsprache sehr begrüßen. Hochachtungsvoll Percy A. May.

Priscilla starrte das Schreiben erstaunt an.

»Erbschaft? Onkel? Samuel Henry Lloyd?«

Sie las die wenigen Zeilen noch einmal.

Von einem Onkel dieses Namens hatte sie noch niemals gehört. Auch ihr Vater hatte von keinem Bruder erzählt. Das alles hörte sich sehr geheimnisvoll an.

Ein Irrtum, dachte Priscilla. Vielleicht eine Namensverwechslung. Immerhin war der Name Lloyd nicht gerade selten.

Es klopfte, und Sekunden später schob Mrs Collins den Kopf durch den Türspalt.

Ihr mütterlicher Blick traf Priscilla, die auch ein wenig Neugierde in dem rundlichen Gesicht ihrer Wirtin erkannte.

»Darf ich eintreten, Priscilla?«, fragte sie und wartete überhaupt keine Antwort ab, sondern schloss kurz darauf die Tür hinter sich. »Sie sind heute sehr früh nach Hause gekommen«, fuhr die fünfzigjährige Frau fort und setzte sich ihrer Untermieterin gegenüber auf einen Stuhl. »Hat es Ärger gegeben?«

Ihr neugieriger Blick richtete sich auf den Brief, der in Priscillas Schoß lag.

Priscilla lächelte sanft. Längst hatte sie Mrs Collins ihre Neugierde verziehen. Es tat ihr hin und wieder gut, sich mit ihr auszusprechen, denn sonst gab es niemanden, an den sie sich wenden konnte.

Mit Männern hatte sie wenigstens im Moment wenig im Sinn. Eine Enttäuschung steckte noch zu tief in ihr. Der Mann, den sie vor einigen Monaten zu lieben glaubte, hatte sich schon bald als ein leichtfertiger Schürzenjäger entpuppt, der zudem noch verheiratet war.

Doch daran wollte sie nicht mehr denken, obwohl James Rider immer noch anrief und sie auch mehrmals auf der Straße abgepasst hatte.

Sie hatte ihm aber erst vor acht Tagen unmissverständlich klargemacht, dass sie das nicht weiter wünschte. Das Lachen war ihm schnell vergangen, als sie ihm ankündigte, dass sie seine Frau aufsuchen werde, sollte er nicht endlich mit den Nachstellungen aufhören.

Seitdem hatte sie nichts mehr von James gehört – und war sehr froh darüber. Dieses wenig rühmliche Zwischenspiel in ihrem jungen Leben wollte sie so schnell wie möglich vergessen.

*

Priscilla Lloyd verließ die U-Bahn-Station Hyde Park Corner. Vor ihr reckten sich die Gebäude des St. George Hospitals in den grauen Himmel, der sich über London wölbte.

Die junge braunhaarige Frau schlenderte die Grosvenor Street entlang, während der morgendliche Autoverkehr sich immer wieder staute. Auspuffgase kämpften gegen wabernde Nebelschleier an und erschwerten das Atmen.

Schon bald bog Priscilla Lloyd in die Halkin Street ein und blieb vor der Nummer zehn stehen.

»Percy A. May, Rechtsanwalt.«

Das Schild war nicht zu übersehen, das neben dem breiten Portal an der Hauswand befestigt war.

»Sie werden bereits erwartet, Miss Lloyd«, sagte eine schon ältere Frau, die Priscilla freundlich begrüßt hatte. »Würden Sie mir bitte folgen.«

»Schön, Sie zu sehen, Miss Lloyd«, sagte der Rechtsanwalt und deutete auf einen Sessel vor seinem wuchtigen Schreibtisch.

Priscilla Lloyd setzte sich. Der Anwalt wirkte sehr seriös und erfolgreich.

Sein gepflegtes Äußeres ließ Priscilla Lloyd ahnen, dass das Schreiben wohl doch kein schlechter Scherz gewesen war.

»Hier ist es«, sagte Percy May und zog einen Briefumschlag unter einigen Aktenordnern hervor.

Er lächelte gewinnend.

»Überrascht?«

Priscilla Lloyd nickte.

»Das bin ich wirklich, Sir, denn ich hatte keine Ahnung von einem Onkel. Vater hat seinen Bruder niemals erwähnt.«

Percy May zuckte mit den Schultern.

»Das ist schon gut möglich, Miss Lloyd. Zuerst darf ich Ihnen meine Anteilnahme am Ableben Ihres Onkels aussprechen. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich gleich zur Sache kommen.«

»Das wäre mir sehr recht, Sir.«

»Gut – darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Drink? Tee?«

»Keine Umstände, Sir.«

Der Rechtsanwalt öffnete das versiegelte Kuvert und entnahm ein Schreiben, das er durchlas.

»Viel ist es nicht, was ich Ihnen zu sagen habe, Miss«, meinte er dann. »Es tut mir leid.«

Percy May räusperte sich.

»In dem Schreiben steht nur, dass Samuel Henry Lloyd vor einem Monat verstorben ist und dass Sie zu den Erben gehören. Die Testamentseröffnung findet in acht Tagen statt.«

»Hier in London?«, fragte Priscilla Lloyd.

»Leider nicht, Miss Lloyd. Ihr verstorbener Onkel lebte auf einer kleinen Insel in der Nähe der Stadt Kyle of Lochalsh. Das Eiland gehört einer Inselgruppe an, die offiziell die Black Islands genannt wird. Sie befinden sich in Westschottland. Ich besorge eine Landkarte, damit Sie sich das alles zu Hause in Ruhe ansehen können.«

Der Anwalt lächelte herzlich, als er den abweisenden Blick der jungen Frau sah.

»Ich sorge schon dafür, dass Sie den Ort der Testamentseröffnung rechtzeitig erreichen. Sie wird von einem Kollegen vorgenommen, der mir diesen Brief auch geschickt hat. Sie fliegen bis Glasgow. Anschließend müssen Sie die Eisenbahn benutzen. Das wird der einfachste Weg sein. Natürlich können Sie sich auch einen Mietwagen leihen.«

»Warum ist das alles so kompliziert?«, fragte Priscilla Lloyd noch immer nicht begeistert.

»Es ist nun einmal der letzte Wunsch des Verstorbenen, Miss Lloyd. Ich nehme außerdem an, dass Sie nicht die Einzige sind, die erben wird. Das wird in diesem Brief angedeutet. Bitte fragen Sie mich aber nicht, wer noch in dem Testament erwähnt wird, denn das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«

»Vielleicht können Sie mir aber sagen, wer mein Onkel war. Ich habe wirklich noch nie etwas von ihm gehört. Bis zu dieser Insel sind es schätzungsweise 500 bis 600 Kilometer. Allein schon der Flug wird eine Menge Geld kosten. Und …«

Der Anwalt unterbrach Priscilla Lloyd.

»Die Kosten übernimmt meine Kanzlei und rechnet sie später mit dem Kollegen in Kyle ab. Wenn Sie wollen, lasse ich Flug und Bahnfahrt für Sie buchen und besorge auch die Tickets.«

»Das wäre riesig nett, Sir – vorausgesetzt, ich bin bereit, dorthin zu reisen. Vorher sollten Sie mir wirklich etwas über meinen verstorbenen Onkel erzählen.«

»Sehr viel weiß ich auch nicht, Miss Lloyd. Natürlich habe ich mit dieser Frage gerechnet und mich aus diesem Grund mit meinem Kollegen in Kyle telefonisch in Verbindung gesetzt.«

Percy May lächelte gewinnend.

»Darf ich Ihnen nun doch eine Tasse Tee anbieten?«

*

»Der Tee schmeckt ausgezeichnet, Mr May. Ich möchte Sie jetzt aber bitten, mich nicht länger auf die Folter zu spannen.«

»Natürlich, Miss Lloyd. Ihr Onkel war so etwas ähnliches wie das ›Schwarze Schaf‹ in der Familie. Es ging um eine Liebschaft, und auch sonst muss Ihr Onkel damals in einige dubiose Geschäfte verwickelt gewesen sein. Das konnte ich in der kurzen Zeit nicht sehr ausführlich recherchieren. Auf jeden Fall verschwand er damals spurlos und blieb für seine Familie verschollen. Angeblich wanderte er nach Amerika aus, kam dort zu Geld und kehrte vor einigen Jahren wieder nach Großbritannien zurück.«

Der Rechtsanwalt nahm eine dicke Zigarre aus einer Schachtel und sah die junge Frau fragend an.

»Ich habe nichts dagegen, wenn Sie rauchen«, sagte Priscilla lächelnd und stellte ihre Teetasse auf den kleinen Beistelltisch zurück.

Der Rechtsanwalt zündete die Zigarre an und nahm einen tiefen Zug.

»Genau genommen gehörte Ihrem Onkel die gesamte Insel. Er war sogar der Besitzer eines kleinen Schlosses. Land und Gebäude sind schuldenfrei. Die Erbmasse ist sehr groß. Ich kann Ihnen nur empfehlen, bei der Testamentseröffnung anwesend zu sein. Und der Kollege in Kyle würde Sie bestimmt nicht vorladen, wenn Sie nichts erben würden. Vielleicht ist das die Chance Ihres Lebens. Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen viel Glück. Zuvor aber müssen Sie sich entscheiden, ob Sie zur Insel reisen wollen. Wie bereits gesagt, die Tickets besorge ich.«

»Das sind verlockende Aussichten«, antwortete Priscilla Lloyd. »Sie dürfen nicht glauben, dass ich hinter dem Geld her bin, doch ich würde auch nicht nein sagen. Ich bedauere es natürlich sehr, meinen Onkel nicht zu Lebzeiten kennengelernt zu haben. Es ist schade, dass ihn meine Eltern niemals erwähnt haben.«

»Dann sind wir uns also einig, Miss Lloyd«, sagte der Anwalt zufrieden. »Ich kümmere mich um das Flugticket und auch um die Fahrkarten für die Bahn. Außerdem schreibe ich Ihnen den Namen des Mannes auf, der Sie mit einem Boot zur Insel fährt. Die Unterlagen lasse ich morgen bei Ihnen vorbeibringen. Natürlich informiere ich auch meinen Kollegen, dass Sie kommen.«

Percy May legte seine Zigarre in den Aschenbecher und nickte seiner Klientin aufmunternd zu.

»Haben Sie sonst noch Fragen?«

Priscilla war noch immer sehr verwirrt. Das alles war doch sehr überraschend für sie gekommen.

Der Anwalt sah es ihr an.

»Sollten Sie noch Fragen haben, dann können Sie mich ohne Weiteres anrufen. Viel mehr weiß ich allerdings selbst nicht.«

Priscilla Lloyd erhob sich und reichte dem Anwalt die Hand, die dieser fest drückte und dabei sehr sanft lächelte.

»Vielen Dank für Ihre Bemühungen, Sir.«

»Ich habe nur meine Pflicht getan, Miss Lloyd. Vielleicht rufen Sie mich in einigen Tagen an, wenn Sie wieder zurück sind. Sie sollten mich nicht für neugierig halten, doch es würde mich schon interessieren, wie das mit Ihrer Erbschaft ausgegangen ist.«

Priscilla versprach es und verließ die Anwaltskanzlei. Noch immer war sie sehr verwirrt, als sie auf die U-Bahn-Station zuschritt.

Dann freute sie sich plötzlich. Sie sagte sich, dass ja nicht alle Tage die Aussicht auf eine Erbschaft bestand. Und ihr war auch klar, dass sie Geld gut gebrauchen konnte. Schließlich hatte sie erst gestern ihren Job verloren.

Die Zukunft erschien ihr plötzlich in rosigeren Farben.

*

Drei Tage waren vergangen …

Percy A. May hatte Wort gehalten und alle Tickets besorgt. Der Flug von London nach Glasgow war ohne Schwierigkeiten verlaufen. Und nun lag auch die lange Bahnfahrt hinter der jungen Frau, denn der Zug fuhr in dieser Minute in den Bahnhof von Badicaul ein. Das war für Priscilla Lloyd die Endstation. Sie musste erst gar nicht bis nach Kyle fahren. Von hier aus war es einfacher, die Black Islands zu erreichen.

Die Abenddämmerung legte sich über Stadt und Land, als Priscilla müde und erschöpft ausstieg.

Die junge Frau war auch die einzige Reisende gewesen, die den Zug in der kleinen Ortschaft verlassen hatte.

Nun stand sie allein vor dem flachen Bahnhofsgebäude. Niemand war weit und breit zu sehen. Zum Glück hatte Priscilla nur das Nötigste mitgenommen und alles bequem in einer handlichen Reisetasche unterbringen können.

In der Ferne hörte sie das Meer rauschen. Für einen Moment beschlich sie ein eigentümliches Gefühl der Angst, das sie sich nicht erklären konnte. Es war gerade so, als erwarte sie ein aufregendes Abenteuer.

»Hallo, Ma’am«, sagte eine tiefe Stimme hinter ihr. »Kann ich etwas für Sie tun? Hoffentlich sind Sie nicht zu früh ausgestiegen. Der nächste Zug nach Kyle geht erst in den frühen Morgenstunden.«

Priscilla Lloyd wandte sich dem Mann zu, der die Uniform eines Bahnbediensteten trug und jetzt lässig gegen die Krempe seiner Schirmmütze tippte.

»Es hat schon seine Richtigkeit, dass ich hier ausgestiegen bin. Eigentlich sollte ich abgeholt werden. Ein gewisser Ben Mortimer erwartet mich. Können Sie mir vielleicht sagen, wo ich ihn finde?«

»Der alte Ben ist um diese Zeit meistens schon betrunken«, war die wenig ermutigende Auskunft. »Vielleicht finden Sie ihn in seiner Hütte unten am Strand. Sie brauchen nur die Gleise zu überqueren und dort zwischen den beiden Schuppen hindurchzugehen. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie.«

»Danke, Sir, das ist nicht nötig«, antwortete Priscilla Lloyd höflich, nahm ihre Reisetasche auf und nickte dem Mann freundlich zu. Dann lief sie los. Zum Glück ging die bleiche Scheibe des Mondes hinter einem fernen Berggipfel auf. In dem silbernen Schein sahen Büsche, Bäume und Gebäude wie mit Raureif überzogen aus.

Eine Tür der alten Scheune knarrte und ächzte, als Priscilla vorbeilief. Kalte Schauer jagten ihr über den Rücken. Sie fröstelte in dem kühlen Wind. Kniehohes Gras wogte rechts und links des schmalen Weges.

Dann sah sie plötzlich das Meer vor sich liegen – silbern wie geschmolzenes Blei.

Die Wellen rauschten und brachen sich an einigen Felsriffen. Gischt schäumte. Der klagende Ruf eines Seevogels durchschnitt die nächtliche Stille.

Priscilla Lloyd knöpfte ihre modische Lederjacke bis oben zu. Sie warf einen Blick zurück, doch durch die beiden Schuppen war ihr die Sicht auf die wenigen Häuser der kleinen Ortschaft versperrt.

Von der Hütte, in der Ben Mortimer wohnen sollte, war weit und breit nichts zu sehen.

Aufsteigender Ärger verdrängte die Angst, die sich in Priscilla ausgebreitet hatte. Sie lief entschlossen weiter. Und plötzlich erkannte sie rechts ein kleines Haus, das sich wie schutzsuchend gegen den steilen Hang eines Hügels schmiegte.

Nicht weit davon entfernt sah sie am Ufer ein Boot befestigt, das auf den Wellen tanzte.

Sie erschrak, als eine dunkle Gestalt aus einem Gebüsch trat. Festes Schuhwerk ließ Kieselsteine und dürre Zweige klirren und knistern.

Der Mann lief auf sie zu. Und sein Anblick ließ Priscilla Lloyd mitten im Schritt stocken.

*

Der Fremde blieb ebenfalls stehen. Priscilla sah, dass ein mächtiger Vollbart sein Gesicht bedeckte. Unzählige Falten furchten seine Stirn. Neugierige Augen blickten Priscilla an.

»Ich bin Ben Mortimer, Ma’am«, murmelte der Alte. »Keine Angst. Es tut mir leid, dass ich die Einfahrt des Zuges verpasst habe.«

Priscilla Lloyd atmete tief durch.

»Mein Name ist Priscilla Lloyd«, antwortete sie und räusperte sich. »Na gut, Mr Mortimer. Ich hoffe, dass es noch möglich ist, mich rüber zur Insel zu bringen?«

»Sie können Ben zu mir sagen, schönes Kind. Natürlich fahre ich Sie zur Insel, wenn Sie es wollen. Sie sollten sich das aber nochmals in Ruhe überlegen. Das ist kein Ort für ein so junges und hübsches Mädchen.«

Ben Mortimer trat einige Schritte näher und schwankte dabei leicht. Whiskydunst wehte wie eine Fahne zu Priscilla herüber.

»Sind Sie überhaupt noch in der Lage, ein Boot zu bedienen?«, fragte Priscilla nervös.

»Aber ja doch, Kindchen. Die paar Drinks werfen mich nicht um. Keine Sorge. Ich kann einiges vertragen. Und meine Molly findet auch ohne mich den Weg. Das können Sie mir glauben.«

»Wer ist Molly?«

»Mein Boot dort drüben, Miss. Es ist ein Motorboot und absolut seetüchtig. Sie dürfen nicht von mir auf den Kahn schließen. Wir können natürlich auch erst im Morgengrauen fahren, wenn Ihnen das lieber ist.«

Priscilla Lloyd zögerte.

»Gibt es ein Hotel in der Ortschaft?«

»Leider nein, Miss.«

Nun wurde Priscilla doch ärgerlich.

»Und wo sollte ich Ihrer Meinung nach übernachten, Ben?«, fragte sie gereizt. »Doch wohl nicht in der Hütte?«

»Ich würde Ihnen mein Bett überlassen, Miss Lloyd.«

Priscilla hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. Allein der Gedanke, in der alten Hütte übernachten zu müssen, ließ ihr schon wieder kalte Schauer über den Rücken rieseln.

»Bitte, setzen Sie mich zur Insel über, Ben«, sagte sie leise. »Ich werde dort erwartet. Wie lange dauert die Überfahrt?«

»Eine halbe Stunde – nicht länger.«

»Na gut, Ben. Trauen Sie sich auch wirklich zu, das Boot zur Insel zu steuern? Bestimmt gibt es Klippen, Wirbel und Untiefen.«

Der alte Ben Mortimer winkte ab.

»Das sieht alles nur in der Dunkelheit so gefährlich aus, Miss«, krächzte er misstönend und hustete sich die Kehle frei. »Kommen Sie schon. Ich habe leider meine Taschenlampe vergessen.«

Er stiefelte los und schwankte dabei schon wieder wie ein Zweig im Wind.

Ernste Zweifel stiegen in Priscilla Lloyd auf, ob sie sich wirklich dem alten Mann anvertrauen konnte.

Dann aber sah sie, dass die Schritte des Fischers fester wurden. Sein gebeugter Körper richtete sich auf.

Das Boot war größer, als es aus der Ferne ausgesehen hatte. Trotzdem fühlte Priscilla ein unbehagliches Gefühl im Magen, als sie über die Planke lief und in dem schwankenden Boot Platz nahm.

»Kann es losgehen, Miss?«, brummte Ben Mortimer und machte sich am Außenbordmotor zu schaffen.

»Nur zu«, antwortete Priscilla Lloyd.

Es dauerte einige Zeit, bis der Motor anlief – erst stockend, doch dann erfüllte sein ratterndes Lärmen die Nacht. Ben Mortimer löste die Leine und fuhr los. Vor dem Bug des Motorbootes spritzte das Wasser, Priscilla erkannte schnell, dass Ben sein Handwerk verstand.

»Molly«, jagte dahin und schien fast über die Wasseroberfläche zu fliegen.

Der Fahrtwind nahm der jungen Frau fast den Atem.

Nicht ganz eine halbe Stunde später sah sie die Insel vor sich.

Dunkel, geheimnisvoll und irgendwie bedrohlich zeichnete sie sich als Silhouette am Firmament ab und verdunkelte dort das Licht der fernen Sterne.

*

Der Motor erstarb mit einem trockenen Husten. Die Stille wirkte im ersten Moment lähmend auf Priscilla Lloyd.

Das Boot trieb auf den flachen Strand zu. Es knirschte laut, als die »Molly« das Ufer erreichte und mit einem Ruck anhielt.

»Wir sind da«, brummelte Ben Mortimer unnötigerweise. Er deutete auf die Felsklippen, die sich unweit des Strandes turmhoch gegen den nächtlichen Himmel reckten.

»Sie müssen dort hoch, Miss. Eine steile Treppe, die in den Fels gehauen ist, führt nach oben. Wollen Sie wirklich an diesem ungastlichen Ort bleiben?«

Er sah die junge Frau forschend an.

»Natürlich, Ben. Aus diesem Grund haben Sie mich ja hier zur Insel gefahren. Außerdem werde ich hier erwartet.«

»Auf der Insel soll es spuken«, murmelte er. »Hier gibt es Geister und Gespenster. Ich würde keinen Fuß auf das Eiland setzen, Miss. Das ist ein verwunschener Ort.«

»Sie wollen mir wohl Angst einjagen, nicht wahr?«

»Ich wollte Sie nur warnen, Kindchen. Die Insel hat einen schlechten Ruf. Viele Menschen sind hier schon verschwunden und niemals wieder aufgetaucht. Doch es ist allein Ihre Entscheidung. Ich nehme Sie gern wieder mit zurück.«

Priscilla Lloyd schüttelte entschlossen den Kopf.

Ben Mortimer war betrunken und redete nur wirres Zeug. Bestimmt wurde sie sogar abgeholt. Es war gut möglich, dass jemand die Ankunft des Motorbootes gehört hatte.

Priscilla sprang ans Ufer.

»Leben Sie wohl, Miss«, ächzte der Alte. »Ich habe Sie gewarnt. Mehr kann ich nicht für Sie tun.«

Er hüpfte ebenfalls an Land, stieß seine »Molly« ins Wasser zurück und sprang auf das Boot zurück. Der Außenbordmotor erwachte Sekunden später wieder zu knatterndem Leben.

Das Boot schaukelte auf den Wellen. Ben Mortimer winkte mehrmals, ehe er losfuhr. Priscilla Lloyd winkte zurück und blickte dem Fischer hinterher, der kurz darauf in der Dunkelheit verschwand.

Das Meer rauschte leise seine ewige Melodie. Nicht weit von Priscilla entfernt waren Seetang und einige Holztrümmer angeschwemmt worden. Sie sah auch einen toten und aufgeblähten Fisch an Land liegen und wandte sich schaudernd ab.

Priscilla Lloyd sah sich um.

Die Felsriffe hinter dem Strand wirkten wie ein unüberwindbares Bollwerk. Von einem Schloss oder einer Burg war nichts zu sehen. Kein Lichtschein war zu erkennen.

»Wie bestellt und nicht abgeholt«, murmelte Priscilla, der das alles plötzlich überhaupt nicht mehr gefiel! Und es sah wirklich nicht danach aus, als würde sie erwartet.

Stille herrschte ringsum. Längst war das Knattern von Ben Mortimers »Molly« verstummt.

Priscilla Lloyd schritt zögernd auf die Felswand zu, und es dauerte einige Zeit, bis sie die in die Felsen gehauene Treppe fand, die schmal und steil wie eine Hühnerleiter in die Höhe führte.

Die junge Frau zögerte erneut, doch dann straffte sich ihr schlanker Körper entschlossen. Es war sinnlos, hier am Strand zu warten.

Bestimmt sieht dort oben alles nicht so düster aus, dachte sie. Vielleicht kann ich dann das Schloss sehen.

Priscilla Lloyd stieg die Treppe empor. Schon bald ging ihr Atem schneller. Obwohl sie sich sportlich fit hielt, ging ihr das Treppensteigen ganz schön in die Beine.

Endlich erreichte sie das Ende der Treppe.

In diesem Moment erklang fernes Donnergrollen. Blitze gruben sich schwefelgelb in das Firmament. Eine dunkle Wolkenwand schob sich rasch näher und schien die Sterne zu verschlingen.

Und schon bald prasselten die ersten Tropfen hernieder.

*

Priscilla Lloyd suchte Schutz vor dem niederströmenden Regen in einer Felsnische.

Das Unwetter tobte sich aus. Blitz auf Blitz zerriss die dahinjagenden Wolken. Dumpfer Donner grollte und dröhnte, als wäre das Ende der Welt gekommen.

Priscilla glich einem ängstlichen Tier, so schmiegte sie sich in die Nische, die gerade groß genug war, um ihr vor dem Regen Schutz zu gewähren.

Langsam legte sich ihre Angst vor dem Unwetter. Sie spähte jetzt sogar hin und wieder ins Freie. Einmal sah sie einige Türme und Zinnen, als ein besonders greller Blitz sich entlud.

Das musste das Schloss ihres Onkels sein.

Und es schien noch sehr weit entfernt zu sein. Wenigstens kam es Priscilla so vor. Doch das konnte natürlich im aufflackernden Licht der Blitze sehr täuschen. Der Regen ließ langsam nach. Die Wolken trieben weiter.

Bald begann der nasse Boden zu dampfen. Die Sterne und auch der Mond zeigten sich wieder am Firmament.

Priscilla Lloyd fand einen schmalen Pfad, der in die Richtung führte, in der sie das Schloss gesehen hatte.

Sie lief über eine halbe Stunde, ohne einem Menschen zu begegnen. Es sah wirklich ganz so aus, als hätte niemand heute noch mit ihrer Ankunft gerechnet.

Immer wieder streiften Zweige ihren Körper, denn der Pfad war völlig verwildert. Auch rechts und links des Weges war nur Wildnis zu sehen, obwohl die Sicht nicht besonders gut war.

Hin und wieder raschelte es in den Büschen. Der klagende Ruf eines Käuzchens ließ Priscilla Lloyd mitten im Schritt stocken.

Das Gefühl, auf einer einsamen und unbewohnten Insel gestrandet zu sein, breitete sich immer mehr in ihr aus. Und sie bedauerte es längst, nicht auf Ben Mortimer gehört zu haben, der sie auch bei Tageslicht zur Insel übergesetzt hätte.

Nun war es zu spät.

Noch immer konnte sie das Schloss ihres verstorbenen Onkels nicht sehen.

Auch das beunruhigte die junge Frau immer mehr. Langsam aber sicher glaubte sie sich in einen schrecklichen Traum versetzt, aus dem sie jeden Augenblick zu erwachen hoffte.

Alles war so unwirklich und fern jeder Realität. Priscilla fühlte sich müde und erschöpft. Sie war inzwischen länger als 24 Stunden auf den Beinen. Und dieser verwilderte Pfad wollte und wollte kein Ende nehmen.

Jetzt begann er steil anzusteigen. Steine rutschten unter Priscillas Schuhen weg. Mehr als einmal blieb sie mit ihren hochhackigen Schuhen im Morast stecken. Auf einen so langen Fußmarsch war sie nicht vorbereitet gewesen.

Endlich erreichte sie die Kuppe des Hügels. Die Büsche und Bäume wichen zurück. Rechts und links wucherte nur noch hohes Gras.

Priscilla Lloyd blieb müde stehen. Von irgendwoher erklang das Quaken von Fröschen. Erneut ließ das Käuzchen seinen klagenden Ruf hohl und Unheil verkündend erklingen.

Sie hob den Kopf und starrte auf das Schloss, das sich nur wenige 100 Meter entfernt gegen den Himmel reckte.

»Endlich«, hauchte sie. »Endlich bin ich am Ziel.«

Sie schritt schneller aus.

Als sie sich dem Schloss bis auf ungefähr 50 Meter genähert hatte, blieb Priscilla plötzlich stehen.

Irgendetwas stimmte nicht.

Doch was war es, was sie so sehr störte und beunruhigte?

Dann wusste Priscilla plötzlich, was es war, was sie mit Angst erfüllte!

Im Schloss brannte kein Licht. Keines der Fenster war erleuchtet, die alle leeren Augenhöhlen ähnelten.

So spät ist es doch noch gar nicht, dachte Priscilla Lloyd.

Es können doch noch nicht alle Bewohner des Schlosses schlafen gegangen sein.

Sehr zögernd ging sie weiter – und blieb erneut stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Barriere gerannt!

Erst jetzt sah sie, dass es sich bei dem Schloss um eine Ruine handelte. Das war bisher aus größerer Entfernung nicht zu sehen gewesen.

Nein – hier wohnte und lebte niemand mehr.

Priscilla Lloyd konnte es nicht fassen. So etwas gab es doch nicht!

Gut, Türme und auch die Vorderfront des ehemaligen Schlosses waren noch gut erhalten und hatten aus größerer Entfernung täuschend echt gewirkt. Doch jetzt war offensichtlich, dass es sich nur um ein halbzerfallenes Bauwerk handelte.

Was sollte das alles?

War sie einem Scherz zum Opfer gefallen?

War sie von Percy May, dem Londoner Rechtsanwalt, so getäuscht worden? Gab es diese Erbschaft überhaupt nicht?

Fragen über Fragen, auf die Priscilla Lloyd keine Antwort wusste.

Und nun drängte sich ihr auch noch die Frage auf, wie sie die Insel wieder verlassen konnte. Bestimmt gab es kein Boot am Strand. Und sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass der alte Ben Mortimer nochmals zurückkehren würde.

*

Ihre Ahnung hatte sich bewahrheitet. Priscilla Lloyd war wirklich auf einer einsamen Insel gestrandet. Auf jeden Fall saß sie hier fest.

Priscilla starrte auf die düstere Ruine, die nichts mehr an sich hatte von der Pracht vergangener Tage. Die hohe Mauer um das Schloss war teilweise eingestürzt.

Eine eiserne Tür mit kunstvollen Verzierungen hing schief in den Angeln. Unkraut wucherte.

Die Tür ächzte, als Priscilla sie mühsam aufdrückte. Vor ihr lag ein kleiner Friedhof, der ebenfalls völlig verwildert und verkommen war.

Viele Grabsteine waren umgestürzt, andere standen so schief, dass ein kräftiger Windstoß sie hätte zu Fall bringen können. Eine Engelsfigur ohne Kopf, eine Statue, der beide Arme fehlten – das alles war kaum dazu angetan, um die Nerven der jungen Frau zu beruhigen. Es war wie ein böser Traum.

Wie in Trance lief sie weiter.

Irgendwo raschelte es in einem Gebüsch. Dann herrschte wieder diese unheilvolle Stille, die nur vom Raunen des Windes unterbrochen wurde.

Priscilla Lloyd wollte schon den verwahrlosten Gottesacker verlassen, als sie einen frischen Grabhügel entdeckte. Und sie sah auch eine Anzahl von Kränzen und Blumengebinden, die dort noch nicht lange liegen konnten.

Ein Kreuz reckte sich aufrecht gegen den dunklen Himmel und warf einen dunklen Schatten genau in ihre Richtung, denn dahinter stand die Scheibe des Mondes.

Es musste ein frisches Grab sein. Hier war erst vor kurzer Zeit jemand bestattet worden.

Priscilla Lloyd trat zögernd auf den Grabhügel zu und blieb vor ihm stehen. Der strenge Duft von verwelkten und vermoderten Blumen stieg ihr in die Nase. Sie versuchte, die Inschrift auf dem Kreuz zu entziffern.

»Samuel Henry Lloyd«, las Priscilla.

Hier also ist mein Onkel begraben, dachte sie. Wenigstens das stimmt. Doch sonst scheint alles erlogen zu sein. Hier gibt es nichts zu erben, außer einer alten Schlossruine. Der makabre Scherz meines toten Onkels.

Priscilla Lloyd trat wieder vor das Grab und senkte den Kopf, um ein Gebet zu sprechen. Danach warf sie noch einen scheuen Blick auf die Ruine und wandte sich ab. Sie wollte schnell diese düstere Umgebung und wenn irgendwie möglich auch die Insel verlassen.

Sie ahnte aber bereits, dass ihr dies vor Tagesanbruch kaum gelingen würde. Erst dann würde Ben Mortimer vielleicht nach ihr sehen.

Vielleicht!

Mehr als diese Hoffnung blieb Priscilla Lloyd nicht!

Die junge braungelockte Frau sah eine Öffnung in der Mauer, durch die sie den Friedhof verlassen konnte, ohne zum Eingangsportal zurückkehren zu müssen. Sie lief darauf zu und entdeckte plötzlich sieben offene Gräber und dahinter sieben Kreuze.

Wieder blieb Priscilla stehen, denn dieser Anblick lähmte sie doch für einige Sekunden.

Was hatte das schon wieder zu bedeuten?

Wie unter einem inneren Zwang lief Priscilla auf das erste Grab zu und blieb vor dem rechteckigen dunklen Loch stehen, das ihr Angst einflößte. Das Grab war leer. Kein Sarg lag in ihm.

Ihr Blick fiel auf das Kreuz, das auf dem Erdhügel dahinter steckte. Und sie konnte einen Namen entziffern, der ihr aber nichts sagte.

»Peter Jordan«.

Priscilla Lloyd ging langsam weiter und las auch die übrigen fünf Namen, die ihr ebenfalls unbekannt waren.

Dann stand sie vor der siebten Graböffnung. Ein Käuzchen schrie erneut. Der dumpfe Druck in Priscillas Magen nahm zu.

Ihr Blick richtete sich auf die siebte Kreuzinschrift, und sie meinte, der Schlag müsse sie treffen.

Sie schrie gellend. Ihr Schrei hallte dumpf von der halbzerfallenen Schlossfassade wider.

Auf dem Kreuz stand ihr Name!

*

Priscilla starrte fassungslos auf die Kreuzinschrift. Bald tanzten die Buchstaben vor ihren Augen. Sie stöhnte heiser, und ihr Körper zitterte unkontrolliert.

Unsinn, dachte sie. Das gibt es doch gar nicht. Vielleicht ist das alles nur ein böser Traum, aus dem ich jeden Augenblick erwachen werde.

Nur langsam gewann die junge Frau ihre Beherrschung wieder zurück. Sie trat auf das Kreuz zu, doch nach wie vor stand ihr Name auf dem Querbrett.

Priscilla Lloyd taumelte zurück, rutschte aus und wäre beinahe in die dunkle Grube gestürzt. In letzter Sekunde konnte sie noch zurückspringen. Nun hämmerte ihr Herz noch schneller in ihrer Brust.

Dann rannte sie davon, als würde sie vom Leibhaftigen verfolgt, und hielt erst inne, als die Schlossruine, der Friedhof und die düstere Mauer weit hinter ihr lagen.

Außer Atem lehnte sie sich gegen den Stamm eines Baumes, dessen kahle Äste gespenstisch in den Nachthimmel ragten.

Hier spukt es. Hier gibt es Geister und Gespenster.

Die Worte des alten Ben Mortimer fielen ihr wieder ein. Sie hatte das alles für das Gestammel eines Betrunkenen gehalten.

Und doch konnte das alles nicht mit rechten Dingen zugehen.

Noch immer war Priscilla von einer grauenhaften Angst erfüllt. Erst jetzt fühlte sie die großen Schweißperlen, die ihr über Stirn und Wangen rannen, obwohl ein kühler Nachtwind ihr Gesicht streichelte.

Hatte da ein geheimnisvoller Unbekannter im Hintergrund ein übles Spielchen inszeniert, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen?

Was bedeuteten die sieben offenen Gräber?

Und was sollte ihr Name auf einem der Kreuze?

Hatte sich ein Wahnsinniger das alles ausgedacht? Nach dem Grab zu urteilen, musste ihr Leben bedroht sein. Das kam Priscilla Lloyd erst jetzt so richtig zum Bewusstsein.

Sie sah sich ängstlich nach allen Seiten um, doch außer den nächtlichen Lauten der Natur konnte sie keine verdächtigen Geräusche vernehmen.

Fort, nur fort!

Ihre Gedanken überschlugen sich. Denn wohin sollte sie fliehen?

Sie befand sich auf einer kleinen Insel, auf der es bestimmt nicht viele Verstecke gab.

Einen Herzschlag lang glaubte Priscilla, eine Gestalt in einem langen weißen Gewand auf der Schlossmauer zu sehen. Sie wusste aber nicht, ob nicht nur ihre überreizten Nerven ihr einen Streich gespielt hatten.

Geister und Gespenster!

Priscilla Lloyd schüttelte den Kopf. Daran glaubte sie nicht.

Und doch …?

Plötzlich flößte ihr jeder Baum und Strauch Angst ein. Es kam ihr vor, als würde sie von tausend unsichtbaren Augen beobachtet.

Priscilla lief langsam weiter und erreichte den schmalen Pfad, der zum Inselstrand führte. Entschlossen ging sie weiter und blieb hin und wieder stehen, um zu lauschen.

Ihr Traum von einer reichen Erbschaft war wie eine Seifenblase in den letzten Minuten geplatzt.

Priscilla Lloyd lief schneller und sah sich immer wieder um. Sie wurde das Gefühl nicht los, verfolgt zu werden.

Bald rannte sie den verwilderten Pfad entlang, der plötzlich vor einigen hohen Felsen endete.

Die junge Frau suchte verzweifelt die Felsentreppe, die sie aber nicht finden konnte. Sie lief weiter, fand aber nur abweisende Gesteinsbrocken, die ihr den Blick auf das Meer versperrten.

Priscilla versuchte, auf einen der Felsen zu klettern, doch sie rutschte immer wieder ab und schürfte sich dabei Hände und Knie auf. Obwohl die Verzweiflung sie würgte, zwang sie sich, die Beherrschung zu behalten.

Zu gut wusste sie, dass es ihr nichts nutzte, wenn sie durchdrehte und völlig die Übersicht verlor.

Sie hetzte zurück, doch auch jetzt fand sie die Treppe nicht, die zum Strand führte. Sie verlor nun vollends die Orientierung. Es musste mehrere dieser verwilderten Pfade geben. Anders konnte sie es sich nicht erklären.

Priscilla Lloyd sah sich wie ein gehetztes Reh um. Mehr als einmal hatte sie geglaubt, irgendwo hinter den Sträuchern Schritte zu vernehmen. Und einmal war es ihr gewesen, als habe sie eine dunkle Gestalt oben auf der Felsbarriere gesehen.

Plötzlich sah sie eine große dunkelgähnende Öffnung vor sich in den Felsen. Es musste sich um eine Höhle handeln.

Dorthin eilte Priscilla Lloyd und hoffte von ganzem Herzen, ein sicheres Versteck zu finden, in dem sie den Rest der Nacht geborgen war.

*

Priscilla blieb wenige Meter vor der Höhle stehen. Nun flößte ihr die düstere Öffnung doch Angst ein.

Dann aber zwang sie sich vorwärts, als sie es ganz in der Nähe erneut rascheln hörte. Vielleicht war es nur ein Vogel?

Schon nach wenigen Schritten blieb Priscilla in der Höhle stehen, denn sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Sie stellte ihre Reisetasche auf den Boden und lauschte.

Alles blieb ruhig. Nur hin und wieder knisterte und knackte es in der Höhlendecke. Priscilla wandte sich dem Höhleneingang zu und spähte ins Freie. Auch dort war nichts Verdächtiges zu sehen.

Die junge Frau atmete mehrmals tief durch. Ihr verkrampfter Körper entspannte sich. Doch das Gefühl, in Sicherheit zu sein, hielt nicht lange an.

Die Dunkelheit in der Höhle beunruhigte sie.

»Licht«, murmelte Priscilla. »In meiner Tasche muss doch irgendwo ein Feuerzeug sein.«

Sie suchte danach und hielt es Sekunden später in Händen. Die kleine Flamme warf bizarre Schatten auf die Höhlenwände. Und erst jetzt erkannte Priscilla, dass die Höhle sehr groß war.

Ein Ende war nicht abzusehen. Spinnenfäden hingen von der Decke. Ein großer schwarzer Käfer trippelte auf haarigen Beinen davon und flüchtete aus dem Lichtschein.

Die kleine Flamme erlosch. Die erneute Dunkelheit traf Priscilla wie ein Schock. Sofort knipste sie das Feuerzeug wieder an, das aber nur noch schwach brannte. Das Gas schien schon ziemlich verbraucht zu sein.

Dann sah sie eine Fackel, die in einem Eisenring befestigt war. Sie fing sofort Feuer und loderte grell auf. Ihre zuckenden Flammen warfen gespenstische Schatten auf Priscilla Lloyd.