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MATT RIDLEY

Wenn
Ideen
Sex
haben

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Wie Fortschritt entsteht
und Wohlstand vermehrt wird

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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Rational Optimist. How Prosperity Evolves

bei Fourth Estate, London.

ISBN 978-0-00-726712-5

Copyright der Originalausgabe 2010:

Copyright © 2010 Matt Ridley. All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

© des Fotos auf Seite 7: Matt Ridley

Alle Rechte vorbehalten.

Gestaltung Cover: Büro Jorge Schmidt

Redaktion: Claudia Jürgens, Berlin

Copyright der Ausgabe 2018:

© Börsenmedien AG, Kulmbach

Gestaltung, Satz und Herstellung: Martina Köhler

Lektorat: Karla Seedorf

Druck: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86470-592-2
eISBN 978-3-86470-593-9

Alle Rechte der Verbreitung, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Verwertung durch Datenbanken oder ähnliche Einrichtungen vorbehalten.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Für Matthew und Iris

»Die Arbeitsteilung, die so viele Vorteile mit sich bringt,
ist in ihrem Ursprung nicht etwa das Ergebnis menschlicher
Erkenntnis, welche den allgemeinen Wohlstand, zu dem Erstere
führt, voraussieht und anstrebt. Sie entsteht vielmehr
zwangsläufig, wenn auch langsam und schrittweise,
aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und
Dinge gegeneinander auszutauschen.«

– Adam Smith,
Wohlstand der Nationen

Inhalt

EinleitungWenn Ideen Sex haben

Kapitel 1Die beispiellose Gegenwart

Kapitel 2Das kollektive Gehirn: Austausch und Spezialisierung seit 200.000 Jahren

Kapitel 3Die Erzeugung von Tugend: Tauschhandel, Vertrauen und Regeln seit 50.000 Jahren

Kapitel 4Die Ernährung von neun Milliarden Menschen: Landwirtschaft in den vergangenen 10.000 Jahren

Kapitel 5Triumph der Städte: Der Handel in den vergangenen 5.000 Jahren

Kapitel 6Malthus widerlegt: Die Bevölkerungsentwicklung nach 1200

Kapitel 7Die Befreiung der Sklaven: Energie ab 1700

Kapitel 8Die Erfindung der Erfindung: Steigende Erträge nach 1800

Kapitel 9Wendepunkte: Pessimismus nach 1900

Kapitel 10Die beiden großen Themen der Pessimisten von heute: Afrika und das Klima nach 2010

Kapitel 11Spontane Ordnung: Rationaler Optimismus im Jahr 2100

Nachwort

Danksagung

Anmerkungen

Einleitung

Wenn Ideen Sex haben

»Bei anderen Tierarten schreitet das Individuum von der Kindheit bis zur Reife fort und erreicht im Verlauf eines einzigen Lebens diejenige Vollkommenheit, die ihm von Natur aus möglich ist. Die Menschen dagegen weisen in der Gattung ebenso einen Fortschritt auf wie im Individuum. Sie bauen in jedem Zeitalter auf dem Grunde, der früher gelegt wurde.«

– Adam Ferguson,
Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft1

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Vor mir auf meinem Schreibtisch liegen zwei Dinge von etwa der gleichen Größe und der gleichen Form.2 Eins ist eine schnurlose Computermaus, das andere ein Faustkeil aus der Mittelsteinzeit, etwa eine halbe Million Jahre alt. Beide sind an die menschliche Hand angepasst – sie entsprechen den Erfordernissen des Gebrauchs durch den Menschen. Zugleich aber sind sie grundverschieden. Das eine ist ein komplexes Produkt aus verschiedensten Materialien mit einem komplizierten Innenleben, in dem die Kenntnisse verschiedenster Wissensbereiche zusammenfließen. Das andere besteht aus einer einzigen Substanz und ist Ausdruck der Fertigkeiten eines einzelnen Individuums. Dieses Beispiel zeigt, dass zwischen der menschlichen Erfahrung von heute und der der Menschen vor einer halben Million Jahren schlichtweg Welten liegen.

Mein Buch befasst sich mit dem raschen, anhaltenden und unaufhörlichen Wandel in der menschlichen Gesellschaft, einem Wandel, wie ihn sonst keine andere Spezies kennt. Für einen Biologen bedarf dies einer Erklärung. In den letzten 20 Jahren habe ich vier Bücher geschrieben, die sich mit den Ähnlichkeiten zwischen dem Menschen und anderen Lebewesen befassten. In diesem Buch aber geht es um die Unterschiede. Was befähigt die Menschen, ihr Leben unentwegt und auf solch drastische Weise zu verändern?

Die Natur des Menschen ändert sich dabei nicht. Die Hand, die damals den Keil schwang, hatte die gleiche Form wie die Hand, die heute die Maus führt. Wie damals muss sich der Mensch Nahrung beschaffen, hat Lust auf Sex, kümmert sich um seinen Nachwuchs, wetteifert mit anderen um seinen Status und versucht Schmerz zu vermeiden wie jedes andere Lebewesen, und so wird es auch bleiben. Ebenso hartnäckig halten sich viele Besonderheiten der menschlichen Spezies. Wir können mit aller Wahrscheinlichkeit selbst im entferntesten Winkel der Erde Menschen finden, die singen, lachen, sprechen, die Eifersucht und Humor zeigen – alles Eigenschaften, durch die wir uns von Schimpansen unterscheiden. Wir können eine Zeitreise in die Vergangenheit unternehmen und uns ohne Weiteres in die Gedankenwelt Shakespeares, Homers, Konfuzius’ und Buddhas einfühlen. Und wenn ich die Person träfe, die vor 32.000 Jahren die beeindruckenden Bilder von Wollnashörnern an die Wände der Höhle von Chauvet in Südfrankreich malte, würde ich zweifellos feststellen, dass es sich um einen in jeder Hinsicht psychisch voll entwickelten Menschen handelt. Beim Menschen gibt es also vieles, was unveränderbar bleibt.

Dennoch würde wohl niemand behaupten, dass unser Leben noch genauso ist wie vor 32.000 Jahren. Unsere Spezies hat sich seitdem um 100.000 Prozent vermehrt und ist von etwa drei Millionen auf nahezu sieben Milliarden angestiegen.3 Sie hat sich mit Annehmlichkeiten und Luxus umgeben wie keine andere Gattung. Sie hat jeden bewohnbaren Winkel unseres Planeten besiedelt und nahezu jeden unbewohnbaren erkundet. Außerdem hat sie nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch die genetische und chemische Struktur der Erde verändert und sich etwa 23 Prozent der Produktivität aller Landpflanzen für eigene Zwecke angeeignet. Sie hat sich mit speziellen, künstlich zusammengesetzten Molekülen umgeben, die als Technik bezeichnet werden, und ist fast unentwegt damit beschäftigt, neue zu erfinden und alte zu verbessern oder wieder aufzugeben. Für andere Arten gilt das nicht, selbst wenn sie ein so großes Gehirn haben wie Schimpansen, Tümmler, Papageien oder Tintenfische. Diese Tiere benutzen vielleicht gelegentlich ein Werkzeug oder wechseln hin und wieder in eine neue ökologische Nische über, aber dadurch »erhöhen« sie nicht ihren »Lebensstandard« oder erleben »Wirtschaftswachstum«. Ebenso wenig kennen sie das Konzept der »Armut«. Sie entwickeln sich nicht von einem Lebensstil fort zu einem anderen und bedauern dies auch nicht. Sie kennen keine bäuerliche, städtische, wirtschaftliche, industrielle oder technologische Revolution, ganz zu schweigen von Renaissance, Reformation, Depression, von demografischem Wandel, Bürgerkrieg, Kaltem Krieg, kulturellen Konflikten und Bankenkrisen. Hier an meinem Schreibtisch bin ich von Dingen umgeben – Telefonen, Büchern, Computern, Fotos, Papierschnipseln, Kaffeebechern –, die kein Affe hätte herstellen können. Und ich füttere meinen PC mit digitalen Informationen, mit denen ein Delfin nichts anzufangen wüsste. Ich kenne abstrakte Dinge – das Datum, die Wettervorhersage, das zweite Gesetz der Thermodynamik –, die ein Papagei nie verstehen würde. Ich bin zweifellos anders. Aber was macht mich so anders?

Es kann nicht allein daran liegen, dass ich ein größeres Gehirn habe als andere Lebewesen. Schließlich war das der ausgestorbenen Neandertaler im Durchschnitt größer als unseres und trotzdem erlebten sie nicht diesen rasanten kulturellen Wandel. Und obwohl mein Gehirn größer ist als das anderer Gattungen, habe ich gerade einmal eine vage Vorstellung davon, wie ein Kaffeebecher, ein Bogen Papier und erst recht eine Wettervorhersage gemacht wird. Der Psychologe Daniel Gilbert sagt gern im Scherz, die Angehörigen seines Berufsstands hätten im Lauf ihrer Karriere alle einmal einen Satz vollenden müssen, der mit den Worten beginnt: »Der Mensch ist das einzige Wesen, das …«4 Sprache, kognitives Denken, Feuer, Kochen, Produktion von Werkzeugen, Selbstwahrnehmung, Täuschung, Nachahmung, Kunst, Religion, opponierbare Daumen, Wurfwaffen, aufrechter Gang, großelterliche Fürsorge – die Liste der Merkmale, über die vermutlich nur wir Menschen verfügen, ist sehr lang, auch wenn sich für das Erdferkel oder den Nacktkehl-Lärmvogel ebenfalls eine stattliche Reihe von Eigenheiten aufführen ließe. Die aufgezählten Merkmale sind allein uns Menschen eigen und tragen beträchtlich dazu bei, unser modernes Leben zu ermöglichen. Ich muss jedoch zugeben: Keins von ihnen – abgesehen vielleicht von der Sprache5 – tauchte zum rechten Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte auf oder wirkte sich darin so entscheidend aus, dass es den Evolutionssprung von einem einigermaßen erfolgreichen Affenmenschen zum progressiven Erneuerer erklären könnte. Die meisten dieser Eigenschaften kamen viel zu früh und hatten keinen derartigen ökologischen Effekt. Ein genügend entwickeltes Bewusstsein zu haben, um den Wunsch zu hegen, den eigenen Körper zu bemalen, oder zu überlegen, wie man ein Problem lösen könnte, ist schön und gut, aber es führt noch nicht zur weltweiten Unterwerfung der Natur.

Gewiss sind ein großes Gehirn und Sprache für den Menschen die Voraussetzungen, um das Leben in der technischen Moderne zu bewältigen. Und gewiss haben Menschen eine ausgeprägte Fähigkeit zu sozialem Lernen und schlagen in ihrem Bemühen um möglichst getreue Nachahmung sogar Schimpansen um Längen.6 Doch ein größeres Gehirn, Sprache und Nachahmung an sich sind noch keine Erklärung für Wohlstand, Fortschritt oder Armut. Sie sind keine Auslöser für Veränderungen des Lebensstandards. Auch die Neandertaler verfügten bereits über ein großes Gehirn, eine wahrscheinlich komplexe Sprache und eine Vielzahl technischer Erfindungen. Und dennoch brachen sie nicht aus ihrer Nische aus. Ich bin der festen Überzeugung, dass ein Blick in unsere Köpfe der falsche Ausgangspunkt ist, wollen wir die außerordentliche Wandlungsfähigkeit unserer Spezies erklären. Die Veränderungen vollzogen sich nicht im Gehirn. Sie vollzogen sich in der Interaktion von Gehirnen. Sie waren ein kollektives Phänomen.

Betrachten wir noch einmal den Faustkeil und die Maus. Beide sind von Menschen gemacht, doch während der eine von einem Einzelnen hergestellt wurde, waren an der anderen Hunderte, wenn nicht Millionen beteiligt. Das meine ich, wenn ich von kollektiver Intelligenz spreche. Kein einzelner Mensch könnte allein eine Computermaus bauen. Die Person, die die Maus in der Fabrik zusammensetzte, hatte keine Ahnung, wie das Bohrloch für das zur Herstellung des Plastiks benötigte Öl entsteht – und umgekehrt. Irgendwann in der Vergangenheit wurde die menschliche Intelligenz kollektiv und kumulierte auf eine Weise, wie dies in keiner anderen Gattung geschah.

Die Paarung der Gedanken

Wenn ich sage, dass sich die Natur des Menschen nicht verändert hat, wohl aber seine Kultur, ist das keine Abkehr von der Evolutionstheorie. Ganz im Gegenteil. Die Menschheit erlebt einen außerordentlichen Evolutionssprung, der auf dem guten alten Darwin’schen Prinzip der natürlichen Selektion beruht. Allerdings vollzieht er sich auf der Ebene der Gedanken und nicht der Gene, und das Habitat, in dem die Gedanken angesiedelt sind, ist das menschliche Gehirn. In den Gesellschaftswissenschaften verfolgt man diesen Gedanken schon seit Langem. Der französische Soziologe Gabriel Tarde schrieb im Jahr 1888: »Nennen wir es ruhig soziale Evolution, wenn sich eine Erfindung still und leise durch Nachahmung verbreitet.«7 Der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek stellte in den 1960er-Jahren fest, die soziale Evolution werde entscheidend durch »Selektion mittels Nachahmung erfolgreicher Institutionen und Gewohnheiten« bestimmt.8 1976 führte der Evolutionsbiologe Richard Dawkins den Begriff »Mem« für eine Replikationseinheit der kulturellen Evolution ein.9 Der Ökonom Richard Nelson formulierte in den 1980er-Jahren die These, ganze Volkswirtschaften würden durch natürliche Selektion entstehen.10

Und das meine ich, wenn ich von kultureller Evolution spreche: Vor mehr als 100.000 Jahren bildete sich die menschliche Kultur auf eine Weise heraus, wie es bei keiner anderen Spezies geschah – sie durchlief den Prozess der Replikation, Mutation, Selektion und Akkumulation, vergleichbar mit der Entwicklung der Gene über Milliarden von Jahren. Und wie in der biologischen Selektion durch Kumulation nach und nach ein Auge entstand, so befähigte die kulturelle Evolution den Menschen, durch Kumulation im Lauf der Zeit eine Kultur oder eine Kamera zu entwickeln.11 Vielleicht können sich Schimpansen gegenseitig beibringen, Galagos mit angespitzten Stöcken aufzuspießen, oder Killerwale ihren Artgenossen, wie sie am besten Seelöwen vom Strand wegschnappen, doch allein der Mensch verfügt über eine akkumulierte Kultur, die ihm die Herstellung eines Brotlaibs oder das Komponieren eines Konzerts ermöglicht.

Ja, aber warum? Warum wir und nicht die Killerwale? Von einer kulturellen Evolution der Menschen zu sprechen ist weder besonders originell noch sonderlich hilfreich. Nachahmung und Lernen, und wenn man es noch so vielseitig und geschickt betreibt, reichen nicht aus, um zu erklären, warum sich die Menschen irgendwann auf so einzigartige Weise verändert haben. Es muss noch etwas anderes hinzugekommen sein, etwas, was nur Menschen haben und Killerwale nicht. Meiner Ansicht nach war es der Augenblick in der Geschichte, in dem Ideen aufeinandertrafen und sich verknüpften, in dem Ideen sich paarten.

Das möchte ich erklären. Durch Paarung wird die biologische Evolution kumulativ, denn dadurch werden die Gene verschiedener Individuen zusammengebracht. Die in einem Lebewesen stattgefundene Mutation kann sich mit der Mutation eines anderen ergänzen. Am deutlichsten lässt sich dieser Vorgang an den Bakterien illustrieren, die miteinander Gene austauschen, ohne sich gleich zu reproduzieren, und die so beispielsweise in der Lage sind, gegenüber den Antibiotika einer anderen Spezies Immunität aufzubauen. Wenn die Mikroben vor Milliarden von Jahren nicht begonnen hätten, Gene auszutauschen, und die Tierwelt mittels sexueller Reproduktion diesen Prozess nicht fortgesetzt hätte, wären die Gene, die für die Entstehung eines Auges verantwortlich sind, niemals in einem Lebewesen zusammengekommen – ebenso wenig wie die Gene für Beine, Nerven oder Gehirnzellen. Jede Mutation wäre in ihrer Abstammungslinie isoliert geblieben und hätte niemals die Wohltaten der Synergie erfahren. Plakativ ausgedrückt, auch wenn in einem Fisch die ersten Ansätze für Lungen wuchsen und in einem anderen die Ansätze von Gliedmaßen, wären sie beide nicht in der Lage gewesen, auf dem Land zu existieren. Gewiss gibt es auch eine Evolution ohne sexuelle Reproduktion, doch die entwickelt sich viel langsamer.

Und so ist es auch bei unserer Kultur. Bestünde Kultur einfach darin, dass wir die Gewohnheiten anderer erlernen, würde sie bald stagnieren. Damit eine Kultur kumulativ wird, müssen Ideen aufeinandertreffen und sich verknüpfen. Auch wenn der Begriff »gegenseitige Befruchtung der Ideen« ein Klischee ist, verbirgt sich dahinter doch ein tieferer Sinn. »Etwas erschaffen heißt, etwas neu zu kombinieren«, sagt der Molekularbiologe François Jacob.12 Man stelle sich vor, der Mann, der das Schienennetz entwickelte, wäre nie, auch nicht über Dritte, mit dem Mann zusammengekommen, der die Lokomotive erfand. Papier und Druckerpresse, Internet und Mobiltelefon, Kohle und Turbine, Kupfer und Zinn, das Rad und Stahl, Software und Hardware. Ich möchte beweisen, dass es in der Vorgeschichte des Menschen einen Punkt gab, an dem die mit einem großen Hirn ausgestatteten, kulturell organisierten und lernfähigen Menschen zum ersten Mal begannen, Dinge untereinander auszutauschen. Dadurch, dass sie dies taten, wurde ihre Kultur zu einer kumulativen und damit begann das großartige, berauschende Experiment des wirtschaftlichen »Fortschritts« der Menschheit. Austausch hat in der kulturellen Evolution die gleiche Bedeutung wie Paarung in der biologischen.

Durch den Austausch entdeckten die Menschen die »Arbeitsteilung«, eine Spezialisierung ihrer Handlungen und Fähigkeiten zum Nutzen aller. Würden sich Primatologen mit einer Zeitmaschine in diese Anfangsphase zurückversetzen, würden sie ihr wahrscheinlich keine Bedeutung beimessen und sie vermutlich übersehen. Es würde ihnen wohl weit unspektakulärer erscheinen als die Ökologie, Hierarchie und der Aberglaube dieser Spezies. Tatsächlich aber hatten einige Affenmenschen begonnen, mit anderen Nahrungsmittel oder Werkzeuge auszutauschen, mit dem Effekt, dass am Ende beide Beteiligte einen Nutzen daraus zogen und sie somit ihre Spezialisierung weiter vorantrieben.

Die Spezialisierung ermutigte zu Innovationen, denn sie förderte das Investieren von Zeit in die Entwicklung von Werkzeugen zur Werkzeugproduktion. Dadurch konnte Zeit eingespart werden. Und Wohlstand ist nichts anderes als eingesparte Zeit, die wiederum vom Ausmaß der Arbeitsteilung abhängt. Je diversifizierter das Konsumverhalten der Menschen, je spezialisierter ihre Produktionsformen und je intensiver ihr Austausch, desto besser waren, sind und werden ihre Lebensbedingungen sein. Und dieser Prozess muss glücklicherweise nicht unausweichlich einmal an sein Ende kommen. Je mehr Menschen an der globalen Arbeitsteilung beteiligt sind, je intensiver die Spezialisierung und der Wissensaustausch, desto größer unser aller Wohlstand. Außerdem gibt es keinen Grund, warum wir nicht in der Lage sein sollten, uns quälende Probleme wie Wirtschaftskrisen, Klimawandel, Bevölkerungsexplosion sowie Terrorismus, Armut, Aids, Depressionen und Übergewicht zu lösen. Auch wenn der Weg dorthin beschwerlich sein wird, ist es denkbar und sogar wahrscheinlich, dass es der Menschheit und mit ihr auch der Ökologie des von ihr bewohnten Planeten im Jahr 2110, also ein Jahrhundert nach Veröffentlichung dieses Buchs, weit, weit besser gehen wird als heute. Mit meinem Buch möchte ich uns alle ermuntern, den Wandel zu begrüßen, auf rationale Weise optimistisch zu sein und sich so für die Verbesserung der menschlichen Lebensumstände und des Zustands der Erde einzusetzen.

Einige werden einwenden, ich wiederholte damit lediglich die Thesen Adam Smiths aus dem Jahr 1776.13 Doch seit damals ist viel geschehen, was für eine Überarbeitung, Überprüfung und Neueinschätzung seiner Erkenntnisse spricht. So hat er beispielsweise nicht realisiert, dass er Zeuge der Anfangsphase einer industriellen Revolution war. Für mich als Individuum wäre es sicherlich vermessen, mich mit dem Genie Adam Smiths auf eine Stufe zu stellen, doch ihm gegenüber habe ich einen gewaltigen Vorteil: Ich kann sein Buch lesen. Und Smiths Erkenntnisse haben sich seit seiner Zeit mit anderen gepaart.

Es überrascht mich immer wieder aufs Neue, wie wenig über das Phänomen unseres stürmischen kulturellen Wandels nachgedacht wird. Viele Menschen sind der Ansicht, ihre Abhängigkeit von anderen habe abgenommen oder sie stünden mit einem höheren Maß an Autarkie besser da. Etliche sind der Ansicht, ihre Lebensbedingungen hätten sich durch den technischen Fortschritt nicht verbessert, auf der Welt würde ohnehin alles immer schlechter werden oder beim Austausch von Waren und Gedanken handle es sich um nichts von Bedeutung. Und unter studierten Ökonomen – zu denen ich nicht gehöre – stoße ich oft auf eine große Gleichgültigkeit, wenn es um die Frage geht, wie man Wohlstand definiert und warum unsere Spezies ihn überhaupt erreicht hat. So möchte ich mit dem Schreiben dieses Buches auch meine persönliche Neugier stillen.

Wir leben in einer Zeit des beispiellosen Wirtschaftspessimismus. Das globale Bankensystem schlingerte an den Rand des Zusammenbruchs, eine riesige Kreditblase ist geplatzt, der Welthandel kollabiert, die Arbeitslosenzahlen sind weltweit gestiegen und die Produktion sinkt. Die unmittelbare Zukunft sieht düster aus und einige Regierungen planen, die ohnehin schon immense Staatsverschuldung noch weiter zu erhöhen – ein Umstand, der den Wohlstand kommender Generationen einschränken könnte. Zu meinem großen Bedauern habe ich in einer Phase der Krise eine Rolle gespielt, als ich als Verwaltungsratsvorsitzender bei Northern Rock fungierte, einer der vielen Banken, die vorübergehend in eine Liquiditätskrise gerieten. Mein Buch aber handelt nicht von dieser Erfahrung (zumal es mir meine Vertragsbedingungen nicht erlauben würden, darüber zu schreiben). Dennoch haben diese Ereignisse in mir ein großes Misstrauen gegenüber dem Kapital- und Anlagenmarkt geweckt, obwohl ich nach wie vor ein glühender Verfechter des freien Marktes für Waren und Dienstleistungen bin. Leider wusste ich damals noch nicht, dass der Wirtschaftswissenschaftler Vernon Smith und seine Kollegen zuvor schon experimentell nachgewiesen hatten, dass die Märkte für Waren und Dienstleistungen des unmittelbaren Konsums – ein Haarschnitt oder ein Hamburger – so gut funktionieren, dass sie nahezu immer effizient und innovativ sind, ganz gleich wie sie gestaltet werden, während dem Kapitalmarkt die Tendenz innewohnt, Blasen und Zusammenbrüche zu erzeugen, und man ihn nur mit Mühe so gestalten kann, dass er überhaupt funktioniert. Spekulation, massenhafter Überschwang, irrationaler Optimismus, die Jagd nach Rendite und die Versuchungen des Betrugs führen zu Überhitzung und Börsencrashs. Deshalb braucht er eine sorgfältige Regulierung, für die ich stets eingetreten bin. (Die Regulierung der Märkte für Waren und Dienstleistungen hingegen sollte weniger streng ausfallen.) Was die Blase der 2000er-Jahre jedoch so stark verschlimmerte, war die Wohnungs- und Geldmarktpolitik der Regierungen, insbesondere der Vereinigten Staaten, die als politische Maßnahme künstlich verbilligtes Geld in erhöhte Risikogeschäfte und damit zu den Mittelsmännern der Finanzmärkte lenkten.14 Politische Entscheidungen waren mindestens ebenso maßgeblich an der Krise beteiligt wie wirtschaftliche.15 Das ist der Grund, weshalb ich übermäßig starken staatlichen Eingriffen gleichfalls skeptisch gegenüberstehe.

(Um alle Karten auf den Tisch zu legen, möchte ich klarstellen, dass ich im Lauf der Jahre nicht nur für eine Bank gearbeitet habe, sondern auch – unter anderem – in der wissenschaftlichen Forschung, im Artenschutz, Journalismus, in der Landwirtschaft, im Kohlebergbau sowie mit Risikoanlagen und Gewerbeimmobilien – Erfahrungen, die meine auf den folgenden Seiten vorgestellten Thesen in diesen Bereichen sicherlich beeinflusst und geprägt haben. Doch ich habe mich niemals bezahlen lassen, um eine bestimmte Ansicht zu vertreten.)

Ein rationaler Optimismus ist davon überzeugt, dass sich die Welt aus der gegenwärtigen Krise befreien kann, weil die Märkte für Waren, Dienstleistungen und Ideen es den Menschen ermöglichen, über Austausch und Spezialisierung ernsthaft an einer Verbesserung der Lebensumstände aller zu arbeiten. In diesem Buch werden die Märkte also weder gedankenlos verherrlicht noch verdammt, vielmehr möchte ich mit meiner Untersuchung zeigen, dass der den Märkten innewohnende Prozess des Austauschs und der Spezialisierung weit älter und gerechter ist, als viele meinen, und wir die Zukunft der Menschheit aus diesem Grunde viel optimistischer sehen können. Vor allem aber beschäftigt sich mein Buch mit dem Nutzen des Wandels. Damit stehe ich, wie ich weiß, im Widerspruch zu Reaktionären jeglicher politischer Couleur – den Schwarzen, die den kulturellen Wandel ablehnen, den Roten, die wirtschaftlichen Veränderungen misstrauen, und den Grünen, die dem technologischen Wandel skeptisch gegenüberstehen.

Ich bin ein rationaler Optimist: rational, weil mein Optimismus nicht durch mein Temperament oder mein Gefühl begründet ist, sondern durch Betrachtung der Faktenlage. Ich hoffe, dass Sie bei der Lektüre der folgenden Seiten meinem Beispiel folgen werden. Zunächst möchte ich Sie davon überzeugen, dass der menschliche Fortschritt alles in allem etwas Gutes ist und die Welt – auch wenn wir immer wieder versucht sind, in Pessimismus zu verfallen – für den Durchschnitt der Menschen selbst in der gegenwärtigen tiefen Rezession nach wie vor ein guter Ort zum Leben ist. Und dass sie, wegen und zugleich trotz Wirtschaft und Handel, reicher, gesünder und freundlicher ist als je zuvor. Dann werde ich erklären, warum und wie es dazu kam. Schließlich möchte ich untersuchen, ob unsere Welt zukünftig noch besser werden kann.

Kapitel 1

Die beispiellose Gegenwart

»Welches Prinzip liegt der Wahrnehmung zugrunde, dass wir im Rückblick nur Fortschritt sehen und in der Zukunft nichts als Niedergang erwarten?«

– Thomas Babington Macaulay,
Review of Southey’s Colloquies on Society1

Weltweites Bruttosozialprodukt pro Kopf2

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Gegen Mitte unseres Jahrhunderts wird sich die Erdbevölkerung von den weniger als zehn Millionen Menschen, die vor 10.000 Jahren lebten, auf annähernd zehn Milliarden vermehrt haben. Ein Teil der heutigen Menschen verbringt sein Dasein noch immer in Not und Elend, die weit schlimmer sind als alles, was unsere Vorfahren in der Steinzeit durchmachen mussten. Anderen geht es heute schlechter als noch vor einigen Monaten oder Jahren. Doch die überwiegende Mehrheit kann sich besser ernähren, besser wohnen, sich besser unterhalten, ist gesünder und hat eine höhere Lebenserwartung als sämtliche Generationen vor uns.3 Die Verfügbarkeit von fast allem, was der Einzelne braucht oder sich wünscht, ist seit 200 Jahren stetig und in den 10.000 Jahren davor in Schüben gestiegen: eine hohe Lebenserwartung, sauberes Wasser, klare Luft, private Stunden der Muße, die Möglichkeit, schneller zu reisen, als man laufen, und in größere Entfernungen zu kommunizieren, als man rufen kann. Selbst mit der Einschränkung, dass Hunderte Millionen noch immer unter bitterer Armut, Krankheiten und Mangel leiden, stehen unserer Generation mehr Kalorien, Watt, Lumenstunden, Quadratmeter, Gigabytes und Megahertz, Lichtjahre, Nanometer, Tonnen pro Hektar, Liter pro Kilometer, »Food Miles«, Flugkilometer und natürlich Dollars zur Verfügung als allen vor uns. Wir haben mehr Klettverschlüsse, Impfstoffe, Vitamine, Schuhe, Sänger, Seifenopern, Mangoschäler, Sexualpartner, Tennisschläger, Lenkflugkörper und vieles andere, was man wohl niemals brauchen wird. Einer Schätzung zufolge liegt die Zahl der verschiedenen Artikel, die man in New York oder London kaufen kann, bei über zehn Milliarden.4

Man sollte meinen, über all dies bestehe Einigkeit, aber dem ist keineswegs so. Eine ganze Reihe unserer Zeitgenossen glaubt, dass es sich in der Vergangenheit besser leben ließ als heute. Früher, so wenden sie ein, sei das Leben einfacher gewesen, ruhiger, es habe mehr Gemeinsinn und Spiritualität gegeben, aber auch mehr Tugenden und Werte. Allerdings findet man diese rosarote Brille, so möchte ich betonen, in der Regel allein unter Wohlhabenden. Es fällt leicht, elegisch für das Leben eines Bauern zu schwärmen, wenn man kein Plumpsklo benutzen muss. Führen wir uns einmal vor Augen, wie es um das Jahr 1800 in Westeuropa oder Nordamerika aussah. Die Familie versammelt sich um das Herdfeuer in einem schlichten Fachwerkhaus. Der Vater liest aus der Bibel vor, während die Mutter einen Eintopf aus Rindfleisch und Zwiebeln zubereitet. Das Baby wird von einer der Schwestern gewiegt, während der größte Junge aus einem Krug Wasser in die irdenen Becher auf dem Tisch gießt. Seine älteste Schwester füttert das Pferd im Stall. Draußen vor der Tür stört kein Verkehrslärm, es gibt keine Drogendealer und die Milch der Kuh ist weder mit Dioxin noch mit radioaktivem Fallout belastet. Es herrscht Stille, nur vor dem Fenster singt ein Vogel.

Ich bitte Sie! Auch wenn diese Familie zu den Bessergestellten des Dorfes gehört, werden die Bibelworte des Vaters von seinem rachitischen Husten unterbrochen, ein Vorzeichen der Lungenentzündung, die ihn im Alter von 53 Jahren dahinraffen wird – und der durch den Holzrauch des Feuers sicherlich nicht besser wurde. (Dabei zählt er noch zu den Glücklichen, denn die durchschnittliche Lebenserwartung lag um 1800 in England bei unter 40 Jahren.) Das Baby stirbt an den Pocken, die es jetzt schon greinen lassen, die Schwester wird bald schon unter der Knute eines versoffenen Mannes stehen. Das Wasser, das der Junge in die Becher gießt, schmeckt nach den Kühen, die im Bach getränkt werden, die Mutter quälen Zahnschmerzen. Gerade in diesem Augenblick wird die Tochter im Stall vom Burschen des Nachbarn im Heu geschwängert und ihr Sohn landet im Waisenhaus. Der Eintopf ist grau und voller Knorpel, dennoch ist Fleisch eine seltene Abwechslung vom ewigen Haferschleim. Zu dieser Jahreszeit gibt es kein Obst und keinen Salat. Sie essen mit einem Holzlöffel aus einer Holzschale. Da Kerzen zu teuer sind, müssen sie sich mit dem Licht begnügen, das das Herdfeuer spendet. Keiner aus der Familie hat je ein Theaterstück gesehen, ein Bild gemalt oder den Klang eines Klaviers gehört. Die Schulbildung besteht aus ein paar Jahren langweiliger Lateinstunden, unterrichtet vom bigotten Drillmeister im Pfarrhaus. Der Vater hat einmal die Stadt besucht, obwohl ihn die Fahrt einen Wochenlohn kostete, die anderen jedoch sind nie weiter als etwa 20 Kilometer von zu Hause fort gewesen. Die Töchter besitzen jeweils zwei Wollkleider, zwei Leinenhemden und ein Paar Schuhe. Den Vater hat sein Jackett ein Monatseinkommen gekostet, allerdings ist es mittlerweile voller Läuse. Die Kinder teilen sich jeweils zu zweit ein Bett, das aus einer Strohmatratze auf dem Boden besteht. Und was den Vogel vor dem Fenster betrifft: Am nächsten Tag wird er von dem Jungen gefangen und verspeist werden.5

Wenn Ihnen meine fiktionale Familie nicht gefällt, befassen Sie sich vielleicht lieber mit Zahlenmaterial. Seit dem Jahr 1800 hat sich die Weltbevölkerung versechsfacht, die durchschnittliche Lebenserwartung verdoppelt und das Realeinkommen ist um mehr als das Neunfache gestiegen.6 Betrachten wir den kürzeren Zeitraum von 1955 bis zum Jahr 2005: In dieser Spanne stieg für jeden Erdbewohner im Durchschnitt der Lohn auf das Dreifache (die Inflationsrate bereits berücksichtigt), seine Kalorienaufnahme nahm um ein Drittel zu, ebenso wie seine Lebenserwartung, und er verlor ein Drittel weniger Kinder. Als Todesursachen wurden Krieg, Mord, Kindbettstod, Unfall, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Hunger, Keuchhusten, Tuberkulose, Malaria, Diphtherie, Typhus, Masern, Pocken, Skorbut oder Kinderlähmung immer seltener. Außerdem erkrankten weniger Menschen aller Altersstufen an Krebs, an einem Herzleiden oder erlitten einen Schlaganfall. Die Wahrscheinlichkeit, lesen und schreiben zu lernen, erhöhte sich ebenso wie die, über ein Telefon, eine Wassertoilette, einen Kühlschrank oder ein Fahrrad zu verfügen. All dies entwickelte sich in dem halben Jahrhundert, in dem sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelte, was bedeutet, dass sich Waren und Dienstleistungen unter dem Druck des Bevölkerungswachstums nicht verknappten, sondern sogar in weit größerem Ausmaß zugänglich waren. Und das ist, wie immer man es sehen mag, eine großartige Leistung der Menschheit.

Gewiss geben Durchschnittszahlen nicht die ganze Wahrheit wieder. Doch selbst wenn wir die Welt in einzelne Regionen aufteilen, lässt sich wohl kaum ein Gebiet finden, in dem es den Menschen im Jahr 2005 schlechter ging als 1955. In diesen 50 Jahren ist das reale Pro-Kopf-Einkommen in nur sechs Ländern leicht gesunken (Afghanistan, Haiti, Kongo, Liberia, Sierra Leone und Somalia), die Lebenserwartung in drei (Russland, Swasiland und Simbabwe) und die Säuglingssterblichkeit hat in keinem zugenommen. In allen anderen Ländern haben sich die Zahlen deutlich verbessert. In Afrika ging der Anstieg, verglichen mit dem Rest der Welt, zwar nur besorgniserregend langsam und nicht flächendeckend vonstatten, zudem sank in vielen südafrikanischen Ländern die Lebenserwartung aufgrund der Aids-Epidemie in den 1990er-Jahren drastisch, ehe sie sich in den letzten Jahren wieder erholte. Und einige Länder verzeichneten im Lauf dieses halben Jahrhunderts auch Phasen mit einem erschreckenden Absinken des Lebensstandards oder mit dramatischen Einbrüchen in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen – China in den 1960er-, Kambodscha in den 1970er-, Äthiopien in den 1980er-, Ruanda in den 1990er-, Kongo in den 2000er-Jahren und Nordkorea in dem gesamten Zeitraum. Für Argentinien war das 20. Jahrhundert eine unbefriedigende Epoche der Stagnation. Doch alles in allem ist die Bilanz nach 50 Jahren für die Welt erstaunlicherweise eindeutig positiv. Der durchschnittliche Südkoreaner lebt heute 26 Jahre länger und verdient im Jahr 15-mal mehr als 1955 (und 15-mal mehr als ein Nordkoreaner). Ein Mexikaner hat heute im Durchschnitt eine höhere Lebenserwartung als ein Bretone im Jahr 1955. Ein Durchschnittsbürger Botswanas verdient heute mehr als ein Finne im Jahr 1955. In Nepal ist die Säuglingssterblichkeit heute niedriger als in Italien im Jahr 1951. Die Anzahl der Vietnamesen, die mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen müssen, ist in 20 Jahren von 90 auf 30 Prozent der Bevölkerung gesunken.7

Die Reichen sind zwar reicher geworden, doch die Armen haben weit mehr hinzugewonnen. In den Entwicklungsländern stieg der Konsum der Armen zwischen 1980 und 2000 doppelt so rasch wie im Weltdurchschnitt.8 Die Chinesen sind zehnmal so reich wie vor 50 Jahren, haben ihre Geburtenrate um ein Drittel gesenkt und leben 28 Jahre länger. Selbst die Nigerianer sind doppelt so reich, um ein Viertel weniger fruchtbar und haben eine um neun Jahre längere Lebenserwartung als 1955. Obwohl sich die Weltbevölkerung verdoppelt hat, ist die Zahl der in absoluter Armut lebenden Menschen (die nach offizieller Definition mit weniger als einem, nach der Kaufkraft des Jahres 1985 berechneten Dollar pro Tag auskommen müssen) seit den 1950er-Jahren gesunken. Ihr Anteil hat sich mehr als halbiert – auf weniger als 18 Prozent.9 Natürlich sind das immer noch viel zu viele, doch die Entwicklung gibt Grund zur Hoffnung: Hielte dieser Trend an, würden wir im Jahr 2035 bei null ankommen, obwohl das wahrscheinlich nicht eintreten wird. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den letzten 50 Jahren die Armut in höherem Maß abgebaut werden konnte als in den 500 Jahren davor.10

Überfluss für alle

Dabei war 1955 keineswegs ein Jahr des Mangels, sondern ein Rekordjahr – ein Augenblick, in dem die Welt reicher, dichter bevölkert und bequemer war als je zuvor, trotz der noch nicht weit zurückliegenden Verbrechen Hitlers, Stalins und Maos (der damals gerade begann, sein Volk auszuhungern, um mit dessen Getreidevorräten in Russland Atomwaffen zu kaufen). Im Vergleich zu allen früheren Zeiten waren die 1950er ein Jahrzehnt des außerordentlichen Wohlstands und des Luxus. In Indien war die Säuglingssterblichkeit bereits niedriger als in Frankreich und Deutschland im Jahr 1900. Japanische Kinder gingen fast doppelt so lange zur Schule wie zur Jahrhundertwende. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts konnte sich das Pro-Kopf-Einkommen der Weltbevölkerung nahezu verdoppeln. 1958 schrieb John Kenneth Galbraith, die »Überflussgesellschaft« habe ein solches Niveau erreicht, dass die Verbraucher durch die eingängige Werbung inzwischen mit unnützen Waren »überversorgt« seien.11

Seine Behauptung, dass es den Amerikanern im Vergleich zu anderen besonders gut gehe, traf durchaus zu: 1950 waren sie durchschnittlich knapp acht Zentimeter größer als noch zur Jahrhundertwende und gaben doppelt so viel Geld für ihre Medikamente aus wie für ihr Begräbnis – 1900 war das Verhältnis noch umgekehrt. Etwa acht von zehn amerikanischen Haushalten verfügten 1955 über fließendes Wasser, Elektrizität, eine Waschmaschine und einen Kühlschrank, also Luxusgüter, die 1900 noch kaum jemand kannte. In seinem 1890 erschienenen Klassiker How the Other Half Lives schildert Jacob Riis eine neunköpfige Familie in New York, die in einem knapp zehn Quadratmeter großen Wohnraum plus winziger Küche lebte. Die Frauen verdienten damals für einen 16-stündigen Arbeitstag in einem Ausbeuterbetrieb 60 Cent und mehr als eine Mahlzeit pro Tag konnte man sich nicht leisten. Zur Mitte des letzten Jahrhunderts wäre dies undenkbar gewesen.12

Wenn wir heute, noch einmal mehr als 50 Jahre später, zurückschauen, würden wir die Angehörigen der Mittelschicht von 1955, die sich an Annehmlichkeiten wie Autos und allen möglichen Geräten erfreuten, als »unterhalb der Armutsgrenze« bezeichnen. Der durchschnittliche Arbeiter in Großbritannien, von dem Harold Macmillan 1957 sagte, es sei ihm »noch nie so gut gegangen«, verdiente preisbereinigt damals weniger, als sein Kollege heute an staatlicher Beihilfe erhält, wenn er arbeitslos wird und drei Kinder hat. Von den in den Vereinigten Staaten als »arm« eingestuften Bürgern haben 99 Prozent Elektrizität, fließendes Wasser, eine Wassertoilette und einen Kühlschrank, 95 Prozent ein Fernsehgerät, 88 Prozent ein Telefon, 71 Prozent ein Auto und 70 Prozent eine Klimaanlage. Dem »Schiffs- und Eisenbahnkönig« Cornelius Vanderbilt stand nichts dergleichen zur Verfügung. Noch 1970 besaßen nur 36 Prozent der US-Bürger eine Klimaanlage, im Jahr 2005 79 Prozent aller armen Haushalte. Unter der städtischen Bevölkerung Chinas verfügen 90 Prozent über elektrisches Licht, einen Kühlschrank und fließendes Wasser, viele von ihnen zudem über ein Mobiltelefon, Internetzugang und Satellitenfernsehen, ganz zu schweigen von zahlreichen verbesserten und günstigeren Ausführungen aller möglichen Dinge wie Autos, Spielzeug, Impfstoffe und Restaurants.

Ist ja gut und schön, sagt der Pessimist, aber welchen Preis müssen wir dafür zahlen? Die Umweltverschmutzung nimmt stetig zu. Vielleicht an einem Ort wie Peking, an vielen anderen jedoch nicht. In Europa und den Vereinigten Staaten werden Flüsse, Seen, das Meer und die Luft immer sauberer. In der Themse gibt es weniger Abwasser und mehr Fische. Im Eriesee waren die Wasserschnecken in den 1960ern beinahe ausgestorben, jetzt aber lebt in dem Gewässer wieder eine große Population. Die Weißkopfseeadler haben sich vermehrt. In Pasadena sieht man kaum noch Smog. In Schweden sind die Vogeleier um drei Viertel weniger mit Umweltgiften belastet als in den 1960er-Jahren. In den USA ist die Luftverschmutzung durch das von Kraftfahrzeugen ausgestoßene Kohlenmonoxid in 25 Jahren um 75 Prozent zurückgegangen. Ein mit Höchstgeschwindigkeit fahrendes Auto produziert heute weniger Schadstoffe als 1970 ein geparktes durch seine Lecks in den Leitungen.13

Zugleich steigt die durchschnittliche Lebenserwartung in dem Land mit dem höchsten Lebensalter (1850 war dies Schweden, 1920 Neuseeland und heute ist es Japan) weiterhin um drei Monate pro Jahr an, eine Rate, an der sich seit 200 Jahren kaum etwas geändert hat. Außerdem hat sie bisher noch nicht ihre Grenze erreicht, obwohl das irgendwann der Fall sein muss. In den 1920er-Jahren versicherten uns die Demografen noch voller Überzeugung, »ohne die Einwirkung radikaler Neuerungen oder eines fantastischen evolutionären Wandels in unserer physiologischen Konstitution« werde die durchschnittliche Lebenserwartung mit 65 ihren Höhepunkt erreicht haben. In den 1990er-Jahren meinten sie, die Lebenserwartung werde »bei den 50-Jährigen 35 Jahre nicht übersteigen, es sei denn, bahnbrechende Entwicklungen könnten die grundlegende Geschwindigkeit des Alterns beeinflussen«. Innerhalb von fünf Jahren sind beide Vorhersagen in wenigstens einem Land widerlegt worden.14

Dementsprechend verbringen wir immer mehr Zeit im Ruhestand. Von 1901 bis 1969, also innerhalb von 68 Jahren, sank die Sterblichkeitsrate der britischen Männer im Alter zwischen 65 und 74 um 20 Prozent. Danach dauerte es erst 17, dann zehn und schließlich sechs Jahre, bis sie jeweils um weitere 20 Prozent fiel – die Entwicklung beschleunigte sich also. Schön und gut, sagt der Pessimist, aber was ist mit der Lebensqualität im Alter? Sicher, die Menschen leben länger, doch sie verbringen die hinzugewonnenen Jahre in Krankheit und Gebrechlichkeit. Falsch. Gemäß einer amerikanischen Studie sank die Rate der Gebrechlichen über 65 zwischen 1982 und 1999 von 26,2 auf 19,7 Prozent – doppelt so schnell wie die Sterblichkeitsrate. Eine chronische Krankheit vor dem Tod dauert, wenn sie überhaupt auftritt, bei besserer Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten im statistischen Mittel ein wenig kürzer und nicht länger – »Verzögerung der Morbidität« lautet der Fachausdruck. Die Menschen leben nicht nur länger, sondern die Zeit ihres Sterbens ist auch kürzer geworden.15

Betrachten wir einmal den Schlaganfall, eine der wesentlichen Ursachen für Behinderung im Alter. In den Vereinigten Staaten und Europa sank die Zahl der Todesfälle durch Schlaganfall in der Zeit von 1950 bis 2000 um 70 Prozent. Zu Beginn der 1980er-Jahre kam eine in Oxford durchgeführte Untersuchung an Schlaganfallpatienten zu dem Ergebnis, dass in den folgenden zwei Jahrzehnten die Zahl der Schlaganfälle um nahezu 30 Prozent steigen werde, hauptsächlich weil sich Schlaganfälle im Alter häufen und den Menschen ein höheres Lebensalter vorausgesagt wurde. Letzteres traf tatsächlich zu, doch die Schlaganfallrate sank um 30 Prozent. (Der altersbedingte Anstieg ist zwar immer noch vorhanden, doch er tritt zunehmend später auf.) Das Gleiche gilt für Krebs, Herz- und Atemwegserkrankungen: Sie werden zwar mit dem Alter häufiger, zeigen sich jedoch immer später – seit den 1950ern zehn Jahre später.16

Selbst die Ungleichheit, die Spanne zwischen Arm und Reich, nimmt weltweit ab. Es stimmt, dass sich in Großbritannien und den USA an den Einkommensunterschieden – die in den letzten zwei Jahrhunderten gesunken waren (um 1800 war ein britischer Aristokrat 15 Zentimeter größer als ein Durchschnittsbürger, heute durchschnittlich nur noch knapp fünf) – seit den 1970er-Jahren nichts geändert hat. Von den vielen Ursachen hierfür sind aber keineswegs alle zu bedauern. Zum Beispiel heiraten Großverdiener heute viel häufiger jemanden aus den eigenen Kreisen als früher (was das Vermögen konzentriert). Die Einwanderung hat zugenommen, der Handel ist freier geworden, Kartelle haben sich dem unternehmerischen Wettbewerb geöffnet und das Fachwissen am Arbeitsplatz ist gestiegen. Diese Tendenzen befördern die Entwicklung zur Ungleichheit, haben aber ihren Ursprung in der Liberalisierung. Außerdem stehen wir vor dem statistischen Paradoxon, dass sich die Ungleichheit in einigen Ländern zwar verschärft, global aber abnimmt. Im aktuellen Wohlstandsboom in China und Indien etwa wachsen die Vermögen der Reichen rascher als die der Armen – die Einkommensschere ist eine unausweichliche Folge einer boomenden Wirtschaft. Global gesehen hat das Wachstum in Indien und China jedoch die Unterschiede zwischen Arm und Reich schrumpfen lassen.17 So schreibt Hayek, dass, »wenn der Aufstieg der unteren Klassen sich einmal zu beschleunigen beginnt, die Versorgung der Reichen aufhört, die Hauptquelle großer Gewinne zu sein, und die Bemühungen sich anstatt dessen den Bedürfnissen der Massen zuwenden. Die Kräfte, die die Ungleichheit zunächst selbstverstärkend machen, haben später die Tendenz, sie auszugleichen.«18

Auch in einem anderen Bereich befindet sich die Ungleichheit auf dem Rückzug. Bei Intelligenztests gibt es immer weniger deutliche Ausschläge – die niedrigen IQs werden seltener und schließen zu den höheren auf. Dies erklärt den gleichmäßig fortschreitenden und überall festzustellenden Anstieg des durchschnittlichen Intelligenzquotienten bei Menschen jeglichen Alters – um drei Prozent pro Jahrzehnt. Zwei spanische Studien stellten fest, dass der IQ innerhalb von drei Jahrzehnten um 9,7 Prozent gestiegen war, und zwar weit deutlicher in der Probandengruppe mit der geringeren Intelligenz. Dieses auch als Flynn-Effekt bezeichnete Phänomen – James R. Flynn war der Erste, der darauf aufmerksam machte19 – wurde zunächst nicht erkannt, sondern Änderungen im Testverfahren oder den Auswirkungen eines besseren und längeren Schulunterrichts zugeschrieben. Doch die Tatsachen zeigen uns etwas anderes, denn am schwächsten war dieser Effekt bei den klügsten Kindern und in jenen Tests ausgeprägt, die sich eng an erlerntem Wissen orientieren. Verantwortlich für die Angleichung der IQs sind einheitlichere Ernährung, Anregungen und Erfahrungsvielfalt in der Kindheit. Man kann natürlich einwenden, dass der IQ vielleicht nicht den wirklichen Grad der Intelligenz wiedergibt, aber dass es eine Steigerung und zugleich eine Annäherung gibt, lässt sich nicht leugnen.

Selbst die Justiz wurde gerechter, da man mithilfe neuer Techniken Fehlurteile erkannte und die wahren Schuldigen aufspüren konnte. Bis heute wurden in den USA nach DNA-Tests 234 unschuldig Verurteilte freigelassen, die durchschnittlich zwölf Jahre in Haft gewesen waren, 17 davon in der Todeszelle.20 Als man bei kriminaltechnischen Untersuchungen 1986 zum ersten Mal von dem DNA-Test Gebrauch machte, konnte ein Unschuldiger entlastet und der wahre Mörder gefunden werden, ein Vorgang, der sich seither viele Male wiederholt hat.

Billige Beleuchtung

Diese reicheren, gesünderen, größeren, klügeren, freieren Menschen mit einer höheren Lebenserwartung – also wir alle – genießen einen großen Überfluss, zumal die Preise für die meisten Dinge des täglichen Gebrauchs stetig sinken. Die vier wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen – Nahrung, Kleidung, Energie und Wohnen – sind in den letzten zwei Jahrhunderten deutlich billiger geworden. Besonders gilt das für Lebensmittel und Kleidung (abgesehen von einem kurzen Anstieg der Lebensmittelpreise im Jahr 2008), während der Preis bei der Energie schwankt. Sogar das Wohnen kostet offenbar weniger als früher: Auch wenn es manchen überraschen mag, muss eine Familie dafür heute nicht mehr so viel aufwenden wie im Jahr 1900 oder gar 1700 – trotz der moderneren Ausstattung mit Elektrizität, Telefon und fließendem Wasser.21 Wenn der Grundbedarf günstiger zu haben ist, kann man einen größeren Teil seines Einkommens für Luxus ausgeben. Künstliches Licht liegt im Grenzbereich zwischen Grundbedarf und Luxus. In Geld gemessen, war künstliche Beleuchtung im England des Jahres 1300 20.000-mal teurer als heute.22

So enorm diese Differenz auch ist, noch deutlicher kommt der Fortschritt vor allem der letzten Jahre im Verhältnis zur Arbeitsleistung zum Ausdruck. Vergleichen wir, wie viel künstliches Licht wir uns mit dem Lohn für eine Arbeitsstunde kaufen können, zeigt sich, dass die Menge von 24 Lumenstunden im Jahr 1750 v. Chr. (Lampe mit Sesamöl) über 186 Stunden im Jahr 1800 (Talglicht), 4.400 Stunden im Jahr 1880 (Petroleumlampe) und 531.000 Stunden im Jahr 1950 (Leuchtstoffröhre) bis auf die heutigen 8,4 Millionen Lumenstunden (Energiesparbirne) gestiegen ist. Anders gesagt erwirtschaften wir heute mit einer Arbeitsstunde das Licht für 300 Tage Lesevergnügen, während wir 1800 dafür lediglich zehn Minuten bekamen.23 Oder andersherum: Wie lange müssen wir arbeiten, um eine 18-Watt-Energiesparbirne eine Stunde brennen zu lassen? Heute kostet es bei einem Durchschnittsgehalt noch nicht einmal eine halbe Sekunde unserer Arbeitszeit, während es 1950 mit einer konventionellen Glühbirne und dem damaligen Gehalt noch acht Sekunden waren. In den 1880er-Jahren, als man Petroleumlampen verwendete, musste man für eine Stunde Beleuchtung etwa 15 Minuten arbeiten und 1750 v. Chr. in Babylon, als das Licht mit Sesamöllampen erzeugt wurde, kostete es mehr als 50 Arbeitsstunden. Von sechs Stunden bis zu einer halben Sekunde – eine Verbesserung um den Faktor 43.200 – für eine Stunde Licht: Um so viel stehen wir besser da als unsere Vorfahren im Jahr 1800, errechnet man es in der Währung unserer Tage, also in Zeit.24 Jetzt ist auch klar, warum meine fiktionale Familie ihre Mahlzeit beim Schein des Feuers einnahm.