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informationen zur deutschdidaktik
Zeitschrift für den Deutschunterricht
in Wissenschaft und Schule

Literaturvermittlung

Herausgegeben von
Gerda E. Moser und Katharina Evelin Perschak

Heft 1-2018
42. Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

Editorial

GERDA E. MOSER,
KATHARINA EVELIN PERSCHAK:
Editorial

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Magazin

Kommentar
DANIEL TERKL: Die Rolle des Literatur hauses in der Literaturvermittlung. Neue Herausforderungen und Konzepte

ide empfiehlt
CHRISTIAN SCHÜTTE: U. Krieg-Holz, L. Bülow (2016): Linguistische Stil- und Textanalyse | U. Krieg-Holz (2017): Textsortenstile – Stilbeschreibung und Textsortenklassifikation

Neu im Regal

 

Buchmarkt – Literaturbetrieb – Öffentlichkeit

RENATE GIACOMUZZI, VERONIKA SCHUCHTER: Theorie und Praxis der Literaturvermittlung als Lehr- und Forschungsgebiet

THOMAS ZIRNBAUER: Wie entsteht ein Buch – und wie findet es seine Leser? Einige Fragen und Antworten aus der Verlagspraxis

ISABELLA STRAUB (im Interview): »Oft lache ich auch selbst beim Schreiben.« Isabella Straub (alias Isabella Rau) über ihre Erfahrungen als Autorin von »Belletristik« und »Unterhaltungs-« bzw. »Genreliteratur«

CAROLIN FÜHRER, JOCHEN HEINS: Zum Autor im Kontext der Literaturinterpretation. Autorschaftsbezüge in Literaturwissenschaft und Vermittlungspraxis

EVELYNE POLT-HEINZL: Von neuen Büchern, alten Fehlern und anderen Ungereimtheiten. Zehn Problemfelder zur Literaturkritik

HEIMO STREMPFL: Literatur macht möglich

LYDIA ZELLACHER: Von der Studierstube zum Informationszentrum und Begegnungsort. Universitätsbibliotheken im Wandel

Aktuelle Herausforderungen, neue Sichtweisen

FELIX SCHNIZ: Der methodische Beitrag von Videospielen im Unterricht zum Verständnis abstrakter Begriffe durch Selbsterfahrung

JOHANNES MAYER, PETER BANNIER: Lesen, Sprechen und Schreiben verbinden. Literarisches Lernen in Vorlesegesprächen und Lernportfolios

ARTUR R. BOELDERL:»Kannitverstan« als literaturdidaktisches Prinzip. Von der In-Kompetenz der Problemlösung und der Nicht-Kompetenz der Problemfindung

Bewährte Praxis, nicht alltäglich

GERDA WOBIK: Geliebtes Stiefkind: Literaturunterricht an der HTL

SUSANNE HÖRL: »Durch diese hohle Gasse…«.
Eine dramapädagogische Sequenz zu Schillers Wilhelm Tell

SONJA MENTL: Literaturunterricht per Kulturportfolio

Service

EVELYNE POLT-HEINZL: Über das Lesen und den Literaturbetrieb. Bibliographische Notizen

 

 

 

 

»Literaturvermittlung« in anderen ide-Heften

ide 3-2015

Wissen

ide 2-2015

Kulturen des Erinnerns

ide 1-2013

Literale Praxis von Jugendlichen

ide 4-2012

Literaturgeschichte

ide 2-2012

Kultur des Sehens

ide 4-2011

Österreichische Gegenwartsliteratur 2000–2010

ide 3-2011

Erzählen

ide 1-2010

Weltliteratur

 

Das nächste ide-Heft

ide 2-2018

Textmuster und Textsorten
erscheint im Juni 2018

 

Vorschau

ide 3-2018

Die Sichtbarkeit (in) der Literatur

ide 4-2018

Normen und Variation

 

 

 

 

 

www.aau.at/ide

 

Besuchen Sie die ide-Webseite! Sie finden dort den Inhalt aller ide-Hefte seit 1988 sowie »Kostproben« aus den letzten Heften. Sie können die ide auch online bestellen.

 

www.aau.at/germanistik/fachdidaktik

 

Besuchen Sie auch die Webseite des Instituts für GermanistikAECC, Abteilung für Fachdidaktik an der AAU Klagenfurt: Informationen, Ansätze, Orientierungen.

Editorial

 

 

Noch ehe literarische Texte in (Online-)Buchhandlungen oder Bibliotheken aufliegen und von Leserinnen und Lesern in die Hand genommen oder heruntergeladen werden, haben sie einen langen Weg in der Produktion mit entscheidenden Stationen in Verlag und Vertrieb hinter sich. Tatsächlich gekaufte oder ausgeliehene und gegen die Konkurrenz von anderen Medien und Freizeitangeboten rezipierte Bücher geben Anlass zu Interpretationen und Diskussionen, etwa im Feuilleton oder vor allem auch in der Schule.

Unter dem Dachbegriff der Literaturvermittlung gibt dieses ide-Heft Einblicke in Bedingungen und Hintergründe der Produktion und Rezeption von literarischen Texten mit Fokus auf zentrale Institutionen, Prozesse und AkteurInnen. Literaturvermittlung wird im breitesten Sinn als eine Tätigkeit all jener verstanden, die Literatur erzeugen, mit ihr umgehen und ihr auf diese Weise (und in vielfältigen Formen) Bedeutung verleihen. Im Angebot des Heftes ist ein Grundwissen über den Buch- und Literaturmarkt selbst, darüber hinausgehend ein in der schulischen Praxis erprobtes und impulsgebendes Repertoire von Ansätzen und Methoden, die aktuellen medialen, bildungspolitischen und literaturdidaktischen Herausforderungen begegnen.

Im ersten Abschnitt dieses Hefts, »Buchmarkt – Literaturbetrieb – Öffentlichkeit«, werden die wichtigsten Instanzen der Literaturvermittlung vorgestellt und besprochen. Im Basisartikel führen Renate Giacomuzzi und Veronika Schuchter in den Begriff der Literaturvermittlung ein, indem sie vor dem Hintergrund ihrer Arbeit im Innsbrucker Zeitungsarchiv die nötige empirische Basis für Diskussionen über das Feuilleton liefern.

Die nächsten Beiträge räumen mit nach wie vor weit verbreiteten Annahmen über AutorInnen und Verlage auf: Thomas Zirnbauer, Pressechef der Belletristikabteilung des dtv-Verlags, gibt einen praxisnahen Einblick in die Entstehung und Bewerbung eines Buches. Sein Beitrag beantwortet auf unterhaltsame Weise die häufigsten Fragen, die VerlagsmitarbeiterInnen gestellt werden, und vermittelt dabei hochaktuelles Wissen über den Buchmarkt aus Sicht der ProduzentInnen. Isabella Straub hingegen schildert im Interview mit Gerda E. Moser eine andere Sichtweise auf den Literaturbetrieb: Als Autorin gibt sie nicht nur Einblick in ihren persönlichen Schreibprozess, sondern auch in die unterschiedlichen Märkte sowohl der anspruchsvollen als auch der Unterhaltungsliteratur.

Carolin Führer und Jochen Heins nähern sich den AutorInnen auf andere Weise: Sie geben einen Überblick über die wichtigsten Konzepte von Autorschaft, ein Thema, das nach wie vor oder schon wieder aktuell ist – entgegen oder trotz des proklamierten »Tod[es] des Autors« (Barthes 1967). In ihrem Beitrag ergründen sie den Einfluss dieser Autorschaftskonzepte auf Literaturwissenschaft und Literaturvermittlung und untersuchen, in welchem Zusammenhang sie mit der Interpretation von Texten stehen.

Evelyne Polt-Heinzl wirft einen kritischen Blick auf aktuelle Entwicklungen im Literaturbetrieb von Seiten der Literaturkritik und ergänzt dadurch den Basisartikel. Sie spricht dabei offen über diverse fragwürdige Praktiken des Literaturbetriebs: gekaufte Rezensionen on- und offline, schlechte Arbeitsbedingungen und Bezahlung, schwindende Bedeutung der Kritik, was die KritikerInnen wiederum dazu zwingt, sich anderweitig im Betrieb zu verdingen.

Zwei bedeutende öffentliche Einrichtungen der Literaturvermittlung bilden den Abschluss des ersten Teils: Das Literaturmuseum als besondere Einrichtung stellt Heimo Strempfl in seinem Beitrag näher vor. Der Leiter des Musil-Museums der Stadt Klagenfurt gibt Einblick in dessen zahlreiche Tätigkeiten. Das Museum positioniert sich dabei bewusst an der Schnittstelle zwischen Kunst, Schule und Literatur und macht nicht nur »möglich«, sondern macht auch Lust darauf, den außerschulischen Lernort Literaturmuseum selbst zu erkunden.

Bibliotheken sind längst mehr als Orte des Schweigens und der Konzentration: Wie sich (Universitäts-)Bibliotheken entwickelt haben und welchen aktuellen Herausforderungen sie sich stellen müssten, zeigt Lydia Zellacher in ihrem Beitrag auf. So ist vielen Bibliotheken schon an der Architektur ihre (neue) Ausrichtung als Orte der Begegnung anzusehen. E-Books lösen Print-Bücher zunehmend ab, sind aber auch mit wesentlichen Nachteilen verbunden. Und nicht zuletzt ändert sich die Rolle der BibliothekarInnen, und Klischees von »alten Jungfern« und EinzelgängerInnen haben mit dem heutigen Berufsbild nichts mehr zu tun.

Im zweiten Abschnitt des Hefts, »Aktuelle Herausforderungen, neue Sichtweisen«, zeigt Felix Schniz, wie man SchülerInnen abstrakte literarische Konzepte mithilfe von Computerspielen vermitteln kann. Als »Second Reality« bieten sie die Möglichkeit, Erfahrungen aus einer anderen Perspektive zu machen und Handlungsalternativen zu erproben. Wie man den Begriff des »Kafkaesken« vermitteln kann, führt Schniz am Beispiel des Spiels The Stanley Parable vor.

Johannes Mayer und Peter Bannier widmen sich der Schule als Ort der Literaturvermittlung. In ihrem Beitrag zum Vorlesegespräch verbinden sie die Bereiche Lesen, Sprechen und Schreiben in einem Unterrichtsentwurf, der ursprünglich für die Primarstufe konzipiert wurde. In drei Phasen werden zahlreiche Kompetenzen der SchülerInnen im Umgang mit Literatur entwickelt.

Dass uns Literatur oft in die Situation des Nicht-Verstehens versetzt, erörtert Artur R. Boelderl in seinem Beitrag. Anhand der Hebel’schen Kalendergeschichte vom »Kannitverstan« nähert er sich dem Thema auf vorwiegend philosophische Weise. Seine Überlegungen münden in drei Unterrichtsvignetten, die den Versuch darstellen, das Nicht-Verstehen von Literatur im Unterricht produktiv zu nutzen.

»Bewährte Praxis, nicht alltäglich« scheint uns ein passender Titel für den dritten Abschnitt dieses Bandes. Gerda Wobik zeigt in ihrem Beitrag, wie sie Literatur in einer HTL unterrichtet, die behandelten Texte auswählt, wie sie Wissen über Literaturgeschichte vermittelt und welche Methoden sie dafür anwendet. Sie setzt bewusst auf Wege abseits von Standardisierung und Kompetenzorientierung, ohne jedoch diese Aspekte zu vernachlässigen. Dass ästhetische Bildung auch für angehende TechnikerInnen von Bedeutung ist, wird bei ihren Erläuterungen klar.

Dramapädagogik als Unterrichtsmethode nutzt Susanne Hörl in der Bearbeitung von Schillers Wilhelm Tell. Sie stellt in ihrem Beitrag ein detailliertes Aufgabenarrangement vor, das zahlreiche Kompetenzen der SchülerInnen anspricht. Wichtig sind ihr in erster Linie der Prozess und die Freude am Spiel.

Sonja Mentl beschließt diese Rubrik. In ihrem Beitrag bietet sie Einblick in das Kulturportfolio an der Handelsakademie. Das Kulturportfolio ist eine Möglichkeit der Individualisierung und Interessenförderung. Mentl stellt die Prinzipien beim Konzipieren der Aufgaben ebenso dar wie konkrete Arbeitsaufträge. Diese Beispiele regen zur Nachahmung an.

Evelyne Polt-Heinzl fasst in ihrer sorgsam zusammengestellten Bibliographie den Begriff der Literaturvermittlung eher breit und fokussiert bei ihrer Auswahl auf Forschungsliteratur aus – aufgrund von gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen – aktuell besonders intensiv diskutierten Themenfeldern.

Im Magazinteil dieses Heftes setzt sich Daniel Terkl, Mitarbeiter der Alten Schmiede in Wien, mit der sich wandelnden Rolle des Literaturhauses in der Literaturvermittlung auseinander. Dieses soll – einem alten, und immer noch gültigen Konzept folgend – einen Raum der Begegnung und des öffentlichen Dialogs mit Literatur und ihren AkteurInnen für möglichst viele Menschen herstellen.

In der Rubrik »ide-empfiehlt« stellt Christian Schütte zwei aktuelle Publikationen zur Stilistik vor, die beiden Rezensionen in »Neu im Regal« von Sabine Dengscherz und Viktoria Walter nähern sich wieder stärker dem Thema der Literaturvermittlung.

Wir hoffen, dieses Heft bietet Ihnen einen aktuellen Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebes und viele Anregungen für Ihre eigene Tätigkeit.

GERDA E. MOSER
KATHARINA EVELIN PERSCHAK

 

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GERDA E. MOSER ist Senior Scientist im Fachbereich Angewandte Germanistik am Institut für Germanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Abteilung Literatur- und Sprachwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind LeserInnen- und Bestsellerforschung sowie Literatur- und Kulturtheorie unter dem Aspekt Vergnügen. E-Mail: gerda.moser@aau.at

KATHARINA EVELIN PERSCHAK arbeitet als Universitätsassistentin am Institut für Germanistik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Abteilung Fachdidaktik. Sie beschäftigt sich mit Mündlichkeit, Argumentieren und Debattieren, mit LeserInnenforschung sowie (vor-)wissenschaftlichem Lesen und Schreiben.
E-Mail: katharina.perschak@aau.at

Renate Giacomuzzi, Veronika Schuchter

Theorie und Praxis der Literaturvermittlung als Lehr- und Forschungsgebiet

 

 

 

 

 

 

Literaturvermittlung ist ein Begriff aus der Praxis des Literaturbetriebs und wird dort als Bezeichnung für Handlungen verwendet, die von professionellen Akteuren und Institutionen aus gewinn- oder bildungsorientiertem Antrieb zur Stimulierung des Lesens von belletristischer Literatur gesetzt werden. Als Bezeichnung eines Forschungsgebietes oder einer wissenschaftlichen Disziplin ist der Begriff noch relativ neu. Der vorliegende Beitrag reflektiert zuerst den Gebrauch des Terminus im akademischen Diskurs und wirft anschließend einen Blick in die Forschungspraxis des Schwerpunkts Literaturvermittlung / Angewandte Literaturwissenschaft, der am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck vom Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) vertreten wird. Im Rahmen der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft steht dort neben der Sammlung die Analyse von Quellen zur medialen Literaturvermittlung im Zentrum von Forschung und Lehre.

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1. »You Can’t Judge a Book by its Cover« – oder doch?

»If you can’t judge a book by its cover, then how do I know if I am buying a good book?«1 lautet die rhetorische Frage des »Philosoraptor« auf einem Meme der beliebten im Web kursierenden Serie. Die der Dinosaurierfigur in den Mund gelegte Frage bezieht sich auf den Songtitel You Can’t Judge a Book by Its Cover.2 Wer hat Recht? Aus der Sicht der »klassischen« Literaturwissenschaft ist dem Songtitel beizupflichten, denn im Zentrum der philologischen Forschung stand immer der literarische Text und nicht das »Drumherum« oder »Beiwerk«, wie es der französische Literaturwissenschaftler Gérard Genette benannt hat (vgl. Genette 2001). Seit den 1960er-Jahren hat jedoch die Frage, welche Faktoren außerhalb des Textes den Vermittlungsprozess von Literatur steuern, zunehmend Eingang in die literaturwissenschaftliche Forschung gefunden und letztlich neue akademische Fachbereiche begründet, die unter dem Titel »Angewandte Literaturwissenschaft«, »Literaturvermittlung« oder »Buchforschung« die Untersuchung der Produktions-, Distributions-und Rezeptionsbedingungen von Literatur zum Kernbereich ihrer Forschung erklärten. Ohne im Detail auf den historischen Verlauf und die Abgrenzung der einzelnen Disziplinen einzugehen,3 möchten wir uns hier darauf konzentrieren, »Literaturvermittlung« als wissenschaftliche Forschungsdisziplin näher zu beschreiben.

2. Der Begriff Literaturvermittlung in der akademischen Praxis

Literaturvermittlung ist ein Begriff aus der Praxis des Literaturbetriebs und wird dort als Bezeichnung für Handlungen verwendet, die von professionellen AkteurInnen und Institutionen aus gewinn- oder bildungsorientiertem Antrieb zur Stimulierung des Lesens von belletristischer Literatur gesetzt werden. Literaturvermittlung betreiben also VerlegerInnen, LiteraturagentInnen, JournalistInnen, Literaturhäuser, Bibliotheken, Archive, Schulen und nicht zuletzt auch LiteraturwissenschaftlerInnen selbst. Als Bezeichnung eines Forschungsgebietes oder einer wissenschaftlichen Disziplin ist der Begriff noch relativ neu. Im 1998 bei Metzler erschienenen Lexikon zur Literatur- und Kulturtheorie steht der Begriff für »alle direkt oder indirekt zwischen Autor und Leser vermittelnden Einrichtungen« (Rusch 1998, S. 328; vgl. dazu auch Neuhaus 2009, S. 14). Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (Braungart u. a. 2010) führt dazu noch keinen eigenen Eintrag an, sondern beschreibt unter dem Stichwort »Distribution« den Gebrauch in der buchhändlerischen Marketinglehre und in der Forschung, wo er als »literaturwissenschaftlicher Terminus [...] in den 1970er Jahren im Zusammenhang mit dem Interesse an der Sozialgeschichte der Literatur aufgekommen« ist und Eingang in die Rezeptionsforschung und Empirische Literaturwissenschaft gefunden hat (ebd., Bd. 1, S. 381). Die erste und bislang einzige umfassende literaturwissenschaftliche Publikation zum Thema Literaturvermittlung stammt von Stefan Neuhaus, der 2009 eine als Lehrbuch konzipierte Einführung in die Theorie und Praxis der Literaturvermittlung veröffentlicht hat und dort neben relevanten Basistheorien wie Rezeptionsästhetik, System-, Feld- und Diskurstheorie die historische Entwicklung und gegenwärtige Praxis von Buchhandel, Verlagswesen und Literaturkritik beschreibt (vgl. Neuhaus 2009). Das Werk dient sowohl als Einführung in die unter dem Begriff »Literaturvermittlung« subsumierbaren Forschungsgebiete (hier vor allem Wertung, Kanon und Literaturkritik) als auch in die diversen Berufsfelder professioneller Literaturvermittlung, in die auch die Arbeit in Bildungsinstitutionen einbezogen ist. In dem von Neuhaus gemeinsam mit Oliver Ruf 2011 herausgegebenen Tagungsband Perspektiven der Literaturvermittlung wird Literaturvermittlung noch einmal als »wichtigste[r] Anwendungsbereich ›praktischer‹ Literatur- und Kulturwissenschaft« in seiner ganzen Breite dargestellt (Neuhaus/Ruf 2011, S. 10). Der Begriff »Literaturvermittlung« wird im deutschsprachigen akademischen Diskurs also in der Regel als Beschreibung eines Forschungs- und Lehrbereichs gebraucht, der sich – wie bereits erklärt – im weitesten Sinne mit allen Fragen beschäftigt, die den literarischen Kommunikationsprozess steuern. An Universitäten kommt er konkret zur Anwendung als Bezeichnung für praxisnahe Studienlehrgänge für GermanistInnen (Universitäten Bamberg und Marburg), für Literaturbetriebsforschung (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) oder für Sonderforschungsbereiche wie das Graduiertenkolleg Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung an der Georg-August-Universität Göttingen. In Innsbruck wird, begründet durch die institutionelle Anbindung an die Dokumentations- und Forschungsstelle des Innsbrucker Zeitungsarchivs, der Schwerpunkt auf die Literaturkritik in Print- und Online-Medien gelegt. In dem von Michael Klein begründeten und von Stefan Neuhaus als Inhaber des Lehrstuhls für Literaturkritik, Literaturvermittlung und Medien (2005 bis 2012) weiterentwickelten Konzept wird »Literaturvermittlung« als Synonym für »Angewandte Literaturwissenschaft« beschrieben (Homepage Germanistik Innsbruck). Durch die kritische Beschäftigung mit der Geschichte, Praxis, Wirkung und Rolle der unterschiedlichen Formen von Literaturvermittlung werden Kompetenzen vermittelt, die für die entsprechenden Berufsfelder von Bedeutung sind, zum Beispiel Kenntnisse über die historische Entwicklung und gegenwärtige Praxis von Literaturkritik in den Medien, Autorenlesungen, Autorinszenierung oder auch Zensur. Dabei wird grundsätzlich auch immer von der Frage nach der spezifischen technischen Beschaffenheit, Nutzung und Wirkung der einzelnen Medien ausgegangen, d. h., die Frage nach der sogenannten Medialität bildet stets den Rahmen, innerhalb dessen literarische Anschlusskommunikation und Prozesse der Literaturvermittlung analysiert werden.

Jede Form der Vermittlung ist Realisierung einer Bedeutung und stellt damit gleichzeitig sowohl eine Erweiterung als auch eine Verengung und damit Verhinderung anderer Bedeutungsebenen dar. Literaturvermittlung als Forschungsdisziplin meint daher, anders als die alltagssprachliche Bedeutung, nicht die positiv konnotierte Verbreitung, Weiterleitung von Literatur, sondern versteht darunter im neutralen, pragmatischen Sinn die Prozesse und Ergebnisse, die von den literaturvermittelnden Instanzen ausgelöst und getragen werden. Literaturvermittlung leistet deshalb einen Beitrag zum »Verstehen des Verstehens« und kann damit auch als Brücke zwischen hermeneutischen und antihermeneutischen Positionen gesehen werden, denn wenn Hermeneutik nach der Machart, nach dem Wesen und den möglichen Bedeutungen eines Textes fragt, so ergänzt die Literaturvermittlung den möglichen Wissensfundus über Texte mit der Frage nach den Bedingungen, unter denen Wissen über Literatur entsteht. Und dies führt uns direkt zu den Arbeitsfeldern bzw. zu der Frage, mit welchen Themen sich die Forschung im Bereich der Literaturvermittlung konkret beschäftigt.

3. Zentrale Themen im Forschungsgebiet Literaturvermittlung

Es erscheint naheliegend, Literaturvermittlung ausschließlich mit Fragen in Verbindung zu bringen, die sich auf die Distribution und Rezeption beziehen, d. h., dass Fragen, die direkt den Produktionsprozess betreffen, ausgeklammert werden. Tatsächlich führt aber Matthias Beilein anschaulich vor, dass Literaturvermittlung nicht nur als ein von der Produktion abgekoppelter Prozess zu verstehen ist, da sich am Beispiel des Lektorats deutlich nachweisen lässt, wie hier Literaturvermittlung auch direkt in den Produktionsprozess eingreift (vgl. Beilein 2017, S. 234). Der Dokumentarfilm von Jörg Adolph mit dem Schriftsteller John von Düffel (Houwelandt – Ein Roman entsteht, 2005) bestätigt dies, indem er deutlich zeigt, wie sehr die Zusammenarbeit zwischen Autor, Lektor und Verleger die Gestaltung eines Textes mitprägt. Der Schriftsteller John von Düffel zieht in dem Film das Fazit, dass sein Text vermutlich mit jedem anderen Lektor auch eine andere Gestalt annehmen würde. Neben Funktion und Wirkung des Lektorats wären im Bereich des Produktionsprozesses von Literatur noch viele andere Aspekte zu berücksichtigen und zu erforschen. So ließe sich an den in jüngerer Zeit häufig auftretenden Beispielen, wo Autoren während des Produktionsprozesses direkt in Interaktion mit den Lesern treten, untersuchen, ob und in welcher Form konkrete Rezeptionsakte in den Produktionsprozess einfließen. Autoren wie Thomas Glavinic oder Bernhard Aichner, die über das soziale Netzwerk Facebook die Kommunikation mit Lesern pflegen, bieten hierfür aufschlussreiches Material ebenso wie jene Autoren, die den Schreibprozess in publico vollziehen. Hier können Alban Nikolai Herbst, Elfriede Jelinek und Rainald Goetz als Vorreiter genannt werden – mittlerweile nutzen Autoren diese Praxis als erfolgreiches Marketinginstrument (Beispiele: Gegen Entgelt konnten Leser die Entstehung des Romans Morgen mehr, 2016, von Tilmann Rammstedt online mitverfolgen und kommentieren; der amerikanische Autor Yoshua Cohen ließ sich 2015 per Video eine Woche lang beim Schreiben zusehen; vgl. Giacomuzzi 2017a).

Im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses an Prozessen der Literaturvermittlung stand aber selbstverständlich von Anfang an die Literaturkritik. Zu Beginn, nämlich in den 1970er-Jahren, war diese allerdings weniger Gegenstand der Forschung, sondern sollte ihrerseits in den Stand einer akademischen Disziplin erhoben werden. Durch die Zusammenführung der bis dahin vor allem im deutschsprachigen Raum durch einen scheinbar unüberwindbaren Graben getrennten Bereiche erhoffte man sich nachweislich eine Belebung und qualitative Verbesserung der Literaturkritik. Vor allem Peter Uwe Hohendahl kritisierte in dem richtungsweisenden Band Literatur und Öffentlichkeit (1974) die Nischenexistenz der Literaturkritik, die damit ihren öffentlichen Auftrag nicht mehr erfüllen könne (vgl. Hohendahl 1974, S. 145). Unter den diversen programmatischen Auseinandersetzungen mit Status, Praxis und Funktion der Literaturkritik regten Norbert Mecklenburg, Walter Gumbrecht und Eberhard Lämmert an, Literaturkritik in die schulische und/oder universitäre Ausbildung miteinzubeziehen, um damit den selbständigen, kritischen Umgang von Lesern mit Literatur zu fördern und so letztlich ein »demokratisches« Gespräch zu ermöglichen, das nicht mehr von den herkömmlichen Machtinstanzen und den allein im Sinne des Marktes agierenden Akteuren reguliert wird (vgl. Neuhaus 2009, S. 18 ff.). Mit dem Argument einer gegenseitigen Befruchtung der beiden bislang im Konkurrenzverhältnis agierenden Disziplinen setzte man auf ein künftig komplementäres Verhältnis, von dem beide Seiten profitieren könnten (vgl. Klein/Klettenhammer 2005).

Den ersten richtungsweisenden Band zur Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980) gab Peter Uwe Hohendahl 1985 heraus. Ihm folgten in den darauffolgenden Jahrzehnten diverse Einführungen wie die von Albrecht (2001), Anz/Baasner (2004), Neuhaus (2004) und Schwens-Harrant (2008). Während nolens volens jede Untersuchung der historischen Entwicklung der Literaturkritik diese auch bewertet und Wertmaßstäbe vorgibt, lieferten erstmals Renate von Heydebrand und Simone Winko ein Analyseraster, das es erlaubte, die komplexen in der Literaturkritik auftretenden Wertungsmuster zu erkennen, zu benennen und voneinander aufgrund Motivation und Funktion zu unterscheiden. Damit wurde erstmals den sogenannten »formalaxiologischen« (autonomen) Werten wie Originalität, Innovation und formale Stimmigkeit nicht mehr der Vorzug gegeben, sondern diese wurden neben den »heteronomen«, wirkungsbezogenen Werten (Spannung, Betroffenheit, Lebensbedeutsamkeit) neutral als historisch kontinuierliche nachweisbare und bis heute gängige Praxis der Bewertung von Literatur beschrieben (vgl. Heydebrand/Winko 1996). Direkt daran anknüpfend erarbeitete Oliver Pfohlmann eine für den schulischen Gebrauch empfehlenswerte, weil übersichtlich und anwendungsorientiert gestaltete Einführung zum Thema Literaturkritik und literarische Wertung (Pfohlmann 2008).

In den 1990er-Jahren lässt sich parallel zu den neuen Entwicklungen im Bereich der Medien und auch der immer deutlicher sichtbar werdenden Kommerzialisierung des Literaturbetriebs selbst eine Richtungsänderung in der Germanistik feststellen, die – animiert u.a. von der Feld- und Systemtheorie wie auch der empirischen Literaturwissenschaft – ihr ursprünglich auf die Literaturkritik fokussiertes Interesse deutlich erweitert und sich nun auch mit zahlreichen anderen Aspekten auseinandersetzt, sei es mit der Funktion, Wirkung und Geschichte von Lesungen, Autorinszenierung oder literarischer Anschlusskommunikation in Online-Medien. So geht das Handbuch Medien der Literatur – wie der Titel schon andeutet – auf die unterschiedlichen »Medien der literarischen Texte« wie auch auf die »Medien der literarischen Kommunikation« ein (Binczek u. a. 2013). Der Umfang des 2013 erschienenen Werks illustriert die Bandbreite des Themas, das allein zur Frage oraler Präsentationsformen von Literatur das breite historische und mediale Spektrum vom Minnesang bis zu singulären Ausprägungen wie »Telefonliteratur« abdeckt. Angesichts der unübersehbaren Bedeutung von unterschiedlichen Präsentations- und Vermittlungsstrategien, die im aktuellen Literaturbetrieb eingesetzt werden, sind besonders jene Studien aufschlussreich, die sowohl die historische Entwicklung einzelner Praktiken nachzeichnen als auch die unterschiedlichen medienspezifischen Eigenschaften berücksichtigen. So erweist sich manches »Neue« als weniger neu und manches »Gleiche« als weniger gleich, als es erscheinen mag: So kann beispielsweise das von Klopstock 1773 für Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) eingesetzte Subskriptionsmodell (vgl. Wittmann 1999, S. 151ff.) als Vorläufer von Crowdfunding-Projekten gesehen werden kann, wie sie heute auch über Plattformen wie 100 Fans (https://100fans.de/) für literarische Publikationen genutzt werden (vgl. Ernst 2017, S. 160 f.). Eine über YouTube verbreitete Aufnahme einer Autorenlesung hingegen unterliegt anderen Rezeptionsbedingungen als eine Live-Lesung usw. (vgl. Giacomuzzi 2017b, S. 223). Auch was die Literaturkritik im Internet betrifft, lassen sich hier sowohl Ähnlichkeiten mit wie auch Abweichungen von der herkömmlichen Praxis in den Printmedien feststellen. Zu den traditionellen »Gatekeepern« wie Literaturkritik in Print- und audiovisuellen Medien, Literaturhäusern und -archiven, Bibliotheken und Bildungsinstitutionen kommen über die Online-Medien neue selektionierende Instanzen hinzu, die über den Einsatz von Rankings oder automatisch generierter Werbung die Verbreitung und Kanonbildung von Literatur verändern (vgl. Giacomuzzi 2017b). Den verschiedenen Erscheinungsformen und auch der Archivierung von Literaturkritik im Internet widmet sich das vom Innsbrucker Zeitungsarchiv betreute Projekt DILIMAG, im Zuge dessen auch das 2010 veröffentlichte Handbuch erschienen ist (Giacomuzzi 2012).

Umfassender, als es für die Literaturkritik im Internet möglich ist, kann die Literaturkritik in der deutschsprachigen Printpresse am Innsbrucker Zeitungsarchiv dokumentiert und erforscht werden. Im Folgenden möchten wir anhand von Beispielen zeigen, welche Rückschlüsse sich allein aus der quantitativ erschließbaren Datenmenge auf den aktuellen Zustand der Literaturkritik ableiten lassen.

4. Daten und Fakten zum und aus dem Innsbrucker Zeitungsarchiv

Das Innsbrucker Zeitungsarchiv zur deutsch- und fremdsprachigen Literatur (IZA) ist die größte universitäre Dokumentations- und Forschungsstelle für Literaturkritik und Literaturvermittlung im deutschsprachigen Raum. Kernstück des IZA ist die digitale Zeitungsausschnittsammlung, die mittlerweile über eine Million Beiträge umfasst und jährlich um etwa 25.000 Artikel wächst. Das IZA versteht sich indes nicht nur als Dokumentationsstelle für feuilletonistische Literaturvermittlung, sondern auch als Forschungseinrichtung, die versucht, das umfangreiche Material empirisch auszuwerten und so Daten für weitere Forschung zur Verfügung zu stellen. In diesem Kontext wurde 2016 mit der Reihe Literaturkritik in Zahlen (IZA 2016) gestartet, die jährlich statistische Erhebungen zur Literaturkritik im deutschsprachigen Feuilleton veröffentlicht. Damit soll den Debatten um den krisenhaften Zustand der Literaturkritik, die meist sowohl in der Beschwörung des Niederganges als auch in der Negation desselben auf Vermutungen und verallgemeinernden Beobachtungen fußen, eine fundierte Datengrundlage zur Verfügung gestellt werden (vgl. Pilz 2017). Die am häufigsten vorgebrachten Kritikpunkte abseits inhaltlicher Kriterien (etwa der unbestätigte Gemeinplatz, dass es kaum noch Verrisse gäbe und die Kritik zum Tippgeber verkommen sei), sind vor allem quantitativer Natur, die Anzahl und den Umfang von Rezensionen betreffend. Die klassische Buchkritik, so eine weitere Vermutung, sei zugunsten personenzentrierter Textsorten wie Interviews und Porträts rückläufig. Die Heterogenität der Befunde ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass es zwar Einzelerhebungen gibt, vergleichende und längerfristige Untersuchungen aber fehlen. Mit der Reihe Literaturkritik in Zahlen hat das IZA es sich zum Ziel gemacht, valide empirische Aussagen über die quantitativen Verhältnisse der deutschsprachigen Literaturkritik in Tages- und Wochenzeitungen sowie über deren längerfristige diachrone Entwicklung zu treffen. Um die langfristige Vergleichbarkeit gewährleisten zu können, beschränkt sich das Corpus auf einen ausgewählten Pool von 20 Zeitungen und Magazinen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Berücksichtig werden außerdem nur Besprechungen belletristischer Titel. Um ein differenzierteres Bild der quantitativen Verhältnisse und Entwicklungslinien zeichnen zu können, wird zwischen langen und kurzen Rezensionen unterschieden, wobei der Richtwert bei 500 Wörtern liegt.

5. Ergebnisse

In den ausgewählten Periodika sind insgesamt 4.259 reine Belletristik-Rezensionen erschienen, der Großteil davon, nämlich 77 Prozent, in der Tagespresse. Der prozentuale Anteil der langen Besprechungen beläuft sich auf rund zwei Drittel oder genau 60,5 Prozent der Gesamtzahl aller Belletristik-Besprechungen. Die Auswertung zeigt außerdem, dass lange Besprechungen nicht der traditionell feuilletonstärkeren Wochenpresse bzw. den Wochenendausgaben vorbehalten sind, im Gegenteil: Während die langen Rezensionen in der Tagespresse einen stolzen Anteil von über 62 Prozent ausmachen, liegen diese in der Wochenpresse mit 54 Prozent sogar deutlich niedriger, machen aber immer noch den Hauptanteil aus. Im Ländervergleich schneidet Österreich, was den Anteil an umfangreichen Besprechungen angeht, am schlechtesten ab: So machen die langen Rezensionen in der österreichischen Tages- und Wochenpresse nur 45 Prozent, in der schweizerischen hingegen 53 Prozent aus. Wirklich keinen Grund zur Klage gibt es in Deutschland, hier machen lange Belletristik-Besprechungen rund 68 Prozent der Gesamtzahl aus. Auch im direkten Ländervergleich der Belletristik-Rezensionen über 500 Wörter ist weniger der vorhersehbare Abstand der deutschen Medien auffällig, der dem größeren Absatzmarkt und dem Umfang der ausgewählten Publikationen entsprechend deutlich ausfällt, als das schwache Abschneiden der österreichischen Medien im Vergleich mit jenen der Schweiz. Ein Blick auf die Länderstatistiken zeigt, dass die Schieflage zwischen Österreich und der Schweiz fast ausschließlich von der Stärke der Neuen Zürcher Zeitung getragen wird. So erscheinen in der NZZ mehr Besprechungen als in den zwei österreichischen Tageszeitungen Der Standard und Die Presse zusammen.

5.1 Textsorten

Im nächsten Schritt erfolgt die quantitative Auswertung nach Textsorten, die auf die ebenfalls häufig in den Raum gestellte Vermutung abzielt, klassische Buchbesprechungen gerieten zugunsten anderer, autorfokussierter Textsorten wie Interview und Porträt zunehmend ins Hintertreffen. Die Ergebnisse bestätigen das nicht, sondern zeigen vielmehr ein recht heterogenes Bild, in dem die Tages- und die Wochenpresse inklusive Magazine in einem deutlichen Kontrast stehen, wie die folgenden Grafiken verdeutlichen (IZE 2016, o. S.):

Tagespresse

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Wochenpresse

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Die klassische Buchbesprechung dominiert im Großteil der Tageszeitungen deutlich, vor allem die FAZ stellt hier ihre Sonderstellung unter den deutschsprachigen Feuilletons bezüglich Literaturvermittlung unter Beweis. Im Ländervergleich fällt auf, dass die österreichischen Periodika nicht nur insgesamt weniger Rezensionen bringen, sie setzen auch stärker auf personalisierte Textsorten, die sonst eigentlich das Metier der Wochenzeitungen und Magazine sind. Der Standard ist die einzige Tageszeitung, die mehr Interviews bringt als Rezensionen. Die auffällige Teilung des Feldes entspringt der funktionalen Teilung zwischen der Tages- und Wochenpresse und bildet keinesfalls einen generellen Trend in Richtung Personalisierung ab, zumal auch in der Wochenpresse und im Magazin die klassische Rezension nicht verschwindet, sondern Interviews und Porträts vielfach nur begleitend eingesetzt werden. Außerdem sind gerade Porträtartikel, die meist anlässlich eines neuen Buches erscheinen, häufig hybride Formen zwischen Porträt und Rezension.

5.2 Genres und Gattungen

Die Gesamtzahl unterteilt nach Länge gibt einen ersten wichtigen Anhaltspunkt über die der Literatur im Feuilleton beigemessene Bedeutung. Entscheidend ist aber auch die Verteilung des Raumes in Bezug auf die Repräsentation unterschiedlicher Gattungen und Genres. Dabei liegt die Konzentration auf Genres, denen der Ruf der Marginalisierung anhaftet, nämlich der als Stiefkind der Literaturkritik geltenden Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Schuchter 2010), Comics, die sich über Jahrzehnte hinweg vom ihnen zugewiesenen Schmuddelimage zu befreien suchen (vgl. Ditschke 2011, Schuchter 2016) sowie der als trivial geltenden und (zumindest für die KritikerInnen) wenig prestigeträchtigen Kriminalliteratur. Qualitative Analysen belegen eine zumindest implizite Abwertung dieser Genres durch eine Verbannung in eigene Rubriken oder auf Sonderseiten sowie die Absenz negativer Kritiken. Die quantitative Auswertung, die auf die Platzierung der Besprechungen keine Rücksicht nimmt, ermöglicht es, dieses Bild doch etwas zu differenzieren bzw. zu ergänzen. Bei einer Gesamtzahl von 4.259 Belletristik-Rezensionen in den ausgewerteten Periodika 2015 kommen Besprechungen von Kinder- und Jugendliteratur auf rund 10,3 Prozent, Comics auf 3,6 Prozent und Krimis auf 8,3 Prozent. Eine Aufschlüsselung nach Länge der Rezensionen relativiert jedoch die reine Anzahl an Rezensionen und zeigt, dass Einzelbesprechungen wenig Platz eingeräumt wird, nur ein Viertel der Besprechungen schaffen es, die 500-Wörter-Grenze zu überschreiten, das Feld wird also dominiert von Kurzbesprechungen und Annotationen.

Was die Textgattungen angeht, ist vor allem das Verhältnis von Prosa zu Lyrik von Bedeutung sowie vom Roman zu anderen erzählerischen Formen; hierbei zeigt sich folgendes Bild (IZE 2016, o. S.):

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Lesedramen sind erwartungsgemäß völlig bedeutungslos, aber auch die Lyrik kommt nur auf magere 5,45 Prozent. Der diachrone Vergleich der Jahre 2005, 2010 und 2015 verdeutlicht, wie konstant der Roman seine Vormachtstellung gegenüber der Lyrik und Dramatik, aber auch gegenüber der Kurzprosa behaupten kann (IZE 2016, o. S.):

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Die Lyrikbesprechungen haben zwar abgenommen, allerdings nicht so stark, dass hier schon von einem Trend gesprochen werden kann, vielmehr handelt es sich wohl um eine natürliche Schwankung. Aus dieser Aufstellung wird auch deutlich, dass von einem starken Rückgang an Besprechungen insgesamt nicht die Rede sein kann. Zwar zeigt sich ein leichter Abfall, auf die Gesamtmenge der ausgewerteten Periodika gerechnet, ist dieser aber nicht sonderlich aussagekräftig.

Sehr aussagekräftig ist die vom IZA erhobene Liste der meistbesprochenen Werke 2015 (IZE 2016, o. S.):

 

Titel des besprochenen Werkes

Anzahl der Besprechungen

Houellebecq, Michel: Unterwerfung

26

Lee, Harper: Go Set a Watchman

17

Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen

16

Franzen, Jonathan: Unschuld

15

Geiger, Arno: Selbstporträt mit Flusspferd

15

Schwitter, Monique: Eins im Andern

14

Witzel, Frank: Die Erfindung der Roten Armee Fraktion […]

14

D’Arrigo, Stefano: Horcynus Orca

13

July, Miranda: Der erste fiese Typ

13

Kushner, Rachel: Flammenwerfer

13

McEwan, Ian: Kindeswohl

13

Peltzer, Ulrich: Das bessere Leben

13

Setz, Clemens J.: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre

13

Eco, Umberto: Nullnummer

12

Kundera, Milan: Das Fest der Bedeutungslosigkeit

12

Modiano, Patrick: Damit du dich im Viertel nicht verirrst

12

Williams, John: Butcher’s Crossing

12

Amis, Martin: Interessengebiet

11

Berg, Sibylle: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand

11

Bilkau, Kristine: Die Glücklichen

11

Boyle, T. C.: Hart auf hart

11

Distelmeyer, Jochen: Otis

11

Sorokin, Wladimir: Telluria

11

Ackrill, Ursula: Zeiden, im Januar

10

Eggers, Dave: Eure Väter, wo sind sie? Und die Propheten, leben sie ewig?

10

Mantel, Hillary: Von Geist und Geistern

10

Roche, Charlotte: Mädchen für alles

10

Rothmann, Ralf: Im Frühling sterben

10

Rushdie, Salman: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte

10

Shalev, Zeruya: Schmerz

10

Thome, Stephan: Gegenspiel

10

Winslow, Don: Das Kartell

10

Zaimoglu, Feridun: Siebentürmeviertel

10

Absoluter Spitzenreiter ist Michel Houellebecqs Unterwerfung mit ganzen 26 Besprechungen in 20 Periodika, sprich, es hat demnach sogar Doppelbesprechungen gegeben. Hier zeigt sich zum einen eine Divergenz zwischen dem, was tatsächlich verkauft, und dem, was besprochen wird. Der meistverkaufte Titel, Charlotte Links Kriminalroman Die Betrogene, fehlt nicht nur in der Liste der meistbesprochenen Titel, es findet sich keine einzige Besprechung dazu. Die Auflistung zeigt, dass einige wenige Titel in fast allen Periodika besprochen wurden, es handelt sich hierbei hauptsächlich um kanonisierte Autoren und Autorinnen, Newcomer finden sich in der Liste mit wenigen Ausnahmen wie der Debütantin Kristine Bilkau nicht. 33 Titel bringen es auf zehn oder mehr Besprechungen. Mit insgesamt 409 Rezensionen machen diese 33 meistbesprochenen Werke 9,6 Prozent und damit knapp ein Zehntel der Gesamtbesprechungen aus, eine doch deutliche Ballung von Aufmerksamkeitskapital. Der Frauenanteil liegt bei knapp einem Drittel. Interessant ist aber, wie hoch der Anteil an nicht deutschsprachigen Büchern ist: 19 der 33 Titel und damit rund 58 Prozent sind Übersetzungen ins Deutsche, wobei hier das Englische dominiert.

5.3 Diachrone Entwicklung

Der diachrone Vergleich der einzelnen Periodika über einen Zeitraum von 15 Jahren in Hinblick auf die quantitative Entwicklung der Belletristik-Rezensionen ist ein Gradmesser für den Stellenwert, den das Feuilleton als Literaturvermittler einnimmt. Entgegen der häufig geäußerten Vermutung, dass die Zahl stark abnimmt, zeigt sich kein einheitlicher Trend in diese Richtung. Die Kurven der einzelnen Periodika verlaufen sehr unterschiedlich, was darauf schließen lässt, dass individuelle und zeitungsinterne Faktoren wie etwa eine Neuausrichtung der Blattlinie entscheidender sind als externe. Während die Kurven von FAZ und SZ relativ stabil bleiben, mit einem Ausschlag noch oben rund ums Jahr 2010, gibt es in der NZZ einen stetigen Abwärtstrend zu verzeichnen. Beim Standard hingegen gibt es einen Einbruch zwischen 2001 und 2005, bis 2015 pendelt sich die Zahl aber wieder beim Wert von 2001 ein.

6. Fazit