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Inhalt

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Titel

Sie fanden mich...

Es war einmal...

Als ich Großvater...

Ein halbes Jahrhundert...

Großvater lag in...

Viele Jahre später...

Als ich meinen...

Als Hans-Jørgen Hase...

Als ich Boxer-Schmidt...

Es vergingen viele...

Autorenporträt

Übersetzerporträt

Über das Buch

Impressum

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Die Legende vom goldenen Ei

Sie fanden mich unten im Moos, umschlungen von einer Baumwurzel, die aus einem Erdhaufen ragte. Ich hatte mir ein Bein gebrochen. Die beiden großen Jungen, die Hilfe holen wollten, waren dem Vater des Nachbarsmädchens begegnet, der nun versuchte, mich am matschigen Rand des Moors künstlich zu beatmen, bis der Krankenwagen kam.

»Was ist passiert?«, rief er. »Was war denn hier los?«

Alles hatte kurz vorher begonnen, als einer der Jungen mir die Arme auf dem Rücken festhielt, während das Nachbarsmädchen und der andere Junge mir abwechselnd mit der flachen Hand ins Gesicht schlugen und alles zu beben begann. Allerdings bebte nicht ich, sondern die Erde, vor allem die Erde unter meinem linken Fuß. Zumindest kam es mir so vor. Zunächst nur ein schwaches Resonanzgeräusch, ein Echo, das im Moorschlamm schwappte. Es klang, als würde unter der Erde jemand auf Trommeln schlagen. Es stieg an zu einem Getrampel von Pferdehufen, zu einer dröhnenden Bewegung, es schlug Risse in die Erde und in die Luft, in das Gesicht des Nachbarsmädchens und in die Schläge, die auf mich niederprasselten, und aus den Rissen erhob sich eine andere Welt. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah sie herangaloppieren, acht Reiter, vielleicht sogar neun. Ein dumpfes Geräusch entstieg meinem Zwerchfell, das Grinsen des Nachbarsmädchens verschwand. Der Griff des Jungen, der mich festhielt, löste sich, der andere Junge blieb bleich vor Entsetzen hinter dem Nachbarsmädchen stehen; die Kröte, die sie mir in den Mund gestopft hatten, bevor sie sich in einer Reihe aufstellten, um sie in meinem Mund mit Ohrfeigen zum Platzen zu bringen, hüpfte heraus.

Die Galoppierenden kamen näher, ich drehte mich um und rannte los. Der Boden unter meinen Füßen schwankte und löste sich auf, ich lief im Wasser, ich schwamm, ich erreichte den Erdhügel und klammerte mich in dem Moment an die Wurzel, als die galoppierenden Pferde mich einholten. Geifer und Schaum troffen aus ihren Mäulern. Als das erste Pferd mit seinem Huf meinen Unterschenkel traf, ertönte ein lautes Knacken, dann versank ich im Moor, hinunter in Mutters größten Schrecken, hinab in das schwarze Wasser, wie ein Stein, der den Grund sucht. Um mich herum wurde die Dunkelheit dichter, umhüllte meinen Körper, kühlte meine Muskeln und Knochen; dunkles Wasser lief mir in Nase und Mund und weiter in meine Lungen, langsam schwappte das Wasser in mich hinein und rann wieder heraus. Ich blickte hinauf zu der silbrig-weißen Kräuselung der Wasseroberfläche viele Meter über meinem Kopf. Die Galoppierenden waren verschwunden, eine Weile blieb es ruhig, doch schon bald begannen einzelne Arme und Beine die Oberfläche abzusuchen. Zunächst mit fieberhaften, panischen Bewegungen, dann systematischer und ruhiger. Ich erkannte den Unterleib eines der Jungen. Seine Beine traten Wasser, dunkle Jeans, ein schwarzer Schuh löste sich von seinem Fuß und sank in großen Kreisen zu mir herab. Ich erkannte auch die Jogginghose des Nachbarsmädchens, ihre weißen Tennissocken, die sich an der Oberfläche wie gleißende Enten bewegten, die nach Futter tauchen. Währenddessen sank ich immer weiter auf den Grund. Das Moor war tiefer, als ich es mir vorgestellt hatte. In sieben Metern Tiefe wurde es richtig dunkel. Nach zehn Metern fiel es mir schwer, die Rettungsmannschaft von der durch den Wind gekräuselten Wasseroberfläche zu unterscheiden, nach fünfzehn Metern traf ich auf eine eisige Kälte, und als ich zwanzig Meter tief hinabgesunken war, gab es nur noch schwer zu durchdringende Dämmerung, sämtliche Lichtquellen waren verschwunden. Über den letzten beiden Metern vor dem Grund lag ein graugrüner Dunst, ein Nebel ohne feste Konturen, Faden- und Schwebealgen, ein dicker Belag, mit dem alles überzogen war. Ich dachte, der Grund sei fest, doch als ich ihn berührte, sank ich tiefer in den Schlamm, in den Matsch unter dem Moor, wo die Kröten aus Schutz vor dem Frost überwintern. Langsam wurde der Schlamm fester und zäher, doch hinderte es mich nicht daran, noch weiter hinabzusinken; ich sank durch Torf, Lehm und Steine.

Waren meine Gedanken oben im Wasser noch flink und geschmeidig gewesen, wurden sie nun langsam und träge. Sie nahmen die Form der Materie an, die mich umgab. Ich dachte weder an meine Eltern, die schon bald von den panischen Jungen alarmiert würden, noch dachte ich daran, dass dies mein Ende sein würde, und ich dachte auch nicht daran, dass vermutlich kein göttliches Antlitz darüber leuchten würde, da sich dieses Ende in absoluter Dunkelheit abspielte. Stattdessen würde ich von Mineralen durchströmt und in Millionen von Jahren als ein Fossil ausgegraben werden, bloß gelegt von einem Erdbeben. Oder wahrscheinlicher: Ich würde verschwinden. Doch ich dachte ja nicht. Die Zeit hörte auf zu existieren. Ich atmete nicht, mein Herz stand still, alles endete.

Dann kniff mich jemand in den großen Zeh. Daraufhin schlug mein Herz einmal. Der Betreffende zog, und ich glitt ohne größere Anstrengungen in einen kleinen, dunklen Raum unter dem Moor. Hier stand ein mit einer Kutte bekleideter Mann, der eine primitive Maulwurfsfalle in der Hand hielt, und neben ihm ein etwa ein Meter großer Zwerg. Der Zwerg war nackt. Zunächst hielt ich ihn für einen Stein, so wie den großen Stein, an den ich mich aus dem Garten meines Großvaters erinnerte; ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Mein Gehirn funktionierte nicht richtig, ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie Jungen und Mädchen zwischen den Beinen aussahen; der Zwerg verwirrte mich, sein Geschlecht verwirrte mich. Hier stand ich – in einem kleinen, dunklen Raum unter dem Moor, weit weg von allem.

»Der König galoppiert«, erklärte der mit der Kutte Bekleidete, der die Maulwurfsfalle in der Hand hielt.

»Der König fickt«, erwiderte der Zwerg.

»Der König fickt, was er will«, wiederholte der Kuttenträger.

Beide sahen mich bekümmert an, als wäre ich ein fieberkrankes Kind, das nicht zu retten ist.

»Das also ist der Nächste.«

Der Zwerg lächelte: »Wir müssen uns nicht immer so treffen.«

»Es gibt andere Möglichkeiten«, sagte der Mann mit der Falle.

»Keine Panik, okay?«

Kurz darauf beatmete mich der Vater des Nachbarsmädchens auf dem matschigen Moorufer zurück in die Wirklichkeit. Der Zwerg und der Kuttenträger waren verschwunden. In den Wochen danach bekam ich jedoch neue Anfälle, begleitet von weiteren Erscheinungen und Stimmen, die mich nachts im Haus herumhumpeln ließen; ich zog das Gipsbein hinter mir her und kommunizierte mit unsichtbaren Gestalten aus längst vergessenen Geschichten. Mutter meinte, ich würde träumen. Sie schaltete das Licht ein und versuchte, mich wachzurütteln. Ihre Angst schlug nach und nach von Sorge in Zorn um. Wegen mir erinnerte sie sich an Dinge, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte, zum Beispiel an Großvaters wüsten Gesichtsausdruck und sein wahnsinniges Plappern – und was sie sah, gefiel ihr nicht. Wären meine Wangen nicht durch die schallenden Ohrfeigen geschwollen, die man mir bei dem Versuch versetzt hatte, die Kröte in meinem Mund zum Platzen zu bringen, hätte sie mir vermutlich ebenfalls die flache Hand ins Gesicht geklatscht. Ihre Anstrengungen waren allerdings vergebens, daher weckte sie meinen Vater, und er tat genau dasselbe: Er schüttelte mich und brüllte mich an. Es half ebenso wenig. Mein jüngerer Bruder wurde ein paar Mal ebenfalls wach und sah dem Spektakel zu, ohne sich daran zu beteiligen. Er behielt mich aus der entferntesten Ecke des Wohnzimmers im Auge. Die Arme um die Unterschenkel geschlungen, verfolgte er über seine aufgeschlagenen Knie hinweg still und betrübt den verzweifelten Versuch meiner Eltern, mich aus dem Schlaf des Wahnsinns zu wecken.

Der Arzt verschrieb mir Tabletten gegen die Krämpfe und Erscheinungen, die mich aber nur apathisch werden ließen. Ich konnte mich nicht länger als eine halbe Stunde wachhalten, dann musste ich wieder schlafen – und die Erscheinungen verschwanden trotzdem nicht. Sie sammelten sich zu Träumen, wenn ich schlief, und zu überexponierten Stillleben, wenn ich wach war. Stets waren sie da.

Schließlich änderte meine Mutter die Taktik, sie ließ die Tabletten im Küchenschrank, lieh sich das Auto unserer Nachbarn und fuhr mich zu meinem Großvater am anderen Ende der Stadt. Während der Fahrt weinte sie. Die Tränen vermischten sich mit dem Rotz aus ihrer Nase, den sie immer wieder mit dem Ärmel abwischte; Wollfäden ihres Angorapullovers blieben auf der Oberlippe kleben. Als wir vor dem Haus meines Großvaters hielten, hatte sie einen leichten, flaumigen Schnurrbart.

»Das mache ich jetzt bestimmt nicht gern«, sagte sie und sah mich schuldbewusst an. »Aber ich weiß nicht, was ich sonst noch tun kann.«

Wir hatten Großvater seit Jahren nicht mehr gesehen, seine Stimme hatte ich nur am Telefon gehört, wenn er – oft spätabends oder in der Nacht – anrief und darauf bestand, vom Anbeginn aller Dinge zu erzählen. Und nun hatten die Ereignisse im Moor mich auf die andere Seite gestoßen, hinein in die Wirklichkeit meines Großvaters, aus der meine Mutter mit siebzehn Jahren geflohen war, als sie nur mit einem Nachthemd bekleidet an einem frühen Sommerabend von zu Hause ausriss. Jetzt brachte sie mich freiwillig zurück.

»Ach«, sagte sie sonst immer über Großvater, »dieser ganze Quatsch, den er erzählt, das ist doch nicht zu ertragen!«

Als ich kam, saß er in seinem Gewächshaus, ohne Pullover, nur mit einem blauen Overall bekleidet. Das Gewächshaus war umgeben von großen Blumen, es gab einen Ausgang zu einem Rasenstück, und über ein paar Fliesen gelangte man zu einem Walnussbaum, unter dem der große Stein aus meinem Moortraum lag. Großvaters Schädeldecke war kahl. Um die Ohren hingegen hatte er eine Unmenge von Haaren, die nach allen Seiten abstanden. Er trug eine große eckige Brille. Lange sah er mich an.

»Bist du es?«, fragte er mich.

Ich erinnerte mich plötzlich, dass ich einmal vor langer Zeit die Erlaubnis bekommen hatte, ihm in den Bauch zu boxen. Schlag zu, na los, komm schon, hatte er gesagt.

Er sah sich im Garten um und entdeckte Mutter ganz hinten an der Garage, sie hatte sich jedoch bereits umgedreht und war auf dem Weg zum Auto. Kurz darauf wurde der Motor angelassen, sie fuhr rückwärts aus der Einfahrt und verschwand.

»Nehmen wir mal an, dass du es tatsächlich bist, wie hätte ich dir denn von all den Generationen erzählen sollen, wenn du mich nie besuchen kommst?«, fragte er und pulte sich etwas aus dem Auge. »Wenn ihr immer den Hörer aufknallt. Wenn sie dort …« Er zeigte in die Richtung, in die Mutter verschwunden war. Seine Stimme zitterte. »Wie soll etwas einen Sinn ergeben, wenn wir die Geschichten nicht kennen?« Er gab mir ein Zeichen, mich auf seinen Schoß zu setzen. Eigentlich fand ich mich zu groß dafür, aber ich gehorchte. Allerdings war es ein komisches Gefühl, daher stand ich rasch wieder auf.

»Setz dich hierher«, sagte er und zog einen wackligen Stuhl heran. »Aber fummele nicht an den Tomatenpflanzen herum, du Lümmel. Und wehe, wenn du einfach nur dasitzt und an alle möglichen anderen Dinge denkst. Hör mir zu!«