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TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

Begründet von Heinz Ludwig Arnold

Redaktion:
Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle, Michael Scheffel,
Claudia Stockinger und Michael Töteberg
Leitung der Redaktion: Hermann Korte
Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,
Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

Print ISBN 978-3-86916-680-3
E-ISBN 978-3-86916-682-7

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: Isolde Ohlbaum

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2018
Levelingstraße 6a, 81673 München
www.etk-muenchen.de

Inhalt

Friederike Mayröcker
Wimper v. Schwalbe etwa, oder schreiben wir poets’ poetry?

Marcel Beyer
Friederike Mayröcker, fleurs

Michael Braun
Der Sound der Geschichte. Marcel Beyers Fragmente einer Sprache der »Nonfiction«

Christoph Cox / Christof Hamann
Insektenpoetik. Bienen und Wespe bei Marcel Beyer

Juliane Kreppel
Formen, Bedeutungen und Nachvollzüge des ›Gesprächs‹. Marcel Beyers Auseinandersetzung mit der Lyrik Friederike Mayröckers

Tom Schulz
ICH HÖRTE (sagen). Über das Legen und Verwischen von Spuren. Zu einem Gedicht von Marcel Beyer und Paul Celan

Guy Helminger
Das erzählte Pferd. Notiz zu Marcel Beyers Gedicht »Stahlstich: Großer Sankt Bernhard«

Maximilian Mengeringhaus
Was dichten heißt. Die Haltung des Schriftstellers zur Sprache

Matthias Bickenbach
Dichter reden. Über Marcel Beyers Preisreden

Susanne Düwell
»Husky voices« und »Mischmundarten«. Stimme und Klang in Texten Marcel Beyers

Stefan Börnchen
Laut-Linien: Zur grafischen Darstellung auditiver Phänomene. Marcel Beyers und Ulli Lusts »Flughunde«

Guido Graf
»I ossify by gazing«. Gespräche mit Marcel Beyer

Livia Kleinwächter / Nicolas Pethes
Poetik der Leerstelle

Michael Eggers
Liebhaberei. Marcel Beyers literarische Ornithologie

Peter Geimer
»Ich lugte im Bild herum«

Linda Rustemeier
Auswahlbibliografie Marcel Beyer 1987–2017

Linda Rustemeier
Biografische Notiz

Notizen

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Marcel Beyer

Friederike Mayröcker, fleurs1

Gleich nebenan, im Ecklokal der Hausnummer 14, hat vor wenigen Monaten die erste Hipster-Bar des Viertels aufgemacht. Über Wochen haben die Betreiber mit akribischer Wildheit Tapetenfetzchen auf den blanken Putz gekleistert, einen kunstvoll abgerissenen Zustand hergestellt, bis der Gastraum endlich so aussah, wie noch Ende der achtziger Jahre manche Behausung in den umliegenden Gassen ganz selbstverständlich ausgesehen hat.

Ich erinnere mich, wie mir immer ein wenig mulmig war, wenn ich auf dem Weg zu Friederike Mayröckers Wohnung die vier Stockwerke hinauf an einer stets offenstehenden Tür vorbei mußte: In der fensterlosen Kammer dahinter sah man tagein, tagaus einen vor sich hin brütenden Mann im verschwitzten Unterhemd am Tisch sitzen. Huschte man als Schatten über sein Gesicht, konnte es passieren, daß der alte Katatoniker wie in Todesangst zu brüllen anfing, um sich imaginärer Eindringlinge zu erwehren.

Gegenüber ein Riesensupermarkt, der bis 1999 den abstrusen Namen »Pampam« trug. Eine Quergasse weiter unten das Vereinslokal der Wiener Hells Angels. In meiner Erinnerung war die Gasse früher gesäumt von Altwarenhändlern, der Blick in die Souterrains fiel auf zusammengewürfeltes Mobiliar, Heftchenromanstapel, unbeholfene Landschaftsmalerei und Beethovenbüsten aus Gips, lauter Zeug, das es nicht in den Antiquitätenhandel geschafft hatte.

In diesem nicht besonders ansehnlichen, lieblos wirkenden Quartier im fünften Wiener Gemeindebezirk, in dieser Abgrundgegend also, weitgehend bevölkert von Unterschichts- und Randexistenzen, unter Menschen, von denen die wenigsten jemals ein Buch auch nur in der Hand gehalten haben dürften, lebt eine der größten Dichterinnen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, lebt Friederike Mayröcker seit ihrer Geburt am 20. Dezember 1924, vier Uhr nachmittags.

Vor sechzig Jahren, 1956, erschien ihr erstes Buch. Anfang der achtziger Jahre, als sie bereits ein Mammutwerk aus Gedichten und Prosa und Hörspielen im Rücken hatte, wurden ihre Bücher »Reise durch die Nacht« und »Das Herzzerreißende der Dinge« von Melancholie und Zerbrechlichkeit und Verzagen durchwirkt, als glaubte sie selber, nun in die Phase des Alterswerks zu gleiten. Da war Friederike Mayröcker gerade sechzig Jahre alt. Auf die Neunzig zugehend entschied sie, es sei an der Zeit, eine Trilogie zu schreiben, die erste ihres Lebens, bestehend aus »études«, »cahier« und, im Frühjahr 2016 erschienen, »fleurs«.

Es erübrigt sich fast anzumerken, daß sie inzwischen wieder tief in der Arbeit an einem neuen Werk steckt. Leben = Schreiben: Mir fiele niemand ein, für den diese Gleichung so wenig antastbar, so produktiv, schlicht unumstößlich wahr wäre wie für Friederike Mayröcker. Eine Gleichung von mathematischer Eleganz.

Wir sitzen im Perchtenstüberl, am Zentaplatz, keine fünfzig Meter von Friederike Mayröckers Wohnhaus entfernt. Ein Mann kommt herein und grüßt fröhlich: »Guten Morgen!« Der greise Betriebsschäferhund freut sich wie irre, er wedelt die halbe Kneipe um. Es ist zwanzig vor vier am Nachmittag. Hier trinken die Damen von schräg gegenüber ihren Kaffee, wenn im »Studio Relaxe« Freierflaute herrscht.

»Die waren reich«, antwortet Friederike Mayröcker, ohne Raum für Zweifel zu lassen, als ich sie nach ihren Großeltern mütterlicherseits frage, die in der Parallelstraße zwei Delikatessengeschäfte besaßen, weit zurück, bis Mitte der dreißiger Jahre. »Und wir«, ergänzt sie ebenso deutlich, »waren bettelarm.« Sehr jung und finanziell von der Familie abhängig waren Franz Xaver und Friederike Mayröcker senior, als ihre Tochter Friederike in der großen, großelterlichen Wohnung im ersten Stock der Wiedner Hauptstraße 90–92 zur Welt kam. 1927 ergab sich die Möglichkeit, einen eigenen Haushalt zu gründen, fast möchte man sagen: in Rufweite, gleich um die Ecke in der Anzengrubergasse 17. Was als Übergangswohnung gedacht war, wurde für die Eltern zum lebenslangen, beengten Provisorium – der Vater starb 1978, die Mutter 1994.

Läuft man die Anzengrubergasse hinunter in Richtung ihrer heutigen Wohnung, sind es wiederum nur zwei Minuten bis in die Nikolsdorfer Gasse 8, wo Friederike Mayröcker im September 1930 bei den Englischen Fräulein eingeschult wurde. Nach einer Hirnhautentzündung im ersten Lebensjahr wollten die Eltern das zarte Kind vor den Ansteckungsgefahren schützen, die sie in einer öffentlichen Schule befürchteten. Die Privatschule mit einer Klassenstärke von zwölf Kindern, ganz in der Nähe gelegen, kam ihnen gerade recht.

Ob zu Hause immer Hochdeutsch gesprochen wurde, frage ich, oder ob sie als Kind etwas vom wienerischen Gassendeutsch der Kinder auf der Straße aufgeschnappt habe. Nein, ihr Vater sei schließlich selbst Lehrer gewesen, auf ein gutes Hochdeutsch wurde großer Wert gelegt.

Außerdem: »Meine Eltern haben mich nicht auf die Gasse gelassen.«

»Wolltest du denn auf die Gasse?«

Wie aus der Pistole geschossen: »Nein.«

Mit dem Alter kommt das Langzeitgedächtnis, sagt man. Vielleicht aber verhält es sich auch anders, vielleicht steckt man in der Jugend schmerzhafte Erinnerungen einfach leichter weg, während mit den Jahren die Abwehrkräfte nachlassen und die Bilder einen überfallen, so vehement, daß man im Bruchteil einer Sekunde wieder dasteht wie am Tag der allerersten Erinnerung. Als ABC-Schütze. Als in die Welt geworfenes Bündel.

Ein behütetes Kind aus prekären Verhältnissen, hochsensibel, unter Kindern aus der gehobenen Wiener Gesellschaft. Eines Tages, als sie wieder einmal in einem nicht eben schmucken Mantel in der Schule erschien, rief eine Mitschülerin: »Schaut, die Fritzi sieht heute wieder so verpumpeidelt aus!«

Mir ist dieses Wort nicht geläufig, ich frage nach, es bedeutet so viel wie ›nachlässig, verpfuscht, verschlampt, heruntergekommen‹, und um mitschreiben zu können, lasse ich es mir von Friederike Mayröcker buchstabieren.

»V-E-R-P-U-M-P-E-I-D-E-L-T.«

Ob das ein geläufiger wienerdeutscher Ausdruck sei?

Sie schüttelt den Kopf.

Ob sie dieses Wort seitdem überhaupt jemals wieder gehört habe?

»Nein.«

Eine frühe Erfahrung der mitunter fürchterlichen Macht der Sprache, unmittelbar körperlich, schockhaft, nach fünfundachtzig Jahren Buchstabe für Buchstabe präsent. Diese Demütigung saß tief. Und es ist kein Wunder, wie ich nachher feststelle, daß Friederike Mayröcker das Wort nur aus dem Mund ihrer gehässigen Schulkameradin kennt, als singulären bösen Zauber. Denn ›verpumpeidelt‹ oder ›verbumbeidelt‹ oder ›verdumdeidelt‹ ist: »Datterich«-Deutsch! Südhessen! Die Mitschülerin griff also damals in der Sprachkiste ganz nach unten – und traf damit zielgenau ins Herz.

»Aber die«, so Friederike Mayröckers wienerisch-trockener Kommentar, »ist auch schon lange tot.«

Im Perchtenstüberl, in diesem Nachbarschaftsbeisl, kann Friederike Mayröcker sich aufgehoben fühlen. Man kennt ihren Getränkewunsch (allerdings habe ich in Wien seit zwanzig Jahren keine Kellnerin und keinen Ober mehr erlebt, die sich ihr anders als mit »Ein Pago für Sie?« genähert hätten), man weiß, daß eine große Dichterin zu Gast ist, die hier gelegentlich mit Viertelsfremden, mit Freunden einkehrt.

Was genau sie jedoch schreibt, weiß in ihrem Lebensbezirk wohl nur einer: der Schneider, der seit Jahrzehnten neben dem »Studio Relaxe« seinen Betrieb führt. Denn alles, was sie aus der Welt da draußen aufsaugt, notiert, in ihre Literatur wandern läßt, gibt Friederike Mayröcker an diese Welt auch zurück: So 1992 den bibliophilen Druck mit dem Titel »Proëm auf den Änderungsschneider Aslan Gültekin«, in dem von einer zufälligen Alltags-Augenbegegnung zwischen Schneider und Dichterin die Rede ist, einer Blitzverbrüderung ohne Worte. Draußen in der Welt sein, um tief in die Welt der Literatur einzutauchen – das Gedicht mündet in die Zeile: »mit FARNKRAUT AUGEN, Breton«.

Wir sitzen in Friederike Mayröckers Küche, unterm Dach. Immer war ihr die französische Literatur des 20. Jahrhunderts wichtig, insbesondere Prosawerke, die sich unter der schönen, im Deutschen undenkbaren Gattungsangabe ›récit‹ fassen lassen, also einem Erzählen, das nicht auf einen plot angewiesen ist, mit leichter Hand zwischen Beobachtung und Imagination wechselnd, das Ineinandergreifen von Schreiben und Leben reflektierend: Das Farnkraut-Augen-Buch »Nadja« von André Breton etwa, »Mannesalter«, der Auftakt des lebenslangen Autobiographieprojekts von Michel Leiris, der Bericht »Sommer 1980« von Marguerite Duras, Maurice Blanchots »Der Wahnsinn des Tages«, die Meskalinbücher von Henri Michaux oder das Werk Claude Simons, in dem so gut wie nichts erfunden ist, ohne daß es darum am Fliegenpapier Wirklichkeit klebte. Kurzum: das absichtslose Erzählen.

Keine Leseliebe aber hat so lange gehalten, ist bis heute so intensiv und euphorisch und anregend wie Friederike Mayröckers Leseliebe zu Jacques Derrida. Ob sie sich noch erinnere, wie sie ursprünglich auf ihn gestoßen sei, frage ich sie. Friederike Mayröcker steht auf und holt den ersten Band von Derridas philosophischem Briefroman »Die Postkarte« aus dem Nebenzimmer – mindestens drei Exemplare dieses Buches finden sich in ihrer überbordenden Arbeitsbibliothek. Unter welchen Umständen es dorthin gefunden hat, bleibt im Dunkeln, doch die Arbeitszusammenhänge können wir rekonstruieren: Die deutsche Übersetzung von »La carte postale« erschien 1982, und die Lektüre muß sich nahezu unmittelbar als schreibfördernd erwiesen haben, finden sich doch die ersten Derrida-Bezüge in dem 1982 / 83 entstandenen Prosawerk »Reise durch die Nacht«.

»Die Postkarte« sollte in den folgenden Jahren eine konstante Begleitlektüre bleiben, doch es scheint, daß sich das Derrida-Verlangen nach dem Tod von Ernst Jandl im Juni 2000 noch einmal verstärkte, ja, mehrfach potenzierte, da Friederike Mayröcker in Begleitung ihrer seitdem engsten Vertrauensperson, Edith Schreiber, im Wintersemester 2004 / 2005 die Vorlesung »Freud, Lacan, Derrida« besuchte, die der Psychoanalytiker Michael Turnheim im Hörsaal B des Allgemeinen Krankenhauses von Wien hielt.

Spuren dieser Lektionen wie der neu entflammten Derrida-Liebe finden sich 2005 in »Und ich schüttelte einen Liebling«, dem großen Trauerarbeitsbuch um den verlorenen Lebensgefährten, und in einem im Mai 2004 entstandenen Text mit dem Titel »J. D.« heißt es: »Wollte ihn sehen wollte mit ihm sprechen vor allem über seine Fußnoten Bekenntnisse die Zeile an Zeile (= Wange an Wange) mit den Fußnoten des Aurelius Augustinus standen in dem Buch ›Jacques Derrida. 1 Porträt von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida‹.«

Fußnoten, Bekenntnisse: Wie die Derridalektüre ohne den Umweg über Ideenhorizonte oder die Spur philosophischer Überlegungen auf das Schreiben Friederike Mayröckers einwirkt, zeigt sich in »ich bin in der Anstalt. Fusznoten zu einem nicht geschriebenen Werk«, das tatsächlich zur Gänze aus Fußnoten besteht – »zum 5.x Derrida/Bennington ausgelesen«, liest man dort in der Fußnote 128, auf den Mai 2009 zu datieren, sowie, bereits in Fußnote 106: »und ich habe mir GLAS von Jacques Derrida gekauft«.

»Glas«, zu deutsch: Totenglocke, Totengeläut, 1974 erschienen, aber erst 2006 – vom Titel selbst abgesehen – ins Deutsche übersetzt, sollte das Buch von Derrida sein, das sie fortan, anders als »Die Postkarte«, niemals verlegen, aus den Augen verlieren, ein zweites und drittes Mal erwerben würde – weil sie ihr inzwischen über und über mit Anstreichungen versehenes Exemplar seit jenem Mai immer bei sich trägt. Ausgerechnet dieses Werk des Philosophen, das selbst von eingefleischten Derrida-Freunden als »enigmatisch« bezeichnet wird, womit nichts anderes gemeint ist als: ungenießbar.

Friederike Mayröcker dagegen kam »Glas« bei der Arbeit an ihren fünf großen seit 2010 erschienenen Büchern jedesmal von Neuem einer Offenbarung gleich. In »fleurs« nun, dem Abschluß der Trilogie, wird die anhaltende Faszination selbst reflektiert, ausgehend vom Buchobjekt und der Textgestalt: »ich meine es nimmt mich wunder seit etwa 6 ½ Jahren lese ich in GLAS von Jacques Derrida. Das Buch ist zerlesen sein Leim oder Leib hat sich aufgelöst es ist empfindlich wie Glas : eine Lieblingsfarbe«, und: »Ich erlebe Wunder mit GLAS was mein Schreiben angeht : ich schlage das Buch z. B. auf Seite 142 auf und erblicke 3 Kolumnen geheimnisvoller Texte. Links die Anstrengung v. Hegel, mittig das Zitat eines Jean Genet Textes (›wie im Tagebuch eines Diebes, das man in allen Richtungen wird durchlaufen müssen, um dort alle Blumen abzuschneiden oder einzusammeln‹) und rechts, in Kursivdruck, nierenwärts, nochmals ein Zitat von Jean Genet.«

»Glas«, ein Buch der Parallelbewegungen und Abzweigungen, der Einschüsse und Ausfransungen, ein Buch, das mitten im Satz beginnt und mitten im Satz endet – so negiert das geschriebene Totengeläut den Tod. Insofern ist es alles andere als ein Wunder, wenn Friederike Mayröcker mit fünfundachtzig Jahren elektrisiert wird, in anhaltende Euphorie gerät, da Jacques Derrida sich, um Jahrzehnte verzögert, als enger Verwandter zu erkennen gibt, als Mitstreiter im Geiste schon seit 1974, und dies nicht nur hinsichtlich der Schreibauffassung, sondern, unauflösbar damit verwoben, im Aufbegehren gegen das Ende.

Wir sitzen in einem anderen Stammlokal Friederike Mayröckers, in einer Stimmung, die sie 2013 in »études« beschrieben hat: »im Gastgarten des Rüdigerhofs die Nachmittage verbracht [/] unter den grünen Baldachinen der Bäume solch 1 Sommer im Hinter- [/] grund der seichte Wienflusz und das ferne Donnern der Bahn«.

»Wie kommt man da raus?« fragt sie, womit weit mehr gemeint ist als nur jene wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in die ihre Eltern und Großeltern Anfang der dreißiger Jahre tiefer und tiefer hineinrutschten. Sie meint den Familienalbtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Der Vater war Lehrer. Das Geld reichte nicht. Die Eltern gründeten ein Taxiunternehmen. Das Geld reichte nicht. Die Eltern eröffneten eine Weinhandlung, und auch diese Investition erwies sich als Fiasko. 1935 wurde das Haus in Deinzendorf zwangsversteigert, in dem Friederike Mayröcker ihre Kindheitssommer verbracht hatte – »um eine lächerliche Summe«, wie sie sich erinnert. Sie sagt: »Und das hat meine Mutter fast umgebracht.« Sie spricht vom »Zusammenbruch der gesamten Familie«. Die geliebte Großmutter erkrankte an Krebs. Die Delikatessengeschäfte gingen zugrunde. Um die Großmutter beerdigen zu können, mußte Geld geliehen werden.

Ja, es herrschte Weltwirtschaftskrise. Im Rückblick aber nahm das Unheil schon früher seinen Lauf, trafen die Eltern ökonomische Entscheidungen nicht eben mit glücklicher Hand. Symbolisches Trumm einer Kette von Fehleinschätzungen ist der ominöse Konzertflügel, der durch das Werk Friederike Mayröckers geistert, und von dem sie sich bis heute nicht hat trennen können. Anfang der dreißiger Jahre schenkten die Eltern der Tochter zu Weihnachten einen gebrauchten Bösendorfer. Und sich selbst damit wohl das Versprechen, der – samt Konzertflügel nun natürlich noch engeren – Provisoriumswohnung zu entkommen, der räudigen Gegend, der Existenz am unteren Rand der Wiener Gesellschaft. Ein Konzertflügel, um die Abstiegsangst im Zaum zu halten, die Aufstiegshoffnungen zu befeuern.

Friederike jedoch saß ihre Klavierstunden lustlos ab. Mit schlechtem Gewissen. Als »verstocktes Sündenkraut« hat sie sich in diesem Zusammenhang bezeichnet, wobei das Sündenkraut nicht etwa ein Neologismus ist, sondern eine oberösterreichische Bezeichnung für den Spitzwegerich. Irgendwann funktionierte sie das kulturbürgerliche Möbelstück um – zum Stehpult: »In dieser Taille, da habe ich gestanden und geschrieben«, sagt sie. Dort wurden zunächst Schularbeiten erledigt, dann die ersten Gedichte geschrieben. Später diente ihr der Bösendorfer als Ablage für die sich häufenden Manuskripte – sie vernachlässigt ihre »études« und füllt stattdessen ihr »cahier«.

»Gestochen scharf, eingepflanzt was wurde mir alles eingepflanzt von Kindesbeinen an, auf das Schreibritual bin ich von selber verfallen –«, heißt es einmal bei ihr, und man spürt eine nahezu unerträgliche Spannung, zwischen Selbstvorwurf und Selbstbehauptungswillen, zusammengepreßt in einem Satz, der kein Ende hat.

Als die Familie am Boden lag und der Vater auf eine neue Erwerbsmöglichkeit sann, verfiel er – seltsame Koinzidenz – auf die Idee, zu schreiben. Von Mitte der dreißiger bis Ende der sechziger Jahre erschienen, zunächst im Selbstverlag, mehr als ein Dutzend Bücher und Broschüren: Ein Ernährungsratgeber mit dem Titel »Gesunde Menschen« etwa, in den fünfziger Jahren dann vornehmlich pädagogische Handreichungen, aber auch ein Heft in der Reihe ›Mentor für’s praktische Leben und den Fortschritt‹: »Abenteuerliche Jagd auf Menschenaffen.«

Die Tochter besuchte das Gymnasium, schrieb glänzende Aufsätze, hatte jedoch Schwierigkeiten in Mathematik. Nach zwei Jahren war Schluß: »Fritzi, so geht’s nicht, du kannst nicht studieren, du gehst auf die Hauptschule«, habe ihr Vater gesagt, Friederike Mayröcker erinnert sich heute, als sei das Urteil vor wenigen Stunden ergangen, und: »Das war für mich der Todesstoß.«

Nach dem Krieg wurde sie, dem Vater folgend, Lehrerin. 1950 legte sie das externe Abitur ab, nahm das Studium der Germanistik auf – doch wieder machten die prekären finanziellen Verhältnisse der Familie den Bildungsträumen den Garaus: »Da mußte ich eben mitverdienen.« Fast ein Vierteljahrhundert – längst war sie eine gefeierte Schriftstellerin – sollte sie an Hauptschulen Englisch unterrichten. Ein Beruf, der sie die Stimme gekostet hat.

100 Schilling habe sie als Junglehrerin verdient, doch der Trotz, der Selbstbehauptungs-, nämlich der Schreibwille zeigte sich auch hier: Von ihrem ersten Gehalt, erzählt Friederike Mayröcker noch immer voller Begeisterung, kaufte sie sich eine Schreibmaschine, die Hermes Baby, deren weichen Anschlag – Pianistinnensensiblilität! – sie bis heute schätzt.

Genet, das ist der Ginster. Mit ihm, dem Deserteur, dem Dieb, dem Strichjungen, der Anfang der vierziger Jahre im Gefängnis zu schreiben begann, kommt ein zweiter geistiger Bruder ins Spiel. »Notre-Dame-des-Fleurs« heißt einer seiner Romane, und wenn Friederike Mayröcker für ihr neuestes Buch den Titel »fleurs« gewählt hat, dann spiegelt sich darin auch etwas von der Genet’schen Underdog-Existenz. Seine Werke besitzt sie seit Jahrzehnten, aber erst mit den von Jacques Derrida zusammengestellten und kommentierten Genet-Zitaten in »Glas« wurde das Feuer entfacht. »Das brennt ununterbrochen«, sagt sie. Liest man »études«, »cahier« und »fleurs«, meint man, Friederike Mayröcker korrespondiere mit Jean Genet immer wieder auch über Derridas Kopf hinweg. Als nähme sie die eigene Familiengeschichte in den Blick, meint sie: »Dieses fürchterliche Ganz-unten-Sein hat er mit einer ungeheuren Schönheit beschrieben«, und: »Er hat Bücher gestohlen, er war ganz verrückt nach Büchern.«

Wie bei ihr öffnet sich bei Jean Genet mit der Blumenfülle eine Welt der – mitunter rohen – Intimität, und wie bei ihr fungieren bei Jacques Derrida die Namen der Blumen als Schaltstellen zwischen sinnlicher Erfahrung und Denkbewegung.

In der ungeheuren Präsenz der Blume treffen sich die drei. »Das sind immer noch diese Deinzendorf-Reminiszenzen«, sagt sie, indem sie die Augen schließt, »daß ich mich manchmal fühle wie diese Blume.« Friederike Mayröcker hebt die Arme, formt mit den Händen eine imaginäre Hortensie, die irgendwo schräg hinter meinem Kopf stehen muß: »Es ist fast wie ein Austausch zwischen der Blume und mir.«

Nun ist es aber eine Sache, als Kind durch die Wiesen zu streifen und sich an der Pracht weißer Lilien zu berauschen, und eine ganz andere, sagen zu können, welche Lilien genau als »Madonnenlilien« bezeichnet werden. Das unendlich große Blumenlexikon in Friederike Mayröckers Werk hat mich, der ich eine Rose knapp von einer Tulpe unterscheiden kann, immer betört, etwa wenn in »fleurs« der Eintrag vom 25.1.15 lautet: »›damals in D. auf der Schwelle zum Sommerhaus 1000 [/] Schwertlilien, Malven, Ringelblumen, Veilchen, Hyazinthen, [/] Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen …….. ach wie [/] lieblicher Film vor meinem Auge‹«.

Ob sie die Blumennamen von ihrer Mutter kenne, deren Lieblingspflanze das Farnkraut war, frage ich sie.

Friederike Mayröcker lächelt und schüttelt den Kopf.

Nein, dieses Wissen hat sie sich nach und nach angeeignet, indem sie bis heute reale Blüten und Blätter mit Abbildungen in Bestimmungsbüchern vergleicht. Weder ihr noch mir ist in diesem Moment bewußt, daß 1936 im ›Selbstverlag Franz X. Mayröcker, Wien, V. Anzengrubergasse 17‹ ein Band mit dem Titel »Heimische Beeren, Pflanzen und Pilze und ihre Verwendung im Haushalt. Mit Bestimmungstabelle und Blütenkalender« erschien.

Friederike Mayröcker hat, wie sollte es auch anders sein, immer ihre schützende Hand über die geliebten Eltern gehalten. 1953 zog sie aus der Familienwohnung in die Zentagasse, aber nicht etwa in luftigere Räumlichkeiten, sondern in eine Anderthalbzimmerwohnung, die sie zudem mit einer Tante teilte. Sie hat dem Haus, dem Viertel von ärmlicher Anmutung, dem – heute nur noch in Erinnerungsspuren vorhandenen – Familienkreis immer die Treue gehalten. Kompromisse geht man im Leben ein. In der Kunst jedoch muß Kompromißlosigkeit walten.

Berauschende Vorstellung: Friederike Mayröcker, die beim Mittagessen ein paar freundliche Worte mit dem Autohändler wechselt, und die nachher jener stets vor dem Supermarkt hockenden jungen Frau zulächeln wird, die wir aus ihren Büchern als Bettler-, als Almosenfigur kennen, sie, Friederike Mayröcker, wird, sobald sie die Tür zu ihrer Wohnung hinter sich geschlossen hat, ein selbst unter Derrida-Lesern kaum bekanntes Werk des französischen Philosophen-Schriftstellers oder Schriftsteller-Philosophen aufschlagen und vom einen auf den anderen Augenblick darin versinken. Wird versinken in Mayröcker-Sätzen wie: »mit vliesartigen Blütenblättern versehene Blumen (all dies ist sehr beladen, nicht wahr:)« – Eine Vorstellung, so berauschend, daß man fast selbst in den Schreibrausch gerät.

»Wie auch immer«, sagt Friederike Mayröcker zum Ende unseres Gesprächs ruhig und bestimmt, »ich arbeite weiter, so lange ich kann.«

1  Erstmals abgedruckt am 1.7.2016 im Feuilleton der FAZ unter dem Titel »Eine Gleichung von mathematischer Eleganz« in leicht anderer Drucklegung.

Michael Braun

Der Sound der Geschichte
Marcel Beyers Fragmente einer Sprache der »Nonfiction«

Die Literatur der Gegenwart mache »zu wenig Kino und zu viel Fernsehen«, sagte Marcel Beyer dem »freitag« 2015 in einem Interview. Er muss es wissen. Der 1965 in Württemberg geborene Marcel Beyer hat wie kein anderer mit den Medien seiner Zeit experimentiert, ihre öffentliche Inszenierung beobachtet und auf sein eigenes Schreiben bezogen. Er hat lange bei einem Musikmagazin mitgearbeitet, verfasst Opernlibretti, hat sich intensiv mit Tontechnik und Fotografie beschäftigt und in seinen Göttinger Lichtenberg-Poetikvorlesungen »XX«(2015) – in 20 Kapiteln – eine Beschreibung eines Fluges von Dresden nach Frankfurt am 8.9.2014 gegeben, in dem eigene Beobachtungen, Erinnerungen, Reflexionen und Lektüreerfahrungen zu einem regelrechten Dreh-Tagebuch zusammengezogen werden. Beyer argumentiert, dass es das Kino ist, das die großen Bilder im Kopf entstehen lässt, nicht die Routinen und Serienformate des Fernsehens, und dass es diese kinematografischen Bilder im Kopf sind, die eigentlich Geschichte schreiben. Damit ist er ein filmischer Beobachter jener Distanz der eigenen Wahrnehmung zur Welt, die durch die Medien hergestellt wird. Und diese Medien sind, neben Kino und Fotografien, auch Bücher anderer Autoren mit autobiografischer Prägung und literarische Erinnerungszeugnisse.

In dem Aufsatz »Ein Tag ohne mich« (2009) – der auch in dem Band »Putins Briefkasten« (2012) abgedruckt ist – veranschaulicht Beyer sein Selbstverständnis des Autors als eines fernen Beobachters und unfreiwilligen Zeitzeugens. Bei der Erinnerung an den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, kann der sich erinnernde Autor zwei Bilder nicht zusammenbringen: Auf dem Bild der autobiografischen Erinnerung, auf dem er sich in einer Kölner Dachwohnung vor dem Fernseher sitzen sieht, ist er »ohne alle Geschichte zu sehen«. Auf dem historischen Bild im Fernsehen aber sieht er sich nicht. Das dritte Bild, das die widersprüchliche Einheit von Ich und Geschichte sozusagen umrahmt und ihr einen Anstrich von Sinn gibt, stammt aus dem Kino. Im Sommer 1989 hatte Beyer die westdeutsche Premiere von Tim Burtons »Batman«gesehen, einem film noir mit einer düsteren Geschichte und einem gespaltenen Superhelden. »Trust me«, »Vertrau mir«: Diesen hollywoodesken Satz, den jede Figur in dem Film wenigstens einmal sagt, hörte Marcel Beyer im Herbst/Winter 1989 aus dem Munde von Politikern und Bürgerrechtlern, Stasi-Mitarbeitern und Schriftstellern, Kirchenvertretern, Militärs und Montagsdemonstranten: eine Werbung um verloren gegangenes Vertrauen in die Geschichte, eine mehrdeutige Selbstbeglaubigungsformel von jemandem, der sich für den Autor von Geschichte hält.

Das Filmzitat wird hier zur Nonfiction. »Nonfiction« (so auch der Titel von Beyers Essayband von 2003) ist eine Formel für Marcel Beyers Schreiben. Es begann mit dem antimimetischen Roman »Menschenfleisch« (1991), einer Eifersuchtsgeschichte, die sich unter dem Einfluss der nouveaux romanciers in eine epische Reflexion über »Sprachkörper und Körpersprache« verwandelt, und verläuft seither konsequent quer zu den realistischen, magisch-symbolistischen und neoexperimentellen Erzählgleisen der Gegenwartsliteratur. Nicht auf das Erfinden von Stoffen, sondern auf die Funde und Befunde aus eigenen (Medien-)Erfahrungen kommt es ihm an. Diese Details, die Berichte sein können, Bilder oder eigene Erlebnisse beim Hören, Schreiben und Lesen, werden in ihren medialen Inszenierungen betrachtet. Manchmal sind es harmlose Einzelheiten, die auf einmal in neuen Zusammenhängen aufleuchten und dadurch einen Führungslichtwechsel der Zeithorizonte verursachen. Es sind dann sprechende Details, »details on duty« (James Wood), wie die Tränen, über die Marcel Beyer Anfang 2016 in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen sprach. Verknüpft werden eigene Tränen (bei einem Besuch von Rilkes Grab), Politikertränen (von Helmut Kohl), musikalische (bei Heintje), philosophische und literarische Tränen (bei Theodor W. Adorno, Paul Celan und Georges Perec) mit der semiologischen Aufforderung (von Jacques Derrida und von Roland Barthes), eine Geschichte der Tränen zu schreiben. Diese Geschichte liefert »Das blindgeweinte Jahrhundert« (2017), ein phänomenologischer Streifzug durch Tränenmomente und ihre Inszenierungen. Ein Panorama von detail shots, so könnte man mit Begriffen aus der Filmsprache Beyers literarische Einstellung betiteln.

Close-up auf einen Roman

»Flughunde«, so heißt der Roman, der Marcel Beyer 1995 auf einen Schlag bekannt machte. Die Handlung spielt im Berliner Führerbunker, im Mittelpunkt stehen ein Tontechniker Hitlers und die Kinder von Goebbels. Doch es geht nicht nur um das Ende des »Dritten Reiches«. Beyer erzählt die Doppelgeschichte von Mittätern und Opfern des Systems als Mediengeschichte. In der Rahmenhandlung wird von dem – hier allerdings fiktiven – Fund eines nationalsozialistischen Schallarchivs in Dresden berichtet. Die Spuren führen zu dem Akustiker Hermann Karnau, der für die Beschallung von Goebbels’ Propagandaveranstaltungen zuständig war. Karnau nimmt sich an der Front vor, die Sprachreste der Kämpfer und die Stoßseufzer der Sterbenden zu konservieren, und schreckt später in Berlin nicht zurück vor Operationen an lebenden Menschen. Als Wachmann im Bunker erlebt er die letzten Tage Hitlers und der Goebbels-Familie mit.

Aus den Tondokumenten, die im realen Kontext der grausamen Menschenexperimente der Nazis stehen, spricht der Klang der »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt). Das Abhörsystem inner- und außerhalb des Bunkers reduziert die Menschen auf »Resonanzkörper« und »Schallquellen«. Vom Löschen menschlicher Laute bis zum Auslöschen von Menschenleben ist es da nur ein kleiner Schritt.

Deutlich wird das auf dem Titelbild der Erstausgabe des Romans. Wir sehen die Ziffern der Laufgeschwindigkeit von Schallplatten, »33« und »45«. Sie bezeichnen auch den Zeitraum des »Dritten Reiches«. Und das Medium, in dem uns diese Erinnerung überliefert wird. Der Untergang der Propaganda- und Menschenvernichtungsmaschine wird akustisch erzählt. So bringt Beyer die Geschichte zum Sprechen. Und er zeigt, warum die Deutschen »ihre eigenen Stimmen nicht mehr hören konnten«, »die sie sich zwölf Jahre lang heiser geschrien« hatten.

Zwei Monate führte das Buch die Bestenlisten an, bis Ende 1997 wurden 25 000 Exemplare verkauft, es wurde Schullektüre und liegt seit 2013 auch als Graphic Novel von Ulli Lust vor. Anders als in Oliver Hirschbiegels Film »Der Untergang« (2004), der den Mord an den Goebbels-Kindern in eine eigene Szene bannt, erzählt die Graphic Novel das schauderhafte Ende im Führerbunker aus der Distanz des späteren Erzählers Karnau, der vermeintliche Zeugen der Ermordung der Kinder zitiert, aber feststellen muss, dass deren Berichte lückenhaft, widersprüchlich und deshalb »falsch« sind. Auch die nicht von ihm stammende Tonaufnahme aus dem Zimmer, in dem die Kinder starben, liefert weder Beweise noch verlässliche Anhaltspunkte für das Geschehene. Auf dem letzten Cartoon sieht man Karnau über einen Plattenspieler gebeugt, umzingelt von Sprechblasen mit lautmalerischen Tönen und einer übergroßen schwarzen Blase. Deren Sprechpfeil ist auf die Schallplattennadel gerichtet. Ein sprechendes Zeichen: Das Medium, das von der Geschichte erzählt, muss erst durch weitere Bilder und Sprache zum Sprechen gebracht werden. Auch hier erweist sich Marcel Beyer als virtuoser Autor, der von und mit Medien die Story erzählt, um die sich die History dreht.

Die folgenden Romane setzen konsequent das Erzählkonzept der »Flughunde« fort. »Spione«, der Roman von 2000, demonstriert, wie drei Generationen mit der Erinnerung an den Krieg umgehen: verheimlichend die Zeitzeugen, anklagend deren Kinder, die 68er-Generation, ausspähend die Enkel; in seiner Dankrede zum Uwe-Johnson-Preis unterscheidet Beyer zwischen Schweige-, Antwort- und Fragegeneration. Die Erinnerung wird in medialer Form erzählt. Es sind diesmal weniger Töne und Stimmen, vielmehr Fotos, die das Bild von der Geschichte im Gedächtnis der Gegenwart prägen. Mit den Motiven von Sehen und Spähen inszeniert Beyer eine kleine Mediengeschichte des Blicks. Fast alles, was erzählt wird, ist vermittelt über Fotografien und Fotoapparate. Bilder erzählen Geschichte. Beim Ausspähen des Großvaters, der am Luftwaffeneinsatz in Spanien beteiligt war, kommt Picassos künstlerische »Ereignisimagination« (Max Imdahl) des Fliegerangriffs auf Guernica vom 26.4.1937 ins Bild; die Ausforschungen der Elterngeneration vermischen sich mit Zeitungsberichten und Fernsehbildern der Terroranschläge im Deutschen Herbst 1977.

Der Titel des Romans lenkt den Blick auf das ›Objektiv‹ des Erzählers, das – wie der »Spion« an der Haustür – die Realität verzerrt und verkürzt, aber die Dinge »nah und zugleich ungreifbar« vors Auge rückt. »Spione« sind zudem Agenten der Zeitgeschichte, die im Roman durch Verschwörungstheorien, militärische Geheimaufträge und politische Hintergrundoperationen auffallen. Das Spionieren färbt auf das Erzählen ab, das sich zusehends zu konspirativen Geschichten ausweitet, zum Verschweigen und Verheimlichen neigt und so die Nähe des Erinnerns zum Vergessen und Verdrängen betont. Auf diese Weise wird die Suche nach einer nacherzählbaren Handlung zum Bild einer Geschichte mit vielen Versionen, nebeneinandergestellten Fragmenten, »inneren Bezüge(n), aus deren Verknüpfung sich eine Geschichte ergibt im Panorama, nicht in der Abfolge«, wie Marcel Beyers Arbeitstagebuch unter dem Datum des 22.5.1994 festhält.

Marcel Beyer gehört zu den Autoren, die sich Zeit nehmen für ihre Romane. Die Spanienerzählung »Vergeßt mich« (2006) ist ein Zwischenspiel, angesiedelt in einem postfaschistischen madrilenischen Ambiente. Es geht um die Suche nach einem verlorenen Freund, von dem nur ein Anruf bleibt. Der sechzigseitige Text schlägt die Hauptmotive der Erinnerungsliteratur an: das Leben und das Sichverlieren in der Erinnerung, die Medien der Erinnerung, die Willkür des Vergessens.

»Kaltenburg«, der von der Kritik allseits gelobte Roman von 2008, erzählt vom Aufstieg und Fall des Genies in der Diktatur. Kaltenburg ist ein Zoologe mit faustischen Zügen, ein verführter und verführerischer Gelehrter, als dessen Vorbild man den Nobelpreisträger Konrad Lorenz namhaft machen kann – aber nicht muss, weil reale und fiktionale Lebenslinie nur teilweise übereinstimmen. Marcel Beyer schreibt keinen Schlüsselroman, sondern eine epische Parabel über die Fallstricke der Erinnerung.

In dreifach gebrochener Erinnerungsperspektive wird erzählt, was erzählenswert ist von Kaltenburg, dessen Leben (1903–1989) zwei Diktaturen umspannt. Der begnadete und berühmte Zoologe ist Ende der 1930er Jahre unter dubiosen Umständen in einer Nervenklinik in Posen tätig, nach dem Krieg und seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft lehrt er in Leipzig, kurz vor dem Mauerbau kehrt er in seine österreichische Heimat zurück. Eng verflochten mit Kaltenburgs Schicksal ist der Lebensweg des Ich-Erzählers, des 1934 geborenen Vogelkundlers Hermann Fink, der dem Zoologen im Hause seines Vaters, eines Botanikprofessors in Posen, begegnet, in Dresden unter seinen Fittichen studiert und auch nach 1961 weiter mit ihm korrespondiert. Anlass der Erinnerung an Kaltenburg ist eine jüngere Dolmetscherin, die einen ornithologischen Rat bei Fink sucht.

Kaltenburgs Alterswerk über die »Urformen der Angst«, sein erstes »Westbuch« und seine Kehrtwende vom Tier- zum Menschenstudium, ist ein Schlüssel zum Verständnis seines Lebensweges. Hier hat Kaltenburg seine zoologischen Erkenntnisse rücksichtslos in anthropologische und soziologische Kategorien übersetzt. Er hat nachgewiesen, wie Angst unter extremen Bedingungen gemildert, ja sogar ausgeschaltet werden kann: bei Tieren durch die Schreckmauser, bei Menschen durch Phantasie und Imagination. Doch die »Todesatmosphäre«, mit der dieses Umfeld undifferenzierter Phänomene beschrieben wird, ist ein schattiger, missverständlicher, übertriebener Begriff. So bleibt die neodarwinistische Grundeinstellung Kaltenburgs im gesamten Roman ein Stein des Antoßes.

Beyer schickt seinen Erzähler als teilnehmenden Beobachter in die Geschichte, die dadurch weder Verklärung noch Aufklärung erfährt, wohl aber dichte Beschreibungen. Die epische Kamera, welche die Bombennacht im Dresdner Zoo 1945 abfährt, registriert die Panik der Vögel und resigniert angesichts zoologischer Unterscheidungen: »Spechte, die aus ihrer Höhle im brennenden Baum entkommen waren. Ein Waldkauz, der auf dem Ansitz vom hereinbrechenden Feuer, vom Flugzeuglärm aus seiner sonst so stoischen, an Totenstarre gemahnenden Ruhe gerissen worden war und nun panische Luftbewegungen vollführte, um die Flammen zu löschen, die von der Schwanzdecke her kommend schon an seinen Armschwingen fraßen. (…) Die vielen Enten, auf der Eisfläche eines Teiches dicht zusammengedrängt, dort, wo sie sich gegen alle Feinde sicher glaubten. Wie hätte ich jetzt Krickente von Löffelente, Pfeifente von Reiherente oder Schellente von Tafelente unterscheiden sollen, da sämtliche Tiere auf dem Wasser auf einmal brannten.«

Marcel Beyer hat mit »Kaltenburg« seine Poetik der Fiktionalisierung von Geschichte konsequent geschärft. Bei dieser literarischen Erinnerungsarbeit setzt der Autor – vergleichbar mit Marica Bodrožić, Norbert Gstrein, Michael Kleeberg – einen Erzähler ins Werk, der streunende Details aufsammelt, in mosaikhafte Episoden verpackt, der unzuverlässig ist und oft vergesslich. Dieser Erzähler ist nicht unbedingt in erster Verantwortung schuldig, stets aber tief verstrickt in die Geschichte, die er erinnert. Karnau und seine Nachfolger sind unheimliche Zeugen des Geschehens, man kann ihnen nicht alles abkaufen, sondern muss deren Erinnerungen kritisch befragen. So erläutert der Autor, warum seine Hauptfigur Hermann Karnau, »einfach auf das falsche Tier« setzt: »Er nimmt fälschlicherweise an, dass Flughunde sich an Ultraschall orientieren. Mir kam die Forschungsgeschichte auch sehr entgegen, weil man lange angenommen hat, dass sowohl für Flughunde als auch für Fledermäuse die gleichen Prinzipien gelten. Erst Anfang der vierziger Jahre hat man dann festgestellt, dass dies nur auf die Fledermäuse zutrifft. In dem Moment als Karnau erfährt, dass es nicht die Flughunde sind, die sich am Ultraschall orientieren, bricht ja auch sein ganzes Projekt zusammen.« (Interview mit Jasmin Herold im »Berliner Zimmer«)

Der Lyriker als »Augen- / Ohrenkunde«

Marcel Beyer ist auch als Lyriker hervorgetreten, mit Gedichten, die größere Aufmerksamkeit, manchmal Leseanstrengung erfordern, aber den Leser mit Entdeckungen belohnen. Die Bände »Falsches Futter« (1997), »Erdkunde« (2002) und »Graphit« (2014) erkunden literarische, historische und geografische Nachbarschaften, die mit größtmöglicher Klarheit in ein sprachliches Verhältnis zueinander gesetzt werden. Sie führen nach Osteuropa, in die Erinnerungslandschaften der »bloodlands« (Timothy Snyders). Aus den von der Großelterngeneration besiedelten und besetzten Geschichtslandschaften (»UNSERE OSTGEBIETE«, so hebt es ein Gedicht in Versalien hervor) wird ein Panorama flüchtiger, widersprüchlicher Details. Der Dichter ist ein Sammler dieser Bilder. Er trauert nicht und klagt nicht an. Er untersucht sie, in einer spröden Sprache, die anspruchsvoll gebaut ist, aus Montagen und Metaphern. Insofern sind Gedichte für Beyer »Forschung – auf einem anderen Gebiet als der Naturwissenschaft, mit anderen Mitteln, einem anderen Gegenstand natürlich, aber in der Bewegung ähnlich«.

Schon der Titel »Graphit« ist Signal und Programm. Mit dem Mineral ist die gegenständliche Grundlage von Marcel Beyers Schreiben bezeichnet, seine Dingpoesie. »Graphit« ist zugleich ein Material zum Schreiben (es kommt als Reibablagerung in Bleistiften vor) und ein Wort, das auf die Tätigkeit verweist, von der es etymologisch abgeleitet ist (»graphein« heißt ›schreiben‹).

Wie kunstvoll das mit Marcel Beyers Poetik verflochten ist, zeigt das Titelgedicht »Graphit«. Es ist in Zyklen aufgebaut und beschreibt die Gestaltwerdung von Materialität und Medialität im Gedicht. Die sechs Teile des Zyklus pendeln zwischen einer gegenwärtigen Situation – der Neusser Skihalle – und der Reminiszenz an ein Filmset, an dem der russische Filmtheoretiker und Regisseur Sergej Eisenstein am Peipussee im Hochsommer 1938 einen Kriegsfilm drehte. Der Schnee ist das Material und das Medium, das die Zeiten und Räume verbindet. Mehr noch, er erzeugt in der lyrischen Kommunikation ein neuartiges Bedeutungsgeflecht. Seine Bauweise ist die Montage (von jeweils sechs vierzeiligen Strophen, reimlos, mit unregelmäßigem Metrum, in jedem Teil des Zyklus), und seine Form ist das Rhizom, wie Günter Blamberger anlässlich der Kleistpreisverleihung an Marcel Beyer 2015 ausführte. Der »Maschinenschnee«, der zur »Schneekunst« wird, der »Schneimeister«, der den »Pistenbully« in der Skihalle »dirigiert« (»Graphit I«) und dann zum »Schnittmeister« wird, der für seine »Winterschlacht« im Sommer »dringend / einen zugefrorenen See« braucht (»Graphit II« und »V«), das »Fräsbild« vom Schneeräumen (»III«), das mit Anspielung auf Lacan zum »schwindenden Objekt« wird (»VI«), das sind, so Blamberger, »Eingangsworte für den Weg (des Gedichts) in den Untergrund«. So wird der Dichter selbst zum Regisseur und Schnittmeister der Worte im Gedicht.

Marcel Beyer, der in Siegen Anglistik und Germanistik studiert und intensiv über Friederike Mayröcker gearbeitet hat, ist einer der findigsten, beharrlichsten und sensibelsten Erzähler der deutschen Zeitgeschichte. Auch wenn manche Kritiker empfehlen, es sei besser, einige seiner Texte mit einem Wörterbuch in der Hand zu lesen, spricht das nicht gegen seine Bücher, wohl aber für deren Sprache, deren Haltung die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen in ihrer Laudatio auf den Büchnerpreisträger Marcel Beyer 2016 »zugeneigtes Beschreiben« genannt hat.

Diese Sprache ist gerade auch für die junge Generation spannend. Den Abiturienten des Jahrgangs 2015 hat Beyer in seiner im gleichen Jahr gedruckten Rede »Im Situation Room«geraten, die Bilder ihrer Zeit genau zu lesen – und dies am Beispiel des »Situation Room«, in dem die Spitze von amerikanischer Regierung und Militär am 1. Mai 2011 Osama bin Ladens Tod verfolgte, vorgemacht. Das sichtbare Bild, das Foto aus dem Lagerraum im Weißen Haus, steht den für uns nicht sichtbaren Bildern vom Einsatz in Abbottabad gegenüber. Was wir sehen, ist die Reaktion auf den Gesichtern der stillen Zeugen eines Ereignisses, das nur diese, nicht aber wir sehen. Der Leser ist mit dem Autor ein »Spion« der Bilder, die uns die Geschichte stellt; und Lesen, auch von Beyers Essays »Nonfiction«,ist Kopfkino, Arbeit an der Imagination, Aufforderung zur kritischen Erinnerung.