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Copyright © 2018 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung: © Zheka-Boss/iStockphoto

Druck und Verarbeitung:

EuroPB, s.r.o., Tschechische Republik

ISBN 978-3-7117-1088-8

eISBN 978-3-7117-5374-8

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter www.picus.at

Carola Hoffmeister arbeitet seit dem Studium der Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft als Journalistin in Hamburg. Ihre Reportagen führen sie in den Iran, nach Israel/Palästina und immer wieder in ihre Heimat, das Ruhrgebiet. Ihre Geschichten erscheinen in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Neuen Zürcher Zeitung« oder sind im Deutschlandradio Kultur zu hören. Im Picus Verlag erschienen ihre Reportage Iran, die Lesereise Albanien sowie 2018 die Lesereise Malta.

Carola Hoffmeister

Lesereise Malta

Drei Schwestern im Mittelmeer

Picus Verlag Wien

Inhalt

Königin des Mittelmeers

Filmreife Insel

Die Matteis aus Malta

Stadt der Stille

Caravaggio auf der Flucht

Maria und ihre Schwestern

Zeitverlangsamungsmaschine Gozo

Hüterin des Schlafes: Die Venus von Malta

Die Aktivistin Ruth Baldacchino

Bethlehem auf Gozo

Kein Ort der Zuflucht

Im Reich des Meerbarbenkönigs

Der Duft von Erdbeeren

Dank

Königin des Mittelmeers

Wer mit dem Schiff nach Malta reist, erkennt am Horizont eine sandsteinfarbene Woge, die aussieht, als wäre sie mitten in der Bewegung erstarrt. Barocke Glockentürme tauchen in der Erhebung auf, Giebel und Arkaden. Und in der architektonischen Gischt gleicht die Kuppel der Karmelitenkirche einer Krone, die im Schein der Morgensonne majestätisch glänzt. Das ist Valletta, Hauptstadt Maltas, Königin des Mittelmeers. Gegründet 1566, thront sie seit mehr als vier Jahrhunderten über dem Reich zwischen Italien und Afrika, Sizilien und Libyen. Die barocke Schönheit haben Bauherren der Ordensgemeinschaft Johanniter als Stadt für »Edelleute von Edelleuten« errichtet. Und so vereint Valletta auf nur einem Quadratkilometer Fläche so viele Sehenswürdigkeiten wie kaum eine andere Metropole der Welt. Sie ist Europas kleinste und südlichste Stadt und mutet mit unzähligen Palästen, Kirchen und Plätzen wie ein Freilufttheater an. Bereits 1980 erklärte sie die UNESCO deshalb zum Weltkulturerbe, und 2018 feiert ganz Europa Valletta als Kulturhauptstadt.

Die Königin hat für ihren Auftritt ein smaragdgrünes Mittelmeer als roten Teppich ausgerollt und ein ultramarinblaues Tuch am Himmel als Baldachin gespannt. Vorwürfe winkt die Regentin während ihrer Audienzen gelassen ab: Malta steht seit dem unaufgeklärten Mord an der regierungskritischen Journalistin Daphne Caruana Galizia wegen Korruption international am Pranger. Und außerdem auf der schwarzen Listen der Steueroasen. »Das vergeht, das vergeht«, meint man Valletta leise lächelnd flüstern zu hören. Gleich auf zwei Sprachen: auf Malti, der offiziellen Amtssprache, die einzige semitische Sprache in der Europäischen Union und die einzige semitische Sprache der Welt, die lateinische Buchstaben verwendet. Oder auf Englisch, ebenfalls Amtssprache der ehemaligen Kolonie Großbritanniens. Königin Valletta könnte sich genauso gut auf Französisch, Arabisch oder Italienisch verständigen, denn die Regentin ist internationale Gäste gewöhnt. Ihren Aufenthaltsort Malta haben in der sechstausend Jahre alten Geschichte zahlreiche Völker besucht: Die Phönizier kamen ungefähr 1000 vor Christus und gaben der Insel den Namen »Malet«, was Zufluchtsort bedeutet. Während des zweiten punischen Krieges fiel Malta 218 vor Christus an die Römer, die hier Wein anbauten und Rosen pflanzten. Aus der Zeit der Araber ab 870 stammen Zitrusfrüchte, Baumwolle und die bunt verzierten Holzbalkone, die heute gallariji genannt werden. Die Normannen hinterließen 1090 die weiß-rote Nationalflagge, die Johanniter gewaltige Festungen und die Briten sausages zum Frühstück.

Ohne die Menschen, die in Valletta leben und arbeiten, wäre die Stadt nicht mehr als ein steinernes Museum. Doch fünfundachtzigtausend erfüllen Valletta jeden Tag mit Leben, Träumen und Visionen. Margerita Pulé ist eine von ihnen. Die junge Frau mit den halblangen braunen Haaren arbeitet im Organisationsteam der Stiftung Valletta 2018 und hat zahlreiche Aktionen für das Jahr der Kulturhauptstadt geplant: ein Barock-Festival, eine Filmwoche, das Pflanzen eines Blumenteppichs vor dem Großmeisterpalast. Besuchern, die nach Malta kommen, rät sie: »Unbedingt die St. John’s Co-Cathedral und Caravaggios Gemälde bewundern.«

In ihrer Mittagspause schlendert Margerita Pulé gerne die Triq Ir-Repubblika, die Republic Street entlang, die verkehrsberuhigte Prachtmeile, die vom Meer schnurgerade durch die Stadt führt. Unterwegs kommt sie am Großmeisterpalast vorbei, der Sehenswürdigkeit, die wohl die meisten Touristen besuchen. In dem zweistöckigen Gebäude aus dem 16. Jahrhundert residierten einst die Mitglieder des Johanniterordens, heute ist der Palast Sitz der Präsidentin. Wachen patrouillieren vor der von den Malteser nur »il-Palazz« genannten Architektur, ein Brunnen plätschert, und auf Parkbänken halten Touristen ihr Gesicht in die Sonne. Margerita Pulé geht langsam, sie lässt sich Zeit und den Blick schweifen. Denn Valletta ist zu prächtig, um zu hasten. Rechts und links der Republic Street streben Gassen zur Meeresbucht, und an hellen Kalksteinfassaden hängen bunt lackierte Holzerker. Sie erinnern an Schwalbennester und Vögel, denen es so gut in der Hauptstadt gefällt, dass sie für immer bleiben möchten.

Wenige Meter hinter dem Großmeisterpalast erhebt sich die St. John’s Co-Cathedral. Zwischen ihren beiden Glockentürmen erstreckt sich eine schmucklose Kalksteinfassade, im Inneren explodieren dafür in Blattgold eingefasste Farben an den Wänden. Und auf dem Boden finden in acht Querschiffen unzählige Ordensritter ihre letzte Ruhe. Fast zu jeder Tageszeit stehen die Menschen Schlange vor dem Portal. Margerita Pulé ist froh, nicht zu den Wartenden zu gehören. Sie spaziert weiter und passiert eine feuerwehrrote Telefonzelle mit Sprossenfenstern – ein Überbleibsel aus der Zeit der britischen Besatzer, die bis zu Maltas Unabhängigkeit im Jahr 1964 mehr als hundertfünfzig Jahre lang auf der Insel regiert hatten.

Würde die junge Frau immer weiter geradeaus gehen, gelangte sie auf eine einen Graben überspannende Fußgängerbrücke. Danach stünde sie außerhalb Vallettas direkt an der Grenze zur Gemeinde Floriana an einem Brunnen, der dem Meeresgott Triton gewidmet ist. Margerita Pulé setzt sich jedoch innerhalb der Festungsmauern auf die Treppenstufen, die neben dem Parlament wie eine gewaltige Rampe in die Höhe zum Eingang führen. Das Parlament stammt, genauso wie das Stadttor, von dem italienischen Stararchitekten Renzo Piano und wurde 2015 fertiggestellt. Beide Bauwerke bestehen aus riesigen Kalksteinblöcken, und obwohl die Steine viele Tonnen schwer sind, erinnern sie im Fall des Regierungsgebäudes an ein Ufo, das über dem Platz schwebt. »Ich liebe diesen Ort«, sagt Margerita Pulé. »Er ist modern und erzählt gleichzeitig von der Geschichte Vallettas. Ich beobachte das Kommen und Gehen der Menschen und fühle mich hier am Puls der Zeit.«

Abends, wenn sich Dunkelheit über die Insel senkt und die Rollos an den Geschäften herunterrattern, verlassen die meisten Angestellten Valletta. Aus dem überbordenden Hofstaat einer Königin wird ein Städtchen mit nur etwa sechstausend Einwohnern. Doch den Tag über genießen Berufstätige, Einheimische und Touristen die Atmosphäre mit allen Sinnen. Sie schmecken die salzige Luft an der Waterfront, hören das Feuern der Saluting Battery, der wahrscheinlich ältesten noch genutzten Salutkanonen der Welt, oder folgen dem Duft einer deftigen Fischsuppe in ein Altstadtrestaurant.

Vanessa Mifsud zieht sich in ihrer Pause gerne zurück. Die Frau mit dem olivfarbenen Teint und den schwarzen Korkenzieherlocken arbeitet als Reiseleiterin in Valletta und begleitet Touristen zu den Hauptsehenswürdigkeiten. Wenn sie zwischen zwei Führungen Pause hat, setzt sie sich in die Upper Barrakka Gardens, eine öffentliche Parkanlage am höchsten Punkt der Stadtbefestigung auf der St. Peter and St. Paul Bastion. »In meinem Beruf spreche ich viel«, sagt sie und nimmt auf einer Bank Platz. »Fast den ganzen Tag lang erzähle ich Touristen auf Deutsch, Englisch oder Schwedisch von der Geschichte meiner Heimat. Zwischendurch bin ich gerne einen Moment für mich.« Der Park erinnert an ein abgeschiedenes Gemach. Steinerne Rundbögen umschließen ihn. Der Wind raschelt leise in Palmen, und in einem runden Bassin mit Springbrunnen glitzert Wasser. »Die italienischen Kreuzritter nutzten die Anlage um 1661 als Übungsplatz. Damit war der Garten eine Art Fitnesscenter des 17. Jahrhunderts«, verrät Vanessa Mifsud schließlich trotz ihrer Mittagspause. »Damals existierten natürlich noch keine Bäume und kein Brunnen. Die Ritter brauchten Platz.«

Unterhalb des Gartens befindet sich der Hafen, zu dem ein gläserner Fahrstuhl führt. Vanessa Mifsud blickt von ihrem Aussichtspunkt aus auf die Kreuzfahrtschiffe, die in der Tiefe anlegen, und die Kräne der Werften, die langbeinigen Urzeitkrebsen gleichen. Außerdem sieht sie bunt bemalte Fischerboote als winzige Punkte auf dem Wasser schaukeln. Am Bug sind diese luzzus mit Augen verziert, die als Horusauge oder Auge des Totengotts Osiris die Fischer vor Gefahren schützen sollen. Wenn Vanessa Mifsud ihre Augen gegen die blendende Sonne zusammenkneift, sieht sie am Horizont eine Landzunge ins Meer ragen. Auf ihr türmt sich Fort St. Angelo auf, jene Bastion, von der aus die Johanniter im 16. Jahrhundert erfolgreich ihre Insel gegen die Osmanen verteidigt haben. In zwei Windungen schrauben sich die dicken Mauern wie ein Schneckenhaus in die Höhe. Hinter dem Fort schachteln sich Kuppeln, Türme und Dächer ineinander. Die Gebäude gehören zu den Städten Vittoriosa, Cospicua und Senglea, die auch »Die Drei Städte« genannt werden. Sie gehen wie viele maltesische Orte nahtlos ineinander über. »Das ist typisch«, sagt Vanessa Mifsud. »Wenn die Fußballmannschaft von Floriana gegen die von Valletta spielt, sitzen die Fans von Floriana auf der einen, die von Valletta auf der anderen Seite. Touristen ist oft gar nicht bewusst, dass Floriana als eigenständige Gemeinde gilt. Doch die Malteser wissen genau, wo sie hingehören. Sie sind sehr patriotisch.« Vanessa Mifsud wuchs in Għargħur auf, einem Dorf auf einem Hügel zwischen zwei Tälern im Nordosten der Insel. Als Kind besuchte sie regelmäßig mit der Mutter und der Schwester das zehn Kilometer entfernte Valletta. Sie kauften Spielzeug, Kleidung oder aßen ein Eis im Caffe Cordina, einer nostalgischen Eisdiele an einem Platz direkt gegenüber der Nationalbibliothek. Heute ist Vanessa Mifsud beruflich mehrfach in der Woche in Valletta. »Trotzdem bleibt die Stadt etwas Besonderes für mich.«

Marc Zimmermann legt gerne an der Casa Rocca Piccola eine Pause ein. Sofern er sich in Valletta aufhält, denn der Bauingenieur aus Erfurt wohnt zusammen mit seiner Frau in Vittoriosa, einem Städtchen auf der Halbinsel gegenüber von Valletta. Zimmermann, sportlich in Cargohose und T-Shirt gekleidet, kümmert sich im Auftrag verschiedener Nichtregierungsorganisationen um den Erhalt und die Sanierung historischer Gebäude. In seiner Freizeit besucht und erforscht er jedoch Orte, die sich unter der Erde verbergen – so wie die beiden Luftschutzbunker aus dem Zweiten Weltkrieg unter der Casa Rocca Piccola.

Die Casa Rocca Piccola ist ein schmaler Stadtpalast an der Republic Street 74, der mit seiner glatten Kalksteinfassade und den tannengrünen Fensterläden auf den ersten Blick unscheinbar wirkt. Doch im Inneren des 1580 errichteten Hauses erzählen fünfzig Räume davon, wie die Mitglieder eines alten maltesischen Adelsgeschlechts zur Zeit der Johanniter gelebt haben. Da sind Schlafzimmer mit geschnitzten Himmelbetten, ein Esszimmer mit Marmorboden und Zugang zum Garten und eine kleine Kapelle für sonntägliche Gebete. Ein Schachspiel aus Elfenbein vertrieb Langeweile an langen Winterabenden, und die Kostümsammlung aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert verdeutlicht, wie bequem die heutige Mode ist. Es waren die gegenwärtigen Besitzer und Bewohner, der Marquis Nicholas de Piro und seine Frau Frances, die die Casa Rocca Piccola in ein Museum verwandelten. Nicholas de Piro ist Mitte siebzig und könnte in seinen Jeans eher der Hausmeister des Gebäudes sein. Auf seinen Führungen plaudert er aus dem Familien-Nähkästchen – und berichtet etwa von seinem Vater, der bei der Krönung Elizabeths II. 1953 die Strapse seiner Mutter getragen haben soll, weil seine eigenen Strümpfe unter der Kniebundhose rutschten. »Wer unseren Palast besucht, bekommt eine gute Vorstellung davon, wie eine aristokratische Familie auf Malta gelebt hat und lebt«, sagt er.

Während die Touristen vor allem das Tafelsilber bestaunen oder die Porträts der Ahnengalerie, zieht es Marc Zimmermann dreißig Meter unter die Erde. Dort, in der kühlen Luft und umgeben von Kalkstein, fühlt er sich wohl. Marc Zimmermann hat sich auf Maltas Untergrund spezialisiert, weil das Reich unter der Erde viel zu bieten hat: »Die Insel ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Es gibt Höhlen aus der Steinzeit. Unterirdische Tempel von den Phöniziern und Befestigungsanlagen und Verteidigungstunnel von den Johannitern.« Um die verborgenen Stätten aufzustöbern, liest Marc Zimmermann Bücher zur Landesgeschichte und spricht mit Menschen, die sich an nicht kartografierte Orte erinnern. Die Ergebnisse seiner Recherchen veröffentlicht er auf seiner Facebook-Seite »Malta Underground«, die inzwischen siebentausendfünfhundert Fans abonniert haben. »Das ist meine Art, mich mit meiner neuen Heimat zu beschäftigen«, sagt Zimmermann. »Die Bunker unter der Casa Rocca Piccola waren ursprünglich unterirdische Wasserbehälter«, verrät er. »Denn als die Johanniter Valletta um 1566 bauten, erhielt jedes Haus eine eigene Zisterne. Abwasserkanäle führten zum Meer. Als Malta im Zweiten Weltkrieg dann heftige Luftangriffe der Deutschen verkraften musste, wurde die Zisterne umfunktioniert.« In Vittoriosa stieß der moderne Schatzsucher in der Tiefgarage eines modernen Apartmenthauses außerdem auf den Stollen eines einstigen Gefängnisses, in dem Ritter ihre Sklaven eingekerkert hatten. Und auch die sieben unterirdischen Mühlen Maltas und Gozos, mit denen sich die Bevölkerung im Falle eines Nuklearangriffs im Kalten Krieg weiterhin selbst versorgen wollen, besichtigt Zimmermann immer wieder gerne.

Nur wenige Meter von der Casa Rocca Piccola befindet sich in der Old Theatre Street hinter einer verwitterten Fassade mit Holzgalerie das Teatru Manoel, das drittälteste bespielte Theater der Welt. Es wurde 1732 unter Großmeister Manoel de Vilhena im Rokokostil erbaut, und der ovale Zuschauerraum entstand 1844 in Anlehnung an das berühmte Teatro La Fenice in Venedig. Mehr als sechshundert Menschen finden in dem Schmuckkästchen Platz. Die Logenränge sind mit Blattgold verziert und streben vier Stockwerke in die Höhe zu einem Himmel voller Sterne. Der Vorhang an der Bühne schillert grün wie Seegras. Hier eine Pause einzulegen, alleine im leeren Theatersaal zu rasten, vor allem während der Mittagshitze, wünschen sich sicher viele Besucher Vallettas. Doch dieses Privileg ist nur wenigen Menschen vergönnt.